Paul Lascaux
Nelkenmörder
Ein Fall für Müller & Himmel
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: Sandro Botticelli – La nascita di Venere – Wikimedia Commons
ISBN 978-3-8392-4802-7
Heinrich Müller: Privatdetektiv Detektei Müller & Himmel, Ex-Polizist, wohnt in Bern, leicht über 50 Jahre alt
Nicole Himmel: Anthropologin, arbeitet im Alpinen Museum Bern und in der Detektei Müller & Himmel
Baron Biber: der Kater von Heinrich Müller, heißt mit vollem Namen Baron Tartine Biber der Erste
Mathilda: eine lebhafte Katzendame
Michelle Broccard: Informatikerin
Claudio Moser: Kunsthistoriker
Markus Forrer: Kontaktmann bei der Polizei
Christian Blöchlinger: Kunsthändler
Annette Gubler: Kunstkritikerin
Danilo Monti: Kontaktmann in Florenz
Pascal Ramseyer: ein Restaurator
Die historischen Personen:
Paul Löwensprung (1460 – 1499)
Sandro Botticelli (1445 – 1510)
Simonetta Vespucci (1453? – 1476)
Giuliano de’ Medici (1453 – 1478)
Lorenzo de’ Medici (1449 – 1492)
Er öffnete die Augen. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Lidern drang grelles Licht, das in seinem Gehirn ein Blitzgewitter auslöste. Als er sich an seinen Namen erinnern wollte, übermannte ihn stechender Schmerz. Er fiel in seine Bewusstlosigkeit zurück.
Er konnte nicht sagen, wie lange seine Ohnmacht gedauert hatte. Er konnte nicht einmal sprechen. Seine Lippen waren spröde, die Augen verklebt, der Mund war von dem heißen Wind ganz trocken.
Leise erst, dann deutlicher vernahm er das Geräusch eines tropfenden Hahns. Er wollte um ein Glas Wasser bitten. Er wusste nicht, warum er darum bitten sollte. Eigentlich hätte er aus dem Bett aufstehen und sich eines holen können. Aber irgendetwas hinderte ihn daran.
Schon lange war er nicht mehr nach einem derartigen Albtraum erwacht. Er lachte, er schüttelte die wirren Vorstellungen aus seinem Kopf. Aber man hörte nur ein Krächzen, sah eine zuckende Bewegung der Schultern, eine Grimasse im ansonsten ausdruckslosen Gesicht.
Es war eine lange Nacht gewesen, er hatte viel getrunken, offensichtlich zu viel. Sein Gehirn gab Erinnerungsfetzen frei: eine lärmige Bar in schmutzig-klebrigem Braun, stets neu gefüllte Gläser auf nüchternen Magen, hässliche Fratzen, die er niemandem zuordnen konnte, die Stimme einer Frau, die sagte: »Trink!«
Dann wurde ihm klar, dass das Wort aus der Gegenwart stammte, die sich in die Erinnerung einmischte. Die Stimme jedoch gehörte zu beidem, zum Gestern wie zum Heute. Jemand schob ein Glas zwischen seine Lippen und flößte ihm lauwarmes Wasser ein. Eklig und erfrischend zugleich.
»Du könntest endlich erwachen. Ich habe nicht ewig Zeit«, sagte die Stimme.
Der innere Widerstand war größer. Er sank zurück ins Erinnern. Wo befand er sich? Bilder aus einem Flugzeug stoben vor ihm weg, sie wurden ersetzt durch andere, den Blick auf einen Fluss, Ansichten einer südlichen Stadt, die er kannte, aber nicht zu benennen wusste, die schweißtreibende Hitze des späten Nachmittags. Dann tauchte er wieder aus seiner Besinnungslosigkeit auf.
»Das GHB hat dich ganz schön mitgenommen«, sagte die Stimme, die einer Frau gehören musste und die er schon oft gehört hatte.
Kaum war er in die Gegenwart zurückgekehrt, blendete erneut das Licht, und der Schmerz meldete sich ein weiteres Mal.
Er nahm all seine Kraft zusammen und wollte aufstehen. Doch er lag nicht wie vermutet in seinem Bett, er saß aufrecht auf einem Stuhl. Anscheinend hatte er so die Nacht verbracht. Kein Wunder, plagten ihn all seine Glieder.
Ein Lächeln, das draußen nicht sichtbar wurde, breitete sich in ihm aus. Es sollte das letzte sein.
Dann gab er sich einen Ruck. Er musste sich aus dieser misslichen Lage befreien. Doch er blieb erfolglos.
K.-o.-Tropfen! Das musste es gewesen sein. Deswegen konnte er nicht klar denken. Es war dieses verdammte Glas zu viel.
Jemand drehte die Lichtquelle von ihm weg. Da gelang es ihm, die Augen etwas weiter zu öffnen. Er blickte an sich hinunter. Was er sah, konnte er nicht erklären. Seine Ober- und Unterarme waren mit Kabelbindern an einem Rohrstuhl befestigt, über seine Oberschenkel spannte ein Ledergurt, und auch die Füße konnte er nicht bewegen.
»Gut verschnürt«, sagte die Stimme, jetzt schon etwas klarer, »gib dir keine Mühe.«
Sie duzte ihn. Kannten sie einander? Er wusste es nicht.
Sie flößte ihm noch ein Glas Wasser ein, er räusperte sich und brachte ein beinahe unverständliches »Warum?« hervor.
»Du weißt es nicht?« Sie lachte.
Er bemerkte nun, dass auch seine Hände fixiert waren, und zwar mit der Handfläche nach oben. Die Kabel schnitten entlang der Lebenslinien ins Fleisch. Seine Handgelenke schimmerten schwarz. Als ihm dämmerte, dass das Schwarze eingetrocknetes Blut sein musste, sein Blut, sackte er noch einmal weg.
Erneut kam er zu sich. Sein ganzer Kopf war nass. Sie hatte Wasser über seinen Körper geschüttet, um ihn wachzurütteln.
»Schlafen kannst du, wenn du tot bist«, sagte sie mitleidlos.
»Was wollen Sie von mir?«, stammelte er beinahe unhörbar.
»Du weißt es wirklich nicht?«
Es war eher eine erstaunte Feststellung als eine Frage. »Ich muss dir wohl etwas auf die Sprünge helfen. Florenz!«
Es klang wie ein Befehl, sofort dorthin aufzubrechen. Aber nun wurde ihm klar, dass er sich bereits in der Toskana befand. Es war seine Lieblingsdestination und deshalb völlig unerklärlich, warum er nicht augenblicklich daran gedacht hatte. Die Dosis des Betäubungsmittels musste absurd hoch gewesen sein. Der Dom, der Palazzo Vecchio, die Galerien der Uffizien, ein Sommerregen, seine Brille, die nicht mehr richtig fokussierte, eine schal schmeckende Eiscreme.
»Botticelli!«, bellte die unangenehme Stimme, und das Licht wurde wieder greller.
Wie eine nervöse Diashow rasten die Bilder an ihm vorbei. Einer seiner Lieblingsmaler. Noch einmal war es ein Traum, ein schöner und beruhigender Traum diesmal. Aber er lächelte nicht mehr, denn er erinnerte sich an das, was auf dem Spiel stand. Dabei hatte alles so gut begonnen, es konnte kaum schief gehen, vielleicht dass die Suche nicht erfolgreich wäre, aber das war bereits die schlimmstmögliche Vorstellung. Jedenfalls bis gestern.
»Du hast noch eine Minute, um mir zu verraten, wo sich die Bilder befinden«, erklärte die Frau.
»Keine Ahnung«, sagte er und zuckte mit den Schultern, was erneut einen unerträglichen Krampf in seinen Muskeln auslöste. Aber auch dieses ›unerträglich‹ war nur ein Vorgeschmack.
Er zählte die Sekunden. Sie hatte ihn angelogen. Sie begann bereits bei 48. Seine Augen blieben geschlossen.
Grausamer Schmerz durchzuckte ihn.
Als er noch einmal an sich herunterblickte, sah er, wie eine knochendürre Hand mit einem Teppichmesser in seine Pulsadern schnitt, links zuerst, dann rechts. Wieder floss Blut.
»30 Sekunden«, sagte sie kalt.
Auch wenn er gewusst hätte, was sie von ihm wollte, er hätte es ihr nicht gesagt. Er machte sich ohnehin keine Hoffnungen, von diesem Stuhl wieder aufzustehen. Er vergaß Sandro Botticelli und mit ihm die ganze Geschichte der Kunst. Er vergaß Simonetta Vespucci und mit ihr die schönen Frauen dieser Welt. Schließlich vergaß er seinen eigenen Namen.
»Zehn … acht … vier, drei, zwei, eins …«
Ein letztes Mal öffnete er die Augen.
Er wollte es wissen.
Sie schnitt die Adern weiter großzügig der Länge nach auf. Er sah sein Blut, wie es in die Leere floss, und ihm folgte sein Bewusstsein. Und sein Geheimnis.
Heinrich Müller döste in den Morgen hinein, lauschte auf die Geräusche des beginnenden Tages, sank in einen unruhigen Traum zurück. Der erste August war wie immer anstrengend gewesen. Man feierte die Geburt der Eidgenossenschaft mit einem Feuerwerk, aber auch mit Knallkörpern und Lärmraketen, vor denen sich die Katzen, einem Herzinfarkt nah, unter den Möbeln verkrochen.
Die Katzen? Eine Ausnahme war Baron Biber, früher einer der Furchtsamsten. Inzwischen 17 Jahre alt, genoss er das Leben im Garten, auf dem Balkon und mit gelegentlichen Rundgängen ums Haus, die er mit kläglichem lautem Miauen krönte, als ob er der Welt mitteilen wollte: »Seht her, ich bin ein armes Tier, keiner lässt mich rein, niemand füttert mich.«
Dabei war er nur zu faul, ums Haus zurückzuschleichen. Außerdem hatte ihn Taubheit befallen; er hörte nicht mehr auf seinen Namen, lediglich auf ein hohes Pfeifen. Allerdings brauchte er lange, um es zu orten. Bereits zwei Mal hatte er an der Pforte zum Katzenhimmel geschnuppert, nachdem er tagelang nichts gefressen hatte und nur noch aus Haut und Knochen bestand. Zwei Mal hatte er sich erholt.
Nun lag er am Fußende des Betts auf dem Duvet und schnurrte leise vor Vergnügen, dass er seinen Dosenöffner durch Kratzen an einer Papiertüte dazu gebracht hatte, vor der Zeit aufzustehen und seinen Futternapf zu füllen. Mathilda ratzte derweil auf einem Stuhl im Wohnzimmer vor sich hin.
Müller tat einen Blick aus dem Fenster, sah den grau verhangenen Himmel und zog sich wieder unter die Decke zurück. Es war der nasseste Sommer, den er je erlebt hatte. Nur selten gab es einen trockenen Tag, meist drohten Gewitter und die Luft stockte schwülwarm. Es kam zu Erdrutschen, Überschwemmungen und Murgängen, die Aare führte so viel kaltes Wasser und Geschiebe, dass an Schwimmen nicht zu denken war. Die Wege durch Wald und Feld glichen Sumpfpfaden, in den Bergen musste man aufpassen, nicht auf glitschigen Steinen auszurutschen. Kurz, der bevorzugte Aufenthaltsort von Heinrich Müller war in diesem Sommer das Bett.
Eine hartnäckige Erkältung hatte den Detektiv zudem von anstrengenden Aktivitäten zurückgehalten. Und die aktuelle Weltlage begünstigte keine weiten Reisen. In der Ostukraine war im Bürgerkrieg ein malaysisches Passagierflugzeug mit fast 300 Passagieren abgeschossen worden, und man schob sich mit teilweise absurden Begründungen gegenseitig die Schuld zu. Viele Menschen hatten als Folge Angst vor einem neuen Krieg zwischen europäischen Staaten.
In Syrien ging die endgültige Zerstörung des Landes ungebremst weiter. Scheinbar religiös motivierte Terrorregimes begründeten eine Schreckensherrschaft im Irak und den angrenzenden Staaten. Der Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Hamas bewegte sich auf eine weitgehende Zerstörung des Gazastreifens hin.
Aber vor der Bedrohung durch den kaum zu kontrollierenden Ausbruch einer Ebola-Epidemie in Westafrika erschien ein Bürgerkrieg beinahe das kleinere Übel zu sein, konnte man doch die Akteure benennen, vielleicht sogar bekämpfen, während man bei der Seuche einem unsichtbaren, unheimlichen Gegner gegenüberstand, der nichts anderes als das eigene Überleben im Schilde führte. Pech für die Menschheit.
Einen schönen kleinen Mord empfände man demgegenüber als willkommene Abwechslung.
Heinrich Müller lauschte in den Garten hinein, ob er bereits wieder das Geräusch schwerer Regentropfen auf den Haselnussblättern hörte, einen beruhigenden, ja berauschenden Rhythmus, den er herbeisehnte, wenn er sich orientierungslos in seinen Gedanken verlor. Heute wollte ihn nichts und niemand erlösen.
Heinrich Müller hätte wahrlich keine neuen Sachen mehr gebraucht. Die Wohnung war voll, ja übervoll. Dennoch kramte er in jeder Flohmarktkiste, durchwühlte jedes Brockenhaus, beteiligte sich an Auktionen im Internet. Denn er liebte schöne Dinge, möglichst alte, einzigartige schöne Dinge.
An erster Stelle auf seiner Wunschliste standen Gemälde. Er hätte gerne eines aus der Renaissance gehabt. Aber das waren meistens Museumsstücke, und diejenigen, die auf dem freien Markt gehandelt wurden, passten nicht zu seinem Budget. Müller mochte aber auch das 19. Jahrhundert, die Zeit des großen Umbruchs in der Malerei, und es war ihm bereits gelungen, einzelne Bilder aus der Zeit zu erstehen, dazu ein paar Zeichnungen und wenige Porzellanstücke.
Heute hatte er Nicole Himmel zu einer Auktionsvorschau mitgenommen. Es gab in Bern ein Haus, das Versteigerungen im mittleren Preissegment durchführte, und man konnte hoffen, einen angenehmen Fund zu tun, ein Kleinmeisterstück oder ein paar Grafiken zu erwerben. Nicole war beim antiken Schmuck hängen geblieben, während Heinrich bereits im Untergeschoss bei den Landschaftslithografien herumstöberte.
Eine glutäugige Dunkelhaarige in eng anliegendem, schwarzem Rock und kobaltblauer Bluse musterte ihn, sie maß seinen Respekt erheischenden Bauchumfang ab, ihre Mundwinkel zuckten, sie war nahe daran, den Detektiv anzusprechen. Es war dieser Augenblick des Zögerns, der Heinrich immer wieder faszinierte, aber er stellte die japanische Porzellanfigur lieber zurück auf den Tisch, bevor er einen Heiratsantrag bekam. Die Dunkle folgte ihm durch alle Räume, in gebührendem Abstand zwar, doch mit der unmissverständlichen Direktheit, mit der man einem Kaufhausdieb auflauerte.
Müller seufzte. Die Welt war ungerecht. Gut, er hatte es provoziert. Er würde die Dame ansprechen, sie nach einer Losnummer fragen und in Verlegenheit bringen, wenn sie keine Auskunft geben konnte, weil er die Zahl eben erfunden hatte. Gleichzeitig hatte er im seitlichen Blickwinkel beobachtet, wie zuerst eine magersüchtige Frau um die 40, dann ein älterer Weißhaariger in einem Konvolut blätterten und jede Seite mit ihrem Handy fotografierten. Das schien seine Begleitung nicht zu stören. Aber bestimmt gäbe es ein Gezeter, wenn er seinen Fotoapparat zückte und dasselbe tat.
Heinrich Müller ließ es nicht auf eine Konfrontation ankommen. Er machte die paar Schritte zur jungen Dame hin und fragte, ob Fotografieren erlaubt sei. Sie schaute ihn verstört an, presste ein »Nein!« hervor, wollte sich von ihm wegdrehen, sagte dann aber noch: »Die meisten Objekte sind im Katalog abgebildet. Sonst steht Ihnen unser Fotodienst zur Verfügung.« Dann stolzierte sie davon, als ob sie den Geschäftsführer wegen dieses aufsässigen Kunden holen wollte.
Heinrich nahm es nun doch wunder, was seine beiden Kontrahenten Spannendes gefunden hatten. Das Konvolut lag auf einer Kommode unter einem Glasschrank, dem man es wohl entnommen hatte, denn er war voll von Büchern und Grafiksammlungen unterschiedlichster Art. Niemand hatte sich bisher darum gekümmert, die schwarze Schachtel zurückzustellen. Denn in einer Kartonschatulle befand sich das, was die Frau und den Mann dermaßen interessiert hatte, dass sie nicht bis zum Auktionstag warten konnten, um es in Besitz zu nehmen.
Auf dem Deckel klebte das Etikett mit der Losnummer, der Angabe des Inhalts und des Schätzpreises. ›Künstlertagebuch mit Landschaftsskizzen, wohl vor dem 18. Jahrhundert‹, stand da und ein Betrag von 800 Franken. Der würde bestimmt steigen, wenn es jetzt schon mehrere Interessenten gab, überlegte Müller. Dann hob er den Deckel, legte ihn auf die Seite, nahm sorgfältig Blatt um Blatt heraus und ließ es umgekehrt in den Deckel gleiten, damit keine zusätzliche Unordnung entstünde, denn die fragilen Blätter waren nicht zusammengebunden.
Heinrich betrachtete die eng bis an den Rand hinaus in einer ungelenken Handschrift beschriebenen schmucklosen Blätter. Tatsächlich, er fand zwar jeweils ein Datum, aber auf den ersten Blick keine Jahresangabe. Deshalb wohl die vage Zuordnung des Auktionshauses. Müller überflog die Zeilen und suchte Wörter, die er ohne Schwierigkeiten erkennen konnte. Es waren wenige, bei denen ihm auf Anhieb die Bedeutung klar wurde. In erster Linie fielen ihm Ortsnamen auf, Städte, die in Italien lagen, Firenze, Pisa, Genova.
Dazwischen lagen mehr oder weniger ausgefeilte Skizzen, rasch hingeworfene Veduten von frei stehenden Gebäuden, einer Brücke, einer Passstraße, aber auch im Ansatz kolorierte, präziser ausgeführte Abbilder von Statuen, Kirchenportalen und Stadtbefestigungen sowie eine kleine Anzahl von kopierten Gemälden. Der Name eines Künstlers war jedoch auf den ersten Blick nicht zu finden.
»Könnten die Aufzeichnungen eines reisenden Gesellen sein«, sagte er zu Nicole, die zu ihm hinuntergestiegen war, nachdem sie sich vom Schmuck hatte losreißen können. Im Schlepptau befand sich die Dunkle mit den feurigen Augen, die nun zu ihnen trat und etwas schnippisch sagte: »Ich muss das zurückstellen.«
»Es lag auf der Ablage«, rechtfertigte sich Müller. »Ich habe es nicht selber herausgenommen.«
»Danke«, meinte Nicole kühl. »Wir schauen uns das Objekt noch genauer an. Es soll ja versteigert werden, oder etwa nicht?«
Der Blick der Dunkelhaarigen verschleierte sich ein wenig, zuckte unruhig hin und her.
»Gut«, sagte sie dann. »Ich hole Herrn Kienspan, der muss es bewilligen.«
»Hast du die Originalausgabe der Bibel in der Hand oder die Schatzkarte der Templer?«, fragte Nicole Himmel.
»Nein«, lachte Heinrich. »Die junge Dame liebt Dramatik. Vielleicht besucht sie die Schauspielschule.«
Dann beugten sich beide über die leicht vergilbten Blätter, von denen der Detektiv einige vor sich ausgebreitet hatte.
»Sieht spannend aus«, sagte Nicole mit wenig Überzeugung. »Ich kann allerdings nichts davon lesen.«
»Sobald ich es ersteigert habe, übersetze ich den Text, damit du auch etwas davon hast«, meinte Müller und räumte die Reisetagebuchblätter und die Zeichnungen gerade noch rechtzeitig in die Schachtel, bevor Herr Kienspan auf dem untersten Treppenabsatz erschien.
»Die Herrschaften interessieren sich für das Konvolut des unbekannten Künstlers«, stellte er emotionslos fest.
»Vielleicht«, gab Müller zurück. »Es ist wie so vieles im Leben vom Preis abhängig.«
»Schreiben Sie das Doppelte des Schätzpreises auf Ihr schriftliches Gebot, sonst kriegen Sie es nicht«, beschied Herr Kienspan, der es unterlassen hatte, sich vorzustellen. »Ein bekannter Kunsthändler interessiert sich dafür.«
»War das der Herr, der die Blätter mit dem Handy fotografiert hat?«, fragte Heinrich und mimte Unschuld. Währenddessen wurde die Dunkelhaarige von ihrem Chef streng gemustert. Sie erblasste dabei so sehr, dass es Heinrich angst und bange um ihre Gesundheit wurde.
»Sie werden verstehen«, murmelte Kienspan, »dass wir über unsere Kundschaft keine Auskunft geben, Diskretion ist oberstes Gebot unseres Hauses. Haben Sie gesehen, was Sie sehen wollten? Dann danke ich für Ihr Interesse.«
Damit nahm er Heinrich die Schachtel ab, stellte sie hochkant in die Vitrine und schloss die gläserne Tür ab.
»Spinnst du, dich so behandeln zu lassen«, flüsterte Nicole, nachdem die Aufsicht außer Hörweite war.
»Ich will ja nicht auffallen«, sagte Müller. »Noch weiß niemand, wer ich bin, und diesen Vorteil muss man sich zu Nutzen machen. Wenn du erst einmal so bekannt bist wie offenbar der Kunsthändler, achtet jeder darauf, was dich interessiert. Das ist schlecht fürs Geschäft, es fördert die Konkurrenz und treibt die Preise in die Höhe.«
»Du willst es also kaufen?«, fragte Nicole.
»Wir werden sehen«, entgegnete Heinrich. »Es liefert jedenfalls einen Grund, an der Versteigerung persönlich vor Ort zu sein.«