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Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2014

Erste Auflage September 2014

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie des Ullstein Bilderdienstes („Deutscher Pilot an seinem Flugzeug, 1942“, ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl).

ISBN 978-3-89656-568-6

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Für meine Mutter und meinen Vater,
die so neugierig auf meinen ersten Roman waren,
die Veröffentlichung aber nicht mehr erleben.

Kapitel 1

Vorsichtig, misstrauisch und fast ein wenig furchtsam, als hätte er die sagenumwobene Büchse der Pandora vor sich, berührte Timo die Kiste, ließ die Finger kurz auf den verrosteten Beschlägen ruhen, gab sich dann einen Stoß. Er öffnete den Deckel, und ein Schwall süßlich-fauliger Luft setzte sich ihm in die Nase. Der Inhalt der Kiste dünstete Gase der Zersetzung aus. So riecht also der Hauch der Geschichte, dachte er. Vergilbtes Papier, tausendmal berührt, von der Struktur brüchiger, getrockneter Rinderhaut, muffelte modrig nach Schimmel und Talg. Eine fast schwarz angelaufene Silberkette mit einem mittlerweile rostbraunen Anhänger, vermutlich aus Kupfer, sonderte einen schweren metallischen Geruch ab wie eine alte Kiste voll oxydierter Schrauben.

Timo stieß die Kiste wieder von sich weg. Mit einer Spur von Ekel im Gesicht klappte er den Deckel laut zu. Seine Bewegung demonstrierte etwas Definitives. Zuvor hatte er die Kiste immer wieder zu sich herangezogen, sie wiederholt geöffnet und abermals geschlossen. Die Kiste war ursprünglich einmal ein Koffer gewesen, von dem der Griff wohl schon Jahrzehnte zuvor abgerissen und durch einen brüchigen Lederriemen ersetzt worden war. Timo wickelte eine Kordel aus Sisal um die historisch gewachsene Konstruktion und gab ihr damit die nötige Stabilität, um einen weiteren Transport zu überstehen. Die Patina vergangener Jahrzehnte musste später abgekratzt werden. Fluchtinstinkte trieben ihn jetzt raus, weg, woandershin.

Vielleicht lag es auch an diesem Ort, dass er panikartig aufsprang. Etwas unbedacht versäumte er, den Stuhl anzuheben. Durch die Reibung beim Zurückschieben erzeugte er ein unangenehm laut scharrendes Geräusch, das seine Kommilitonen genervt die Augen verdrehen ließ. Peinlich berührt schlich Timo auf leisen Sohlen den Gang entlang. In der Bibliothek seines Fachbereichs an der Uni verweilte er nie länger, als er unbedingt musste. Er behauptete immer, die vielen Bücher würden bei ihm einen ständigen Harndrang auslösen. Er schwang die alte Kiste mit den historischen Dokumenten mit bemühter Lässigkeit über die Schulter und schritt zwischen den Bücherregalen entlang in Richtung Ausgang. Weil er gern spitze Lederschuhe oder Stiefel trug, hatte sein Gang allerdings nie etwas Lässiges. Er stand immer unter Spannung, seine Bewegungen waren, vor allem dann, wenn er sich beobachtet wähnte, immer kontrolliert. Darüber hinaus folgten seine Schritte konzentriert einer unsichtbaren Linie, als schritte er einen schmalen Laufsteg entlang. Dazu setzte er ein unverbindliches Lächeln auf, das allein deshalb nicht künstlich aussah, weil Timo eigentlich immer lächelte, selbst wenn er schlief. Wenn er einen Lachanfall hatte, wirkte dieser auf alle ansteckend.

Tapfer konservierte er sein Lächeln, auch als er Eike am Ausgang der Bibliothek sitzen sah. Die Aufsicht in den Bibliotheken der Fachbereiche wurde traditionell von studentischen Aushilfen übernommen. Timo kannte Eike aus einem Seminar, das beide vor einem Semester gemeinsam belegt hatten. Eike hatte sich durch gute Vorbereitung und eine gewisse Intelligenz hervorgetan, was ihn für Timo nicht sympathischer machte, weil er selbst zu der Sorte Studenten gehörte, die alles auf den letzten Drücker erledigte und gern auch ins Seminar ging, ohne den Text gelesen zu haben, den es an diesem Tag zu besprechen galt. Durch seine überdurchschnittliche Auffassungsgabe gelang es Timo aber immer, im Seminar mitdiskutieren zu können. Er überflog den Text während des Seminars und reimte sich den Rest aus den Redebeiträgen anderer zusammen. Sein persönlicher Lieblingsgegner hieß seit dem ersten Semester schon immer Eike. Dessen selbstgefälliger Argumentationsstil, das Weglassen jeder Relativierung sowie die Unkenntnis des Konjunktivs stießen Timo ab. Ganz zu schweigen davon, dass Eike sich beim Reden überall kratzte, eine lange Strähne im Nacken zum Zopf geflochten hatte und nicht nur einen Ohrring trug, sondern auch fürs neue Jahrtausend vollkommen unangemessene Ökoklamotten: Ledersandalen, selbstgestrickte Socken und rote Jeans. Schon allein aus Protest vertrat Timo deshalb gern die Gegenposition zu Eikes Thesen. Zu einem Fernduell geriet dann die Erstsemesterarbeit. Natürlich wurde Timos Hausarbeit schließlich besser bewertet als Eikes, der dieses Ergebnis als einen nicht nachvollziehbaren Fehler der Dozentin bezeichnete. Timo bekam sogar das Angebot, für die Professorin zu arbeiten, schlug es aber aus.

Eike schob nun also wie erwartet Wachdienst in der Bibliothek. Bloß keinen Hochmut zeigen, dachte sich Timo, als er Eike darum bat, seine Kiste mit den alten Utensilien für eine Stunde im Auge zu behalten. Er hatte die Kiste mit in die Uni geschleppt, um die Stempel der Feldpostbriefe als authentisch zu verifizieren. Außerdem wollte er mithilfe einer militärgeschichtlichen Publikation die Uniformen auf den Bildern Dienstgraden zuordnen. Er holte eine übergroße Tafel Schweizer Traubennuss-Schokolade hervor, die ihm seine Großmutter geschickt hatte. Er selbst und alle, die er kannte und liebte, mochten keine Rosinen – oder waren gegen sie allergisch. Einzige Ausnahme: Eike, der schon häufiger von seiner Leidenschaft für Traubennuss erzählt hatte. Timo hatte das halbe Pfund Schokolade extra eingesteckt, um es Eike zu schenken. Der war ganz gerührt von der überraschenden Geste und wollte mit Timo spontan einen Kaffee trinken, aber der winkte ab.

Timo hatte ein ganz anderes Ziel, das ihn magnetisch anzog. Er strebte zu einem Ort, dessen Geheimnisse er bislang nur vom Hörensagen kannte. Mit seinem wissenschaftlichen Projekt steckte er in einer Sackgasse. Er ließ es zurück in der Bibliothek. Um seine geistige Blockade aufzulösen, dachte er, ist das Banale gerade richtig. Schon bei dem Gedanken daran, was ihm bevorstand, zirkulierte das Blut schneller in seinem Körper. Seine Sensibilität für seine Umwelt steigerte sich so stark, dass sein Bewusstsein überquoll von Reizen. Ein schrilles Lachen einer Studentin, das Öffnen der Fahrstuhl-Tür, die grellen grün-gelb-schwarzen Graffiti, die ihn beim Eintreten von drei Seiten visuell anschrien. Er registrierte jedes einzelne Detail um sich herum, war aber unfähig zu kommunizieren, als ihn eine Freundin aus einem Proseminar ansprach, die ebenfalls bis ins Erdgeschoss fuhr. Er ließ sich auf keine längere Konversation ein und verabschiedete sich freundlich, als er die Eingangshalle betrat.

Das schwarze Brett quoll über mit Jobangeboten, Wohnungsgesuchen und Ankündigungen von Yogakursen und politischen Veranstaltungen, eine undurchdringliche, abschreckende Collage, die weder informativen noch dekorativen Wert ausstrahlte. Von der Cafeteria her durchzog ein Geruch von gebrannten Kaffeebohnen den Raum, direkt daneben riss ein Bohrer für den Neubau der Mensa mit enervierendem Lärm eine Wand auf. Von oben betrachtet, schwirrten Studierende scheinbar ziellos durch den Raum wie Ameisen in ihrer Kolonie. Doch wie jede Ameise ihre Aufgabe verfolgen muss, ging auch Timo seinen selbst bestimmten Weg. Wie ferngesteuert durchquerte er die Halle zu einem Flügelbau, in dem sich der große Hörsaal befand, in dem aber gerade keine Vorlesung stattfand.

Als die Tür hinter Timo zuschlug, wurde es schlagartig eigentümlich leise. Mit seinem unverkennbaren schwingenden Schritt passierte er achtlos die Schautafeln einer temporären Ausstellung über ökologischen Kaffeeanbau in Nicaragua. Auf einer der Bänke vor dem großen Hörsaal saß ein etwa vierzigjähriger Mann, der sich offensichtlich nicht auf die Zeitung konzentrieren konnte, die er sich in der Manier eines ermittelnden Privatdetektivs vor das Gesicht hielt. Über den Rand der Zeitung hinweg fixierte er Timo, der seinen Schritt unwillkürlich verlangsamte. Uneingeweihten war es vollkommen unklar, warum sich dieser Mann dort überhaupt aufhielt. Er war einerseits zu alt, um zu studieren, Professor war er andererseits augenscheinlich auch nicht, denn seine kraftvolle Figur und die tiefen Falten in der gegerbten braunen Haut ließen eher eine körperliche Tätigkeit an der frischen Luft vermuten. An der Pinnwand hinter den Bänken lungerte ein junger Türke herum, den Timo sofort als einen Kellner des unter Studierenden beliebten orientalischen Restaurants am Rande des Campus identifizierte. Die Plakate an der Pinnwand warben um studentische Abonnenten für ein Nachrichtenmagazin. Ein kurzes Flackern in seinen Augen signalisierte, dass auch der Kellner Timo wahrgenommen hatte. Gleich danach wandte er sich verlegen ab und griff mit schlecht gespieltem Interesse nach einer Bestellkarte für ein Halbjahresabo.

Wenn Timo am Mittwochvormittag an genau dieser Stelle mit etwa zweihundert Kommilitonen auf den Beginn seiner Mittelaltervorlesung wartete, erreichte der Geräuschpegel des studentischen Geplappers fast die Lautstärke eines landenden Hubschraubers. Jetzt aber hallte jeder Schritt, den Timo in Richtung Hörsaal machte, durch den Raum wie durch eine weitgehend verlassene, schon lange entweihte Kathedrale. Links neben dem Hörsaal führte eine Treppe hinunter zu deren unheiliger Krypta: der Toilettenanlage im neonbestrahlten Keller. Dort lag Timos Ziel.

Als er die Tür zum Waschraum öffnete, war er zuerst überrascht von dem sachlichen Geruch, der ihm entgegenschlug: nicht etwa feucht-kloakig, sondern trocken, staubig und warm. Die Toiletten- und Waschräume unter dem großen Hörsaal waren überaus großzügig dimensioniert. Aufgeteilt auf drei Räume spiegelte dieses ausgedehnte Keramikparadies den nunmehr verblassten Chic der späten 1960er-Jahre wider, als man die riesige Betonschachtel für die Geisteswissenschaftler in Windeseile hochgezogen hatte. Allein die Urinale bildeten eine Flucht, die ins Unendliche zu weisen schien.

Zu Beginn platzierte Timo sich an einem Waschbecken, um das Terrain zu sondieren. Um ihn herum standen vier Männer. Offenbar schon recht lange, er hatte sie nämlich nicht vor sich die Treppe hinuntergehen sehen, und sie machten auch nicht den Eindruck, den Raum in den nächsten Minuten verlassen zu wollen. Sie wuschen sich ausgiebig die Hände, ordneten die Haare und verschickten Blicke über die rechteckigen Spiegel.

Timo hatte noch nicht die Kraft, ihren Blicken standzuhalten, deshalb widmete er sich ebenfalls einer gänzlich übertriebenen Handhygiene. Jetzt betraten sowohl der vierzigjährige Arbeiter als auch der türkische Kellner den Waschraum, beide aber durchschritten ihn mit Bestimmtheit und begaben sich gleich zu den Urinalen. Der Alte stellte sich zuerst an ein Becken, der Junge wählte das daneben. Weil die beiden sich aus Timos Blickfeld entfernt hatten, folgte er ihnen langsam. Als er den rechteckigen Raum betrat, merkte er, dass sich bereits ein halbes Dutzend Männer darin aufhielten. Schnell taxierte er die Typen – ohne allerdings zu einem abschließenden Urteil zu kommen. Zwei Jünglinge in schwarzen Lederjacken, wie sie gern von BWL-Studenten getragen wurden, hatten sich in einer Ecke zusammengerottet und glotzten sich recht unverhohlen gegenseitig in den Schritt. Ein Mann mit grauem Vollbart und Basecap stand allein, genauso wie ein schmalschulteriger Jüngling, den Timo zwar nur von hinten sah, aber sofort für einen Asiaten hielt.

Timo schlenderte an seinen beiden Bekannten vorbei und merkte, dass sie sich wohl schon oben füreinander entschieden hatten. Jedenfalls benötigten sie nicht einmal eine halbe Minute, um handgreiflich zu werden. Dem Herrn mit der Kappe entging ihre Aktivität ebenfalls nicht, denn er wechselte erwartungsfroh und in geradezu sportlichem Tempo seinen Platz unmittelbar neben die beiden, um zumindest besser zusehen zu können. Dadurch verdeckte er aber Timos Blick auf das Geschehen. Timo erwog bereits, sich ebenfalls umzupositionieren, als seine beiden Freunde jedoch vor den Annäherungsversuchen des Graubärtigen flohen und in den Raum mit den Kabinen gingen. Das wollte sich Timo nicht entgehen lassen und folgte ihnen so unauffällig wie möglich. Seine Ledersohlen klackerten dabei allerdings unangenehm laut auf dem Boden. Es war so still in den Räumen, dass man sogar den Sand hören konnte, der zwischen seinen Schuhen und den Fliesen knirschte, wenn er nur das Gewicht verlagerte.

Er wählte die Kabine neben dem Paar, das sich zuvor an den Urinalen gefunden hatte, verschloss die Tür und bemerkte, dass die Seitenwände der engen Zelle im Laufe der Jahre ihre Jungfräulichkeit komplett verloren hatten. Obszöne Edding-Schmierereien verliehen der vormals reinweißen Atmosphäre auf den ersten Blick eine düstere, etwas einschüchternde Note: hektisch gekritzelte Schüttelreime vulgärsten Charakters, an plakativer Plumpheit kaum zu überbietende politische Parolen sowie piktogrammartige Darstellungen männlicher und weiblicher Geschlechtsorgane. Abgesehen von diesen ungeschlachten, eine kurze Geschichte der Geilheit dokumentierenden Hieroglyphen wiesen die aus weißen Spanplatten gefertigten Zwischenwände und auch die Tür überall größere und kleinere Löcher auf, die, weiß Gott wer, dort in mühevoller Kleinarbeit mit dem Taschenmesser hineingebohrt hatte. Dank dieser geradezu selbstlosen Handwerksleistung eines unbekannten Vorinsassen war es Timo nun möglich, durch eine etwa pfenniggroße Öffnung in die Kabine seiner Nachbarn zu spähen.

Dort drückte der vermeintliche Arbeiter den Kellner im Zuge einer heftigen Umarmung gerade gegen die gegenüberliegende Seitenwand. Von diesem Schauspiel fühlte sich Timo – wie ihm ein leichtes Zucken im Bereich seines topmodisch eingezwängten Genitals zweifellos bestätigte – durchaus sexuell erregt, sodass er die kostenlose Peepshow noch einen Augenblick verlängerte, bis man nebenan begann, sich gegenseitig die Hosen zu öffnen.

Dann aber wandte er seinen Blick ab, nicht etwa aus plötzlich erwachter Scham, sondern vielmehr, um nach der Möglichkeit einer Befriedigung seiner eigenen, plötzlich erwachten Lust Ausschau zu halten. In der anderen Nachbarkabine war nichts los, das sah er schnell durch ein Loch, das so groß war wie ein Tennisball. Zufrieden stellte Timo danach fest, dass er durch ein winziges Bohrloch in der Tür sowohl den Eingangsbereich als auch den Raum mit den Waschbecken größtenteils überblicken konnte: ein Jäger, der seinen Hochsitz mit dem Toilettensitz vertauscht hatte.

Er schloss die Augen und versuchte, anhand von Geräuschen zu analysieren, ob er Aktivitäten in anderen Kabinen verzeichnen konnte. Eigentlich war es still. Doch als er sein Gehör auf den Bereich in der rechten Ecke konzentrierte, nahm er ein leises, unterdrücktes Ächzen wahr, gepaart mit Atemstößen aus einem offenbar weit geöffneten Mund. Diese regelmäßig ausgestoßenen Geräusche klangen sehr fremd, fast schon animalisch, so wie das Quieken von Ratten.

Plötzlich öffnete sich die Tür; eine Person betrat den Waschraum. Das Treiben hinten in der Ecke, aber auch nebenan erstarb und wich einem gespannten Lauschen. Und erst jetzt wurde Timo bewusst, welchem Risiko sich alle Männer in den drei Räumen aussetzten. Würde ein normaler Besucher einer Unitoilette begreifen, was um ihn herum passierte? Eine gewisse Scham über sich und über Männer wie ihn überkam Timo für einen kurzen Augenblick, und er fragte sich, ob er wirklich hier und jetzt aktiv werden wollte? In Toiletten? An Orten der Exkremente und Ausscheidungen bar jeder Romantik? Wäre das nicht zu verzweifelt, zu triebhaft, zu uncool? In der Vergangenheit hatten Toiletten als anonyme Treffpunkte durchaus ihre Berechtigung, aber auch jetzt noch im Jahr 2001?

Diese grundlegenden Fragen seiner gegenwärtigen Existenz wurden aber verdrängt durch ein Gefühl des plötzlichen Ärgers. Der Neuzugang auf der Toilette war nämlich kein notgeiler Bauarbeiter, sondern sein durchtriebener Kommilitone Eike, der in diesem Augenblick doch eigentlich auf Timos Kiste aufpassen sollte. Dass er ihn gerade hier wiedersah, überraschte Timo nicht, denn Eike hatte schon mehrfach schamlos mit seinen sexuellen Erfahrungen, die er hier gemacht hatte, geprahlt. Ja, durch Eike hatte Timo überhaupt erst von diesem verwunschenen Ort erfahren. Von der Kabinentür geschützt, verfolgte Timo jede seiner Bewegungen. Wie ein Verteidiger bei einem Heimspiel latschte Eike mit sicherem, raumgreifendem Schritt zu einem der Waschbecken und taxierte die Männer um sich herum. Im Spiegel konnte Timo – nicht ohne dabei eine gehörige Portion Schadenfreude zu empfinden – Eikes enttäuschtes Gesicht sehen. Offensichtlich war niemand dabei, der ihn interessierte. Dann betrat Eike den Raum mit den Kabinen, drehte Timo den Rücken zu und ging in die Hocke, gerade so, als wollte er auf der Stelle sein Geschäft verrichten. Dabei rutschte seine rote Jeans so weit über den Hintern, dass dem Beobachter hinter ihm tiefe Einblicke gewährt wurden.

Timo ärgerte sich einerseits darüber, dass ihn diese Aussicht nicht vollkommen kalt ließ, andererseits aber noch mehr über die hässliche Hose und über die Geschmacklosigkeit, sie ohne Gürtel zu tragen, und zwar so sehr, dass er den Zweck dieser ungewöhnlichen Turnübung beinahe übersah. Eike glotze nämlich von unten durch den Spalt zwischen Klotür und Fußboden frech in alle gegenüber liegenden Kabinen hinein. Timo begriff schnell, dass er das Gleiche in einigen Sekunden auch auf seiner Seite tun würde. Und natürlich würde Eike – davon ging Timo aus – ihn anhand seiner ungewöhnlich modischen Schuhe sofort identifizieren können. In einer Reflexbewegung hob Timo deshalb seine Beine und stemmte sie, peinlich darauf achtend, kein Geräusch zu verursachen, gegen die Klotür, während er sich rückwärts mit beiden Händen auf dem schmierigen Klodeckel abstützte.

Diese heikle Schwebeposition war nicht nur unbequem, sondern erschwerte nun blöderweise auch noch den Blick durch das Guckloch. Nur mit großer Anstrengung gelang es Timo, seinen Oberkörper, ohne dabei vom Toilettensitz zu rutschen, so weit vorzubeugen, dass er sehen konnte, wie Eike sich mittlerweile in der Tat hockend und feist grinsend daran machte, auch die Kabinen auf seiner Seite zu kontrollieren. So sieht sexuelle Gier aus, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, dachte Timo voller Argwohn und Selbstgerechtigkeit. Eike verschwand jetzt aus Timos Blickfeld, der darum angestrengt die Ohren spitzte. Wie sich allein anhand entsprechender Geräusche aus der Nähe vermuten ließ, inspizierte Eike nun aus seiner dreisten Froschperspektive Timos Nachbarkabine, in der es immer noch gedämpft ächzte und stöhnte. Gleich, dachte Timo in seiner mehr als verkrampften Haltung, nimmt er sich meine Kabine vor. Und tatsächlich verdunkelte sich kurz darauf der Spalt zwischen Fußboden und Klotür schräg unter ihm. Dann wurde es wieder heller, drei Sekunden verstrichen, und die Türklinke senkte sich, begleitet von einem couragierten Rütteln. Hau endlich ab, wünschte sich Timo verzweifelt, bevor ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, dass Eike auch noch versuchen könnte, durch das kleine Guckloch zu lugen, was den Gipfel der Peinlichkeit bedeuten würde. Von Panik ergriffen spähte Timo nun zunächst seinerseits durch das Loch, sah gerade noch, wie sich Eikes Nase demselben näherte, und verstopfte die Öffnung hastig mit seinem linken Zeigefinger.

Die Situation war nun an Absurdität nicht mehr zu überbieten: Während Eike, der glauben musste, das Loch sei mit einem Kaugummi verklebt, lediglich durch eine dünne Wand von ihm abgetrennt, gewissermaßen direkt vor ihm stand, hing Timo in schockstarrer, aber labiler Position, da nur noch mit einem Arm abgestützt, mit weit geöffneten Schenkeln auf der Keramik wie auf einem gynäkologischen Stuhl. Lange, so war Timo durchaus bewusst, konnte er diese demütigende Fick-mich-Stellung nicht mehr durchhalten, zumal seine rechte Stützhand bereits auf dem feuchten Klodeckel wegzurutschen drohte. Und wenn Eike nun in den Sinn käme, die Kabine rechts neben ihm aufzusuchen, wäre alles verloren, da Timo es sicherlich nicht gelingen würde, auch noch das tennisballgroße Seitenloch abzudecken.

Glücklicherweise jedoch konnte Timo, der schon seit mindestens zwanzig Sekunden das Atmen eingestellt hatte, jetzt hören, dass Eike sich von seiner Tür abwandte und sich in die Kabine auf der anderen Seite des weiterhin keuchenden Paares einschloss, wahrscheinlich um sich von dort aus als Dritten im Bunde anzubieten. Timos Lustpegel hingegen hatte sich nach diesem Stress auf einen Punkt ganz knapp über null herabgesenkt. Er wollte seiner engen Nasszelle nur noch entfliehen, aber möglichst ohne sarkastische Kommentare seines Intimfeindes.

Raus, nur raus, dachte Timo sich und schlüpfte, allen Ekel beiseiteschiebend, aus seinen Schuhen, um bei seiner Flucht nicht aufzufallen. Dann ging alles blitzschnell. Er öffnete leise die Tür seiner Kabine, trippelte barfüßig und lautlos durch den Raum mit den Kabinen, knickte dann rechts ab mit Tunnelblick, ohne ein Auge für die Männer am Waschbecken, riss die Tür auf und rannte die kalte Treppe hinauf. Vor dem großen Hörsaal setzte er sich innerlich erschöpft auf eine der Holzbänke, um sich wiederherzustellen.

Während er langsam zu Luft kam, zog er die Schuhe an. Erleichtert richtete er sich danach auf, um in Richtung Cafeteria zu blicken. Doch eine Person, die sich unmittelbar vor ihm aufgestellt hatte, versperrte ihm die Sicht.

„Beide Schuhe passen, herzlichen Glückwunsch, Aschenputtel“, sagte Fadi mit einem breiten Grinsen. Er war ein guter Freund von Timos Partner Ammar.

Timo durfte sich den neuerlichen Schock nicht anmerken lassen.

„Es gehört sich nicht, eine künftige Prinzessin beim Ankleiden so unsanft zu erschrecken“, entgegnete Timo spontan und tänzelte an Fadi vorbei, um die Aufmerksamkeit in Richtung Cafeteria zu lenken.

„Zur Strafe musst du mir einen Kaffee spendieren. Oder hast du noch etwas anderes vor?“, Timo zwinkerte und deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe.

Fadi war ebenfalls schwul und kannte sicherlich die Freizeitmöglichkeiten an der Universität.

„Nee, danke, da sind mir zu viele Araber. Ich frage mich aber, was du hier am Boden zu tun hattest, Prinzesschen?“

Timo hatte nun genügend auf Zeit gespielt, um eine Ausrede parat zu haben. Ihm war klar, dass die Geschichte dieser Begegnung innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden bei Ammar angekommen sein würde. Die wenigen schwulen Orientalen an der Uni waren nämlich untereinander eng vernetzt. Sie erteilten einander auch Spionageaufträge, sodass die Gruppe immer über alles informiert war, ein äußerst effektives Spitzelsystem, das Timo als arabischen KGB bezeichnete.

„Als ich eben meine Geschichtsvorlesung verließ, merkte ich, dass ich mir einen Nagel in den Absatz getreten hatte. Den musste ich dann eben rasch entfernen.“

Timo griff in die Brusttasche seiner Jeansjacke, fingerte einen kurzen Nagel heraus und hielt ihn Fadi vors Gesicht. Dessen Ausdruck wandelte sich in dem Augenblick von überheblicher Skepsis zu naiver Überraschung. Ein resigniertes Schulterzucken signalisierte, dass von ihm keine weiteren Nachfragen zu erwarten waren. Er hatte die Geschichte geschluckt.

Timo war ein guter Lügner. Selbst in extremen Belastungssituationen fiel ihm sofort eine passende Aussage ein, die er authentisch präsentieren konnte. Dabei ging es ihm weniger darum, Menschen zu hintergehen, als sie vielmehr nicht in ihren Erwartungen zu enttäuschen. Den Stahlnagel in der Brusttasche seiner Jeansjacke trug er schon seit Tagen als Muster mit sich herum, weil er einen ebensolchen kaufen wollte, um einen Bilderrahmen an der Wand zu befestigen. Ein guter Lügner findet eben in jeder Situation einen Notnagel.

Manchmal muss man sich einfach dem Schicksal fügen, dachte sich Timo, als er den soeben gekauften Nagel in die Wand hämmerte. Beinahe hätte er vergessen, dass er ein ganz bestimmtes Bild aufhängen wollte – nun verwirklichte er dieses Projekt. Es war ein handgezeichnetes Bild aus der Kiste, das er in seinem WG-Zimmer anbringen wollte. Die Kiste stand auf seinem Schreibtisch, immer noch verschnürt, wie er sie bei Eike abgegeben hatte.

„Vielen Dank dafür, dass du dich so aufopferungsvoll um meine Habseligkeiten gekümmert hast“, hatte Timo gesagt, als er die Kiste bei Eike abholte. „Bei dir wusste ich sie in guten Händen. Du hast sie ja garantiert die ganze Zeit im Auge behalten.“

„Aber natürlich. Nur einmal für zehn Minuten übernahm meine Kollegin die Wache. Ich musste mich zwischenzeitlich entleeren.“

Timo quittierte diese plumpe Doppeldeutigkeit mit einem falschen Grinsen und wandte sich zum Gehen, als Eike ihn am Arm packte und zurückhielt.

„Wann kommst du denn endlich einmal in unsere schwul-lesbische Forschungsstelle?“

Natürlich gehörte Eike zu der Sorte Schwuler, die sich in jedem Lebensbereich über ihre sexuelle Orientierung definierten.

„Diese Frage kann ich dir ganz eindeutig beantworten: niemals!“

Timo empfand das Engagement von Eike und seinen Kumpanen als durchaus ehrenwert, aber er selbst fühlte sich als Homosexueller in der modernen Welt frei und wenig diskriminiert. Deshalb interessierte ihn die schwule Opferforschung einfach nicht. Darüber hinaus empfand er es eher als störend, dass die politischen Schwulen in jeder Situation eine potenzielle Diskriminierung witterten. Eike war so ein Typ, der auch eine homofeindliche Verschwörung vermutet hätte, wenn die Univerwaltung im Rahmen einer Grundsanierung die Löcher zwischen den Klokabinen zukitten würde. Timo sah es bildlich vor sich, wie Eike seinen Körper an die beschmierte Klotür fesselte, um für die Vielfältigkeit schwulen Lebensraums zu kämpfen.

„Wann begreifst du endlich, dass es auch deine und meine Geschichte ist, die wir in der Forschungsstelle aufarbeiten?“

„Wann ich das begreife? Wenn du endlich deinen dusseligen Zopf abschneidest. Der kommt tatsächlich aus einer anderen Zeit und sollte wirklich bald Geschichte sein.“

Timo freute sich über den rhetorischen Punktsieg. Politisch und wissenschaftlich allzu verbissene Zeitgenossen konnte er am besten mit gezielt ausgewählten Gemeinheiten provozieren. Zumindest das hatte er an der Uni gelernt. Denn nach zwei Jahren Geschichtsstudium war er noch nicht vollkommen davon überzeugt, ob er sich für das richtige Fach entschieden hatte. Noch zu Schulzeiten hatte er sich erhofft, dass mit der Immatrikulation ein Funke sofort auf ihn überspringen und ihn sich selbstvergessen in die historische Forschung stürzen lassen würde.

Auf dieses beseelende Feuer wartete er noch heute. Vielmehr sah er sich am Ende einer langen Kette von Fehlentscheidungen. Auch in der Kiste auf seinem Schreibtisch sah er eine Schatztruhe, die ihn allerdings in eine komplett falsche Richtung lockte.

Timo löste die Schnüre und schlug den Deckel zurück. Eigentlich hätte er sich mittlerweile an die Gerüche gewöhnen müssen. Dennoch kräuselte er irritiert die Nase. Am Boden der Kiste lag das Bild, das er an die Wand hängen wollte: eine Bleistiftzeichnung von seinem Großvater. Ein Künstler aus Rostock, dem Wohnort seines Opas, hatte sie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs angefertigt. Sein Opa Ernie hatte dafür nicht persönlich Modell gestanden, sondern der Künstler hatte ihn von einem Foto abgezeichnet, das ihn in einer Wehrmachtsuniform am Kriegsende zeigte. Auf der Bleistiftzeichnung trug Timos Großvater aber Anzug und Krawatte. Damals war er in Timos jetzigem Alter und hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem Enkelkind. Ausgeprägte Wangen- und Kinnknochen gaben dem schlanken Gesicht markante Züge. Wegen des schwachen Bartwuchses wirkte die Haut kindlich, die feine Linie der dünnen Augenbrauen verlieh ihm eine regelrecht aristokratische Note. Was man auf der Bleistiftzeichnung nur erahnen konnte: Timos Großvater hatte genauso wie sein Enkel blonde Haare und tiefblaue Augen. Jeder hätte auf Anhieb eingestanden, das Bild eines attraktiven Mannes vor sich zu haben.

Timos Großmutter Elli hatte die Zeichnung anfertigen lassen, während er in russischer Kriegsgefangenschaft zur Arbeit in einem sibirischen Lager gezwungen wurde. Es war das jüngste Utensil aus der Erinnerungskiste seiner Familie. Die Briefe, Fotos, Orden und Anhänger stammten allesamt aus der Zeit des Krieges.

Fast hätte er das Telefon gar nicht abgenommen. Timo war nicht so neugierig, dass er immer gleich zum Hörer griff, wenn es klingelte. Nur langsam glitt er aus seiner Gedankenwelt in die Realität. Sein Freund Ammar war am Apparat und forderte ihn auf, Lebensmittel aus dem Auto in die Wohnung hochzutragen. Timo zog verächtlich die linke Augenbraue hoch. Das war einmal wieder typisch für seinen südländischen Freund. Sie hatten sich zum Kochen verabredet. Jetzt sah er sich schon Lebensmittelmassen in den fünften Stock schleppen, mit denen man problemlos Ammars Großfamilie in Jordanien sattbekommen hätte. Darüber hinaus hatte Ammar sicherlich noch eine ganze Tüte fast abgelaufener Lebensmittel aus seinem Kreuzberger WG-Kühlschrank dabei, die zu essen oder zu verarbeiten er Timo nötigen würde.

„Aber wieso?“, rechtfertigte Ammar sich. „Es sind doch nur Gemüse, Croutons und Käse für den Salat. Brot als Beilage, Lamm, Kartoffeln, Tomaten fürs Hauptgericht und ein paar Sachen fürs Dessert.“

„So viel esse ich nicht in einem Monat!“

„Das solltest du aber!“

Damit spielte Ammar auf Timos Körperbau an, der sehr zart war. Man konnte auch dünn oder schlank sagen. „Hungerhaken“ lautete Ammars favorisierte Vokabel. Ammar selbst konnte sich auch über einen schlanken und drahtigen Körper freuen. Timo prognostizierte eine Wampe, wenn Ammar erst einmal dreißig würde.

„Ach ja, und dann hab ich noch ein kleines Goodie-Bag aus unseren Vorräten zusammengestellt“, fügte Ammar wie selbstverständlich hinzu. „Das muss weg!“ Timo schüttelte resignierend den Kopf.

Im Gegensatz zu Timo hatte Ammar breite Schultern, war größer als sein Freund und unter den buschigen schwarzen Brauen strahlten hellgrüne Augen. Diese Augen waren wirklich ein Phänomen. Leuchtend wie Edelsteine zogen sie alle Blicke unwillkürlich auf sich. Als Timo zum ersten Mal in diese Augen geblickt hatte, musste er sich bemühen, Ammar nicht anzustarren.

„Mein jordanischer Beduine“, sagte Timo gern, wobei Ammar Wert auf seine palästinensischen Wurzeln legte. Ammar war von seiner Familie zum Studieren nach Deutschland geschickt worden. Sein Studium startete in Hamburg, jetzt wohnte er aber − nicht zuletzt wegen Timo − ebenfalls in der Hauptstadt. Damit sich für Ammars Familie die Investition in ein Auslandsstudium lohnte, musste er einen nützlichen Abschluss anstreben. Ammar stand unmittelbar vor seinem Diplom als Maschinenbau-Ingenieur. Selbstverständlich wusste seine Familie in Jordanien nichts über sein Leben in Deutschland. Und Ammar tat alles dafür, dass sich an ihrer Unwissenheit nichts änderte.

„Oh, du hast Nägel gekauft“, registrierte Ammar anerkennend Timos allerdings abgestorbenes Engagement beim Aufhängen der Bleistiftzeichnung.

„Oh ja. Ich konnte mich heute ganz plötzlich wieder daran erinnern, dass ich Nägel besorgen wollte.“

„Krass – dein Opa sieht echt genauso aus wie du“, stellte Ammar beim Mustern der Bleistiftzeichnung fest. „Ich finde es toll, dass du seine Geschichte schreiben willst.“

„Wer sagt, dass ich es will? Ich will es nicht. Nein, ich will es nicht. Warum sollte das wollen?“

Da war sie wieder. Die Reihe von Fehlern. Aktuell ärgerte sich Timo ganz konkret über zwei Fehler. Der erste war die Entscheidung, an dem Seminar der Professorin teilzunehmen, die Timo im vorigen Semester eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent angeboten hatte. Bis zu diesem Tag wusste er nicht, warum er sich für dieses Seminar angemeldet hatte. War es Eitelkeit, weil die Professorin seine Leistung anerkannte? Falsch verstandene Loyalität gegenüber einer Respektsperson? Wahrscheinlich war es einfach Timos tief verwurzelter Wunsch nach Verbindlichkeit und Vertrautheit. Die zugegebenermaßen kompetente und freundliche Professorin hatte es geschafft, eine persönliche, warme Atmosphäre in dem Seminar zu erzeugen, was Timo sehr entgegenkam. Am Ende hatte er sich für das Folgeseminar entschieden, weil er sich in dem anonymen Studienbetrieb einer Massenuniversität ein Stück Berechenbarkeit und Familie schaffen wollte.

Aber warum gerade Oral History? Timo war skeptisch gegenüber dieser Methode der Geschichtswissenschaft. Die Oral History wertet Aussagen von Zeitzeugen aus. Dabei führen Historiker Interviews, in denen die Menschen möglichst frei erzählen sollen, damit der Wissenschaftler sie durch seine Fragestellung nicht beeinflusst. Zwar räumte Timo immer ein, dass die mündliche Überlieferung von Zeitzeugen ein ehrenwertes Anliegen verfolgte. So konnte man auch das Leben der Unterschicht, der Frauen und der Diskriminierten darstellen, die in den traditionellen Standardwerken fehlten. Aber schon während der ersten Seminarsitzung belächelte Timo die Studierenden, die mit strahlenden Augen von einer Demokratisierung der Wissenschaft schwärmten und eine Geschichte „von unten“ schreiben wollten. Timo sah in den Zeitzeugenberichten schmückendes Beiwerk, Folklore, um Geschichte für die Massen interessanter zu machen. Seiner Meinung nach war das Geplapper einer Oma keine historische Quelle, ein brisanter, geheimer Schriftwechsel zwischen Außenministerium und Geheimdienst sehr wohl. Mündliche Überlieferung würde undisziplinierte Geschwätzigkeit nachträglich rechtfertigen, davon war Timo überzeugt.

Deshalb überfiel ihn auch immer ein ungutes Gefühl, wenn er seine Kiste öffnete. Nicht der Geruch von Vergangenheit und Verwesung bereitete ihm schlechte Laune, sondern die Angst, sich viel Arbeit aufzuhalsen, die zu nichts führte, weil der Inhalt für die Allgemeinheit bedeutungslos war. Diese Kiste war für ihn das Symbol für den zweiten großen Fehler des Jahres. Öffnete er sie, gab es kein Zurück mehr.

Früher einmal war die Kiste der Puppenkoffer seiner Oma Elli. gewesen. Dieses Relikt hatte Faschismus, Krieg, Kommunismus und die Mauer überlebt und sammelte nun alle Dinge, die seine Großeltern während des Krieges aufbewahrt hatten. Weil Timo keine Idee für ein Projekt in seinem Seminar entwickeln konnte oder wollte, hatte ihm seine Professorin vorgeschlagen, seine Familiengeschichte aufzuarbeiten. Ein Vorschlag, über den Timo zunächst nur lächeln konnte, weil er den Kontakt zu seiner Erzeugergeneration abgebrochen hatte.

Er weigerte sich, von seinen „Eltern“ zu sprechen. Die Worte „Mutter, Vater, Mama, Papa“ nahm er seit Jahren nicht in den Mund, zumindest wenn es um seine Familie ging. Sein Vater – oder wie Timo sagte: Erzeuger – lebte als verwahrloster Alkoholiker auf einem der letzten Leuchttürme an der Nordsee. Seine Erzeugerin hatte Timos Vater kurz nach seiner Geburt überredet, von Rostock aus in den Westen zu fliehen. Nachdem sie ihre Heimat verlassen hatten, verließ Timos Erzeugerin dann auch die eigene Familie. Eines Morgens war sie einfach weg. Timo wurde von seinem verbitterten Vater großgezogen, der niemanden an sich heranließ. Mit siebzehn Jahren hielt Timo es nicht mehr aus, zog in eine WG und war auf sich allein gestellt. Der Vater besorgte sich den Job an der Nordsee, schaute immer tiefer ins Glas und ließ nichts von sich hören – nicht einmal zu Timos Geburtstagen. Nein, diese Geschichte wollte Timo nicht schreiben, wohl auch, weil sie noch vergleichsweise frisch war und er sie selbst nie verarbeitet hatte.

Wenn Ammar Timo über seine Eltern ausfragte, antwortete er einsilbig, machte Ausflüchte und wechselte das Thema. Bei Ammar hinterließen solche Momente den traurigen Eindruck, dass Timo eiskalt war, was seine Familie anging. Timo war jedoch nur noch nicht so weit, die Fragen, die sich ihm immer wieder stellten, mit anderen zu diskutieren. Das könnte er später mit seinem Analytiker besprechen, sagte er, aber nicht mit Ammar oder gar seinen Kommilitonen. Um sein Studium zu finanzieren, hatte er sich erfolgreich ein gut dotiertes Stipendium ergattert.

So wanderte Timo eine Generation weiter und stieß auf Opa Ernie und Oma Elli. Timo hatte nie intensiven Kontakt zu den beiden aufgebaut. In seiner Kindheit lag ihr Wohnort Rostock hinter dem Eisernen Vorhang. Als sogenannte Republikflüchtige konnten seine Eltern keinen Besuch gemeinsam mit ihm bei an der Ostsee wagen. Und nach der Vereinigung übte Prenzlauer Berg mehr Anziehungskraft auf ihn aus als das Rostocker Hansaviertel. Nach Timos flüchtigem Eindruck fügten die beiden sich nahtlos ein in sein pessimistisches Familienbild.

Elli und Ernie, der eigentlich den Vornamen Ernst trug, behandelten Timo mit der pflichtschuldigen Routine, die man Verwandten zukommen lassen musste. In ihren Augen suchte man aber vergeblich nach einem liebevollen Funkeln beim Betrachten ihres Enkels. Timo nahm das nicht persönlich. Er ging davon aus, dass das Funkeln schon Jahre zuvor abhanden gekommen war. Seine Besuche in Rostock konnte Timo an zwei Händen abzählen. Ihn und seine Großeltern verband die Nüchternheit von Geschäftspartnern. Und das konfliktbeladende Verhältnis zwischen Timo und seinem Erzeuger einerseits sowie den Großeltern und ihrem verlorenen Sohn andererseits wurde genau so behandelt, wie mit Problemen in durchschnittlichen Familien gern umgegangen wird: Es wurde totgeschwiegen. Eine ideale Voraussetzung für historische Forschung, hatte Timo gedacht. Auf dieser Basis konnte er ohne Zorn oder den Wunsch nach Beschönigung eine Kriegsbiografie nachzeichnen.

Als Timo seine Großeltern mit diesem Anliegen konfrontiert hatte, hatten sie genauso formlos einer Zusammenarbeit zugestimmt, wie Timo sein Anliegen vorgetragen hatte. Danach meldete er sich wochenlang nicht bei ihnen. Seit zwei Wochen schienen Ernst und Elli aber immer mehr Interesse an dem Geschichtsprojekt zu haben. Jedenfalls meldeten sie sich dieser Tage fast täglich, was Timo auch nicht recht war. Er hasste es, wenn Druck auf ihn ausgeübt wurde.

„Sieh es doch positiv. Zumindest hast du jetzt wieder eine Familie!“ Ammar versuchte, Timo zu trösten, weil er mit eingefallenen Schultern vor der Kiste stand – zu kraftlos, sie wegzuräumen, zu mutlos, sie zu öffnen.

„Außerdem hat dein Opa doch krasse Sachen erlebt.“

„In diesem Zusammenhang passt dein neues Lieblings-Adjektiv wenigstens einmal“, grummelte Timo unfreundlich als Entgegnung.

Ammar öffnete die Kiste und nahm gezielt zwei Orden heraus.

„Guck, er hat einen Orden von den Nazis bekommen und hinterher einen von den Kommunisten. Ist doch kr…“

Ammar schluckte den Rest der Silbe vorsichtshalber herunter, um Timos Sprachkritik keine neue Nahrung zu liefern.

„Ob das wirklich schmeichelhaft ist, muss ich noch rausbekommen.“

„Und hier, die Briefe von der Front. Hast du die schon gelesen?“

„Sentimentales Zeug!“

„Oh, Mann! Du Kühlschrank! Ich weiß, dass du das alles wertlos findest. Du suchst immer nach einer höheren Bedeutung.“ Ammar hob die Kiste vor seine Brust. „Aber das hier, das ist Geschichte. Du hast ja noch gar nicht alles untersucht. Lass es doch einfach mal zu. Wer weiß, vielleicht findest du ja was heraus. Jeder hat seine ganz eigene Geschichte. Jeder ist einzigartig.“

Timo lächelte. Ammar riss fragend und herausfordernd die Augen auf. Sein nun folgendes „Was!“ war eher als Ausrufezeichen denn als Frage zu verstehen.

In solchen Augenblicken durchströmten Timos ganzen Körper Wärmeschübe. Sein Freund war einfach ein guter Mensch, dachte er. Nicht nur, dass er ihn motivieren wollte. Sicher war Ammar auch überzeugt von dem, was er sagte. Er sah in allem immer das Positive, die Möglichkeit, die Perspektive. Und vielleicht hatte er ja sogar recht.

Timo umarmte Ammar und drückte ihm einen Kuss auf seine Lieblingsstelle am linken Nasenflügel. Ammar wollte die Umarmung erwidern, wurde aber durch die Kiste gestört, die er noch immer in seinen Händen hielt. Also nahm Timo sie ihm ab, um sich in seine breiten Arme fallen lassen zu können.

Als er die Fotos aus der Kiste auf seinem Schreibtisch ausbreitete, während Ammar sich in die Küche zurückzog, konnte er den Blick von einer Aufnahme nicht abwenden. Sie zeigte drei Personen: seinen Großvater Ernst, seine Großmutter Elli und einen weiteren jungen Mann in ihrem Alter, der genauso schwarze Haare hatte wie Elli. Es muss ihr Bruder Gustav sein, dachte Timo. Die drei waren offensichtlich glücklich, als das Foto geschossen wurde. Elli in der Mitte strahlte in die Kamera. Ernst und Gustav umarmten sich kumpelhaft. An dem Spiel der Muskeln und Sehnen konnte man erkennen, wie kraftvoll die Umarmung war. Ernst drückte seiner heutigen Frau einen Kuss auf die Wange; die Verlängerung seines Blickes führte aber zu Gustav, der offenbar dem Fotografen Anweisungen gab.

Das Bild musste kurz vor oder unmittelbar nach Kriegsausbruch entstanden sein, wohl noch in dem Kinderheim, in dem die drei gemeinsam aufgewachsen waren. Die Fotografie war überall zerknickt, die Hochglanzoberfläche an vielen Stellen aufgeplatzt. Wie es damals üblich war, umrandete die Fotografie ein weißer Rahmen. Die Struktur des Papiers war sehr porös. Viele Male musste es berührt worden sein, vielleicht voller Sehnsucht an die Brust gedrückt. Die Flecken waren vielleicht getrocknete Tränen. Hier liegt also der Ausgangspunkt meiner Reise, dachte Timo.

Kapitel 2

Wenn er die Augen öffnete, schaute er direkt in die tief stehende Sonne. Zu dieser Tageszeit tat es noch weh, deshalb schloss er sie wieder. Seine Augenlider von innen betrachtet leuchteten in hellem Orange. Ernst atmete die heiße Spätsommerluft tief ein. Seit Wochen hatte er keinen Augenblick der Ruhe. Der Vormarsch in Russland schien fast noch reibungsloser zu verlaufen als die Eroberung Polens. Seit Juli ging es kontinuierlich Richtung Osten. Wenn nichts dazwischen kam, würde er Weihnachten im Kreml feiern. Da war sich Ernst sicher.

Er öffnete die Augen, weil ein schwarzer Fleck die weißlich-orange Fläche auf der Netzhaut unterbrach. Erst erkannte er nur schemenhaft die Silhouette eines Mannes. Der Oberkörper wippte bei jedem Schritt mit, die typische Gangart energetischer kleiner Männer, die die Bewegung auf dem Innenfuß abrollten, um sich ganz zum Schluss mit dem großen Zeh noch einmal in die Höhe zu schnellen. Wahrscheinlich hat ihnen jemand einmal gesagt, dass sie dadurch größer wirken, dachte Ernst. Zwar sah er nur den Schattenriss, identifizierte aber selbst aus der Distanz seinen Kameraden und besten Freund Gustav.

„Na, was sagst du?“, brüllte er schon von Weitem. Ernst wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Er hielt die Hand vor die untergehende Sonne, um Gustav fixieren zu können. Er hatte seinen Oberkörper entblößt. Das sah er. Satte Muskelpakete saßen auf Brust, Schultern und Oberarmen, obwohl sie knapp zwei Jahre aus dem Training waren. In Rostock hatten sie der Ruderstaffel ihres Gymnasiums angehört. Ernst hatte seine Muskeln verloren – aufgrund der Mangelernährung bei der Wehrmacht. Gustavs Organismus schien die einseitige Ernährung dagegen nicht zu stören.

„Bist blind, oder was?“ Jetzt war er so nah, dass er die Sonne komplett hinter seinem kompakten Körper verdeckte. Wie bei einem Fotoapparat konnte Ernst nun die Blende so verändern, dass der Vordergrund sichtbar und scharf wurde. Als er ihn neu fokussierte, sah er auch gleich, was er schon längst hätte kommentieren sollen.

„Du bist doch verrückt!“ Gustav hatte seine welligen schwarzen Haare abrasieren lassen. Er kehrte bestimmt gerade von der Entlausung zurück. Bei dem Vormarsch war Pflege von Körper und Material wieder einmal zu kurz gekommen, was schon nach wenigen Tagen zu ungebetenen Gästen geführt hatte.

„Guck, alles ab!“ Gustav fuhr mit der Handfläche über seinen nackten Schädel. „Selbst am Sack. Da sollen die Filzläuse mal sehen, wo sie sich festbeißen.“

Ernst hätte jetzt viel sagen wollen. Dass anderes Ungeziefer keine Haare benötigt, um sich festzusetzen, dass Gustav wie ein Sträfling aussieht oder dass er die für ihre Freizeit gelockerte Anzugsordnung sehr strapaziert, wenn er halb nackt herumläuft, aber Gustav gackerte unaufhörlich mit seinem ansteckenden Lachen, dass Ernst keine Lust verspürte, den Vernünftigen oder gar den Vorgesetzten zu spielen, der er war. Ernst hatte es zum Oberfeldwebel geschafft und leitete die Gruppe, in der Gustav immer noch als Gefreiter diente. Ehrgeiz gehörte noch nie zu seinen Stärken, aber der Humor. Obwohl Ernst sich ehrgeiziger, erfolgreicher und zielstrebiger gab, war er immer stolz darauf gewesen, dass Gustav ihn zu seinem Freund gemacht hatte. Gustav lebte in einer unbeschwerten Leichtigkeit, von der Ernst sich gern anstecken ließ. Deshalb gab er sich auch jetzt einen Ruck und versuchte locker zu sein.

„Dein Kopf sieht jetzt aus wie eine Eichel!“, lästerte Ernst. Der Spruch kam unfreiwillig gut an, Ernst hatte tatsächlich an die Frucht des Eichenbaums gedacht. Als Gustav aufschrie vor Gelächter, gab Ernst aber vor, die Pointe bewusst gesetzt zu haben.

Die anschließende Stille nutzte Ernst für seinen einstudierten Auftritt. Er nahm eine feierliche Haltung an, setzte ein gespielt offizielles Gesicht auf und fingerte einen Umschlag aus seiner Brusttasche.

„Der Herr … Post!“

„Von Elli? Ich glaub es nicht.“

„Ich hätte ihn fast selbst geöffnet, weil du so lange unterwegs warst.“

„Du weißt, dass du das nicht überlebt hättest.“

Gustav wandte sich mit suchendem Blick um. Er wollte das Lesen des Briefes an einem angemessenen Ort zelebrieren und ja nicht von Kameraden oder gar Vorgesetzten gestört werden. Ihm fiel ein verlassener Hochsitz am Waldrand ins Auge und die beiden gingen dorthin. Elli war eine weitere gemeinsame Leidenschaft der beiden: Ernsts Verlobte und Gustavs Schwester. Alle drei waren in demselben Kinderheim aufgewachsen, das zwar den romantischen Namen „Drachenhaus“ getragen hatte, aber die drei sehr wohl in nationalsozialistischer Gesinnung gradlinig zu jungen Erwachsenen heranbildete. Elli war irgendwann zu der eingeschworenen Männerfreundschaft dazu gestoßen. Sie liebte ihren Bruder kompromisslos. Und Gustav war es dann auch, der es einfädelte, dass Elli als Ernsts Freundin reibungslos in das Zweiergespann integriert worden war. Außenstehende hatten Probleme damit, die Konstellation zu verstehen, herauszufinden, wer mit wem wie verbunden war. Aber die drei genossen die Verwirrung. Gerade Elli liebte es, durch bewusst gelegte falsche Fährten, den Eindruck zu erwecken, sie sei Gustavs Freundin.