Cover.jpg

INHALT



» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Danksagung, Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber





» www.keinundaber.ch

Autorenfoto_Wait.jpg

ÜBER DIE AUTORIN

Rebecca Wait, 1988 geboren, schloss 2010 ihr Englischstudium an der Oxford-Universität mit Bestnote ab. Dort wurde sie vom Lyriker und Romanautor Craig Raine unterrichtet. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat zahlreiche Preise für ihre Kurzgeschichten und Theaterstücke gewonnen. Kopfüber zurück ist ihr erster Roman.

ÜBER DAS BUCH

Fünf Jahre sind vergangen, seit ein dramatisches Ereignis das Leben der Familie Stewart grundlegend verändert hat. Tochter Emma war damals neun und erinnert sich nur vage an das Geschehene. Doch langsam wird ihr klar, wie lückenhaft die knappe Erklärung ihrer Eltern ist, und sie beginnt, unbequeme Fragen zu stellen. Die Wahrheit, die nach und nach ans Licht kommt, ist erschütternd und konfrontiert Emma auf ganz neue Weise mit ihrer Familie – gleichzeitig beginnt sich aber auch die Erstarrung der letzten Jahre zu lösen.

Titelei_Wait.jpg

Für meine Eltern

Jetzt waren sie wieder zusammen.

Später würden sie sich an diese Stunden erinnern. Sie würden, jeder für sich, nach Vorzeichen suchen. Es war abzusehen gewesen. Schon damals am Strand, Jahre zuvor, war es abzusehen gewesen – sie hatten es nur nicht gemerkt.

Würden sie auf Hinweise stoßen, wenn sie sich diesen Tag ins Gedächtnis riefen? Vielleicht erinnerten sie sich daran, dass sich dunkle Wolken am Horizont verdichteten. Dass der Wetterumschwung spürbar, die Hitze drückend wurde. Oder vielleicht blickten sie zurück und sahen nichts als den ausgewaschenen, gelben Sand und das rhythmische Brechen der Wellen.

Das Paar suchte mit einer Thermoskanne Tee und Sandwiches in der Felsenbucht Schutz vor der Hitze. Joe hatte ein Buch aufgeschlagen, und Rose schaukelte ab und zu das Baby auf ihrem Schoß.

Die Jungs standen ein Stück abseits, näher am Meer, zerzaust und glücklich in ihren verschlissenen T-Shirts und Badehosen. Sie hatten beschlossen, ein Loch zu graben, aber ihr Unterfangen ging nur langsam voran.

»Du musst die Seiten verstärken«, sagte Kit. »Die Wände brechen immer wieder ein.«

»Warum muss ich eigentlich die ganze Zeit graben?«, fragte Jamie.

»Weil ich den Bau beaufsichtige.«

Ein Loch zu graben, war Jamies Idee gewesen, aber jetzt schien es, als stamme sie von Kit. Er hatte das Kommando übernommen, wie immer.

»Wir sind auf Wasser gestoßen, das ist ein gutes Zeichen«, verkündete Kit und spähte in das Loch.

»Zum Glück kennst du dich so gut aus.« Jamie hieb seinen Plastikspaten in den Grund und hievte Schlick zur Seite. Sofort rutschte neuer nach. Mit Mühe zog er die Füße aus dem Matsch.

»Das ist wie Treibsand hier unten«, rief er.

»Stell dich nicht so an. Das ist doch kein Treibsand.«

»Ich habe ja auch gesagt, wie Treibsand«, verteidigte sich Jamie.

»Los, mach weiter«, rief Kit, »wir müssen noch viel tiefer graben, sonst hat es keinen Zweck.«

»Bis nach Australien?«

»Japp.«

Sie lachten über den alten Witz.

»Dann gib mal her«, sagte Kit. »Ich löse dich ab.«

Er nahm den Spaten entgegen und packte Jamie am Arm, um ihn aus dem Loch zu ziehen. Jamie stemmte sich mit den Füßen gegen den empfindlichen Rand, und eine der Seitenwände brach ein.

»Jamie!«

»Du hast mich zu schnell hochgezogen.«

Kit sprang in das Loch und machte sich daran, den Schaden zu beheben.

»Wusstest du, dass in Amerika mehr Leute an Sand sterben als durch Haiangriffe?«, fragte Jamie, während Kit grub. »Die Menschen werden lebendig begraben. Es ist wahrscheinlicher, dass man im Sand verschüttet wird und erstickt, als von einem Hai gefressen zu werden.«

»Faszinierend, Jamie.«

»Ich meine ja nur. Man würde doch glauben, dass Haie gefährlicher sind. Und nicht, dass mehr Menschen sterben, weil sie im Sand versinken.«

»Das sind wahrscheinlich alles Dummköpfe wie du, die kein ordentliches Loch graben können.«

»Ich habe doch die meiste Arbeit gemacht!«

»Was zählt, ist Qualität, nicht Quantität, Jamie«, sagte Kit.

»Wir sollten bald aufbrechen«, sagte Joe ein Stück weiter oben am Strand.

»Ich will die beiden jetzt nicht stören«, meinte Rose. Sie kniete und spielte mit dem Baby, das damit beschäftigt war, sich den weichen Sand durch die Finger rieseln zu lassen. »Sieh nur – das erste Mal am Strand, und sie findet es toll. Stimmts, Emma?«

Das Baby blickte seine Mutter ernst an und wendete sich dann wieder dem Sand zu.

»Nur noch ein bisschen«, bat Rose.

»Na gut.« Joe wollte sich gerade wieder seinem Buch widmen.

»Sind die Jungs nicht drollig?«, fragte sie. »Sie sind wieder wie kleine Kinder.«

»Haben sich zurückentwickelt bei den ganzen Kindheitserinnerungen an den Strand.«

»Schön, sie so zusammen spielen zu sehen.«

»Ich glaube nicht, dass die beiden es ›spielen‹ nennen würden.«

»Kit geht toll mit Jamie um, findest du nicht? Wie er ihm beim Graben hilft, ganz schön geduldig.«

Joe dachte darüber nach. »Geduldig« war nicht das Erste, das ihm einfiel, wenn er Kit beschreiben sollte.

»Ich habe mir ein bisschen Sorgen um Jamie gemacht«, gestand Rose. »Der Altersunterschied scheint plötzlich größer, findest du nicht? Jetzt, wo sie beide Teenager sind.«

»Jamie wird schon aufholen«, erwiderte Joe. »Gib ihm noch ein Jahr.«

»Du hast bestimmt recht.« Einen Augenblick sagte sie nichts, dann fügte sie hinzu: »Schön, dass wir noch mal alle zusammen einen Ausflug machen. Ehe wir’s uns versehen, sind nur noch du, ich und Em übrig.«

»Mhm.« Er war schon wieder in sein Buch vertieft.

Rose wandte sich Emma zu. Sie half ihr, einen kleinen Eimer mit Sand zu füllen und auszukippen, wieder und wieder.

»Wie wäre es mit Fish and Chips zum Abendessen? Zur Feier des Tages«, schlug sie vor.

»Wie du willst.« Es klang, als würde er ihr zuliebe zustimmen, dabei dachte sie nur an die Jungs.

Es war so friedlich zuzusehen, wie Emma im Sand spielte und ihre Söhne in der Ferne, ganz ernsthaft mit den Spaten. Rose wünschte sich, dass sie für immer hier bleiben könnten.

Und so verging der Nachmittag, sie blieben am Strand, der Wind wurde kühler, und die Sonne zog sich zurück, die Wolken in der Ferne verdichteten sich und blähten sich auf. Langsam wich die Hitze aus dem weichen Sand der Bucht, das Meer bahnte sich seinen Weg weiter und weiter den Strand hinauf, schlich leise an sie heran. Die anderen Urlauber zerstreuten sich allmählich, und schließlich waren nur noch die fünf übrig.

Joe sagte zu Rose: »Die Flut kommt.«

Rose stand auf und nahm Emma auf den Arm. »Ich rufe die Jungs.«

Jamie sagte zu Kit, der immer noch im Loch stand: »Wenn das Wasser kommt, haben wir einen Swimmingpool.«

»Nein«, sagte Kit, »es wird einstürzen.«

Dann fielen die ersten Regentropfen.

Teil 1

1

Der Regen hätte ihm so zusetzen müssen wie allen anderen. Er war unbändig, hartnäckig, hämmerte gegen die Scheiben, verlangte Aufmerksamkeit. Die Kunden hatten verschwörerische Mienen aufgesetzt, warfen sich gegenseitig Blicke zu und wickelten sich enger in ihre Mäntel, doch er beachtete sie nicht. Er ging durch den Laden, schloss die Fenster, damit die Bücher nicht nass wurden, und kehrte dann in die Abteilung für jüdische Geschichte zurück, wo er gerade die neue Lieferung in die Regale einsortierte.

In seinem Kopf ließ er nur absolute Stille zu. Zu lernen, an nichts zu denken, war schwierig gewesen. Aber er hatte es sich mit Geduld und hartem Training zur Gewohnheit gemacht. Manchmal, wenn er Schwierigkeiten damit hatte – so wie jetzt –, zog er sich in seine Gedanken zurück: auf eine Insel oder allein in die Wüste. Diesmal wählte er den Wald. Unbewegt und still warteten die Bäume darauf, ihn in ihr allumfassendes Schweigen aufzunehmen. Er stand inmitten der Geschichtsbücher und starrte in das Sonnenlicht, das durch die Äste fiel.

Jemand berührte ihn am Arm und riss ihn aus seinem Traum. Widerwillig verließ er den Schutz der Bäume, drehte sich um und sah einen älteren Mann.

Jamie stutzte, dann setzte er seine Kundenstimme auf und fragte: »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Ich möchte mich über die Abteilung für jüdische Geschichte beschweren«, sagte der Mann. Es hörte sich an, als hätte er den Satz vorher geübt. »Ich habe kein einziges Buch gefunden, das ich gesucht habe. Die Bücher hier sind alle über den Holocaust.«

»Ja«, erwiderte Jamie zögernd, »das sind wohl die meisten.«

»Das ist doch absurd«, empörte sich der Mann. Er schien Mut zu schöpfen, während er sprach. »Wo sind Ihre Bücher über jüdische Kultur, Musik oder Literatur? Bei Ihnen wirkt es so, als wäre der Holocaust das einzig Bemerkenswerte in der langen Geschichte des jüdischen Volkes. Als hätte es keine reiche und vielfältige Vergangenheit, die nichts mit dieser einen barbarischen Schandtat zu tun hat.«

Jamie sagte behutsam: »Wir führen, was sich verkauft, sonst machen wir Verluste. Und Bücher zum Thema Holocaust sind immer gefragt.«

»Weil das Grauen die Leute fasziniert.«

Jamie wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

»Mir gefällt das nicht«, sagte der Mann. »Mir gefällt nicht, wie Ihr Laden die Juden über eine einzige schreckliche Sache definiert, die ihnen angetan worden ist, und nicht über etwas, das sie selbst hervorgebracht haben. Verstehen Sie, was ich meine?«

Jamie nickte.

»Uns darüber zu definieren, was sie uns angetan haben, bedeutet, sie gewinnen zu lassen. Geschichte sollte doch allem die gleiche Bedeutung zumessen.«

»Aber wie soll das gehen?«, fragte Jamie, ohne nachzudenken. »Manche Dinge stechen eben hervor und überragen die anderen.«

»Warum sollen wir nur lesen, was Leute für interessant halten, denen das … das große Ganze egal ist, und die nur Augen für grausame Details haben?«

Wollte sich der Kunde wirklich nur darüber beschweren, dass die Geschichtsabteilung schlecht bestückt war?, dachte Jamie. Er verlor schnell das Interesse an der Diskussion, erkannte jedoch, dass sein Gegenüber noch nicht zufrieden war.

Jamie errichtete eine Wand zwischen sich und dem Mann. »Wir freuen uns immer über Verbesserungsvorschläge. Haben Sie irgendwelche Empfehlungen, welche Bücher wir bestellen könnten, um die Bandbreite der Abteilung zu erweitern?«

Er hatte mit einer genervten Reaktion gerechnet, doch der Mann stellte ihm eine umfangreiche Liste auf. Dann zog er mit Mühe den Mantel wieder an, hantierte mit seinen geschwollenen Fingern an den Knöpfen und ging hinaus in den Regen. Jamie legte die Liste hinter seine Verkaufstheke auf den Stapel mit den anderen Merkzetteln. Er würde keines der Bücher bestellen. In den Regalen war nicht genug Platz. Und die Leute wollten das Grauen.

In der Mittagspause schüttete es noch immer, und er konnte sich nicht überwinden, hinauszugehen, um sich ein Sandwich zu kaufen. Er zog eine Tüte Chips und einen Marsriegel am Automaten und setzte sich in den Pausenraum, um seinen Alistair-MacLean-Roman zu lesen. Wenn er eine Buchhandlung betrat, hielt er immer unwillkürlich Ausschau nach den Büchern dieses Autors und hatte es inzwischen zu einer beachtlichen Sammlung gebracht. Er saß an seinem Stammplatz in der Ecke. Ein Platz, an dem man selten gestört wurde. Gerade als er in sein Mars beißen wollte, bemerkte er einen Schatten hinter sich.

»Was lesen wir denn da?«

Jamie seufzte innerlich. Brian aus der Belletristik war der Meinung, in ihm einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, da er seine Leidenschaft für alte Thriller schnell entdeckt hatte. Brian stand zwar mehr auf Science-Fiction und Fantasy, aber er hatte den Liebhabereifer an Jamie erkannt und glaubte anscheinend, er würde dessen Aufmerksamkeit bald auf ein Genre lenken können, das sie eher verdient hatte.

»Die Überlebenden der Kerry Dancer«, antwortete Jamie, ohne aufzusehen. Jetzt ging es nur noch darum, den Schaden in Grenzen zu halten. Manchmal konnte man Brian abwimmeln, wenn man nicht auf ihn einging. So, wie man sich tot stellt, wenn man einem Grizzly begegnet.

»Taugt es was?«

»Weiß noch nicht. Erstes Kapitel.«

Brian setzte sich neben ihn, wie immer ein bisschen zu nah. Resigniert klappte Jamie das Buch zu.

»Du solltest Ursula Le Guin noch eine Chance geben«, meinte Brian.

»Ich glaube, die ist nichts für mich, Brian.«

»Eine herausragende Schriftstellerin«, fuhr Brian unbeirrt fort. »Genau das Richtige, wenn du mal etwas ein, zwei Kategorien über MacLeans Niveau lesen willst.«

»Ich glaube, alles über MacLean ist mir zu hoch.«

»Wie? Zu kaputt von der Schinderei in der Geschichte?«, gluckste Brian. »Klauen dir die Kundenmassen etwa die Hirnleistung? Die schaffen es doch gar nicht bis in den zweiten Stock. Du solltest mal sehen, was in der Belletristik los ist.«

»Ehrlich gesagt, Brian«, antwortete Jamie und nutzte seine letzte Notlüge, »kann ich nicht so gut lesen.«

Er stopfte das Buch in die Tasche und verließ den Pausenraum, während Brian eine Entschuldigung stammelte. Dass ihm wertvolle Minuten seiner Pause gestohlen worden waren, machte Jamie auf eine kindische Art wütend. Er schlich an der Auskunftstheke vorbei und setzte sich zum Lesen in die kleine Nische zwischen jüdischer und Kriegsgeschichte, in der Hoffnung, Brian würde ihn dort nicht finden.

Er war so sehr in Die Überlebenden der Kerry Dancer vertieft, dass er das Paar zunächst gar nicht bemerkte. Dann machte die Frau eine Bewegung – vielleicht strich sie sich die Haare aus dem Gesicht oder schüttelte die Regentropfen von ihrem Mantel, später wusste er nicht mehr, was es gewesen war. Irgendetwas an ihrer Art, sich zu bewegen, fiel ihm jedenfalls ins Auge. Jamie wandte den Blick nicht von seinem Buch ab, aber seine Aufmerksamkeit war nun auf den jungen Mann und die Frau gerichtet, die vor ihm standen.

Jetzt sprach die Frau, flüsterte dem Mann etwas zu, das ihn zum Lachen brachte, und Jamie erstarrte augenblicklich. Er konnte zwar nicht hören, was sie sagte, aber er erkannte am Klang, am Rhythmus dieser Stimme etwas wieder, das die vergangenen Jahre ungeschehen machte.

Alice Brown.

Er sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich umdrehte, stutzte und ihn anstarrte. Sie schaute direkt in seine Richtung.

Als sie auf ihn zuging, stand er auf.

»Jamie?«

Sie trug die Haare in einem kurzen, ordentlichen Bob, nicht mehr leuchtend rot wie früher, sondern natürlich dunkelbraun. Ihr Gesicht hingegen wirkte noch immer zerbrechlich, neugierig, wie das eines Kindes. Vor allem in diesem Moment, mit diesem zögerlichen Ausdruck. Sie war immer noch hübsch. Natürlich war sie immer noch hübsch.

»Bist das wirklich du?«, fragte sie. »Ich war mir nicht ganz sicher.« Sie wirkte nervös. Jamie fragte sich, ob auch er nervös wirkte, aber konnte es nicht einschätzen.

»Alice.«

»Ich fass es nicht.«

Da war es wieder, das alte, breite Lächeln. Wie viel Vertraulichkeit darin lag, wie es Alice und ihn zu Verbündeten machte, wenn sich ihre Blicke trafen, hatte Jamie immer gefallen. Irgendwann war ihm jedoch aufgegangen, dass sie dieses Lächeln jedem schenkte.

»Das ist ja ein Zufall«, sagte Alice. »Wir haben Marks Eltern in Leeds besucht und machen hier nur einen Zwischenstopp. Dann hat es angefangen zu regnen.« Sie gestikulierte, als wollte sie sagen: Und jetzt sind wir hier.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Alice schien nur zu reden, um die Leere zwischen ihnen zu füllen. Nach der anfänglichen Überraschung merkte Jamie, dass sie sich nicht viel zu sagen hatten, und vermutete, Alice ginge es genauso.

Sie gab ihrem Begleiter ein Zeichen, und er kam herüber. Jamie musterte ihn. Er sah akzeptabel aus. Irgendwie nett, aber nicht gerade gutaussehend.

»Jamie, das ist mein Mann, Mark. Mark, das ist mein alter Freund Jamie.«

Ihr Mann. Jamie nahm die Neuigkeit still auf und schüttelte dem Mann die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen.« An Marks taxierendem Blick erkannte er, dass er verstand, was Alice mit »alter Freund« meinte. Er fragte sich, wie viel Mark wohl über ihn wusste. So, wie Mark ihn ansah, wahrscheinlich eine ganze Menge.

»Wir sind seit vier Monaten verheiratet«, sagte Alice ungefragt.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Jamie. »Wie schön.« Er überlegte, ob er Alice jetzt umarmen sollte, und streckte die Arme aus, aber als sie keine Anstalten machte, ihm entgegenzukommen, ließ er sie wieder sinken. Um die peinliche Situation zu überspielen, sagte er: »Mensch, Alice, das ist ja eine Ewigkeit her.« Das würde sicher passen. So etwas sagte man doch in solchen Situationen.

Alice verbesserte ihn. »Fünf Jahre. Es ist fünf Jahre her.«

»Wie geht es dir?«

»Ich wusste nicht, wo du bist, Jamie«, sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«

Jamie versuchte, ihr in die Augen zu sehen. »Da und dort. Wo man eben so steckt. Seit ein paar Jahren arbeite ich jetzt hier.«

»In einer Buchhandlung?«

»Ich leite die Abteilung für jüdische Geschichte«, verteidigte er sich.

»Faszinierend«, fiel Mark ein. »Wisst ihr was, das werde ich mir gleich mal ansehen.«

Jamie deutete in Richtung der Abteilung und hoffte im Stillen, dass Mark sich für den Holocaust interessierte. Er sah, wie Mark beschützerisch Alices Schulter streichelte und die beiden einen Blick austauschten, bevor er hinüberging. Bei ihm wird es ihr gutgehen, dachte Jamie.

Als sie allein waren, sagte Alice: »Es ist komisch, dich so wiederzusehen.«

»Ich weiß.«

»Ich habe darauf gewartet, dass du dich meldest. Eine halbe Ewigkeit.«

Jamie wusste, dass er etwas erwidern sollte, aber ihm fiel nichts ein.

»Was solls«, sagte Alice in sein Schweigen hinein. »Jetzt kann man nichts mehr daran ändern.«

Da hatte sie wahrscheinlich recht, dachte er. Wieder Schweigen, diesmal war es noch unangenehmer. Nach einer Weile entschloss sich Jamie, etwas zu sagen: »Es tut mir wirklich leid, Alice. Dafür gibt es keine Entschuldigung.« Er hörte die Förmlichkeit in seiner Stimme und fand es merkwürdig, mit ihr wie mit einer Fremden zu reden.

»Jamie, wie geht es dir?«, fragte Alice. »Ganz ehrlich?«

»Mir gehts gut«, antwortete er.

»Und deiner Familie?«

»Keine Ahnung.«

»Ach, Jamie.«

Er schwieg.

Alice sagte: »Du weißt, dass es nicht besser wird, wenn man so tut, als ob es die Leute nicht gäbe.«

Sie würde ihm niemals verzeihen, dachte er. Er machte ihr keinen Vorwurf, es spielte keine Rolle mehr; aber sie tat ihm leid.

Mark kam zurück: »Ihr habt eine gute Auswahl an Büchern über Auschwitz.«

»Danke.«

»Schatz, wir müssen langsam los«, sagte Mark zu Alice.

Alice wühlte in ihrer Handtasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Melde dich, Jamie«, sagte sie und gab ihm die Karte.

»Du bist Innenarchitektin«, bemerkte Jamie, als er die Karte ansah.

»Keine besonders erfolgreiche«, erwiderte Alice.

»Du wolltest doch immer Künstlerin werden.«

Ihre Miene verfinsterte sich, doch plötzlich lächelte sie. »Es ist nicht verboten, seine Pläne zu ändern.« Jamie merkte, wie ihr Charme noch immer auf ihn wirkte.

»Im Ernst, melde dich«, fügte sie hinzu. »Verschwinde nicht wieder.«

»Es war schön, dich wiederzusehen, Alice«, sagte er. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Mark.«

»Pass auf dich auf.« Alice stand schon auf dem Treppenabsatz, als sie Mark plötzlich etwas zuflüsterte. Dann lief sie auf Jamie zu, legte ihm die Arme um den Hals und den Kopf an die Brust. Einen kurzen Augenblick lang war er von der vertrauten Geste überwältigt. Alice hatte eine ganz eigene Art, sich in seine Arme zu wickeln. Im nächsten Augenblick machte sie kehrt und ging wortlos zurück zu ihrem Mann. Mark nahm ihre Hand und nickte Jamie zu, dann gingen sie die Treppe hinunter.

Jamie legte die Visitenkarte hinter die Theke zu der Liste mit den Büchern über jüdische Geschichte. Er überflog die Titel. Wertvorstellung und Ritus im Nahen Osten der Antike, las er. Die Weisheit Salomons: Wissenschaft und Entdeckung in Israel 400–500 v. Chr. Es hatte keinen Zweck, diese Bücher zu bestellen. Niemand würde sie kaufen.

2

Die Mittagspause war immer eine Tortur für Emma. Sie ging in die Schulkapelle und hielt sich im Hintergrund, wie sie es sich selbst gegenüber ausdrückte. Sie saß in der letzten Reihe und blickte hinauf zu dem Buntglaskreuz im Fenster über dem Altar. Rot, Orange und Gelb umrahmten die lilafarbene Mitte, sodass es in Flammen zu stehen schien. Freuet euch der Allmacht des Herrn, dachte sie.

Sie hatte keine Lust, in die Cafeteria zu gehen, weil sie niemanden hatte, neben dem sie sitzen konnte. Außerdem war sie zu dick und wollte lieber nichts essen. Sie war nicht auf die Art dick wie die anderen Mädchen an ihrer Schule. Die waren dünn, sorgten sich aber um ihre Figur, weil sie das »erwachsen« wirken ließ. Nein – sie war auf die ganz normale, quälende Art dick, mit Doppelkinn und Rettungsringen. Sie war dick und von Mädchen umgeben, die nur so taten, als wären sie dick. Es war zum Verrücktwerden.

Der Schulpfarrer kam herein, lächelte ihr zu – er war ihre stille Gegenwart während der Mittagspausen gewohnt und verschwand in der Sakristei.

Sonnenlicht fiel durch das Buntglas und ließ es auflodern. Während sie zum Kreuz hinaufblickte, dachte Emma: Jesus ist auch allein durchs Leben gegangen. Er hatte immer Menschen um sich, aber in Wirklichkeit war er allein. Wie er sich wohl gefühlt haben musste, als er sein Kreuz nach Golgota trug? Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, wie unmenschlich die Strafe war, die verurteilten Männer schwitzend und entkräftet ihre eigenen Kreuze zum Richtplatz schleppen zu lassen.

Wenn Jesus all das durchgemacht hatte, würde sie es doch wohl schaffen, allein durchs Leben zu gehen und sich nicht allzu viel daraus zu machen. Sie brauchte die anderen nicht, um Gott zu dienen.

Ihr Magen knurrte. Sie dachte an Fish and Chips am Strand und den klebrigen Sand an ihren fettigen Fingern. Sie dachte an den Schokomuffin und den Erdbeermilchshake, die sie jeden Samstag bekommen hatte, als sie klein gewesen war. Sie dachte an cremige Kartoffelpüreehügel mit der Zwiebelsoße nach dem Rezept ihrer Mutter. Wie unfair, dass dünne Mädchen, ohne mit der Wimper zu zucken, aufs Mittagessen verzichten konnten und sie andauernd Hunger hatte.

Der Pfarrer kam zurück und fragte: »Bist du aufs Reli-AG-Treffen morgen vorbereitet, Emma?«

»Ja.«

»Was ist dein Thema?«

»Unsere göttliche Bestimmung.«

»Schön.«

Sie blieb noch eine Weile sitzen, blätterte im Gesangbuch und versuchte, Sei still in der Gegenwart des Herrn auswendig zu lernen. Schließlich überlegte sie, dass sie doch lieber zum Mittagessen gehen sollte, selbst wenn sie allein sitzen musste. Sie konnte schon jetzt an nichts anderes mehr denken, und wenn es so weiterging, würde sie sich am Nachmittag überhaupt nicht mehr konzentrieren können. Nach dem Mittagessen hatte sie eine Doppelstunde Mathe, ihr absolutes Hassfach. Mr Lawson wäre bestimmt wieder so gemein und sarkastisch, wenn sie einen Fehler machte, und dann würden sie alle anstarren, und sie würde knallrot werden, weil sie sich so zusammenreißen müsste, nicht in Tränen auszubrechen.

Es war Viertel vor eins. Emma machte sich Mut. Wenn sie jetzt losging, würde sie vielleicht Kayleigh treffen, die auch in der Reli-AG war und sich wahrscheinlich zu ihr setzen würde.

Emma hatte Glück. Sie erspähte Kayleigh am Eingang der Cafeteria und rannte ein Stück, um sie einzuholen. Ein unwürdiger, atemloser kleiner Auftritt.

»Kayleigh! Gehst du zum Mittagessen?«

Bevor Kayleigh es verbergen konnte, sah Emma einen genervten Ausdruck über ihr Gesicht huschen. Natürlich wollte Kayleigh sie nicht dabeihaben, aber sie ertrug es, weil es ihre Christenpflicht war. Emma wusste das, und um ehrlich zu sein, war sie auch nicht gerade versessen auf Kayleighs Gesellschaft. Aber sie hatte keine Wahl.

Sie stellten sich zusammen in die Schlange, und Emma sagte: »Ich habe ein paar Bibelstellen für das Treffen morgen ausgesucht.«

»Cool«, erwiderte Kayleigh höflich.

»Etwas über den heiligen Paulus.«

»Ja, hört sich gut an.«

Dann tauchte Jasmine auf. Kayleigh unterhielt sich mit ihr und ließ Emma links liegen. Als sie dran war, wählte Emma sorgfältig. Sie hatte Lust auf Pommes frites, aber dick, wie sie war, schämte sie sich, danach zu fragen, also nahm sie stattdessen Bratkartoffeln und Nudelsalat als Sattmacher sowie ein paar Salatblätter und Tomaten, damit es so aussah, als würde sie sich gesund ernähren. Sie musste Ewigkeiten an der Salattheke anstehen, weil die Coolen sich die ganze Zeit vordrängelten. Wahrscheinlich war es nicht einmal Absicht, sondern sie war einfach so unwichtig, dass sie fast schon unsichtbar war. Geduldig wartete sie auf eine Lücke, reihte sich ein und lud sich den Teller voll.

Sie suchte Kayleigh und Jasmine, aber die hatten sich schon zu Harriet Jackson und Lucy Wright gesetzt, und damit waren alle Stühle besetzt. Sie wartete kurz ab und hoffte, jemand würde sie fragen, ob sie sich nicht einen Stuhl holen wolle. Doch das passierte nicht, also ging sie weiter und suchte sich alleine einen Tisch in der Ecke. So schnell sie konnte, schlang sie ihr Mittagessen hinunter und ging zurück in die Kapelle.

Als Emma aus der Schule kam, kniete ihre Mutter in der Küche und schrubbte den Ofen. Die Oberflächen glänzten, und diverse Reinigungsmittel waren ordentlich auf dem Küchentisch aufgereiht. Also ein schlechter Tag. Emma steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster und goss sich ein Glas Milch ein.

»Wie war es in der Schule, Liebling?«, fragte ihre Mutter.

»Ging so.«

»Toll, Schätzchen!«

Das hatte Emma doch gar nicht gesagt, aber sie beschloss, nicht darauf einzugehen.

»Wie war Mathe? Hat alles geklappt?«

»Ging so.« Ihre Mutter war offensichtlich darauf erpicht, mehr zu erfahren, daher fügte sie hinzu: »Wir haben quadratische Gleichungen gemacht.«

»Und hattet ihr heute Reli-AG

»Nein, das ist morgen.«

»Was steht auf dem Programm?«

»Wahrscheinlich machen wir was über den heiligen Paulus.«

»Und wie geht es deinen Freundinnen?«

»Bestens.«

Emma nahm Toast und Milch mit in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Sie fragte sich, wann ihr Vater wohl nach Hause käme. Ihre Mutter war im Aufräummodus – es wäre besser, wenn er ihr dabei nicht in die Quere käme.

Emma pulte die Rinde vom Toast, legte sie an den Tellerrand, aß das Innere und leckte sich dabei die Marmelade von den Fingern. Die Gefahr war ihr immer präsent. Ihre Eltern glaubten wahrscheinlich, sie könnte sich nicht an die schreckliche Zeit nach Kits Tod erinnern. Aber das steckte ihr alles noch in den Knochen – die Furcht einflößenden Stimmungsschwankungen ihres Vaters; ihre Mutter, die tagelang kein Wort sprach. So durfte es nicht wieder werden, daher behielt sie die beiden im Blick.

Sie aß die Toastrinde auf, die sie beiseitegelegt hatte, und holte ihren Reli-Ordner vom Schreibtisch. Sie fühlte sich immer gleich besser, wenn sie ihn anschaute. Ein großer pinker Aktenordner voller Klarsichthüllen, in denen sie ihre Notizen, Bibelpassagen und Bilder aufbewahrte. Ihr gefiel, wie voll der Ordner schon geworden war, und sie fand es befriedigend, durch die Folien zu blättern und sich all die gelungenen Treffen anzusehen, die sie in der Vergangenheit organisiert hatte. Je besser sie sich auf morgen vorbereitete, desto unwahrscheinlicher war es, dass Kayleigh versuchen würde, das Kommando zu übernehmen.

Sie legte Bibel, Block und Filzstifte zurecht. Heute schrieb sie die Überschrift in leuchtendem Blau: »Unsere göttliche Bestimmung«. Sie überlegte einen Augenblick, dann fügte sie in Pink hinzu: »Das Leben des Paulus dient uns als Beispiel. Der böse Saulus konvertiert zum Christentum und akzeptiert seine Mission, die Botschaft Jesu zu verbreiten.« Sie hielt inne und kaute auf dem Filzstift herum. Sie war nicht glücklich mit der Formulierung »akzeptiert seine Mission«. Es hörte sich an, als würde der heilige Paulus in Mission Impossible mitspielen. Sie knüllte die Seite zusammen und fing von vorne an. In ihren Notizen würde sie niemals etwas durchstreichen, das hatte sie sich geschworen.

Diesmal schrieb sie: »und verbreitet die Botschaft Jesu«. Dann hielt sie wieder inne. Heute fiel es ihr schwer, bei der Sache zu bleiben. Ihre Gedanken waren wieder bei Jamie. Manchmal bereitete es ihr Freude, sich vorzustellen, wo er jetzt wohl war und was er dort machte, aber heute stimmte es sie traurig.

Emma schloss die Augen und bat Jesus um Beistand. Er schwieg. Manchmal war das so. Sie fragte sich plötzlich, ob Jamie wohl an Gott glaubte. Wenn er je wieder zurückkam, würde sie ihn fragen. Sie würde ihn daran erinnern, dass Gott jeden Menschen lieb hatte und Jamie vergeben würde – im Handumdrehen, genauso wie Emma, wenn er nur endlich wieder nach Hause käme.

3

Emma wachte auf, weil ihr Vater laut an die Zimmertür klopfte.

»Zeit aufzustehen«, rief er.

Emma ignorierte ihn.

»Es ist schon spät, Emma.«

»Heute ist Samstag, Dad.«

»Du hast lange genug geschlafen.«

Emma nahm die Armbanduhr vom Nachttisch. »Es ist acht Uhr siebenundvierzig.«

»Eben.«

Emma rollte sich aus dem Bett und fing an, das Zimmer nach Klamotten abzusuchen. Es hatte keinen Zweck, mit ihrem Vater zu streiten, sie grummelte zwar, aber eigentlich war sie gar nicht genervt. Sie liebte Samstage. Keine Schule, auch am nächsten Tag nicht. Sonntage waren nicht so gut. Ein bisschen Montag schien immer durchzusickern, sosehr sie sich auch bemühte, die beiden Tage auseinanderzuhalten.

Der Küchentisch war mit drei Tellern, Marmelade, Nutella und Ahornsirup gedeckt. Jeder hatte seinen Stammplatz, sie saßen immer alle am einen Ende des Tischs. Emma fiel auf, dass der Tisch für drei Personen viel zu groß war. Sie setzte sich neben ihren Vater, und ihre Mutter servierte die Pfannkuchen, die sie mit Zwischenschichten aus Küchenpapier auf einem Teller gestapelt hatte. Seit Emma denken konnte, machte ihre Mutter am Samstagmorgen Pfannkuchen. Sie fand, ein gemeinsames Frühstück sei ein guter Start ins Wochenende.

Emma nahm Nutella und reichte ihrem Dad den Ahornsirup. Schweigend bestrichen sie ihre Pfannkuchen.

Ihre Mutter setzte sich zu ihnen und schälte einen Apfel, den sie in Viertel schnitt und sehr langsam kaute. Sie mochte keine Pfannkuchen und frühstückte ohnehin selten. Emma bemerkte, dass sie schon Lippenstift aufgetragen hatte, den orange-roten, der ihr nicht so gut stand. Früher hatte ihre Mutter Rosatöne getragen, sanfte Töne, passend zu ihrem Namen. Aber in letzter Zeit probierte sie einen neuen Look, einen schickeren. Ihr Make-up war auffälliger und ihre Kleidung dunkler geworden, sie sah gar nicht mehr aus wie sie selbst.

»Und, was hast du heute vor, Emma?«, fragte ihre Mutter.

»Nichts Besonderes.«

»Du hast doch bestimmt irgendwas vor. Vielleicht ein schönes Buch lesen?«

Emma zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich auf ihren Schokoladenpfannkuchen. Sie konnte spüren, wie ihr Dad neben ihr unruhig wurde.

»Irgendwelche Hausaufgaben, die du noch erledigen musst?«

Bei der bloßen Erwähnung von Schule setzte Emmas Laune zum Sturzflug an. Sie erwiderte nichts.

»Ich dachte, wir könnten heute Nachmittag vielleicht einen Schaufensterbummel machen. Wenn Dad nicht unbedingt einen Familienspaziergang machen will?«

»Meine Güte«, sagte Emmas Vater. »Kannst du sie nicht mal eine Sekunde in Ruhe lassen? Sie ist vierzehn, du musst ihren Tag nicht für sie planen.«

Emma sah ihre Mutter mit einer Apfelspalte in der Hand erstarren. Emma schoss eine Gedankenwelle auf ihren Vater ab: Ich hasse dich. Ihre Mutter steckte den Apfel in den Mund und sah auf ihren Teller, während sie kaute. Emma beobachtete, wie sie schluckte und ein Lächeln aufsetzte. »Ich dachte nur, es wäre nett, etwas als Familie zu machen. Wir könnten erst spazieren gehen und dann Monopoly spielen.«

Emma erschauerte in Erwartung der Antwort ihres Vaters. Aber er sagte nur: »Ich bin den ganzen Tag im Schuppen.«

»Ich komme mit, Mum«, sagte Emma.

Sie streckte den Arm nach einem weiteren Pfannkuchen aus, doch da fragte ihr Vater: »Meinst du nicht, zwei sind genug?« Emma zog die Hand zurück und starrte unsicher auf ihren leeren, schokoladenverschmierten Teller. Sie fühlte sich gedemütigt, in ihrer Gier ertappt.

Ihre Mutter sagte: »Sie hat Hunger. Warum soll sie nicht noch einen essen?«

Emma flehte sie innerlich an, es nicht noch schlimmer zu machen.

»Mir auch egal.« Ihr Dad stand vom Tisch auf, murmelte etwas vom Schuppen und verließ die Küche.

Ihre Mum hielt Emma den Teller mit den Pfannkuchen hin. »Na los, Schätzchen. Nimm dir noch einen, wenn du willst.«

Emma starrte den Pfannkuchenteller an. Sie waren schon ein bisschen kalt geworden und hatten Fetttröpfchen auf der Oberfläche. Jetzt wollte sie keinen mehr, nahm aber trotzdem einen und fühlte sich elend dabei, sah sich mit den Augen ihres Dads, dicke Backen, voll mit schleimigem, zerkautem Pfannkuchen. Sie behielt den Brei zu lang im Mund und bekam ihn kaum herunter.

Sobald sie konnte, sagte sie: »Ich muss mit meinen Hausaufgaben anfangen, Mum.« Sie sprang auf und stürmte hinaus, ehe ihre Mutter etwas sagen konnte.

Auf dem Treppenabsatz blieb sie kurz vor Jamies und Kits alten Zimmern stehen. Manchmal, wenn die Türen so wie jetzt geschlossen waren, versuchte sie sich einzureden, ihre Brüder wären noch da und spielten Computer oder hörten Musik. Das hatte schon oft funktioniert. Mit Kit war es einfacher. Sein Zimmer war nicht verändert worden (es war nur aufgeräumter als früher, als er noch lebte) – die gleiche blaue Tagesdecke, die Sportpokale, der Tottenham-Hotspur-Schal, der über dem Bett hing.

Jamies Zimmer war leer geräumt und mit cremefarbenen Tapeten und einem neuen Doppelbett versehen worden. Es war jetzt ein Gästezimmer, auch wenn noch nie ein Gast darin übernachtet hatte. Sich Jamie darin vorzustellen, war problematischer; es war schwierig, die Leere auszublenden, die unter der Tür hindurchkroch.

Emma ging in ihr Zimmer und beschloss, sich mit ihrem Brettspielprojekt abzulenken.

Sie holte das Brett, das sie aus einem Karton geschnitten hatte, ihre Bastelbögen, die Filzstifte und Glitzerkleber heraus. Das Spiel, an dem sie seit einigen Wochen arbeitete, basierte auf der Höllenfahrt Christi. Ziel des Spiels war es, Jesus dabei zu helfen, so viele verlorene Seelen wie möglich zu retten. Es hatte ihr Spaß gemacht, sich die Ziele und Regeln auszudenken und das bunte Spielbrett zu entwerfen, aber inzwischen hatte sie sich zu sehr in theologische Fragen verstrickt, um mit dem Ergebnis zufrieden sein zu können. (Am wenigsten fiel ihr eine Antwort auf folgende Frage ein: Wenn die Seelen bereits in der Hölle waren, konnten sie dann überhaupt noch gerettet werden? Man konnte doch nicht entdammt werden, oder?)

Nichtsdestotrotz machte sie sich daran, die Felder auf dem Spielbrett mit verschiedenfarbigem Glitzerkleber vorzuzeichnen, aber als sie damit fertig war, wusste sie nicht, was sie noch hinzufügen sollte. Sie hatte bereits einen kleinen Jesus aus Knete geformt und ihm mit Mullbinden aus dem Medizinschrank einen Lendenschurz sowie mit einem Stück Samt einen roten Umhang gebastelt. Außerdem hatte sie ein paar arme Männer und Frauen modelliert, die er retten konnte, hatte diese jedoch (als Teil ihrer Bestrafung) nackt gelassen. Das Spiel war fast fertig. Diese Phase war nie so aufregend wie der Anfang. Sie wusste gar nicht, was sie danach damit machen sollte. Ihre Mum würde es wahrscheinlich mit ihr spielen, aber eigentlich war es nicht für nur zwei Spieler gedacht.

Wenn Jamie hier wäre, würde er vielleicht auch mitspielen. Jamie und Kit hatten immer mit ihr gespielt, als sie noch klein gewesen war. Weil sie so viel älter waren, hatte ihre Mutter ihr erklärt, hatten die Jungs das Gefühl gehabt, sie beschützen zu müssen. Emma gefiel diese Vorstellung.

Sie erinnerte sich daran, wie Kit sie immer aufgezogen und so getan hatte, als wüsste er nicht, wer sie war, oder als hielte er sie für einen Einbrecher. Und er brachte sie zum Lachen, indem er ihren Namen absichtlich falsch verstand.

»Hallo, Emmet«, sagte er dann.

»Nein, nein«, rief Emma voller Entzücken. »So heiße ich nicht. Du sagst es immer falsch. Ich heiße Emma

»Ich sage es richtig«, entgegnete Kit. »Du sagst es immer falsch.«

Sie erinnerte sich daran, wie Jamie ihr Der kleine Hobbit vorgelesen und für jede Figur eine eigene Stimme erfunden hatte. Das Zwergenlied von den Nebelbergen hatte er ihr mit tiefer Stimme und selbst ausgedachter Melodie vorgesungen.

Sie klammerte sich an diese Erinnerungen, aber in letzter Zeit hatte sie sich oft gefragt, ob sie ihnen überhaupt noch trauen konnte. Wie sollte man nach so langer Zeit auseinanderhalten, was wirklich passiert war und was man sich hinzugeträumt hatte? Besonders, wenn niemand je darüber sprach.

Emma versuchte, sich auf Jamie zu konzentrieren und sich vorzustellen, was er wohl gerade machte. Vielleicht war er Journalist in einem gefährlichen und aufregenden Land in Afrika. Oder er lebte ein schillerndes Leben in Paris, trank Rotwein am Ufer der Seine und malte. Aber Kit war derjenige, der gut in Kunst gewesen war. Emma ärgerte sich, dass sie ihre Brüder verwechselt hatte. Es war, als würden sie ihr entgleiten oder zu einem verschmelzen, sodass sie am Ende nur noch einen Mischbruder hatte, der keinem von beiden mehr ähnelte.

Sie kehrte in Gedanken zu Jamie zurück. Kunst hatte ihn nicht interessiert, aber Geschichte. Das hatte er sogar studiert. Emma selbst machte sich nicht viel aus Geschichte. Sie hatten in der Schule gelernt, warum es ein wichtiges Fach war. Mrs Majithia sagte, es wäre unerlässlich, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, damit so schreckliche Dinge wie der Holocaust nie wieder passieren konnten. Kayleigh hatte sich gemeldet und altklug gesagt: »Wer nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.« Genau, bestätigte Mrs Majithia, das ist ein sehr treffendes Zitat. Und Kayleigh hatte selbstzufrieden dreingeschaut. Aber soweit Emma das überblickte, konnten die Leute die Geschichte studieren, bis sie schwarz wurden, es hielt sie ja doch nicht davon ab, in der Gegenwart schreckliche Dinge zu tun.

Vielleicht würde sie Jamie eines Tages im Fernsehen entdecken, in einer Sendung über die Tudors oder die Nazis oder so. Und dann würde sie ihm schreiben und ihn um ein Autogramm bitten.

Irgendwann würde er zurückkommen. Da war sie ganz sicher. Auch wenn er nicht im Fernsehen auftauchte, wäre er eines Tages nicht mehr so traurig wegen Kit und würde zu ihr zurückkommen.

Woran sie lieber nicht denken wollte, war der Umstand, dass Jamie abgehauen war, ohne sich von ihr zu verabschieden. Wie hatte er das tun können, wenn ihre Mum doch sagte, dass er sie beschützen wollte? Wenn sie darüber nachdachte, konnte sie beinahe verstehen, warum ihr Vater so wütend war.