Christoph Schwandt

Leoš Janáček

Christoph Schwandt

Leoš Janáček

Eine Biografie

Originalausgabe

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Bestellnummer SDP 83
ISBN 978-3-7957-8631-1

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8412
© 2009 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

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Inhalt

Eng ist die Welt des Huhns

Bei den Blaukehlchen

Die große tschechische Stadt

Die Welt wird weiblicher

Man spricht Deutsch

Tätig in Brünn und auf dem Lande

»Halt ein, abscheuliche Viper …«

»Nur Gleiche sollen sich verbrüdern …«

Der Anfang einer Oper

Neunzehnhundert

»Fatum!« – »Fatum!«

Von der Straße

Herr K. geht auf Mondfahrt

»Immer läuft es vor mir«

Ehe und Musik in Zeiten des Krieges

»Knade! Majne Hern!«

Osvoboditelům

Der alte Mann und die Natur

Ehre, wem Ehre gebührt

»Es ist schrecklich, alt zu sein …«

Der aschgraue Adler

Epilog

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Werkregister

Personenregister

Keine Zukunft ohne Herkunft.
Odo Marquard

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Eng ist die Welt des Huhns

Wo einer zur Welt gekommen ist, kann dessen ganzes Leben bestimmen. Ein Kind, das Mitte des 19. Jahrhunderts in der lauten Hektik einer frühindustriellen Stadt aufwuchs, um sich herum Menschen, die sich in ein und derselben Sprache verständigten, wird eine andere sinnliche Wahrnehmung, ein anderes Bild von der Welt entwickelt haben, als jener Junge, der im Sommer des Jahres 1854 in Nordostmähren geboren wurde. Das siebente Kind des Lehrers Jiří Janáček und seiner Frau Amalie hörte die Natur, das Rauschen des Waldes und des Wassers, die Tiere am Boden und in der Luft. Das Tschechisch, dass seine Eltern und Verwandten sprachen, war »dadurch charakterisiert, dass alle Vokale ohne Ausnahme kurz sind … und dass der Ton (wohl unter polnischem Einfluss) von der Anfangssilbe, die er in allen tschechischen Worten festhält, manchmal gegen die Wortmitte zurückweicht«.1 Daher sprach man den Nachnamen des Komponisten zu Hause vielleicht so aus, wie es unbefangene Deutsche tun, die das Häkchen (Háček) auf dem c wohl kennen, aber nicht wissen, dass nach den Ausspracheregeln des Hochtschechischen das erste a in Janáčeks Namen betont, aber kurz, das zweite á hingegen unbetont, jedoch lang zu klingen hat. Andere Menschen, die das Kind hörte, sprachen Deutsch. Und wer aus gar nicht weiter Entfernung zu Besuch kam, aus den nahen österreichisch- und preußisch-schlesischen oder slowakischen Gebieten, hatte bereits einen ganz anderen Sprachklang als die Leute am Ort. Bis nach Teschen, wo man viel Polnisch sprach – und es eine große jüdische Gemeinde gab –, waren es gerade dreißig Kilometer; heute liegt die Stadt als Cieszyn und Český Těšín halb in Polen und halb in der Tschechischen Republik. Damals war man dort mitten in Österreichisch-Schlesien; und auch etwas weiter östlich, wo zwischen Bielitz und Biala, dem heutigen polnischen Bielsko-Biała, das Kronland Königreich Galizien und Lodomerien begann, regierte der Kaiser.

Das um eine alte Burg herum gewachsene Dorf Hukvaldy liegt am nördlichen Auslauf der mährisch-schlesischen Beskiden, die der mehr als elfhundert Meter hohe, nach einer slawischen Gottheit benannte Berg Radhošť (von Radegast) beherrscht, wo die Slawenapostel Kyrillos und Methodios die Mähren zum Christentum bekehrt haben sollen. Es lag im mährischen Komitat Neu-Titschein (Nový Jičín). Der Nachbarlandkreis im Südosten gehörte bereits zum ungarischen Reichsteil der Wiener Krone; im heute slowakischen Trenčín lebten aber auch damals nur wenige Ungarn, wiewohl es nicht weit von Janáčeks Geburtsort mährische Städte gibt, die Ungarisch-Hradisch oder Ungarisch-Brod heißen. Ein Kind, das in dieser Umgebung genau hinhörte und nicht allein darauf aus war, zu verstehen, was die Leute redeten, sondern auch, wie sie es taten, konnte viel mehr lernen als die bloße Bedeutung von Worten. Manch einer redete Stakkato, ein anderer schien die Worte zu singen …

Wenn man den am 3. Juli 1854 in Hukvaldy geborenen Leoš Janáček heute einen tschechischen Komponisten nennt, dann klingt das selbstverständlich, aber es ist dennoch eine fahrlässige Ungenauigkeit. Er selbst hätte sich mitnichten als Tschechen (»čech«) bezeichnet. Janáček war Mähre. Ein Mähre besonderer Herkunft, nämlich vom Rande des tschechischen Sprachraums, wo dieser sich mit denen anderer slawischer Sprachen berührte und wo seit Jahrhunderten auch eine deutschsprachige Bevölkerung lebte. Das Adjektiv »český« bezeichnete damals ausschließlich die böhmische Bevölkerung. Es konnte also durchaus eine deutsche Familie in Böhmen meinen, aber keinen Mähren, auch wenn dessen Muttersprache Tschechisch war. In einem Brief, den Janáček auf Deutsch schrieb, berichtete er, dass er in Leipzig einen Polen getroffen und die beiden in ihrer Muttersprache gesprochen hätten: der Pole Polnisch und er »Böhmisch«2. »Das klingt alles verwirrend kompliziert«, meint Kurt Honolka, »und das war es auch.«3 Seinen Namen hat Hukvaldy womöglich einem Arnold von Hückeswagen aus dem Bergischen Land zu verdanken, der, vom böhmischen König nach Mähren geholt, die Burg im Hochmittelalter gebaut hatte. »Hochwald« nannten später die Österreicher den Ort, was wohl lediglich eine willkürliche, bequeme Eindeutschung war, leiteten doch die Hückeswagener ihre Herkunft von den längst in historische Vergessenheit geratenen »Hukingern« her, die hier vielleicht eine letzte Namensspur hinterließen.

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Der erwachsene Leoš Janáček in der Burgruine von Hukvaldy, 1880

Zwischen dem tschechischen Teil Schlesiens mit Opava (Troppau), den man in Janáčeks Kindertagen natürlich noch Österreichisch-Schlesien nannte, und der mährischen Walachei gelegen, der Gegend um Zlín und Rožnov, in der sich rumänische Walachen niedergelassen hatten, nennt sich die Region um Hukvaldy Lachei (Lašsko). Hier hatten sich ein ganz spezielles Brauchtum und ein von den heterogenen ethnischen Gegebenheiten geprägter eigener Dialekt entwickelt; Volksmelodien, Lieder und Tänze gehörten natürlich dazu. In der kleinen Lachei liegt auch Freiberg (Příbor), wo 1856 Sigmund Freud geboren wurde. Einen Steinwurf von Freiberg entfernt stand das Schlösschen von Sedlnitz, auf dem Joseph von Eichendorff seine letzten Sommer verbrachte. Und ebenso kaum zehn Kilometer von Hukvaldy liegt, am Fuße einer weiteren ehedem Hückeswagener Burg, die Stadt Kopřivnice, die die Österreicher Nesselsdorf nannten. Hier wurde der erste Pkw im Reiche Kaiser Franz Josephs I. gebaut. Noch zu Janáčeks Lebzeiten entstanden dort die Werke des berühmten tschechoslowakischen Automobilherstellers Tatra und Ferdinand Porsche erfand in Kopřivnice den luftgekühlten Motor, der dann den deutschen Volkswagen laufen ließ. Die Industrialisierung der Region um den Fluss March (Morava) herum, der Mähren den Namen gab, kam in Janáčeks Jugendjahren rasant in Gang, vor allem wegen der nun vollständig betriebenen Kaiser-Ferdinands-Nordbahn von Wien nach Oderberg (Bohumín) und deren Nebenbahnen und Fortsetzungen nach Berlin und Kaschau (Košice). Die Kleinstädte Mährisch- und Schlesisch-Ostrau, keine zwanzig Kilometer nördlich von Hukvaldy, entwickelten sich zur Industriestadt Ostrava, heute die drittgrößte Stadt Tschechiens. Schließlich war das Marchfeld als Teil der Bernsteinstraße, jenes uralten Handelsweges von der Ostsee nach Venedig, über Jahrhunderte eine Region des Austauschs zwischen dem nordslawischen Raum und Italien. Nur die Teilung Mitteleuropas während eines knappen halben Jahrhunderts in einen Osten und einen Westen hat in ebenjenem Westen dazu geführt, Leoš Janáček für einen Künstler aus einer entlegenen Region zu halten. Dabei kam er aus einer Mitte, die ihre Vitalität vielleicht gerade aus ihrer sprachlichen und ethnischen Vielfarbigkeit gewann.

Auch in Hukvaldy stand in der Mitte des Dorfes die Kirche, und es war eine römisch-katholische, im kaiserlich-österreichischen Reich nicht von geringer Bedeutung. In ihrem Bereich begegneten sich die Interessen der multiethnischen Bevölkerung und hatten es dort bisweilen sogar leichter miteinander als in der säkularen Welt. Vater Jiří Janáček kam besonders oft ins Gotteshaus, denn der Lehrer war auch der Kirchenmusiker von Hukvaldy, Organist und Chorleiter. Der kleine Leoš hörte in der Kirche zum heiligen Maximilian nun auch noch in lateinischer Sprache reden und singen. Der gewaltige Klang der Orgel und die Glocken werden ihm Eindruck gemacht haben, aber auch die anderen Instrumente, mit denen bei festlichen Anlässen aufgespielt wurde, wenn sogar Pauken auf die Orgelempore getragen wurden.

Einen Tag nach der Geburt wurde der kleine Sohn des Kantors getauft. Ins Kirchenbuch der zuständigen Hauptgemeinde in Rychaltice trug man jedoch nicht »Leoš« ein, sondern »Leo Eugen«. Hier war Deutsch Amtssprache, weshalb man den Nachnamen des Täuflings »Janatschek« schrieb, was nicht unbedingt als diskriminierende Germanisierung empfunden worden sein mag, denn es war ja noch eine Zeit, wo man Vornamen übersetzte und sich ein Antonín oder Bedřich bisweilen selbst Anton oder gar Fritz nannte, ohne etwas von seinem Nationalstolz aufzugeben. Überdies scheint man es ohnehin nicht so genau genommen zu haben, denn der Taufpate, Vater Jiřís jüngerer Bruder Vincenc, wurde wiederum »Janačzek« geschrieben4.

Kirchlich unterstand Hukvaldy dem Erzbistum Olmütz, an dessen Spitze Friedrich Egon von Fürstenberg stand. Die schwäbische Adelsfamilie hatte von jeher Besitz und Interessen in Mähren. Der später zum Kardinal erhobene Friedrich Egon kümmerte sich besonders um die historischen Bauten von Hukvaldy. Seit dem 14. Jahrhundert gehörte die Burg den geistlichen Herren von Olmütz. Das weite und fruchtbare Land um sie herum war bischöfliche Domäne, die seit 1760 von einem neuen Schloss in Hukvaldy aus verwaltet wurde, das dem Olmützer Bischof als Sommersitz diente. Die mächtige Burg war mittlerweile verfallen. Heute ist sie stimmungsvolle Kulisse für Open-Air-Events, und bei gutem Wetter kann man von hier den Gipfel des Radhošť sehen.

Die Schule von »Ukvaly«, wie das Dorf im Dialekt seiner vielleicht vierhundert Einwohner genannt wurde, hatte »eine mächtige Stube, alte rissige Bänke … Zwei Tafeln, der Vater und der Unterlehrer unterrichteten gleichzeitig … In der Ecke ein großer Herd, daneben ein Bett; das Nachtlager des Unterlehrers«.5 Jiří Janáček, geboren 1815, hatte auch als Unterlehrer angefangen, in Neplachovice bei Troppau. Bevor er nach Hukvaldy kam, war er an der Schule und der Kirche in Freiberg tätig gewesen, woher auch seine Frau Amalie, geborene Grulich, stammte. Grulich war der deutsche Name des nordmährischen Wallfahrtsortes Králíky; und Vater Grulich war ein wohlsituierter Gastwirt gewesen, seine Frau, Amalies Mutter, eine geborene Wiesnar. Jiří Janáček senior, Leoš’ schon lange verstorbener Großvater, und andere Vorfahren waren Kantoren, Kirchenmusiker und Lehrer in der näheren Umgebung gewesen. Als Jiří junior im Herbst 1848 sein Amt in »Hochwald« antrat, hatte er schon fünf Kinder, die er auf dem Dorf leichter zu ernähren hoffte. In Hukvaldy kamen in den nächsten vier Jahren vier weitere zur Welt, von denen aber nur die vierjährige Rosalie noch lebte, als Leoš das Licht der Welt erblickte. Im Städtchen Freiberg hatten noch alle Kinder, von denen Amalie Janáčková entbunden worden war, überlebt, wohl weil Hygiene und Versorgung besser gewesen waren. Viktorie, die Älteste der Janáčeks, war bei der Geburt des kleinen Leoš mit sechzehn schon heiratsfähig, und auch der Altersabstand zu den anderen Brüdern und Schwestern war zu groß, als dass sie nahe Spielkameraden hätten werden können. So waren es Rosalie und die beiden nachgeborenen, zwei und vier Jahre jüngeren Brüder František Josef (so hieß der Kaiser in Wien!) und Josef, mit denen Leoš zusammen aufwuchs. Mit sieben und noch einmal mit neun Jahren erlebte Leoš, dass noch ein Bruder und eine Schwester bald nach der Geburt starben.6

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Historische Karte von Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien (Andrees allgemeiner Handatlas, 1913)

»Eng ist die Welt des Huhns. Auch meine – des Kindes Welt: Der Schulhof mit den Enten, die Kuh im Stall«, erinnerte sich Janáček später, »wie doch der Sinn des Kindes an den Einzelheiten hängt! Sie bedeuten ihm alles. Als wären andere Umstände versunken.«7 Beim Vater lernte Leoš, was auf dem Dorfschullehrplan stand, Musik und insbesondere das Singen inbegriffen, aber natürlich bekam der Kantorensohn zu Hause noch weit mehr beigebracht und war schon im Grundschulalter im Stande, Beethovensche Klaviersonaten zu spielen. Die auffällige Begabung des Jungen war wohl ausschlaggebend für die bald getroffene väterliche Entscheidung, Leoš eine weiterführende Ausbildung in einer größeren Stadt zu ermöglichen und diese durch ein Stipendium abzusichern. Weniger wichtig dürften die bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse der Lehrerfamilie gewesen sein, die ja nur noch drei Kinder zu Hause zu ernähren hatte. Das Berufsziel sollte, der Familientradition entsprechend, ein Musikerlehramt in Schule und Kirche sein. Jiří Janáček besann sich eines guten Freundes aus seiner Junglehrerzeit. Damals hatte er den fünf Jahre jüngeren Pavel Křižkovský kennengelernt, einen ebenfalls musikalisch hochbegabten, unehelich und in armen Verhältnissen geborenen Schüler, der später Augustiner wurde und nun als Lehrer und bischöflicher Rat in Brünn tätig war. Křižkovský, der sich als Komponist von Chorwerken – nicht nur geistlicher, sondern auch dezidiert »nationaler« Gesänge – einen Namen gemacht hatte, würde dem elfjährigen Leoš Janáček zur Aufnahme an das von Erzbischof Friedrich Egon gegründete Gymnasium in Kremsier (Kroměříž) verhelfen können, was von zu Hause nicht so weit entfernt war, oder an die Schule des Alt-Brünner Augustinerklosters, wo er selbst unterrichtete. Gute Sängerknaben waren hier wie dort als Stipendiaten willkommen. Zuerst aber musste Křižkovský vom Talent des Sohnes seines alten Freundes überzeugt werden, dazu ging es mit der Kutsche von Hukvaldy nach Troppau, wo man Křižkovský nahe seinem Heimatdorf Holasovice traf. Der Geistliche zeigte sich von den pianistischen Fähigkeiten und dem Blattsingen des Elfjährigen beeindruckt.

Über Mährisch-Ostrau hätte man auch mit der Eisenbahn nach Troppau fahren können, aber das wäre ein teurer Umweg gewesen. Vater und Sohn waren die etwa fünfzig Kilometer über Nacht gereist, und Leoš war vom Treiben auf dem Stadtplatz von Troppau am nächsten Morgen überwältigt: »ein Ameisenhaufen. Ganz verstört bin ich«, hielt er später fest.8 Er war zum allerersten Mal fort von Hukvaldy, der vertrauten »engen Welt«. Große Ansammlungen von Menschen waren ihm fremd und nicht geheuer. Kreaturen in unübersehbarer Zahl hatte er bisher nur in der Natur, bei den Tieren, beobachtet, unter Menschen höchstens in der Kirche, wo sie auf den Altar ausgerichtet oder im Chor ruhig beieinander standen oder bei einer Prozession geordnet einherschritten. Dazu passt sein Eindruck vom Schloss im heimischen Hukvaldy, wo kaum mehr Betriebsamkeit geherrscht haben mag als auf einem größeren Gutshof: »Die Wände des Schlosses sind getüncht, aber das Gebäude und die Fenster entgehen dem Blick. Nur ein lärmender Haufen fremder Menschen – immer summt er vor dem Eingang wie ein dunkler Bienenschwarm am Flugloch.« 9 Und noch eine Erfahrung machte er: In Troppau wurde Tschechisch in einem anderen Tonfall gesprochen, wenn überhaupt, denn die Mehrheit der Bewohner redete Deutsch. Die Stadt war ja Hauptstadt des kleinsten österreichischen Kronlandes, Österreichisch-Schlesien, das in seinen südöstlichen Ausläufern ganze nahe an Hukvaldy heranreichte. Das Städtchen Friedeck (Frýdek), das später mit dem gegenüberliegenden mährischen Místek zusammengefasst wurde, gehörte bereits dazu. »Verwirrend kompliziert« also auch die Verwaltungsstrukturen.

Bei den Blaukehlchen

Ins beschaulich klösterliche Kremsier reiste Leoš wieder mit dem Vater, nach Brünn mit der Mutter. Es war die erste große Stadt, die er kennenlernte, wenn auch keine Großstadt. Brünn (Brno) entwickelte sich in diesen Jahren stetig, sollte aber erst zur Jahrhundertwende tatsächlich 100.000 Einwohner zählen. Mit der Industrie wuchs der Wohlstand und damit die Urbanität, wie in anderen aufstrebenden Städten des Reichs, die sich nun mit Wien messen wollten, Ringstraßen anlegten und repräsentative Bauten. Mit der Industrie wuchs aber auch die Zahl der Arbeiter, die vom Land in die Stadt kamen, und damit die Zahl der tschechischen Mitbürger. Mit zunehmender Prosperität und steigender Produktivität sahen sich die deutschsprachigen Brünner bald einer großen, sich emanzipierenden tschechischen Bevölkerungsgruppe gegenüber, zu der auch ein engagiertes »Bildungsbürgertum« gehörte, das sich auf Augenhöhe bewegen wollte.

Brünn, heute die zweitgrößte Stadt Tschechiens, war erst seit gut zweihundert Jahren die Kapitale Mährens. Davor war Olmütz Hauptstadt gewesen, als Großmähren noch weit mehr war als bloß ein Teil des böhmischen Königreichs und bis nach Ungarn und Polen reichte. Im 19. Jahrhundert gelang es dem Land an der March, sich, nun vor allem durch seine Wirtschaftskraft und die Fruchtbarkeit seiner Böden, neu zu definieren und gegenüber dem böhmischen Landesteil zu behaupten. Dass das böhmische und königliche Prag der Markgrafschaft Mähren gewisse Zugeständnisse machte, war keine Selbstverständlichkeit, und das Selbstbewusstsein Brünns beispielsweise auf kulturellem Gebiet wurde an der Moldau nicht unbedingt gewürdigt. Man schaute also nicht nur nach Wien mit Argwohn. Gleichwohl lag Wien geografisch viel näher, erst recht, seit 1839 eine Eisenbahnverbindung bestand. Gleise Richtung Prag wurden erst zehn Jahre später gelegt.

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Gruppenbild Alt-Brünner Augustinermönche um 1866: sitzend links Pavel Křižkovský, mit Kreuz der Abt Cyrill Napp, rechts hinter diesem stehend Gregor Mendel

Jiří Janáčeks Wahl für den weiteren Schulbesuch seines Sohnes und dessen musikalisches Fortkommen fiel auch deshalb auf die Brünner Augustiner, weil er auf Křižkovskýs Nähe baute. Allerdings sollte dieser wegen seiner auch gesundheitsbedingt seltenen Anwesenheit im Kloster nie die ihm zugedachte Rolle in Leoš’ Leben spielen. Hinzukam, dass bei den Brünner Augustinern ein slawisches Gegengewicht zum österreichischrömisch-katholischen Einfluss zu erwarten war. Man war fortschrittlich, schließlich machte der junge Prälat Gregor Mendel, der ebenfalls aus einem Dorf im Komitat Neu-Titschein stammte, hinter den Klostermauern seine Versuche zur Vererbungslehre. Das Geld für Leoš’ Unterbringung im Internat und alles andere schulisch Notwendige kam von einer Stiftung, die eine adlige Ordensdame aus dem Hause Thurn-Valsassin Ende des Dreißigjährigen Krieges gemacht hatte. Den allgemeinbildenden Teil des Schuljahrs 1865/66 absolvierte Leoš Janáček in der Abschlussklasse der deutschen Volksschule auf der Brünner Lackerwiese. Die Lehrer hießen Hanáček, Holeček, Pařízek und Šťáva.

Mit nur 51 Jahren starb im März 1866 der Vater, »unbegreiflich war dieser grausame Schlag«10. Zwar durfte Amalie Janáčková für ein halbes Jahr an Stelle ihres verstorbenen Mannes die Orgel von St. Maximilian in Hukvaldy spielen, zum Vormund der unmündigen Kinder musste jedoch ein männlicher Verwandter bestellt werden. Erziehungsberechtigter des elfjährigen Leoš wurde Onkel Jan Janáček, Dorfpfarrer in Blazice bei Bystritz am Hostein in der Nähe von Kremsier. Das Verhältnis war distanziert und blieb erst einmal auf einen Briefwechsel über materielle Notwendigkeiten und schulische Leistungen beschränkt. Im Mai feierte der Onkel seinen 56. Geburtstag, und Leoš schrieb ihm ein Gratulationsgedicht – auf Deutsch. Der Vormund sollte sehen, dass seine Kenntnisse nicht nur ausreichend, sondern gut genug waren, sich in einer Gesellschaft durchzusetzen, in der Zweisprachigkeit eine wichtige Fähigkeit war. Ansonsten schrieben sich Onkel und Neffe, der manchmal sogar, um Abstand zu markieren als »Enkel« firmierte, natürlich auf Tschechisch.

Die Mutter sollte Leoš nach dem Abschied im vergangenen Herbst wahrscheinlich für ganze vier Jahre nicht wiedersehen. Bei der Beerdigung des Vaters war er nicht dabei. Das Geld für die insgesamt 300 Landstraßenkilometer lange Reise nach Hukvaldy und zurück wäre vielleicht noch aufzutreiben gewesen, aber um rechtzeitig zu kommen, hätte man schon über telegrafische Kommunikation verfügen müssen. Vaterlos und von Mutter und Geschwistern getrennt, war er nun allein draußen in der Welt. Auf sich selbst gestellt, begann er, die Außenwelt und sein Metier, die Musik, zu verinnerlichen. In sich gekehrt waren die ersten Jahre der Adoleszenz, bis sich schließlich starke, ja sogar aggressive Impulse regten. Alles das während seiner Zeit als »Blaukehlchen«, wie man die Zöglinge des Altbrünner Klosters wegen ihrer weißgesäumten blauen Uniform nannte.

An seinem zwölften Geburtstag entschied sich bei den ostböhmischen Dörfern Benatek, Gradlitz, Hořinoves, Hořitz, Pobluz, Ratschitz, Sadova, Smidar und der kleinen Stadt Königinhof an der Elbe (Dvůr Králové nad Labem), dass es ein kleindeutsches Reich unter Führung Preußens und ohne Österreich geben würde. Die Schlacht, die man der Einfachheit halber später nur nach dem nahe gelegenen Königgrätz (Hradec Králové) benannte, beendete den Deutschen Krieg und machte den Weg zur Reichsgründung 1871 frei. Etwa 200.000 Österreicher und Sachsen waren einer preußischen Übermacht unterlegen, obwohl diese bei weitem schlechter ausgerüstet war. Bald zogen österreichische und dann, »wie schwarze Schwärme«11, auch preußische Truppen durch Mähren, kamen nach Brünn, verweilten dort, brachten das städtische Leben durcheinander und infizierten auch Zivilisten mit der Cholera. Die Altbrünner Chorknaben und mit ihnen der Halbwaise Leoš Janáček mussten bei vielen Beerdigungen singen. Zwei Wochen lang waren sogar Bismarck und König Wilhelm I. in der Stadt. Selbstverständlich standen die tschechischen Brünner und Mähren nicht auf der Seite Preußens, aber das Mitleid mit dem Haus Habsburg und seinem Kaiser wird sich in Grenzen gehalten haben, zeigte sich doch allmählich, wie instabil das Imperium der ethnisch und kulturell heterogenen Monarchie war, die im Jahr darauf zur Doppelmonarchie wurde, mit dem österreichischen Kaiser als König von Ungarn. Auch wenn das Nachbarland fortan mehr nationale Selbstbestimmung zugestanden bekam, konnte man sich in Brünn mit gewisser Erleichterung auf der vorteilhafteren Seite fühlen. In den ungarischen Komitaten, die an Ostmähren grenzten wie Trencsén/Trenčin, waren die ethnischen Relationen nicht viel anders als in Neu-Titschein, doch die nunmehr k.u.k.-Obrigkeit ging verständnisvoller mit den Nationalitäten um als die auf Magyarisierung bedachte Regierung in Budapest.

Einen guten Monat bevor Preußen und Österreich ihr deutsches Problem auf böhmischem Boden bis zum bitteren Ende ausfochten, hatte am letzten Maientag des Jahres 1866, im Interimstheater in Prag ein Ereignis stattgefunden, das entscheidende Bedeutung für das künftige Metier des Augustinerzöglings Janáček haben sollte: Das tschechische Publikum, das diese Bühne seit vier Jahren für sich hatte, applaudierte, beim ersten Mal allerdings noch verhalten, der Prodaná nevěsta von Bedřich Smetana. Mit der Verkauften Braut bekamen die Tschechen eine volkstümliche Nationaloper, an der sich wenige Jahrzehnte später auch der Rest der Welt erfreuen sollte.

Noch auf einem ganz anderen Sektor hatten sich in Prag tschechischnationale Kräfte zusammengetan, die darüber hinaus panslawische Ideen unterstützten: Sokol (Falke) nannte sich eine Turnbewegung, ähnlich der von Friedrich Ludwig Jahn in Deutschland, die bald auch Nachahmer in Kroatien, Slowenien, Polen und Galizien fand. Die tschechischen Falken beriefen sich außerdem auf die Tradition von Jan Hus und wurden von der römisch-katholischen Kirche noch weniger gemocht, weil sie auch frauen-emanzipatorische Tendenzen unterstützten.

Aus heutiger Sicht kommt es einem seltsam vor, dass in solchen Zeiten der Zwölfjährige nicht angehalten wurde, seine Schulferien 1866 auf dem Lande bei Mutter und Geschwistern oder auch beim Onkel zu verbringen. Er blieb in Brünn. Trotz allem waren wohl die Stadt, die Kameraden und nicht zuletzt die Musik, die hier zu hören war und die man selbst machen konnte, attraktiver als ein Aufenthalt in der Umgebung seiner Kindheit oder gar in Blazice. Leoš sang im Chor. Darüber hinaus bildeten die Klosterschüler natürlich auch ein Orchester, in dem auch Lehrer mitspielten. Janáček dürfte, je nach Bedarf, an Tasten- oder Schlaginstrumenten mitgewirkt haben, bisweilen mit der Violine. Er schrieb schon erste kleine Kompositionen und interessierte sich immer mehr auch für die Theorie. Er war aber nicht mehr als ein musikalisch auffallend begabter Jugendlicher, ganz bestimmt kein Wunderkind. Es sollte noch dauern, bis alles, was durch Eindrücke in ihm angelegt war, durch das, was noch um ihn herum geschehen sollte, nach außen gedrängt wurde. Man spielte und sang – nicht nur intra muros des Augustinerklosters, sondern auch öffentlich – Werke von Haydn, Mozart oder Beethoven, Cherubini, Auber und Méhul. Křižkovský, der auch Bratsche spielte, ließ bestimmt auch eigene neue Sätze singen; im Mittelpunkt des kirchlichen Chorgesangs aber standen Werke von zeitgenössischen Kirchenkomponisten wie Václav Horák, der, von der Prager Klassik kommend, allmählich nationale Züge hören ließ, oder dem Augsburger Domkapellmeister Karl Kempter. Ungeachtet dessen, dass er ein Deutscher aus Preußisch-Schlesien gewesen war, schätzte man auch in Mähren die Kompositionen von Joseph Ignaz Schnabel (1767–1831), von denen einige noch heute populär sind wie sein Transeamus usque Bethlehem.

Im Herbst 1866 wechselte Leoš auf die deutsche Gemeinderealschule in Altbrünn, wo selbstverständlich auch Tschechisch auf dem Lehrplan stand. Bis Ende Juli 1869 drückte er hier die Schulbank, neben den musikalischen Unterweisungen und Aktivitäten im Augustinerkloster. Später erinnerte er sich besonders an sein Auftreten, wohl als solistischer Knabenalt, in Beethovens C-Dur-Messe neben der Sopranistin Marie Hřímalá, die später am Salzburger Mozarteum lehrte, und daran, dass niemand anderer als er, ein gerade 13-jähriger, zur Verfügung stand, um Eleonora Gayer von Ehrenberg bei ihrem Auftritt im Brünner Lužánky-Stadtpark auf dem Klavier zu begleiten. Die »Gayerová z Ehrenbergů« oder auch »Ehrenbergová« war die erste Mařenka in der Prodaná nevěsta gewesen und mithin eine Art heimlicher Nationalopernheldin, wenn auch nicht originär böhmischer Herkunft. Außerdem meinte sich Janáček an seine Mitwirkung im Chor einer Aufführung von Meyerbeers Prophet zu erinnern. Für eine Aufführung besagter Oper im Brünn dieser Jahre gibt es aber keinen Beleg, sodass er sich da wohl irrte. Die Auftritte mit den beiden Opernsängerinnen sind gleichfalls nur durch Janáčeks Erinnerungen belegt, aber im Falle der Hřímála als sehr wahrscheinlich und im Falle der Ehrenberg zumindest als gut möglich zu qualifizieren. So schätzt es auch John Tyrrell in seinem umfassenden zweibändigen Buch über den Komponisten ein.

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Das Alt-Brünner Kloster

Im Augustinerkloster sollte sich im Sommer 1867 einiges ändern. Cyrill František Napp, der 75-jährige Abt, starb. Sein Nachfolger wurde Gregor Mendel, der Naturwissenschaftler deutscher Herkunft. Die Zeichen standen weiterhin auf Fortschritt. Im Bereich der Musikpflege jedoch, auf die Mendel kein besonderes Auge hatte, bekam Křižkovský freie Hand, der ein Anhänger des Cäcilianismus war, jener Bewegung in der katholischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts, die dem barocken, von der Wiener Klassik beeinflussten Glanz festlicher, orchesterbegleiteter Messen abschwor und sich stattdessen auf den streng-schlichten, reinen A-cappella-Stil besonders nach dem Vorbild Palestrinas zurückbesann. Das gab der wortgebundenen Musik und damit auch der tschechischen Sprache zwar einen höheren Stellenwert, trotzdem mochte die neue Richtung dem musikalischen Temperament des eher von musikantisch-elementaren als intellektuellen Eindrücken geprägten heranwachsenden Leoš kaum gefallen. »Die Trockenheit der deutschen Reform behagte mir nicht«, bekannte er, allerdings erst viel später.12 Cherubini und Beethoven wie auch Horák und Kempter begegneten ihm nun im Kloster bei Křižkovský immer seltener. Aber extra muros gab es die Werke Smetanas zu entdecken, dessen patriotische Oper Braniboři v Čechach (Die Brandenburger in Böhmen) keine fünf Monate vor der Verkauften Braut in Prag uraufgeführt worden war. Der 42-jährige Smetana war im Begriff, sich und der tschechischen, was in seinem Fall ausdrücklich böhmisch bedeutete, Musik internationale und damit zugleich nationale Bedeutung zu geben. Im Orchester des Prager Interimstheaters spielte Antonín Dvořák, 17 Jahre jünger als Smetana, Bratsche. Auch er hatte schon seine bemerkenswerte erste Sinfonie komponiert, deren Partitur jedoch, unaufgeführt, erst einmal für Jahrzehnte verlorenging. Im Mai 1868 wirkte die Ehrenbergová bei der Uraufführung von Smetanas Dalibor anlässlich der Grundsteinlegung des tschechischen Nationaltheaters in Prag mit, einer ganz überwiegend tschechischen Stadt, während in Brünn das Deutsche kulturell dominierte.

Leoš’ Leistungen in der Schule ließen nach. Er war oft krank, was ihn noch weiter zurückwarf. Der Onkel wurde ungehalten, doch seine Ermahnungen blieben ohne Erfolg. Erst die Ankündigung eines Besuchs ließ den gerade vierzehn Jahre alt gewordenen Neffen einlenken: Er wolle sich bessern und danke für die Güte des Vormunds, zudem brauche er neue Kleider. Die Sommerferien 1868 verbrachte Leoš, der den letzten Brief an den Onkel mit »Lev«, der russischen und damit besonders slawischen Variante seines Vornamens, unterzeichnet hatte, wieder in Brünn. Vom Tod der an Typhus erkrankten Schwester Rosalie am 18. April 1868 im Alter von achtzehn Jahren wird er durch einen Brief erfahren haben.

Das Jahr 1869, in dem Leoš Janáček die Schule abschloss und mit 15 Lebensjahren sein bescheidenes, aber immerhin etwas selbstständigeres »Studentenleben« begann, stand für die gläubigen und bekennend slawischen Mähren ganz im Zeichen der Tausendjahrfeier der Erhebung Methodios’ zum Erzbischof von Mähren. Allenthalben wurden Feiern ausgerichtet, auch in Brünn, und Leoš war dabei. Die aus Thessaloniki stammenden Brüder Kyrillos und Methodios hatten das Evangelium in slawischer Sprache verkündet. Kyrillos hatte zu diesem Zweck eine neue Schrift geschaffen, die »Glagoliza«, aus der sich später das kyrillische Alphabet entwickelte. Doch die Zeit der sogenannten »byzantinischen Mission« dauerte gerade ein Vierteljahrhundert, und mit dem Ende Großmährens war das Lateinische in die Kirchen zurückgekommen. Das Kyrillos-Methodios-Millennium bot Gelegenheit, Distanz zu zeigen zum römisch-katholischen Klerus und zur deutsch-österreichischen Autorität. Es war aber kein anderer als der Erzbischof Friedrich Egon von Fürstenberg, Symbolfigur für beide Bereiche, der den Brünner Blaukehlchen im Juli 1869 eine Pilgerreise nach Velehrad ermöglichte, dem Haupt-Wallfahrtsort des mährischen Kyrillos-Methodios-Kults, nordöstlich von Uherské Hradiště (Ungarisch-Hradisch) – ironischerweise im 17. Jahrhundert von Christian Gottfried Hirschmentzel begründet, der aus einer deutschschlesischen Familie in Friedek stammte. Křižkovský führte die junge Brünner Pilgerschar an, und man musizierte zu Ehren der Slawenapostel in der ehemaligen Zisterzienser-Abteikirche unter anderem ein Hauptwerk der cäcilianischen Bewegung, die Choralmesse des aus der Schweiz stammenden Münchner Domkapellmeisters Karl Greith.

In einem Brief vom 26. Mai kündigte »Lev« dem Onkel die Reise an und bat ihn, vielleicht in Bystritz für einen günstigeren Preis als in Brünn »russisches Leinen« zu besorgen für ein »slawisches Gewand«, wie es die Sokol-Anhänger trugen. Dem Brief legte er ein selbst verfasstes Gedicht »Den Mördern!« bei, auf Tschechisch diesmal. Hier findet sich der erwähnenswerte Vers: »Name und Sprache haben gelitten / im Gemenge der Zeit: / Aber aus den Gräbern lacht / den Slawen die Hoffnung wieder.« 13 Der Rest ist pubertär-pathetisches Ressentiment, aggressiv antideutsch, wenn auch unausgesprochen.

Nach dem Stimmbruch war die Sängerknabenzeit vorbei und kein Platz mehr für Leoš im Blaukehlchen-Internat. Křižkovský half dem 15-jährigen im Sommer 1869 ein bescheidenes Zimmer in Untermiete zu finden, um seine Ausbildung an der K. k. Lehrerbildungsanstalt fortzusetzen. Tschechischer Unterricht und tschechische Schulen wurden zwar seit einiger Zeit von Wien gefördert, auch ein tschechisches Gymnasium gab es in Brünn seit 1867, die Lehrerbildungsanstalt war dennoch eine deutsche Institution. Lehrer wurden damals nicht akademisch ausgebildet, sondern an ebensolchen Seminaren, und ohne dass sie dazu eine »allgemeine Hochschulreife« im heutigen Sinne haben mussten. Bevor das neue Schuljahr an diesem Institut im Brünner Minoritenkloster begann, besuchte Leoš-Lev zum ersten Mal seit Jahren die Mutter, die mittlerweile nach Příbor gezogen war, und tatsächlich endlich auch einmal den Onkel in Blazice bei Bystritz am Hostein. Bald darauf wurde Pfarrer Jan Janáček versetzt – nach Znorovy.

Znorovy (heute Vnorovy) liegt in der Region Slovácko, der mährischen Slowakei, knapp sechzig Kilometer südöstlich von Brünn an den Ausläufern der Weißen Karpaten. Ganz in der Nähe mündet das Flüsschen Velička in die March. Als ein Vorort von Veselí nad Moravou (Wessely an der March) war Znorovy um einiges größer als das abgelegene Blazice. In den Sommerferien 1870 besuchte Leoš den Onkel auch an seinem neuen Dienstort. In dieser Gegend an der Grenze zum ungarischen Komitat Nyitra (slowakisch Nitra) lebte ein anderer Menschenschlag als in Hukvaldy oder Příbor. Wieder war die Sprache ein bisschen verschieden von dem, was Leoš bisher kennengelernt hatte, wieder erlebte er ein anderes slawisches Brauchtum mit traditionellen Trachten und Instrumenten. In der Volksmusik und den Gesängen hörte er andere Rhythmen und Intervalle. Vielleicht war dem Pfarrersneffen schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen, dass »nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die mährisch-slowakischen Kinder die Vierteltriole gegen zwei Viertel aber auch gegen vier Achtel spielend leicht singen.«14 Man trank mehr Wein als Bier, denn außer Zuckerrüben wuchsen hier vor allem Trauben; man war weltzugewandter als in der Lachei und auch ein wenig wohlhabender. Bis zum österreichischen Weinviertel waren es keine zwei Dutzend Kilometer, und zum Wallfahrts- und Weinort Blatnice pod Svatým Antonínkem (Großblatnitz) mit seiner dem heiligen Antonius von Padua geweihten Kirche war es zu Fuß nur eine gute Stunde.

In Brünn durfte Leoš die Mahlzeiten weiter im Augustinerkloster einnehmen, dafür half er bei der Kirchenmusik, an der Orgel und als Chorleiter. Im Laufe seines dritten Schuljahrs wurde die Lehrerbildungsanstalt in eine deutsche Sektion und eine »Kaiserlich und königliche slawische Anstalt zur Ausbildung von Lehrern in tschechischer Sprache« geteilt und bald darauf der deutsche Direktor Josef Parthe von dem tschechischen Kollegen Gustav Zeynek abgelöst. Parthe hatte auch Psychologie unterrichtet, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Janáček erinnerte sich noch Jahrzehnte später an ihn, weshalb man dem 15- oder 16-jährigen in der Janáček-Literatur ein besonderes Interesse für diese Wissenschaft unterstellt hat. Doch das geht wohl zu weit, da Parthe gewiss kein Psychologieprofessor im heutigen Sinne war, sondern eher ein Pädagogiklehrer, der seinen konservativeren Kollegen etwas voraus war. Direktor Zeynek blieb nur ein knappes Jahr, sein Nachfolger wurde Emilián Schulz. Schulz war 36 Jahre alt und Tscheche aus Böhmen, seine Frau Anna Schulzová stammte aus Jauernig (Javornik), jenem Zipfel Österreichisch-Schlesiens, der heute als Teil der Tschechischen Republik in die polnischen Wojewodschaften Oppeln und Niederschlesien ragt. Sie war eine geborene »Kaluschka«, wie ihre Vorfahren den polnischen Familiennamen Kaluszka eingedeutscht hatten, und gewohnt Deutsch zu sprechen, auch mit ihrer kleinen Tochter, die sie dennoch bekennend slawisch Zdenka getauft hatte. Der k.u.k.-Beamte Schulz sprach selbstverständlich ebenfalls exzellent Deutsch, nicht nur weil sein Amt es verlangte. Das Töchterchen war sieben Jahre alt, ging aber nicht zur Schule, sondern wurde zu Hause unterrichtet, vornehmlich vom Vater und auf Deutsch.

Zur gleichen Zeit, zu der Schulz aus Kroměříz nach Brünn kam, ging Pavel Křižkovský fort, um in Olmütz zu wirken. Von seinem ersten Mentor verlassen, ahnte Leoš noch nicht, welche Bedeutung die Familie von Direktor Schulz einmal für den mittlerweile 18-jährigen Lehramtskandidaten haben würde. Im Sommer 1872 schloss er seine Ausbildung ab, was dank eines Stipendiums für das letzte Jahr wirtschaftlich relativ entspannt vonstatten ging. Jetzt gleich eine richtige Stelle zu bekommen, durfte er jedoch nicht erwarten. Nach Křižkovskýs Weggang wurde er im Alt-Brünner Augustinerkloster als Musiker noch mehr gebraucht als zuvor, aber außer Verköstigung gab es dafür kein Entgelt. Mit Erlass vom 25. November 1872 wurde er an der Lehrerbildungsanstalt »in den Lehrkörper als Hilfslehrer der Übungsschule vorläufig ohne Anspruch auf Gehalt aufgenommen«.15

Auch aus seinem letzten Jahr als Schüler der Anstalt ist wenig überliefert von den musikalischen Aktivitäten des jungen Janáček. Wir wissen allerdings, dass er am 6. Mai 187216 an einem Konzert mitwirkte, das der Männergesangsverein Zora (südslawisch für Morgenröte oder Sonnenaufgang) zusammen mit dem Chor des Handwerkervereins Svatopluk bestritt, welcher sich nach jenem Fürsten aus dem 9. Jahrhundert benannt hatte, unter dem Großmähren am größten gewesen war. Mitveranstalter war die Beseda brněnská, eine Gesellschaft für tschechische Kultur und Unterhaltung, die eine immer wichtigere Rolle im öffentlichen Leben der Stadt spielte. Die Übersetzerin Ilse Schwarz-Turnovsky übertrug den schwer fasslichen Namen der Institution mit »Brünner Ressource«17. Im April des folgenden Jahres bezog die Beseda brněnská ein eigenes Haus mit Veranstaltungsräumen und Gaststätte, das heute noch bestehende Besední dům am Komenského náměsti. Der Svatopluk-Chor traf sich im Gasthof »U bilého kříže« (Zum weißen Kreuz). Im Februar 1873 trug er Leoš Janáček das Amt des Chorleiters an, das auch mit einem Honorar verbunden war, was sehr gelegen kam.

Die große tschechische Stadt

Der Männerchor, in dem ausschließlich in tschechischer Sprache gesungen wurde, bot die Möglichkeit, sich in einem politisch unverdächtigen Rahmen national zu bekennen. Das war in Deutschland in den Jahren vor der Reichsgründung ähnlich gewesen. Dadurch, dass die Mitwirkenden fast alle Nicht-Musiker und Laiensänger waren, wirkte der Svatopluk-Gesang auch in »bildungsferne« Kreise hinein und besaß deshalb besonderes Potenzial, was den »slawischen Aspekt« betraf. Für Janáček hatte die neue Aufgabe den Reiz, dass er Stücke schreiben und sie gleich selbst aufführen konnte, ohne dass ihm jemand belehrend hineinredete. Er komponierte nach seinen eigenen Regeln und vertonte Texte, die es ihm wert waren. Freilich musste das Ergebnis sangbar sein und die Chormänner begeistern, was aber in der Regel bereits durch die nationale Motivation und den Willen zu Abgrenzung gegenüber dem k.u.k.-Deutschtum gewährleistet war, auch wenn die Ausführung gelegentlich zur Herausforderung wurde.

Janáček wurde in diesem Sommer 19 Jahre alt. Etwas komponiert, das auf die Nachwelt kommen sollte, hatte er noch nicht – außer womöglich ein Arrangement ausgerechnet der Haydnschen Kaiserhymne Gott erhalte … mit Orgelbegleitung!18 Er besuchte tschechische Literaturvorlesungen, lernte ein wenig Französisch und fasste sein nächstes Ziel ins Auge: eine Ausbildung an der Prager Orgelschule, auf deren Aufnahmeprüfung er sich vorbereitete. Mit den für den Svatopluk-Chor geschaffenen Chorsätzen machte er sich in Brünn und Umgebung einen ersten Namen. Er knüpfte an musikalische Traditionen an: Zwar ging Pavel Křižkovský in der geistlichen Chormusik cäcilianische Wege, sodass er auf diesem Gebiet nicht mehr zum Lehrmeister taugte, dennoch blieben seine profanen volkstümlichen Chöre ein hörbares Vorbild für Janáček bei dessen künstlerischer Identitätsfindung. In dem eine verlorene Liebe beklagenden Satz Na košatej jedli dva holubi sed’á (Auf der dichten Tanne sitzen zwei Tauben) herrscht melancholische Rhythmusstrenge wie bei Franz Schuberts getragenen Zwei-Viertel-Takt-Melodien. Er hatte diese Volksweise in der reichen Publikation mährischer Volkslieder von František Sušil gefunden, einem 1868 verstorbenen Brünner Priester und Theologen, bei dem auch Křižkovský häufig fündig geworden war. Von Orání (Pflügen) wissen wir verlässlich, dass Janáček und Svatopluk den Männerchor am 27. April 1873 im »Weißen Kreuz« erstmals öffentlich vortrugen. Von der Faktur her eher konventionell, wurde er bald recht bekannt und beliebt: Ein Mädchen fragt herausfordernd einen jungen Mann, der mit Pflug und Ochsen auf dem Feld steht, warum er nicht weiterpflüge. Soll’ sie doch die Ochsen antreiben, meint daraufhin der junge Mann, dann hätť er auch Augen für sie. Das Mädchen antwortet, dass das nicht ihre Sache sei.

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Leoš Janáček, 1878

Auch das slowakische »Volkslied«19 Láska opravdivá (Wahre Liebe) kam bei Sängern und Publikum gut an. Noch verlangte der junge Komponist ihnen nicht viel Aufgeschlossenheit für Neues ab. Schon anders bei Osudu neujdeš (Dem Schicksal entgehst du nicht): Den Text hatte Janáček einer Sammlung serbischer Volksdichtungen entnommen, die Siegfried Kapper ins Tschechische übersetzt hatte. Kapper, der mit Vornamen eigentlich Isaac Salomon hieß, war als Student Anhänger der jungdeutschen Bewegung gewesen, fühlte sich jedoch als Tscheche und gilt als der erste Jude, der einen Gedichtband in tschechischer Sprache veröffentlichte. In Osudu neujdeš geht es um die junge Toda, die einen Apfel in die Menge wirft, um ihren künftigen Ehemann zu finden. Der Apfel trifft jedoch einen Greis, den sie natürlich nicht heiraten will. Sie hofft, dass er beim Wasserholen oder beim Holzhacken stirbt. Aber auch, als sie ihn in den Krieg schickt, kehrt er zurück, jetzt aber mit einer Waffe in der Hand. Toda muss sich fügen. Janáček stellt Rhetorik und Dramatik des Gedichts über musikalische Form und konventionelles Metrum und ignoriert in gut dreieinhalb Minuten fast kollagenhafter Ausdrucksvielfalt fast alle Männerchor-Gepflogenheiten. Am Schluss hängt der erste Tenor an die eigentliche Schlusszeile »Dem Schicksal entgehst du nicht!« wie einen Kuckucksruf ein beinahe ironisierendes »Nikdy!« (Niemals) an. Um die komplizierten, weil unmittelbar aus dem Text hergeleiteten Rhythmen und die rasch wechselnden Vortragsbezeichnungen auch verwirklichen zu können, verzichtet er auf Taktstriche, weshalb die Sänger seinem sicherlich gestisch-suggestiven Dirigieren besonders aufmerksam folgen mussten. Den Text nicht in das System der notierten Musik zu zwingen, sondern ihn den musikalischen Verlauf generieren zu lassen, war gewiss nicht nur Stilmittel. Es hatte auch einen aufführungspraktischen Vorteil, mussten sich doch die singenden Handwerker, die jetzt auch hin und wieder im Besední dům auftraten, so nicht um komplizierte Taktwechsel kümmern.

Im Juni 1873 unterzeichneten der Kaiser und der Zar die Schönbrunner Konvention. Trotz gegenläufiger Interessen auf dem Balkan wollten Franz Joseph I. und Alexander II. einander im Falle europäischer Auseinandersetzungen doch beistehen. Das wird man auch in Brünner Zeitungen gelesen und bei Sokol, Svatopluk und Zora mit gemischten Gefühlen aufgenommen haben, denn für viele Anhänger des panslawischen Gedankens standen Russland und der Zar für Emanzipation. In Böhmen und Mähren gewiss mehr als in den polnischen Gebieten, die in diesen Jahren unfreier Teil des russischen Kaiserreichs waren.

Ostern 1874 profilierte sich Janáček am Augustinerkloster mit musikalischen Darbietungen im repräsentativen Rahmen. In Wien führte man an diesem Ostersonntag zum ersten Mal Johann Strauss’ Fledermaus auf, welche bald ein Denkmal der k.u.k.-Bühnenseligkeit wurde. Janáček, nun bald zwanzig, war da wohl noch kein einziges Mal in einer Musiktheateraufführung gewesen! Richard Wagners Tannhäuser war schon 1861 in Brünn aufgeführt worden, natürlich im deutschen Theater, wo man auch italienische Opern spielte. Leoš-Lev hätte daher durchaus schon von Giuseppe Verdi gehört haben können. Aber vermutlich ging dies alles an ihm vorbei, und vielleicht war das für seine Entwicklung gut. Er verfolgte weiterhin seine literarischen Interessen und erweiterte sein Wissen in der Brünner Lesegesellschaft. Im Herbst absolvierte er ergänzende Examina, um recht bald an der Lehrerbildungsanstalt auch Geld verdienen zu können, und er hatte mittlerweile eine Prüfung abgelegt, die ihn berechtigte, Tschechisch an Grund- und Mittelschulen zu unterrichten. Auch das für das Studium an der Orgelschule in Prag erforderliche staatliche Stipendium wurde ihm gewährt. Mehr noch als Vater und Großvater strebte er nach Kompetenz und Diplomen. Seine Ausbildung sollte über das, was seine Kantoren-Vorfahren vorzuweisen hatten, weit hinausgehen. Die Orgelschule war eine Akademie für Kirchenmusik, an der auch Theorie und Geschichte vermittelt wurden.

Die Fahrt mit der Eisenbahn nach Prag über Böhmisch Trübau (Česká Třebová) und Pardubice wird an die sieben Stunden gedauert haben, und als JanáčřVerkaufte Braut