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Friederike Schmöe

Stille Nacht, grausige Nacht

Ein frostiger Winterthriller

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © bit.it / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4866-9

Gedicht

Über allen Gipfeln ist Ruh.

In allen Wipfeln spürest du

Kaum einen Hauch.

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

J .W. von Goethe

Prolog

Ich wünschte, ich wäre jemand anders.

Kein unvertrauter Gedanke. Einer, in dem ich mich eingerichtet habe. Es wäre schön, jemand anders zu sein, nicht jemand, der über der Schulter eines Unbekannten hängt und davongetragen wird, während verwaschene Stimmen auf mich einreden; oder reden die gar nicht mit mir, sondern mit wieder anderen? Wer ist da eigentlich? Ich habe den Überblick verloren, die Bilder, die meine Augen liefern, kann ich nicht deuten. Wände wölben sich auf mich zu, Lärm wogt irgendwo, nicht nah, nicht fern, denke ich, aber kann ich meinen Eindrücken trauen?

Meine Position knappe zwei Meter über dem Boden ist unangenehm, aber besser, als mich selbst erneut auf die Füße zu kämpfen, auf Beinen zu balancieren, deren Knochen zu Pudding geworden sind. Mir ist schlecht. In meinem Mund brennt ein widerlicher Geschmack. Mein linker Fuß schmerzt. Dunkelheit umfängt mich, und dann spüre ich etwas Kaltes, das mich umschließt, und mein Körper fängt an zu zittern.

Fragen Sie mich nicht nach meinem Namen, ich kann ihn nicht nennen. Hoffnung keimt in mir auf, dass ich es morgen wieder weiß oder an einem anderen Tag, doch im Moment versagt das Gedächtnis. Ich steige aus.

1. Kapitel

Ich könnte heulen. So etwas passiert nur mir. Der Superstau am Tag vor Heiligabend, und ich stehe mittendrin. Wenigstens gibt’s Handys.

»Papa?«

»Trisha, wo steckst du? Warum gehst du nicht ans Telefon?«

»Es war aus. Ich habe es gerade erst angeschaltet. Ich stehe im Stau!«

»Eben deswegen! Ich habe dich x-mal versucht anzurufen! Im Radio sagen sie seit Stunden, dass wegen eines Lkw-Unfalls mit mehreren beteiligten Fahrzeugen auf der A9 bei Eisenberg nichts mehr geht.«

»Danke.« Diese Info kommt definitiv zu spät. Das wäre nicht zum ersten Mal. Ich zeichne mich vor allem dadurch aus, anderen einen Wissensvorsprung zu lassen.

»Hast du kein Radio an?«

»Doch.« Ha! In diesem Moment eingeschaltet.

Ich höre natürlich überdeutlich, was mein Vater mir eigentlich sagt. Du fährst mit deinem Wagen von Leipzig nach Nürnberg, ohne das Radio oder das Handy anzuschalten oder wenigstens vor Abfahrt im Netz zu checken, ob die Straßen frei sind? Einen Tag vor Heiligabend? Beim fiesesten Blizzard des bisherigen Winters?

Er sagt es nicht. Mein Vater ist ein zurückhaltender Mensch. Wie ich auch. Doch wo er zwischen den Worten redet, mir zu verstehen gibt, dass sogar Otto Normalverbraucher vor Abreise die Verkehrslage überprüft und er solche Umsicht bei einer Journalistin noch viel mehr erwartet, schweige zur Abwechslung ich. Bloß keine Rechtfertigungslawine lostreten!

»Ich bin jedenfalls nicht die Einzige, die so doof ist, sich in einen Stau zu stellen.« Das kann ich zugeben, es ist unübersehbar.

Ich höre ihn tief durchatmen. »Wie ist das Wetter?«

»Bescheiden.«

Hat nicht auch gestern Tina Stubnagel, die Redakteurin von Sachsen heute, mich vor der Fahrt nach Süden gewarnt? Die Strecke ist tückisch, Trisha, vor allem bei dem Wetter!

Die Scheibenwischer arbeiten nach Kräften, doch der Schnee fällt unaufhörlich, und da hier in der nächsten Stunde wahrscheinlich kein Schneepflug mehr durchkommt, schneien wir alle in einer langen dreispurigen Blechschlange ein. Vor mir springt ein Typ aus seinem Volvo, ein Handy am Ohr, und verteidigt sich ebenfalls.

Wer im Stau steht, gilt als Idiot der Nation. Und alle anderen haben es besser gewusst. Deshalb sitzen sie jetzt im Warmen.

»Hör zu, Trisha: Bleib auf alle Fälle auf der Autobahn, in Ordnung? Bei dem Wetter durch die Berge zu fahren, hat keinen Sinn. Der Thüringer Wald ist tückisch.«

Atmosphärische Geräusche zucken durch die Leitung. Es kracht und knistert. Auf der Autobahn ist es ungewöhnlich still. Viele haben längst den Motor abgestellt, um Benzin zu sparen. Auch auf der Gegenspur ist nicht viel los.

»Alles klar, Papa.«

Ich lege auf. Ich bin eine beschissene Journalistin. So viel ist klar. Und als Mensch nicht viel besser. Ich fühle mich leer und auf eigenartige Weise meiner Identität beraubt. Seit ich Lusya diese Story abgetreten habe, weil ich nicht mehr weiterkam. Gleichzeitig bin ich froh, den ganzen Wahnsinn los zu sein.

»Ihnen fehlt die Chuzpe!« Das hat mein Journalistikprofessor mir vor ein paar Jahren unter die Nase gerieben, im Seminarraum 217, im 2. Stock, vor 53 anderen Studenten, und das habe ich mir gemerkt. »Eine Journalistin darf sich nicht so leicht abwimmeln lassen. Sie müssen erspüren, auf welche Weise Sie bei einem Menschen Vertrauen gewinnen können …«

Da fehlt nicht viel und wir ziehen die Leute, von denen wir Infos wollen, mit Waffengewalt auf unsere Seite. Psychischer Druck ist ohnehin erlaubt. Insofern gebe ich Faber recht.

Verdammt. Faber.

Ich hatte den ganzen Prozess beobachtet, saß täglich im Gerichtssaal, studierte sämtliche Unterlagen zur Kinderpornoaffäre des Landtagsabgeordneten, schaffte es sogar, ein Interview mit seiner Ehefrau zu arrangieren – das, nebenbei gesagt, ziemlich in die Hose ging – und dann konnte ich einfach nicht mehr. Bescheuerte Ausrede. Vielleicht bin ich nach dieser grässlichen Magen-Darm-Grippe immer noch nicht wieder ich selbst. Eine Begründung für meine eigenartige Gefühlslage wird schon zu finden sein, wenn man lange genug sucht.

Du bist eine gute Journalistin, hat Lusya heute früh gesagt. Sie muss es wissen, denn sie ist definitiv gut.

Ich drehe das Fenster runter, lasse die frostige Luft ins Auto. Hole tief Atem. Schneeflocken wirbeln umher. Der Himmel ist dunkelgrau, sackt immer tiefer, das Licht schwindet, irgendwohin. In einer halben Stunde wird es stockfinster sein. Ich bin definitiv kein Freund dieser Klimazone.

Der Mann mit dem Handy lehnt an seinem Volvo und rudert mit den Armen. Er fühlt sich wie alle hier. Hilflos, ruhelos, wütend bei der Aussicht, für die nächsten Stunden festzusitzen. Wenn nicht für länger. Und morgen ist Heiligabend!

Fuck. Alle zwei Jahre Weihnachten, das würde reichen! Finde ich. Dann säße ich jetzt nicht im Stau. Ich wäre gar nicht nach Süden gestartet. Hätte mich in meiner Wohnung eingeigelt und Musik gehört. Bessere als die, die im Radio dudelt. Ich schnalle mich ab, lege den Kopf auf die paar Zentimeter Scheibe, die noch emporragen, und atme tief durch. Der Wind wirbelt meine Locken um meine Nase.

Der Mann wirft sein Handy durch das Fahrerfenster ins Auto, beugt sich hinterher. Bringt eine Thermoskanne zum Vorschein. Schraubt den Deckel ab. Guckt zu mir.

»Kaffee?«, ruft er mir zu.

»Das wäre echt klasse.«

Er grinst, Grübchen in den Wangen. Der Schnee hat sich in sein braunes, zu langes Haar gesetzt. Sieht aus, als wäre er in den letzten Minuten ergraut. Er braucht dringend einen Haarschnitt.

»Die Trucker fahren ohne Winterreifen! Diese Hornochsen! Die haben keinen Millimeter Profil mehr im Gummi, können Sie sich das vorstellen?«

»Leider ja!« Es ist nicht mein Vorstellungsvermögen, das Defizite verzeichnet. Die Mankos liegen bei mir woanders.

»Die Vollpfosten nehmen uns alle in Sippenhaft!« Er reicht mir den Becher. Seine Hände sehen aus, als wenn er gewöhnlich lange ohne Handschuhe in Frost und Schnee unterwegs ist. »Schöner, starker Americano. Ihre Kragenweite?«

»Könnte nicht besser sein.« Ich nippe. Der Kaffee ist heiß und gerade richtig geröstet. Das letzte schwarze Dope hatte ich heute Morgen mit Lusya, als wir uns zum Frühstück im Darling trafen. »Danke.«

»Gern. Wo soll’s denn hingehen?« Er lehnt an meiner Tür. Ich sollte ihn bitten einzusteigen. Mache ich aber nicht. Ich bin ein vorsichtiger Mensch. Ich arbeite meistens bei Gericht. Habe mehr als genug Geschichten mitbekommen von Männern, die eine Situation ausnutzen.

»Nürnberg.«

»Da haben Sie noch was vor sich. Ich muss eigentlich nur zur nächsten Ausfahrt. Ungefähr vier Kilometer. Selbst schuld. Ich habe den Angaben in den Verkehrsmeldungen geglaubt. Eigentlich sollte der Stau erst nach der Ausfahrt Eisenberg beginnen. Aber der Rückstau baut sich natürlich schnell auf. Bei dem Verkehr! Tja. Hoch gepokert. Und verloren.«

Ich nicke. Reiche ihm den Becher. »Danke für den Kaffee.«

»Noch einen Schluck?«

»Nein.« Ehrlich gesagt könnte ich die ganze Kanne leertrinken. Aber höfliche Menschen tun das nicht. Ist ja sein Kaffee. Und ich bin höflich. Zu höflich, um im Ernstfall nachzuhaken. Ich bin so dermaßen sozialverträglich, dass ich mich hinter den Kollegen der Konkurrenz verschanze. Ich schließe ganz kurz die Augen. Die Schmach diverser Situationen steht bis dato zu deutlich vor meinem inneren Auge.

»Okay.« Er gießt sich ein, zeigt mit der Thermoskanne rechts neben die Fahrbahn. »Wobei ich mich frage, ob es nicht funktionieren könnte … vier Kilometer auf der Standspur …«

»Das kostet Sie den Führerschein.« Ich wische den Schnee von meinem Ärmel. Das weiße Zeug wirbelt wirklich überall hin.

»Unsinn. Die paar Euros bezahle ich gern dafür, dass ich heute noch heimkomme.«

Ich luge durch die Windschutzscheibe. Ein schwarzer Wagen, schneeverkrustet, pirscht über die Standspur.

»Unsere Nummernschilder kann sowieso kein Mensch mehr lesen«, gebe ich zum Besten.

»Genau, oder? Wenigstens ein Vorteil!« Er grinst, trinkt aus, schraubt die Thermoskanne zu. »An die Front!« Er winkt, stapft zu seinem Wagen.

Wenn nicht jetzt, wann dann?, frage ich mich, als ich den Zündschlüssel drehe. Wenn es so weiterschneit, ist in einer halben Stunde auch auf dem Seitenstreifen kein Durchkommen mehr.

Während ich hinter dem Volvo auf die Standspur schleiche, der Schnee unter meinen Reifen knarrt, rede ich mir meinen Regelübertritt schön. Ein außergesetzlicher Notfall, oder? Ich mache nämlich normalerweise nichts Verbotenes. Das überlasse ich den Menschen, über die ich nachher schreibe.

2. Kapitel

Ron Faber. Der Stern am Himmel einer großen deutschen Volkspartei. Einer, dem man bisher nicht ans Bein pinkeln konnte. Er hat alles richtig gemacht: keine plagiierte Doktorarbeit im Lebenslauf, im Gegenteil, gar nicht promoviert. Ein Hüne mit blondem Haar, einer ebenso blonden Frau und drei blonden Kindern. Na ja, der Kleinste hat einen rötlichen Einschlag. Die Familie würde dem Merian-Schweden-Heft auf der Titelseite alle Ehre machen. Individuelle Freiheit im Internet, das ist momentan ein Thema, und Faber hat es zu seinem gemacht, mit markigen Worten, gegen den Willen von ein paar wichtigen Nasen in seiner Partei. Schließlich vor einem knappen Jahr der Sturz: Ron Faber hat Kinderpornos auf seinem Dienstrechner in seinem Leipziger Büro. Landtagsmandat: futsch. Karriere: im Eimer. Individuelle Freiheit: in Gefahr. Familie: zerrüttet. Im vergangenen Herbst wurde ihm der Prozess gemacht.

Ron Faber redete sich von Anfang an raus. Gab sich auf Pressekonferenzen als tapferer Soldat Schweijk: Er hat damit nichts zu tun! Jemand will ihm Übles! Die Politik ist ein Vipernnest, leuchtet doch ein! So ein Dienstrechner ist manipulierbar, oder? Steht der nicht oft genug unbeobachtet im Büro, und jeder, der vorbeigeht, kann ran?

Der Volvotyp und ich, wir sitzen in einem McCafé irgendwo in der Pampa. Weihnachtslieder blubbern aus Lautsprechern. Um uns versinkt Thüringen in Dunkelheit. Der 23.12. geht zu Ende. Wenige Kilometer weiter liegt die Autobahn unter Blech und Schnee in tiefer Stille. Ich bin heilfroh, von dort weg zu sein. Dann franze ich mich nachher eben durch die Bergstraßen nach Süden. Das habe ich schon öfter gemacht, immerhin ist die Strecke stauanfällig, zu allen Jahreszeiten, vor allem wegen der vielen Baustellen, zu Ferienzeiten insbesondere, und daher gibt es keine Ausfahrt an der A9, die ich nicht irgendwann zwangsweise ausprobiert habe. Und auf meinen Vater muss ich im Alter von 29 ja wohl nicht mehr hören. Vor lauter Erleichterung über die gelungene Flucht via Standspur erzähle ich dem Volvotypen alles über meine letzte Story.

Der wiegt den Kopf. »Ich habe einiges in der Presse über Ron Faber gelesen. Ich meine, das hat die Runde gemacht, aber hallo! Zumal er sich echt gewieft aus der Affäre gezogen hat. Glauben Sie an den Fensterputzer?«

Ich blicke auf seine Hände. Kein Ring.

»Faber machte geltend, dass er zu den Zeiten, als die Downloads stattfanden, gar nicht in seinem Dienstzimmer war. Mehrmals befand er sich auf einer Sitzung und wurde dort auch gesehen. Das konnte er beweisen. Somit wirkt es plausibel, dass ein anderer sich an dem Rechner zu schaffen gemacht hat. Gemacht haben könnte

»Schlechtes Alibi. Man kann einen Rechner so programmieren, dass er zu einer bestimmten Zeit Dateien runterlädt.«

»Aber ihm konnte nichts dergleichen nachgewiesen werden, und die haben seinen PC auf Herz und Nieren durchgecheckt.« Es ist müßig, sämtliche Details über Kreditkartenabrechnungen, Logprotokolle, Suchstichworte, die von Fabers Rechner ausgingen, und all den anderen Kram zu beschreiben. »Er ist davongekommen. Ein anderer musste sich vor Gericht verantworten.«

»Ein Fensterputzer! Da lache ich ja.«

»Sieht vorgeschoben aus, gebe ich zu. Glauben Sie mir, ich habe sämtliche Akten, Papiere, Gerüchte daraufhin überprüft, ob es auch nur den kleinsten Hinweis gibt, dass eine politische Intrige im Gange ist. Da war nichts. Aber Faber ist hiermit sowieso ausrangiert. Seine Politikerkarriere kann er vergessen.«

»Tut Ihnen das leid?« Der Volvotyp sieht mich an, den Kopf schief gelegt.

Ich muss lächeln, schaue schnell weg; zurzeit lächle ich nicht oft, wenn ein Mann in der Nähe ist. Der letzte, der mich zum Lächeln brachte, hieß Joker alias Gregor, und das Lächeln hielt nicht lange an. Ich gucke auf den angebissenen Donut auf meinem Teller. Auf die Kerze, die auf dem Tischchen brennt. »Nein. Tut es nicht. Faber ist tot.«

»Was?« Er fährt sich durchs Haar, das nun feucht ist vom geschmolzenen Schnee. Und eindeutig zu lang.

»Haben Sie das nicht mitgekriegt? Es ging durch alle Medien. Vor gut zwei Wochen! Er wurde umgebracht. In seiner eigenen Villa. Von seinem Parteifreund Eriksen. Der hat sich danach selbst gerichtet. Außerdem hat es Fabers Schwester erwischt und eine Kellnerin. Vier Tote!«

Mein Gesprächspartner schüttelt den Kopf. »Ein richtiges Blutbad! Wahnsinn. Ich habe echt nichts davon gehört. Ich bin vor genau drei Wochen nach Finnland zu einem Lehrgang geflogen.«

»Lehrgang? In … wo?«

»Ich will hier was aufziehen. Schlittenhunde für die Ferien. Im Thüringer Wald. Vielleicht gehe ich sogar in die Beskiden, nach Polen oder so …«

»Verstehe.« Deswegen sein athletischer Körperbau, die Muskeln, die sich unter seinem Langarmshirt abzeichnen. Selbstverständlich einem Multifunktionslangarmshirt.

»Ich bin eigentlich Sportlehrer. Englisch und Sport. Aber der Schulalltag hat mich geschafft. Deswegen bin ich ausgestiegen. Habe echt keine Lust mehr, die Schüler zu irgendwas zu zwingen; der Mensch ist frei geboren, oder? In den Weihnachtsferien, also ab übermorgen, gebe ich Skiunterricht in Oberhof. Deswegen wäre ich gern allmählich daheim – nur mal so zum Abhängen!«

Also auch einer, der das Handtuch geworfen hat!

»Ich habe den Fall Faber weitergereicht.« Ich sage das, weil es nicht mehr drauf ankommt. Ich kann ganz entspannt darüber reden. Außerdem werde ich diesen zugegeben gut aussehenden Mann nie mehr wiedersehen. Schade eigentlich. »Ich kam damit nicht zurecht. Es war mir zu viel. All die Akten und Unterlagen, tausend kleine Detailinformationen und danach diese grausige Hinrichtung – dafür reichte mein Ehrgeiz nicht mehr.« Meinem Vater habe ich es anders erklärt. Und Lusya wieder anders. Lusya hatte Verständnis. Ich war eben in den seit Jahren schmutzigsten Politskandal der Bundesrepublik geraten und suchte den Notausgang. Außerdem war ich krank. Diese Magen-Darm-Geschichte hat mich ausgeknockt.

»Ist dieser Parteifreund einfach so bei dem Politiker reinmarschiert und hat um sich geschossen?«

»Es ist auf einer Party passiert.« Ich massiere mir die Schläfen. Noch ein Kaffee und es zerreißt meine Hirnwindungen. »Faber hat kurz nach dem Freispruch eine Party geschmissen, um seine Rehabilitation als ehrbarer Bürger zu feiern. Sein Parteikollege kam mit Pistole und …« Ich schüttle den Kopf. Allein die Vorstellung, wie ein Mensch um sich schießt und Leute mit sich in den Tod reißt, die nichts mit der Sache zu tun haben, bringt mich um den Verstand. Ich drehe meine Tasse in den Händen hin und her.

Überhaupt habe ich diese Festivität nicht in bester Erinnerung.

Was werde ich als Nächstes tun? Bloggen – übers Kochen oder Mode oder Musik? Werden nicht alle wichtigen Medien und Magazine längst wissen, dass ich, Trisha Seling, ausgestiegen bin, eine Story hingeschmissen habe? Werden sie mich noch haben wollen? Besteht nicht immer die Gefahr, dass eine labile Figur wie ich aufs Neue klein beigibt? Für mich war all die Jahre, in denen ich unbedingt Journalistin werden wollte, die Politik das interessanteste Objekt. Kommilitonen, die in ihrer Freizeit Theaterkritiken zu Papier brachten, wurden freundlich grinsend verachtet. Soll ich selbst jetzt zur Kultur wechseln?

»Wie kann ein Politiker wie dieser Eriksen nur so durchdrehen?«, frage ich. Dieselbe Frage, die mich seit dem 4. Dezember beschäftigt. »Was hat ihn dazu getrieben? Die Medien sprechen über nichts anderes mehr, zusätzlich zu Terror und Kriegen und Lügen, die den Erdball wie ein Netz umspannen. Leblosigkeiten, das alles. Inszenierungen, auf die wir alle reinfallen. Wie auf Weihnachten. Irgendwie. Wahrheit oder Lüge – alles ist beides zugleich.«

Er nickt. »Wissen Sie, das werden Sie vielleicht nicht gern hören: Ich habe in den vergangenen drei Wochen kaum Nachrichten geschaut. Ab und zu die Worldnews auf CNN. Das war’s. Ansonsten nur Natur. Schnee, Schlitten, Huskys. Polarlicht. Dabei wird man seelisch richtig aufgebaut.«

Für Sekunden lächeln wir uns an.

»Tja. Ich muss los.« Er steht auf, greift nach seinem Parka. Streckt mir die Hand hin. »Verraten Sie mir Ihren Namen? Wenn ich mal was von Ihnen lese …« Die Worte wirbeln durch die Luft.

Die Vorstellung, dass jemand liest, was ich geschrieben habe, möbelt mich auf. Der Traum: sichtbar sein, gehört werden, einen Beitrag leisten.

Du willst gelesen werden?, hat Lusya mich vor Jahren angefahren. Dann schreib!

Klar. Für Lusya ist das Schreiben die einzige Möglichkeit gewesen, um wegzukommen von dort, wo sie nicht mehr sein wollte. Hatte sie mir mal erzählt. Diese Information über ihr Leben gehört zu den wenigen, die sie mir zugestand.

»Trisha Seling.«

»Ich bin Lars Hampstedt. Just in case.« Er kramt eine Visitenkarte aus der Tasche seines Parkas. Ich drehe sie hin und her. Sie ist ziemlich zerknautscht.

Ich will eben meine Karte aus der Handtasche ziehen, da ist er schon weg, mit einem fröhlichen Winken. Aus meinem Leben raus. Oder nie drin gewesen. Ich betrachte die zerknitterte Karte. Lars Hampstedt. Ski- und Snowboardunterricht. Schlittenhundexkursionen. In der linken unteren Ecke ist ein Husky zu sehen. Er sieht fast aus wie ein Wolf.

Seufzend schnappe ich mir mein Handy und rufe Lusya an.

»Ich bin raus aus dem Stau.«

»Oh! Warst du in dem Superstau?« Sie klingt gehetzt.

»Kannst du gerade nicht sprechen?«

»Doch, klar. Wo steckst du denn?«

»In einem McCafé. Bei Eisenberg. In Thüringen. Verdammtes Wetter. Ich warte noch ein bisschen mit dem Weiterfahren. Vielleicht hört es ja demnächst zu schneien auf.«

»Sieht nicht so aus. Im Netz heißt es, das geht die ganze Nacht so weiter. Vor allem in Sachsen, Thüringen und Nordbayern. Nur ganz im Westen wird es im Laufe der Nacht klar.«

»Die Wettervorhersage stimmt sowieso nie«, tröste ich mich.

Sie lacht. »Nee.« Kurze Pause. »Kommst du zurecht?«

»Was bleibt mir übrig … Ich habe mich jetzt mit Kaffee versorgt, nehme mir ein paar Donuts mit und fahre anschließend durch die Berge rüber nach Bayern.«

»Durch die Berge? Sind die Straßen da geräumt?«

Wieder eine Frage, auf die ich keine Antwort habe. Ich spule einen von Lusyas Lieblingssprüchen ab: »Ich finde es raus.«

Sie kichert. »Moment, wo bist du noch mal? Ich checke im Netz, was sich auf den Nebenstraßen tut.«

Ich lehne mich zurück. Habe ich nicht auch diese Verkehrsapp auf dem Handy? Gerade während ich überlege, ob ich die bislang je benutzt habe, höre ich Lusyas Stimme: »Alles super. Die Winterdienste sind mit etlichen Freiwilligen ausgestattet. Meldet das Thüringer Infrastrukturministerium auf seiner Webseite. Die Winterdienste arbeiten durchgehend in drei Schichten. Noch läuft der Verkehr abseits der großen Strecken.«

So viel also zum Warnruf meines Vaters: Bleib bloß auf der Autobahn, verstanden? Lusya, du bist ein Schatz!

»Danke, Lusya. Am 28. fahre ich zurück nach Leipzig. Brunch am 29. im Darling

Ich höre ihr leise glucksendes Lachen. »Unbedingt. Ich nutze die stille Zeit zur Recherche. Kann vielleicht sogar mit ein paar Beteiligten sprechen.«

»Welchen Beteiligten?«

»Den Leuten, die auf Fabers Party eingeladen waren.« Leise Ungeduld schwingt in Lusyas Stimme.

»Aber die Ermittlungen laufen doch noch!«

»Trisha, sei einmal professionell: Bin ich Staatsbeamtin oder was?«

Ich lache schuldbewusst. »Nee, verstehe.«

»Ich möchte mit Mara Faber sprechen. Seiner Frau.«

»Die macht bestimmt die Hölle durch. Alles auf Anfang. Erst der Skandal, jetzt die Morde.«

»Und davon wollen die Leser was erfahren. Immerhin ist sie Zeugin der Hinrichtung. Denn anders kann man diesen Mehrfachmord nicht nennen.«

Lusya schreibt für mehrere Magazine, unter anderem für eine Online-Zeitschrift, die sich hauptsächlich mit Promis beschäftigt. Der Ton der Publikation pendelt zwischen rührselig und aggressiv. Deren Lesern triefen die Lefzen, wenn sie sich Mara Fabers Abgrund ausmalen, in den sie durch die Waffe eines fanatischen Politikers gestürzt wurde. Ein saurer Geschmack steigt in meiner Kehle auf. Zu viel Kaffee. Außerdem melden sich die Kopfschmerzen, die mich seit ein paar Wochen in unregelmäßigen Abständen heimsuchen. Bitte nicht jetzt! Ich hatte nie zuvor Migräne, und plötzlich bin ich eine von diesen Frauen, über deren Schädel sich für Stunden ein Stahlhelm stülpt.

»Im Übrigen«, fügt Lusya hinzu, »der Fall ist im Prinzip klar. Eriksen hat geschossen und sich danach selbst gerichtet. Auf der Waffe befinden sich ausschließlich seine Fingerabdrücke. Es war seine Pistole! Er hat auf Faber gezielt, die Kugel hat Babs Kent, seine Schwester, gestreift, bevor sie Faber niederstreckte. Eine Kellnerin kam ausgerechnet in diesem Moment in den Raum, wollte Getränkenachschub bringen. Eriksen drückte auch auf sie ab. Danach erschoss er sich selbst. Babs Kent starb kurz darauf an dem Blutverlust.«

Ich seufze. Mir kommt das alles schäbig und sinnlos vor.

»Nur Eriksens Fingerabdrücke«, insistiert Lusya. »Was willst du mehr an Beweisen?«

Indizien, denke ich. Ermittlungstechnisch gesehen sind es Indizien. Ich nage an meiner Unterlippe. »Ich verstehe nicht, wieso Eriksen nicht auch Mara erschossen hat. Irgendwie hat er doch Tabula rasa gemacht. Wozu sollte er eine Person überleben lassen? « Ich massiere meinen Nacken. Vielleicht bringt das die Kopfschmerzen zum Verschwinden.

»Warum würde er Mara umbringen wollen? Eriksen hatte die Absicht, Faber zu erledigen. Seinen Parteifreund, dem er den ganzen Herbst lang die Stange gehalten hat, während in seiner Partei eine Schlammschlacht im Gang war. Wäre Faber untergegangen, hätte es Eriksen mitgerissen. Das ist das Schrägste dabei! Babs anzuschießen, war wahrscheinlich ein Fehler, möglicherweise hat sie sich ihm in den Weg gestellt, um ihren Bruder zu schützen.«

Ich rekapituliere, was ich über Hanno Eriksen weiß. Ein 50-jähriger Vollblutpolitiker, der in seiner Partei schon etliche wichtige Knotenpunkte belebt hat und beste Chancen gehabt hätte, in wenigen Jahren Minister in Sachsen zu werden. Oder auf Bundesebene ganz groß abzuräumen. Meine Gedanken verlieren sich im Schneetreiben vor dem Fenster. Die Flocken jagen waagerecht durch die gelblichen Lichtkegel der Laternen, die den Parkplatz in schmutziges Licht tauchen. Unversehens sehne ich mich danach, mit Lusya im Darling zu sitzen und wie so oft alle Fakten durchzudiskutieren. Wie wir das immer gemacht haben. Vor dem 4. Dezember.

»Eriksen muss Angst davor gehabt haben, dass Faber etwas auspackt«, grüble ich laut. »Etwas, womit er, Faber, während des Prozesses hinter dem Berg hielt, etwas, das Eriksen hätte schädigen können.«

»Schätzchen, willst du deine Story zurück?« Lusya klingt amüsiert.

»Nein, wirklich nicht.« Es schneit und schneit.

»Kuriere dich erst mal richtig aus. Mit so einer Grippe ist nicht zu spaßen!«

Sie hat recht. Wenngleich ich bereits einen Tag nach dem Ausbruch dieser Magen-Darm-Geschichte wieder relativ stabil war. Ich schlucke. Wenn ich allein an diese grässliche Übelkeit denke, stiehlt sich ein saurer Geschmack in meinen Mund.

»Ja, es ist Weihnachten. Zeit der Ruhe und Besinnung, nicht wahr?«, uze ich.

Sie lacht. »Sieh es als Freizeit. Lass dich von deinem Vater nicht unterkriegen. Er ist kein Unsterblicher.«

Als Mensch nicht, denke ich. Als Journalist schon.

Ein Räumfahrzeug schiebt den Schnee auf dem Parkplatz vor dem Café zusammen. Das gelbe Blinklicht erhellt die düstere Winterszene nur bruchstückhaft. In der gemütlichen Wärme des Cafés scheint alles, was da draußen geschieht, unwirklich.

»Ich muss allmählich weiter, Lusya.« Mir graut vor der Fahrt. Vor allem davor, allein im Wagen zu sitzen, die Finger um das Lenkrad gekrampft, hoch konzen­triert, mit brennenden Augen. Aber ich weiß, ich schaffe das. Solche Sachen kriege ich immer irgendwie gebacken. Zusammenreißen und los.

Irgendwo am anderen Ende der Leitung höre ich Lusyas Zweithandy piepen.

»Mach’s gut, Trisha!«, ruft sie mir zu.

»Mach’s besser.«

Sie hat schon aufgelegt.

Irgendwo blitzt etwas. Zwei Jugendliche kichern sich halb tot über das Selfie, das sie geschossen haben.

Mein Handy meldet einen Anruf von meinem Vater. Ich starre eine Weile auf das Display, dann drücke ich ihn weg.