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Ich habe dir schon auseinandergesetzt, in welcher Weise ich meine Weltumsegelung ausgeführt habe und endlich nach Taprobana gekommen und gezwungen worden bin zu landen, dann, aus Furcht vor den Einwohnern mich in einem Walde verborgen habe, den ich nach einiger Zeit wieder verließ, um mich in einer großen Ebene direkt unter dem Aequator zu befinden.

Ueber dem Hintertheil des Schiffes ist ein großer Fächer angebracht, der in eine Stange ausläuft, die auf der entgegengesetzten Seite durch ein angehängtes Gewicht im Gleichgewicht erhalten wird, so leicht beweglich, daß sie ein Kind heben und senken kann.

Tommaso Campanella, La città del Sole (1602)

THOMAS KUNST

Freie Folge

Roman

 

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Freie Folge

 

 

 

© 2015 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagentwurf unter Verwendung eines Fotos von Mark Finney

Druck: Theiss GmbH, St. Stefan im Lavanttal

ISBN 978-3-99027-075-2

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

I

Calypso

DECKUNGSINSELN UND SUPERMÄRKTE, HUNDSROSEN,

Schwarzdorn und Hartriegel.

Der Winter in den Regalen ohne Berufserfahrung. Die Wälder von Hohendreesen.

Schneestürme führten dazu, daß die Jagd in der näheren Umgebung ruhte. Die vom Land vorgegebene Trophäenorientierung behinderte eine effektive Abschußerfüllung. Daher sollten die Einschränkungen beim Erlegen von Rothirschen der Klasse III schnellstens wieder abgeschafft werden. Es mußte doch möglich sein, dem Wild nachzustellen, wenn es einem vor die Flinte kam. Bei diesen Temperaturen war es zwingend notwendig, täglich sein Auto zu bewegen. Wenigstens einmal ins Dorf und zurück. Gemüse, Brot, Obst und Getränke. Der Schadensdruck auf die Wälder wurde immer größer. Die ständigen witterungsbedingten Unwägbarkeiten, die Einführung von Wildmarken und die starren Regelungen der Bürokratie wurden zu einer menschlichen Belastung. Dabei ging es doch nur um die Nahrungsverwertung im eigenen Haushalt. Niemand hatte vor, die Tiere nach dem Erlegen aus der Decke zu schlagen, um sie an den örtlichen Einzelhandel weiterzugeben. Niemand.

Ihde fing in dieser Jahreszeit schon wieder an, so sinnlos attraktiv auszusehen. Ihr Alter spielte keine Rolle. Ihre Herkunft noch weniger. Sie fuhr einen alten Peugeot und hatte für ihre beiden Kinder und die Ordnung im Haus ein Au-pair-Mädchen aus dem osteuropäischen Ausland eingestellt. Aber ihre Kinder kümmerte das nur wenig. Sie kamen allein klar. Ein Teelöffel in einem Bedienstetenschuh kam nicht allein klar.

Der Wald, in dem sie wohnten, gehörte ihnen. Die Schäden durch neue Schäle waren drastisch angestiegen und befanden sich schon deutlich jenseits der Toleranzgrenze. Es war ausgeschlossen, auf einer Nadelholzfläche einen Waldumbau hin zu ortsangepaßten Mischbaumbeständen zu erreichen. Der dafür zuständige Minister war bislang zu keiner Stellungnahme bereit. Ihde gehörte dem Vorstand des Waldbesitzerverbandes von Hohendreesen an. Jeden Tag fuhr sie ihre Kinder ins nahegelegene Mavenbeek zur Schule.

Ihde zu beschreiben, würde zu weit führen. Ihr war nie etwas zuviel. Sie war verheiratet mit einem Mann, der nur an den Wochenenden nach Hause kam. Die Kinder hatten sich an die ständige Abwesenheit ihres Vaters längst gewöhnt, aber wenn er bei ihnen war, pflegten sie einen guten Umgang miteinander. Der Junge und das Mädchen verbrachten die meiste Zeit draußen im Freien. Sie kamen beide in der Schule sehr gut mit, so daß sich Ihde keine Sorgen zu machen brauchte. Auf ihrem Schreibtisch standen die Bilder ihrer Kinder nebeneinander. Wenn sie die beiden vom Fenster aus nicht mehr sehen konnte, schob sie das Bild ihres Sohnes vor das Bild ihrer Tochter. Allerdings habe ich vorher noch nie so gut ausgerüstete Kinder in meinem Leben gesehen, wenn es darum ging, zur Abendbrotzeit allein aus der Dunkelheit eines Waldes an einen mit aller Sorgfalt gedeckten Küchentisch zurückzukehren. Ihde wußte einfach zu gut, was sich für ihre Helden ziemte. Wenn sie hörte, wie sich das Hoftor öffnete und die Kinderstimmen immer näher kamen, verließ sie kurz den Küchentisch, ging in ihr Studierzimmer hoch und zog die Tochter wieder hinter ihrem Sohn hervor. Das Abendessen wurde mit Messer und Gabel eingenommen. Teelöffel wurden nicht benötigt. Auf die Frage, was sie denn heute im Wald erlebt hätten, antworteten sie nie.

Die Mäntel und Hosen wiesen keine verdreckten oder zerrissenen Stellen auf. Der Wald war also kein ernstzunehmender Gegner für sie. Hätte man jemals von ihnen verlangt, irgendetwas aus der näheren Umgebung auf das Papier zu bringen, dann hätten sie sich wohl bestimmt für die Abstände zwischen den Bäumen entschieden. Aber diese Vermutung entbehrte jeglicher Logik. Ihde versuchte gar nicht erst zu ergründen, was an den Abständen zwischen Bäumen so faszinierend sein konnte.

Inzwischen kam es ihr fast so vor, als hätte sie das Kindermädchen eher dafür eingestellt, um für die beiden Münsterländer zu sorgen, sie zu waschen, zu füttern, zu kämmen und im Zwinger mehrmals täglich für sie da zu sein. Ob in Rumänien etwas über den Charakter und das Verhalten dieser Hunderasse bekannt war, interessierte Ihde dabei nur herzlich wenig.

Ihre Kinder hatten diese Hunde unbedingt gewollt. Der nächste Züchter in der Nähe war schnell ausfindig gemacht. Bei diesen Temperaturen war es zwingend notwendig, täglich sein Auto zu bewegen. Dem Großen Münsterländer wurden vor allem seine Talente in der Beschäftigung als Verlorenbringer in Feld, Wald und auch im Wasser nachgesagt. Er galt als sehr leichtführig, kinderfreundlich und lebhaft. Ansonsten hätte sich Ihde wohl nie darauf eingelassen, ausgerechnet diese Hunde für ihre Kinder anzuschaffen. Ein American Staffordshire Mix wäre ihr nie und nimmer ins Haus gekommen. Nur ein Hund mit einer Ahnentafel konnte seine Herkunft belegen. Diese Tafeln wurden von den Rassehundeverbänden ausgestellt. Als Zuchttiere kamen immer nur diejenigen in Frage, die bei Ausstellungen in ihrem Aussehen dem Rassestandard entsprachen und danach bewertet wurden. Die Welpen von Hohendreesen waren mehrfach entwurmt und geimpft, bevor die Kinder zusammen mit ihnen auf dem Rücksitz des Peugeots die Heimreise antraten. Der geringere Anschaffungspreis wäre für Ihde nie ein Grund gewesen, ihren Sprößlingen etwa Mischlingshunde zu kaufen, von denen man ja behauptete, daß sie robuster seien.

Die Zimmer des Jungen und des Mädchens waren sparsam eingerichtet. Sie befanden sich im oberen Stockwerk des Hauses. Schreibtisch mit Computer, Regale mit Büchern und Musikartikeln, Teppich, Bett und Spielecke. Sie hatten oft sehr ausgefallene Wünsche, wenn ihre Geburtstage heranrückten. Erziehungshalsungen mit Fernbedienung, Nachfüllpatronen Zitronella, Lithiumbatterien und Mützenbänder mit Klettverschluß.

Ihde wußte, daß sich ihre Tochter und ihr Sohn sofort nach der Abendmahlzeit in die Zimmer zurückzogen, um die Schularbeiten für den nächsten Tag zu erledigen. Kurz vor dem Einschlafen noch einmal schnell ins Internet. Wenn sie die Türen öffnete, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen, fuhren sie ihre Rechner jedenfalls gerade herunter. Es war dann ja auch spät genug. Sie ging immer zuerst in das Zimmer ihres Sohnes und dann in das Zimmer ihrer Tochter. Vielleicht, um das Gefühl nicht loszuwerden, daß diese paar Minuten, die sie das Mädchen später in die Arme schloß, schon ausreichen würden, sie in dem verbleibenden Zeitraum bis zum nächsten Morgen ein wenig länger behütet und geschützt zu haben. In der kälteren Jahreszeit durften die Hunde in den Spielecken oder unter den Computertischen der Kinder übernachten. Sie waren keine Abstandsverbeller oder Knautscher, blieben also nie zu weit von anderen Tieren entfernt oder beschädigten andere Tiere durch zu großen Haltedruck beim Apport. Gewisse Anlagen beim Münsterländer waren noch erkennbar, die seine Eignung als Hof- und Wachhund zu früheren Zeiten stützten. Ob in Rumänien etwas über das Verhalten und den Charakter dieser Hunderasse bekannt war, interessierte Ihde dabei nur herzlich wenig. Nach dem Abendessen blieb das Au-pair-Mädchen allein in der Küche zurück, wischte den Boden, besorgte den Abwasch und ordnete Messer und Gabeln wieder in die dafür vorgesehenen Besteckfächer ein. Zum Frühstück wurden endlich auch Teelöffel benötigt. Drei Teelöffel. Innerhalb der Woche. In ihren Besteckfächern kamen sie weitestgehend allein klar. Wenn der Junge und das Mädchen in der Schule waren, ging das Kindermädchen für mehrere Stunden mit den Hunden in den Wald. Ihde konnte von ihrem Arbeitszimmer aus sehen, daß sie dabei nie unangeleint waren. Auf dem Schreibtisch standen die Bilder der Kinder nebeneinander. Der Abstand zwischen ihnen war ausreichend. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, die beiden Hunde auseinanderzuhalten, überhaupt auseinanderhalten zuwollen. Schwarze Köpfe mit weißer Blesse, anliegende Ohren mit abgerundeter Spitze. Ein nahezu ähnliches Fell. Sollten sich die Kinder doch kümmern. Es waren ja ihre Tiere.

Sie hatten sie schließlich gewollt. Wenn die Bedienstete die Hunde ausführte, achtete Ihde darauf, daß sie nur die normalen und nicht die Erziehungshalsbänder mit der Fernbedienung trugen. Denn ein voreiliger Sprayausstoß hätte die Münsterländer bei unerwünschtem Verhalten nur sinnlos irritiert. Eigenmächtigkeiten waren einfach ausgeschlossen. Sie sah ein, daß die Hunde ihren täglichen Auslauf brauchten. Ihr schützendes Haarkleid machte sie unempfindlich gegen äußere Einflüsse wie Kälte, Nässe sowie drahtähnliches Gestrüpp oder scharfkantige Bäumchenreste. Kurz bevor die Kinder aus der Schule zurück waren, mußten die Tiere wieder in ihrem Zwinger sein, die Halsbänder und Leinen auf der Flurkommode neben dem Eingang liegen, so als wäre nie etwas gewesen.

WENN SIE DIE BEIDEN VOM FENSTER AUS NICHT MEHR

sehen konnte, schob sie das Bild ihrer Tochter vor das Bild ihres Sohnes. Den Jungen und das Mädchen zu beschreiben, würde zu weit führen. Ihde vertraute ihnen blindlings und wäre nie auf den Gedanken gekommen, den beiden auf ihren Ausflügen nachzustellen. Ein kurzes Gespräch im Auto über Vorkommnisse in den Unterrichtspausen oder erhaltene Noten nach zurückgegebenen Klassenarbeiten. Tee und Kuchen in der Küche. Dann brachten sie die Mappen in ihre Zimmer, gingen zum Zwinger hinunter, leinten die Hunde an und verschwanden im Wald. Aber ohne sich vorher noch umzuziehen. Schulbluse. Rock. Strickjacke. Cordhose. Darüber die Mäntel. Sie blieben stundenlang weg. Die Hunde wirkten ausgelassen, bellten und kampelten sich bei ihrer Rückkehr. Wenn Ihde hörte, wie sich das Hoftor öffnete und die Stimmen immer näher kamen, verließ sie kurz den Küchentisch, ging in ihr Studierzimmer hoch und zog den Sohn wieder hinter ihrer Tochter hervor. Das hätte ja auch immer so weitergehen können. Kurz bevor das Au-pair-Mädchen das Abendessen servierte, waren die Tiere in ihren Zimmern, lagen ein normales und ein Erziehungshalsband wieder an Ort und Stelle. Die Hunde und Mäntel wiesen keine verdreckten oder zerrissenen Stellen auf.

Zur Faschingszeit durften sich die Kinder im Großmarkt in Mavenbeek ihre Wünsche erfüllen lassen. Keine Umhänge. Keine Hüte. Keine Masken. Dafür aber aus der Haushaltsabteilung Reinigungsgeräte, Wischlappen in rauen Mengen und Kehrbleche. Sie waren alt genug, um sich während der närrischen Zeit wie normale Kinder zu benehmen. Man mußte das mögen, sich seine eigenen Kinder als Putzkräfte vorzustellen, wenn einem schon Wald und Hof gehörten. Alles in allem etwa vierundsiebzig Hektar eigenes Land. Aber Ihde sagte dazu nichts mehr. Im Keller hatte sich ihr Mann eine Werkstatt eingerichtet. Elektrische Sägen. Hämmer. Nägel. Schweißdrähte. Druck-minderer. Lötlampen. Schrauben. Schleifgeräte. Bohrer. Er war in der Lage, Staubsauger zu reparieren, Regale anzubringen und Abflußrohre wieder gefügig zu machen. Ihn zu beschreiben würde jetzt zu weit führen. Einmal im Monat, es war immer ein Mittwoch, besuchte Ihde die Vorstandssitzung des Waldbesitzerverbandes. Die Tagesordnungspunkte unterschieden sich immer nur geringfügig. Tagesjagdscheine für Ausländer. Verhinderung von vermeidbaren Schmerzen oder Leiden des Wildes. Winterschäle. Verbißgutachten. Schonzeit. Die Gebühren für Tagesjagdscheine für Ausländer durften sich nicht von denen für Inländer unterscheiden, wenn das Heimatland des Ausländers die Gegenseitigkeit gewährleistete. Krankgeschossenes oder schwerkrankes Wild, das sich in einen fremden Jagdbezirk rettete, sollte dem Gesetz nach nur dann verfolgt werden, wenn mit dem Jagdausübungsberechtigten dieses Jagdbezirkes eine schriftliche Vereinbarung über die Wildfolge abgeschlossen worden war. Die Länder durften die Vorschriften über die Wildfolge erweitern oder ergänzen. Um das krankgeschossene Wild vor vermeidbaren Leiden zu bewahren, war es umgehend zu erlegen. Für das schwerkranke Wild gab es neben der bekannten Option auch noch die Möglichkeit, ihn einzufangen und zu versorgen.

Vom letzten Silvesterfest, das sie immer nur im Rahmen der Familie verbrachten, war ein ganzes Raketen-Sortiment Rocket-World übrig geblieben. Die ganze Welt der Raketen. Die Kinder störte es nur herzlich wenig, daß die auf siebenundzwanzig Raketen verteilten vierhundert Gramm Nettoexplosivmasse in einem Wassereimer in der Werkstatt ihres Vaters in beschaulicher Auflösung begriffen waren. Als wäre es jemals um diese jämmerliche Explosivmasse gegangen.

Sie hatten sich an die ständige Abwesenheit ihres Vaters längst gewöhnt, aber wenn er bei ihnen war, pflegten sie einen guten Umgang miteinander. Wer weiß, ob sich die Raketen für die Dauer eines Jahres ansonsten überhaupt gehalten hätten. Zum Fasching ging der Junge als Bankkaufmann. Und das Mädchen als Übersetzerin. Aber darüber wahrten die beiden im Auto eisiges Stillschweigen. Bei diesen Temperaturen war es zwingend notwendig, täglich sein Fahrzeug zu bewegen. Wenigstens einmal ins Dorf und zurück. Fasching, Gemüse, Obst, Brot und Getränke. Die Reinigungsgeräte, Wischlappen und Kehrbleche fanden sich alle in der Werkstatt wieder. Besenstiele, Borstenköpfe, Lappen. Und die Kehrschaufeln, aber nicht als Garnitur. Das Au-pair-Mädchen war allein im Haus. Sie polierte in der Küche das Besteck, wischte den Fußboden, fütterte die Hunde, liebkoste sie davor ausgiebig und brachte ihnen auf ihre Art kleinere Befehle bei, deren Ausführungen sie dann selbstverständlich auch belohnte. Hier. Sitz. Bleib. Ioana hatte gelesen, daß sich junge Hunde nur fünf bis zehn Minuten konzentrieren konnten. Sobald sie anfingen zu gähnen oder sich zu kratzen, legte sie sich mit ihnen zusammen auf den Fußboden und dachte daran, wie wichtig es war, erst einmal in reizärmeren Gegenden zu üben. Clicker, Käse und Fleischwurst. Morgen würde sie mit den Tieren wieder in den Wald gehen, weil sie allmählich begreifen lernen sollten, daß die Kommandos nicht nur an bestimmte Orte wie den Zwinger oder die Kinderzimmer geknüpft waren. Erwünschtes Verhalten wurde immer belohnt, unerwünschtes ignoriert. Daß sie den Hunden zum Ausführen nur die normalen Halsbänder anlegen durfte, machte sie eher noch stolzer auf die ihr anvertrauten Aufgaben. Und wie sich die beiden Hunde optisch voneinander unterschieden. Schwarze Köpfe mit weißer Blesse, anliegende Ohren mit abgerundeter Spitze. Ein nahezu ähnliches Fell. Ging Ioana nur kurz einmal nach draußen, um den Müll zu entsorgen und ohne sich dabei von den Hunden zu verabschieden, hörte sie die Vierbeiner drinnen herzzerreißend wimmern. Dann wies sie die Tiere durch ein lautes Nein zurecht. Erst wenn es wieder vollkommen ruhig im Haus war, kehrte sie zurück und lobte sie überschwänglich. Die Abstände zwischen Weggehen und Wiederkommen dehnte sie mehr und mehr aus. Sie wußte, daß Ihde, wenn sie die Kinder morgens in die Schule nach Mavenbeek brachte, nicht gleich wieder nach Hause kam. Ioana hatte dann das Gehöft, den Wald und die Hunde ganz für sich allein. Sie schlenderte in aller Seelenruhe durch sämtliche Zimmer, hob Briefbeschwerer in die Höhe, öffnete Kühltruhen und Kleiderschränke, roch an den Hemden und Clubjacken des Mannes, inspizierte die Hygieneartikel von Ihde im Badezimmer, aber ohne dabei Musik zu hören. Die Geräusche eines auf den Hof fahrenden Peugeots waren für sie dann doch etwas bindender. Kühltruhen gab es in der Küche, auf dem Boden und in der Werkstatt. Ioana hatte ihre Kindheit und Jugend bei ihren Großeltern in Fălticeni, im Süden des Kreises Suceava verbracht. Obstplantagen. Textilfabriken. Destillerien und Seen. Dann zum Studium in die Hauptstadt. Nichts Gescheites zu Ende gebracht. Poesie, Sprachen und Philosophie. Im Alter von vierundzwanzig Jahren nach Deutschland. Erst eine Zeit zu Verwandten nach Waiblingen. Dort nachgeholt, was auf deutschem Boden nachzuholen war. Discothek Calypso. Dance Palace, ehemals Gasthof Apfelbaum, in der Düsseldorfer Straße. Immer freitags von zwanzig Uhr bis fünf Uhr. Das Bier für drei Euro. Longdrinks ab drei Euro fünfzig. Schnaps, Heimatsehnsucht und gleichgültiges T-Shirt.

Danach in die Wälder. In die Wälder von Hohendreesen. Vierundsiebzig Hektar Land. Umzäunter Hof. Ziemliche Ruhe. Ohne Treiber war es nahezu unmöglich, das Wild in Bewegung zu bringen, um es so nach und nach aus den Einständen zu drücken. Ioana liebte es, die Hunde an der Leiter festzubinden, um hier für längere Zeit auf einem der zahlreichen Hochsitze auszuharren. Aber das ging nie lange gut. Winde und Schneegestöber. Die Unterholzradierungen. Das Älterwerden des Starrens auf einen Punkt. Und Hunde, die sich mit einem Hochsitz so allmählich in Bewegung setzten. Aber so etwas ging nur im Winter, daß Hunde, ohne einen Laut von sich zu geben, ein Holzgestell mit einem rumänischen Au-pair-Mädchen hinter sich herzogen, ohne daß dieses Bauwerk dabei umkippte. Architektur der Tiefgründigkeit. Eigenjagdbezirke und verwundertes Wild. Abendliche, spontane Ein-Euro-Getränkeaktionen im alten Apfelbaum. Hätte Ioana eine Zwillingsschwester gehabt, es wäre selbst für sie kaum auszudenken gewesen, was innerhalb einer einzigen Nacht für die beiden alles möglich gewesen wäre. Alles. Die Tür hatte wie überall ihre eigene Politik. Über Konflikte mit der Szene aus Backnang, Filderstadt oder Bietigheim-Bissingen war nichts bekannt. Das Angebot, für ein halbes Jahr bei einem Escortservice zu arbeiten, hatte Ioana damals allerdings nicht gerade ausgeschlagen. Sie zu beschreiben, würde zu weit führen. Auf die Brüste und eine fast komplett fehlende Oberschenkelbehaarung kam es in diesen Wäldern einfach nicht an.

Die normalen Halsbänder reichten für draußen vollkommen aus. Ioana wagte es nicht, sich auszumalen, ob sich ihre Hunde später einmal durch mutiges Verhalten gegenüber dem Wild und einer relativen Gleichgültigkeit bei der Abgabe von Schüssen aus der unmittelbaren Nähe auszeichnen würden. Auch war die Gegend viel zu dünn besiedelt, um die Tiere auf ihre Verträglichkeit mit Artgenossen zu testen. Sie fing jeden Blickkontakt ein, den ihr die Hunde freiwillig boten. Eine hohe Bestärkungsrate bedeutete, so viele Clicker und Belohnungen wie möglich in kürzester Zeit unterzubringen.

Ioana bewohnte ein Zimmer im unteren Geschoß, gleich neben Küche und Bad. Schreibtisch. Kleiderschrank. Bett. Regal mit Büchern. Nachttischlampe. Würde sie jeden Teelöffel, den sie in einem ihrer Schuhe fand, aus dem Verkehr ziehen, würde sie in absehbarer Zeit über eine erstaunlichere Mitgift verfügen als jemals in Fălticeni. Aber sie ließ es nicht darauf ankommen. Zweckentfremdete Teelöffel abzuwaschen gehörte eindeutig nicht zu ihrem Aufgabenbereich. Die Wiedereingliederung in die dafür vorgesehenen Besteckkästen hingegen schon. Tafelsilber wurde immer von Generation zu Generation weitergegeben, wenn nicht gerade ein wirtschaftlicher Engpaß diese Folge auf sehr unkultivierte Weise unterbrach.

Suceava im Sommer. Die ehemalige Stadt der Kürschner und Papierkombinate. Fasern und Abgase. Es gab nicht viele Städte in der Welt, die infolge extremer Luftverschmutzung eine eigene Krankheit hervorgebracht haben. Höchstens noch Yokkaichi und Minamata, in der Präfektur Kumamoto. Die Ausflüge in die nahen Calimani-Berge. Über Konflikte mit Weißgerbern, Täschnern und Handschuhmachern war nichts bekannt. Sie verfolgten ihre eigene Politik. Grotzenstecher. Gelbstift. Effilierschere. Muffblock. Destillerien und Seen. Rumänien im Juni. Mititei. Papanasi. Murakuri. Afinata. Der beste Vogel war noch immer das Rind. Wenn Ioana in ihrer Jugend mit den Freunden etwas trinken war, nahmen sie den Absacker immer direkt am Wahrzeichen von Suceava, einem zweihundertfünfundsechzig Meter hohen Kamin, der ursprünglich zu einem Kraftwerk gehören sollte. Da schmeckte der letzte Schnaps gleich doppelt so gut. Die redliche Vorstellung, all den Dingen auf dieser Welt nicht mehr gewachsen zu sein, gehörte in diesen Momenten zu einer Vergangenheit, in der es nur darauf angekommen war, das Glück auf eine schwerelose Art und Weise gegen den barbarischen Aufwand des Alltags einzutauschen. Daß dieser Kamin bei solchen existentiellen Besäufnissen niemals umkippte, lag daran, daß der Schnaps irgendwann zur Neige ging und nicht einmal durch sich selbst zu ersetzen war. Was auch immer das bedeuten mochte.

Für eine ungelenke Revolution an den Graffiti-Fresken einer ehemaligen Kombinatswand reichten diese Treffen jedenfalls nicht aus. Die müde Selbstverständlichkeit des Morgenlichtes, Einsinterungen, die stabile Einbindung von Pigmenten in die Häuserfronten hinter vorbeifahrenden Straßenbahnen. Die unbeschwerte Nutzlosigkeit von Pendelverkehr und Arbeitsplätzen. Suceava in aller Frühe. Einschüchternde Hunde und herumstromernde Papierlappen. Ioana auf dem Weg nach Hause. Fünfundzwanzig Kilometer mit dem Bus auf der E85. Immer wenn sie unterwegs war, schliefen ihre Großeltern extra länger, um ihrer Enkelin dann vor dem Zubettgehen die Zumutungen einer hektischen und nicht ganz vorwurfsfreien Betriebsamkeit mit Besteckrasseln und Geschirrklappern zu ersparen. Nur ein Glas Milch auf dem Tisch. Ihr Zimmer lag gleich neben Küche und Klo.

Bis sie eingeschlafen war, hörte sie weder das Rauschen der Klospülung noch die Geräusche der Großeltern bei ihrem vertrauten Miteinander im Nebenzimmer. Der Teppich im Flur mit einer einfachen, braunen Querstreifenfolge. Bei klarer Sicht konnte man von Dorna, Câmpulung oder Fălticeni aus die Kalksteinformationen des Rarau erkennen.

Der umliegende Wald mußte an vielen Stellen Feldern und Weiden weichen, obwohl Felder und Weiden ja nicht gerade dafür bekannt waren, Lagerhölzer für Schiffsmasten und Deckenbalken zu liefern. Ebenso wenig konnte man die Flößerei mit dem widerstandsfähigeren Backstein in Verbindung bringen. Entweder Häuser oder Boote. Stein oder Holz. Von einem Hochsitz aus konnte das vorbeiziehende Wild in Ruhe betrachtet und auch angesprochen werden. Die Länder durften bei Störungen des biologischen Gleichgewichts oder bei deutlicher Schädigung der jeweiligen Landeskultur Jagdzeiten festsetzen oder in Einzelfällen zu wissenschaftlichen Forschungszwecken Ausnahmen zulassen. Das Sammeln von Bellriemen und Abwurfstangen auf fremden Grundstücken sollte dabei nicht unbedingt zur Normalität werden. Es wurde nicht zur Normalität. Es gab keine Grundstücke nach durchsoffenen Nächten. Gedanken, Licht und die Zerschlagenheit beim Liegenbleiben reichten noch nicht einmal dafür aus, die diskrete Unruhe verstaubter Gardinen anzufeinden. Ioanas Rumänien an solchen Nachmittagen zu beschreiben, würde zu weit führen. Der Irrglaube, daß der selbstgemachte Schnaps in dieser Gegend des Landes zu einer befreiten Verzahnung mit den entgegen-kommenden Wünschen eines neuen, übernächtigten Lebens führen könnte, hatte das Zeug dazu, die üblichen Daseinsformen zu irritieren. Suceava. Waiblingen. Hohendreesen. Discothek Calypso. Heimatsehnsucht und gleichgültiges T-Shirt. Die Kinder in der Schule. Ioana mit den beiden Hunden im Wald. Die Unterlegenheit gerade erst aufgeschreckter, kleinerer Tiere. Tat und Bestrafung mußten immer unmittelbar hintereinander erfolgen, damit der Große Münsterländer in der Lage war, den Zusammenhang zu verstehen. Anfang März. Jene Jahre in Bukarest waren immer ohne Zusammenhänge. Ohne Bestrafung. Mărţişor. Sonne und Schnee. Die rot-weißen Schnüre um Ioanas Handgelenk. So viele Märzchen wie sie hatte sonst keine andere Frau der Fakultät an ihrem Arm. Nachdem sie diesen Schmuck etwa acht Tage getragen hatte, kam sie eines Abends spät auf der Piata Constitutiei an einem beleuchteten Springbrunnen vorbei, warf ihre Bändchen in die blühenden Zweige des Wassers und wünschte sich, in der Mitte des sechzehn Meter hohen und zweitausendzweihundert Quadratmeter großen Saals im Parlamentsgebäude an einem winterlich verstimmten Flügel zu sitzen und sich für die Pausen zwischen ein paar Tönen eine Nacht lang Zeit lassen zu dürfen. Butler in hellbraunen Anzügen auf kleinwüchsigen Pferden. Diagonal verlegte Marmorplatten. Sicherheitspersonal hinter den Säulen. Kirschholzwagen mit Früchten, Fleisch und Getränken. Turngeräte und Gemälde an den Wänden. Bergarbeiter aus Oltenia und dem Schil-Tal mit Spaten und Besenstielen vor den Fenstern. Noch blieb alles ruhig in Timisoara. Im hinteren Teil des Saals. Die Ungarn und Hooligans hatten längst die Macht übernommen. Ioana im Schutz der Säulen und Führervorhänge. Schüsse jetzt auch in Brașov, Sibiu, Arad, Cluj-Napoca und Constanta.

Die Studentin der Literatur und Philosophie besoffen am Flügel. Nur einen falschen Ton, und sie hätte sämtliche Bergleute aus der Kleinen Walachei und dem Schil-Tal gegen sich. Nur einen falschen Ton, und sie würde die Butler in ihren hellbraunen Anzügen auf sich zu galoppieren sehen. Nur einen falschen Ton, und die Sicherheitskräfte würden mit ihr kurzen Prozeß machen. An einem so derart verstimmten Flügel. Ioana ohne Märzchen an ihrem Handgelenk. So viele wie sie hatte sonst keine andere Frau der Fakultät an ihrem Arm. Auf dem Boulevard Unirii hielten sich zwei Gruppen Unausgeglichener solange blutig bei Laune, bis sie wieder lebten. Der klinische Anreiz von Reanimation für die Sehnsucht nach Feiertagen und einer eher kopflosen Alltagsgelassenheit. Die soziale Untauglichkeit nachhaltig beschädigter Gesichter für Bewerbungsgespräche und die private Wiedererkennung in den Betrieben. Der Irrglaube, daß ein verstimmter Flügel in dieser Gegend des Landes zu einer befreiten Verzahnung mit den entgegenkommenden Wünschen eines neuen, übernächtigten Lebens führen konnte, hatte das Zeug dazu, die üblichen Daseinsformen zu irritieren. Ioanas Rumänien in solchen Nächten zu beschreiben, würde zu weit führen. Aufgeweichte Märzchen im Brunnen. Ersoffene Bleifiguren der Liebe.

La Monte Youngs Bart. Die Ehrfurcht der Bergarbeiter aus dem Schil-Tal. Die Spaten und Besenstiele im Flügel. Mit ihrer Borstenlosigkeit und den Metallblättern nach außen.

Das Instrument in voller, verwackelter Blüte. Schiefe, bekloppte Kohlebergwerke. Gruben und Musik. Loren und kleinwüchsige Pferde. Nur wenige Geschäfte, die hier wirtschaftlich Fuß fassen konnten. Der Boulevard Unirii ist um einen Meter breiter als die ChampsÉlysées.

DIE TELEFONZELLE AM WALDRAND VON MAVENBEEK

war kein Palast. Nur an den Sonntagen. Ihde hatte dem Zimmermädchen untersagt, vom Telefon in ihrem Arbeitszimmer aus die Großeltern in Fălticeni anzurufen, aus Angst, Ioanas Heimweh würde überhand nehmen und sie wäre den Aufgaben im Haushalt dann nicht mehr gewachsen.

An den Sonntagen ging es abends eher betulich zu. Ihde verbrachte mit ihrem Mann und den Kindern die Zeit nach dem Essen im Salon unten. Er fuhr erst am darauffolgenden Morgen wieder in die Stadt zurück. Nachdem Ioana das Geschirr in die Küche getragen hatte, war für sie der Salon passé. Sie ging zum Zwinger, leinte die Hunde an und ging mit ihnen noch eine Runde spazieren. So war es jedenfalls mit Ihde abgesprochen. Kaum war sie außer Sichtweite, ließ sie die Hunde laufen. Ihr Weg führte sie durch den Wald bis nach Maven-beek zur Telefonzelle. In ihrem Rucksack befanden sich Büchsen mit Hundenahrung, eine kleine, zusammengerollte Bastmatte, ein Flachmann, Servietten, ein Geschirrtuch und ein altes W48-Telefon von Saba mit Fingermuldenscheibe aus Bakelit, das Ioana durch Zufall im Keller hinter der Kühltruhe gefunden hatte, nachdem sie vergessen hatte, ihren Schlüssel vom Deckel der Truhe zu nehmen, um sie dann erst zu öffnen. Alles mußte immer sehr schnell gehen in dieser Walachei. Ioana brauchte für die drei Kilometer eine gute halbe Stunde. Wenn sie ein Knacken im Unterholz hörte, rief sie die Hunde sofort zu sich heran. Hier. Sitz. Bleib. Sie ging diese große Sonntagsrunde auch deshalb, weil die Tiere allmählich begreifen lernen sollten, daß die Kommandos nicht nur an bestimmte Orte wie den Zwinger oder die Kinderzimmer geknüpft waren. Für die nächsten zehn Minuten, länger benötigte sie nicht, leinte sie die Münsterländer von außen am Türgriff an, schlüpfte in ihren Palast, rollte die Bastmatte unter ihren wechselseitig angehobenen Füßen auf dem Boden der Zelle aus, entledigte sich ihrer Schuhe und Strümpfe, trank einen Schluck Schnaps, stellte das W48 auf das Telefonbuch, über das sie eine farbige Serviette ausgebreitet hatte, warf Münzen in den Wandapparat ein, wählte die Nummer der Baiulescus in Fălticeni, beide im Staatsdienst, beide nur fünf Häuser von ihren Großeltern entfernt, wartete auf das Freizeichen, und wenn einer der Baiulescus den Anruf entgegennahm, hängte sie den Hörer in der Zelle wieder ein, verdeckte das Telefon an der Wand mit einem schwarzen Geschirrtuch, nahm ihren eigenen Hörer zur Hand und wählte als letzte Ziffer anstelle der neun die vier. So ging das Sonntag für Sonntag. Für wenigstens eine Sekunde hörte Ioana in der Leitung Geräusche aus einem Flur oder einem Zimmer in Fălticeni, wenn sich ausländische Geräusche von soweit her in einer einzigen Sekunde überhaupt unterbringen lassen. Der Hörerwechsel mußte in dieser Walachei immer sehr schnell gehen. Rutschte das Geschirrtuch von allein auf den Boden, war die Verbindung dahin, gab es nichts mehr zu bereden. Näher als von dieser Zelle aus kam Ioana selbst mit nackten Füßen nie mehr an ihre Großeltern heran. Das Klappern der leeren Büchsen vor der Tür. Kein Wild in der Nähe. Sie brauchte für die drei Kilometer zurück gute fünfundzwanzig Minuten. Im Salon war noch Licht. Sie verschwand in der Küche, wischte den Fußboden, ordnete die Teelöffel zurück in die Fächer, polierte zwei Weingläser und verschwand danach in ihrem Zimmer.

Schreibtisch. Kleiderschrank. Bett. Regal mit Büchern. Nachttischlampe.

Ihr Tag begann früh um sechs Uhr. Vom Fenster aus konnte sie sehen, wie Ihdes Mann seine Limousine bestieg und den Motor startete. Jeden Montag gegen fünf Uhr dreißig.

Erst am Freitagabend würde er wieder zurück sein. Genug Zeit, die Kleiderschränke zu öffnen, um an seinen Hemden und Clubjacken zu riechen. Ihdes Mann zu beschreiben, würde zu weit führen. Er war die Woche über zum Arbeiten in der Stadt. Und das war auch gut so. Die Kinder schienen ihn jedenfalls nicht sonderlich zu vermissen. Der Sonntagabend auf der Couch im Salon war ihnen heilig. Solche Abende gab es nur auf dem Lande und im Wald. Sie begannen gleich nach dem Mittagessen und waren ohne Zimmermädchen undenkbar.

Ob in Rumänien etwas über das Verhalten, den Charakter und die Rasse solcher Abende bekannt war, interessierte Ihde dabei nur herzlich wenig. Daß die Hunde fast regelmäßig gefüttert wurden, wußte nur Ioana, die auch für diese Belange im Freien allein zuständig war.

Bevor Ihdes Mann sein Auto am frühen Montagmorgen bestieg, nahm er sich immer ein paar Minuten Zeit, um sich im Zwinger von den Hunden zu verabschieden. Was für einer Arbeit er in der Stadt nachging, wußte nur seine Frau. Das Grundstück, das Haus und der dazugehörige Wald kamen ja nicht von ungefähr. Ab einer Fläche von fünfundsiebzig Hektar Land durfte gejagt werden. Wildschweine, Rehe, Hirsche und Federwild.

Wildschweine kamen auf das stattliche Gewicht von hundert bis hundertfünfzig Kilogramm. In Osteuropa wogen sie sogar das doppelte. Deshalb war Ioana auch froh, endlich in Hohendreesen zu leben. Kam hier das Getreide an den Waldrändern in die Milchreife, zog es die Sauen auf die Felder. Schwarzkittel waren vorzügliche Schwimmer und konnten sogar Inseln besiedeln, die dem Festland vorgelagert waren. Aber von Inseln konnte in diesen Waldgebieten keine Rede sein. Die Strände von Mavenbeek. Der Großmarkt, die Schule, eine fast unbewohnte Telefonzelle und die ehemalige Adresse einer Zuckerfabrik.

Mit einem Jagdschein hatte man in diesen Breiten die Befugnis, sich krankes und totes Wild, Wild in Fallen, Abwurfstangen und sogar die Eier von Federwild anzueignen.

Natürliche und künstliche Wasserläufe, Straßen, Triften und Gleiskörper bildeten keinen eigenen Jagdbezirk für sich. Es gab keine vorbeiziehenden Güterzüge, Seen oder Parkplätze auf Ihdes Grundbesitz. Nur ab und zu die zwischen den Bäumen abgestellten Fahrzeuge von Pilzsammlern. Der Jagdschein wurde Personen versagt, die keine ausreichende Jagdhaftpflichtversicherung nachweisen konnten, fünfhunderttausend Euro für Personenschäden und fünfzigtausend für Sachbeschädigungen. Personen, die wegen eines Verbrechens oder einer fahrlässigen Straftat mit Waffen und Munition zu einer Freiheitsstrafe, Jugendstrafe, Geldstrafe von mindestens sechzig Tagessätzen oder zweimal zu einer geringeren Geldstrafe verurteilt worden waren, hatten ebenfalls keine Aussicht auf Erfolg bei den zuständigen Behörden. Es sollte schließlich nicht jeder Dahergelaufene auf dem Lande und in den Wäldern mit einer Waffe unterwegs sein dürfen. Hohen-dreesen war ja keine befreite Zone in Brandenburg oder in Amerika.

Einmal im Monat, es war immer ein Mittwoch, besuchte Ihde die Vorstandssitzung des Waldbesitzerverbandes. Das zog sich jedes Mal in die Länge. Der Junge und das Mädchen schliefen schon längst, wenn ihre Mutter spät in der Nacht von einer dieser Sitzungen zurückkam. Ioana hatte dann die Aufgabe, den Kindern das Abendbrot zu bereiten und sie zu gegebener Zeit ins Bett zu bringen. Der Waldbesitzerverband hatte die Aufgabe, den Waldbesitz für die Eigentümer wieder attraktiver zu machen. Angeboten wurden die Beratung bei Rechtsfragen und Mitgliedsrabatte bei der Anschaffung von Forsttechnik und Arbeitsschutzmaterialien. Rahmengutachten für Entschädigungen bei Waldinanspruchnahme für Leitungs- und Straßentrassen waren hier nie ein Thema.

Es sei denn, die Entschädigung für den Flächenverlust wäre durch angrenzende Waldersatzflächen erfolgt. Aus gut informierten Kreisen war zu erfahren, daß der Deutsche Wanderverband ein Positionspapier zum Internationalen Jahr der Wälder mit konkreten Forderungen zur Bewirtschaftung des Unterholzes verabschieden wollte.

Der positive Dialog mit solchen Verbänden und ähnlichen Mitgliedsorganisationen über eine naturverträgliche Freizeitnutzung von Privatwäldern sollte fortgesetzt werden, obwohl gerade in dieser Zeit störungsempfindliche Tierarten wie Schwarzstorch und Luchs endlich in unsere Wälder zurückkehrten und sich hier ihren neuen Lebensraum erschlossen.

Aber natürlich war man sich dessen bewußt, daß viele Mitglieder dieser traditionellen Vereine auf ihren Wegen zwischen den Bäumen ein sehr ausgewogenes Verhältnis zur Nutzung und zum Schutz der Natur hatten.

Ioana hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit Waffen. Im Herrenzimmer, dem einzigen Zimmer im Haus, zu dem ihr der Zutritt untersagt war, hatte Ihdes Mann einen abschließbaren Schrank stehen, in dem ein paar Gewehre zu sehen gewesen wären.

Von den Kindern wußte sie, daß ihre Eltern mit ihnen an einigen Wochenenden im Herbst auf die Jagd gingen. Für irgendetwas mußte es ja gut sein, die Kinder einmal im Monat allein ins Bett zu bringen. Mavenbeek im November zu beschreiben, würde zu weit führen.

Der vergessene Auftritt einer Zuckerfabrik. Die toten Gleise dorthin. Schlammteiche und Kesselhäuser. Die Verlegung der Hofrübenabnahme an die Südseite des Werks. Kühltürme und Rohsaftpumpen. Die Unterbringung von Büroräumen und Laboratorien auf einer stabilen Überführung zwischen den beiden Hauptkomplexen. Kommandobrücke über den Bahnanlagen. Ioanas eigenes Parlamentsgebäude ohne Arbeiter und Sicherheitskräfte.

In einem Notizbuch hatte sie sich die Namen der alkoholischen Getränke, die sich in der Hausbar des Salons befanden, notiert. Diese Getränke jetzt namentlich zu erwähnen, würde zu weit führen. Sie mußte auf der Hut sein, wenn sie diese Schnäpse und Liqueure in Ihdes Abwesenheit in winzigen Schlucken zu sich nahm, aus der Mulde eines Teelöffels, den sie in einem ihrer Schuhe gefunden hatte. Danach machte sie jeweils einen Strich in ihrem Büchlein. Die Anzahl der Getränke stimmte fast mit der Anzahl der Wochentage überein.

Es gab keine Erschwerniszulage für den Samstag und den Sonntag, wenn die unbeobachteten Momente im Salon an einer Hand abzuzählen waren. Frühstück. Mittag. Vesper. Abendbrot.

Das Vorlesen von Büchern. Eigenartige, private Gesellschaftsspiele auf der Couch. Opern.