Wer wahrnimmt, weiß, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses besondere Wissen des Menschen um seine eigene Lage ist das Thema einer Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf jede Modellbildung zu verzichten. Wenn sich die traditionellen Modelle der Wahrnehmung als Mythen erweisen, muss die Erfahrung des Wahrnehmens selbst zum Thema werden. Damit ändert sich aber die Perspektive: Nicht das Ich, das die Wahrnehmung hervorbringt, wird thematisiert, sondern die Wahrnehmung, die mich hervorbringt und in der Welt sein lässt. Dieses Mich der Wahrnehmung gilt es zu beschreiben.
Lambert Wiesing ist Professor für Bildtheorie und Phänomenologie am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Im Suhrkamp Verlag sind u. a. von ihm erschienen: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes (stw 1737), Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens (stw 2046) und Luxus (2015).
Das Mich
der Wahrnehmung
Eine Autopsie
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2171
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eISBN 978-3-518-74348-5
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Vorwort
1. Philosophische Mythen und Modelle
Unzufriedenheit auf höchstem Niveau · Der Mythenvorwurf in der Philosophie · Modellierende Philosophie: eine contradictio in adjecto · Der Mythos des Gegebenen · Vom Mythos des Gegebenen zum Mythos des Mittelbaren · Interpretationismus und Wahrnehmungsphilosophie · Transzendentaler Interpretationismus · Die Verbindung des Mythos des Gegebenen mit dem Mythos des Mittelbaren: Repräsentationalismus · Das Paradigma des Zugangs
2. Phänomenologie: die Philosophie ohne Modell
Phänomenale Gewißheit · Vom cartesischen Cartesianismus zum phänomenologischen Cartesianismus · Intentionalität: das fundamentum inconcussum relationalis · Zu den Sachen und zurück zur Sprache · Phänomenologische Protreptik · Eidetische Variation
3. Das Mich der Wahrnehmung
Von den Bedingungen der Möglichkeit zu den Folgen der Wirklichkeit · Vom Primat des Wahrnehmenden zum Primat der Wahrnehmung · Vom Ich zum Mich der Wahrnehmung · Die Zumutung dauernder Anwesenheit · Die Beschreibung der Anwesenheitszumutung: der Gehalt der Wahrnehmung · Die Qualität der Wahrnehmung und der Auffassungssinn · Sich sicher sein, daß etwas der Fall ist: Wissen und Gewißheit · Die unmögliche Epoché · Vom Eindruck zum Ausdruck zur Teilhabe · Transzendentale Ästhetik und die Unterstellung von Anschauungsformen · Die Leiblichkeit des Wahrnehmenden: eine Folge der Wahrnehmung · Die Kontinuität des Wahrgenommenen · Das Wahrgenommene und die Ursache der Wahrnehmung · Die Zumutung der Öffentlichkeit · Die Identität des Mich
4. Die Partizipationspause
Pause versus Unterbrechung · Die drei Paradigmen der Bildwahrnehmungstheorie · Das besondere Objekt der Bildwahrnehmung · Die besondere Entstehung der Bildwahrnehmung · Die besonderen Folgen der Bildwahrnehmung · Zum Zuschauen gezwungen · Die optische Entindividualisierung des Mich · Zur Teilnahme entschieden
Die Überlegungen in diesem Buch sind von einer skeptischen Grundüberzeugung geprägt. Vielleicht wird sogar nur derjenige das Thema für sinnvoll erachten, der diese Überzeugung teilen kann: Die Existenz von Wahrnehmungen läßt sich nicht erklären. Daß mittels einer Theorie begründet werden könnte, warum es Wahrnehmungen und nicht vielmehr überhaupt keine Wahrnehmungen gibt, scheint mir in der Tat zweifelhaft zu sein. Es war jedenfalls diese skeptische Einstellung, welche mich dazu brachte, darüber nachzudenken, ob sich die Wahrnehmung nicht aus einem ganz anderen Blickwinkel als dem traditionellen beschreiben ließe. Die übliche Sichtweise besteht nämlich darin, Wahrnehmung als ein Produkt des Wahrnehmenden zu verstehen. Seit mehr als zweihundert Jahren arbeiten Wahrnehmungstheorien mit dem Konzept eines aktiven Subjekts. Man kann sagen: Bisher nahm man an, alle unsere Wahrnehmungen müssen sich nach den subjektiven Möglichkeiten des Wahrnehmenden richten. Es besteht geradezu ein Konsens, daß zwischen dem Wahrnehmenden und seinen Wahrnehmungen ein eindeutiges Abhängigkeits- und Folgeverhältnis herrscht: Aus vorgängigen Tätigkeiten und Leistungen des Subjekts entstehen seine Wahrnehmungen. Ob man sich an philosophische, psychologische oder neurowissenschaftliche Theorien hält, man findet bis heute nahezu ausnahmslos Überlegungen, die auf dieser Meinung aufbauen: Wahrnehmung ist ein Endprodukt von Konstruktions- oder Interpretationsleistungen, welche vom Subjekt der Wahrnehmung erbracht werden. Solange diese Ansicht über die internen Abhängigkeiten das Denken über die Wahrnehmung bestimmt, wird man es für selbstverständlich erachten, daß sich eine Wahrnehmungstheorie die Aufgabe zu stellen hat, die subjektiven Voraussetzungen der Wahrnehmung zu untersuchen, um auf diesem Weg die Entstehung der Wahrnehmung zu erklären. Und genau das ist das Problem, wenn man Zweifel hegt, daß sich die Entstehung von Wahrnehmungen überhaupt erklären läßt. So ist es mir ergangen: Meine Beschäftigung mit der Geschichte der Wahrnehmungsphilosophie führte einerseits zu einem Desinteresse an weiteren konstruktivistischen und interpretationistischen Erklärungsmodellen und ließ andererseits die Idee aufkommen, die Konstellation zwischen dem Wahrnehmenden und seinen Wahrnehmungen mit umgekehrten Abhängigkeiten zu beschreiben. Denn nachdem es mir so erschien, daß es mit der Erklärung der Wahrnehmung nicht gut fortwill, wenn man annimmt, die Wahrnehmung hänge vom Wahrnehmenden ab, versuchte ich, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn der Wahrnehmende abhängig ist und man dagegen die Wahrnehmung in Ruhe läßt. Jedenfalls scheint es mir einen Versuch wert zu sein, dem Gedanken nachzugehen, ob man nicht in den Aufgaben der Wahrnehmungsphilosophie damit besser fortkommt, daß man annimmt, der Wahrnehmende müsse sich nach seinen Wahrnehmungen richten. Deshalb wird in diesem Buch nicht das Ich thematisiert, welches die Wahrnehmung hervorbringt, sondern die Wahrnehmung, welche mich hervorbringt; das heißt, die mich in der Welt zuallererst sein läßt. Es wird nicht gefragt, was ich selbst in die Wahrnehmung lege, sondern was für mich in ihr liegt.
Mit der Wirklichkeit der eigenen Wahrnehmungen sind persönliche Zumutungen verbunden: Weil es meine Wahrnehmungen gibt, muß es mich als denjenigen geben, der für diese Wahrnehmung in einer realen Welt als Subjekt zugegen zu sein hat: eben als denjenigen, dem wegen der Existenz seiner Wahrnehmungen zumute ist, in der Welt unter den anderen dabei zu sein – was nicht ausschließt, daß es Ausnahmen und Entlastungen von diesen Zumutungen gibt. In der Tat scheint gerade die Wahrnehmung von Bildern besonders dann bemerkenswert zu sein, wenn man sich nicht mehr für die Bedingungen der Möglichkeit, sondern für die Folgen der Wirklichkeit der Wahrnehmung interessiert. Denn es zeichnet die Wahrnehmung von Bildern aus, daß in ihr das wahrnehmungsbedingte In-der-Welt-sein in den seltenen Zustand einer regelrechten Partizipationspause transformiert wird. Nur auf Bildern kann etwas gesehen werden, ohne deshalb wegen der Wahrnehmung persönlich in das gesehene Geschehen involviert sein zu müssen.
Mir ist bewußt, daß diese Änderung der Denkart nicht nur die Geltung einer bestimmten Wahrnehmungstheorie, sondern den Sinn einer in vielen Theorien gegenwärtigen Sichtweise auf die Wahrnehmung anzweifelt – doch dies geschieht nicht um der Skepsis willen. Ich glaube, daß der vorgeschlagene Perspektivenwechsel mit einem epistemischen Vorteil verbunden ist, auf den zwar ein praktisches Modell der Wahrnehmung, aber keine Philosophie der Wahrnehmung verzichten kann: Geht man in der Beschreibung der Wahrnehmung von ihrer Wirklichkeit aus, so werden Behauptungen möglich, deren Geltungsanspruch durch die Gewißheit der eigenen Erfahrung begründet ist: Wer wahrnimmt, weiß, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses besondere, skepsisresistente Wissen des Menschen um seine eigene Lage zu explizieren ist das Anliegen einer Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf jegliche Modellbildung zu verzichten. Die skeptische Haltung gegenüber den gegenwärtig dominanten Strömungen der Philosophie der Wahrnehmung braucht nicht das letzte Wort zu sein. Im Gegenteil: Die Phänomenologie stellt einen Weg dar, wie sich die berechtigte Skepsis gegenüber den Wahrheitsansprüchen von Erklärungen aufheben läßt: nicht durch ein besseres Modell, nicht durch eine bessere Theorie, nicht durch eine bessere Erklärung, sondern allein durch Beschränkung der Behauptungen auf Aussagen, die sich durch die eigene Erfahrung als prinzipielle Gewißheiten zeigen lassen. Das Thema dieses Buches sind letztlich die Möglichkeiten und Grenzen einer Philosophie ohne Modell, deren methodisches, aber auch argumentatives Prinzip die Autopsie ist: selbst sehen, um zu sehen, wie man selbst ist.
Sendenhorst, im Oktober 2008
L.W.
Die Philosophie der Gegenwart befindet sich in einem schwer faßbaren, ausgesprochen eigenwilligen Zustand: Man könnte von einer Art Unzufriedenheit auf höchstem Qualitätsniveau sprechen. Es wäre eine vermessene Ungerechtigkeit, wenn man nicht beeindruckt zustimmen würde, daß noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit die philosophische Forschungslage auch nur annähernd so gut war wie gegenwärtig. Wie in jeder anderen Wissenschaft, so hat sich auch in der Philosophie das Fachwissen enorm entwickelt und das mit zunehmender Geschwindigkeit. Wann sollte es jemals so leicht möglich gewesen sein, sich so schnell und so umfassend in ein philosophisches Problem einzuarbeiten wie heute? Die neuere philosophische Literatur ist verglichen mit allen bekannten Epochen und Kulturen der Menschheit überwältigend präzise und vielfältig. Dies hat zum Teil einen ganz einfachen, rein quantitativen Grund, der keinen Anlaß zum Stolz bietet: Es gab noch nie so viele Menschen, die sich intensiv oder gar professionell mit philosophischen Problemen befassen konnten. An welche philosophische Frage man auch denken mag, man wird mehr relevante Beiträge zu ihrer Lösung diskutiert finden als je zuvor, und kaum ein ehemals relevanter Beitrag wird heute übergangen oder ignoriert. Der hermeneutische Wunsch, ein Interpret sollte seinen Autor eigentlich besser verstehen, als dieser sich selbst verstand, ist nicht selten Wirklichkeit geworden. Es scheint geradezu normal zu sein, daß die einschlägige Forschung zu den Klassikern mehr systematisches Wissen über deren Positionen besitzt, als diese selbst zu ihren Zeiten besitzen konnten. Kurzum: Noch nie waren die Geschichte und die Probleme der Philosophie derartig durchleuchtet wie heute – und dennoch will keine rechte Freude aufkommen, geschweige denn Euphorie. Wer möchte aufgrund dieser Diagnose ernsthaft behaupten, daß die Qualität der Philosophie noch nie so hoch war? Das ist ein Paradox, das in keiner anderen Wissenschaft auch nur denkbar wäre. Für jede andere Wissenschaft gilt, daß sie in ihrer Qualität allein durch die Verbesserung der Erkenntnisse über ihren Forschungsgegenstand fortschreitet. Wodurch auch sonst? Nur in der Philosophie wird diese Art von Fortschritt nicht als Erfolg akzeptiert und zwar aus gutem Grund: Philosophische Reflexionen zielen auf das Ganze; sie besitzen keinen empirischen Forschungsgegenstand, der genau dann besser erforscht ist, wenn die Menschheit besser über ihn Bescheid weiß.
Die Eigentümlichkeit der Philosophie als Wissenschaft und ihre besondere Aufgabenstellung läßt sich mit einem Bild beschreiben: Philosophen arbeiten an einem Situationsbericht. Zwar werden auch in philosophischen Schriften zumeist konkrete Themen erörtert, doch ihr Anliegen geht in deren Erörterung nie ganz auf. Die Bearbeitung einer speziellen Frage verfolgt in der Philosophie ein darüber hinausgehendes Ziel: Es geht um eine Art anthropologischen Lagebericht. Dieser sucht eine Antwort auf die Frage: In welcher Situation befindet sich der Mensch aufgrund des ihm nun einmal gegebenen Umstands, daß er ein Mensch ist? Wie ist es, ein Mensch zu sein? Die philosophischen Teildisziplinen und vielen Detailfragen sind diesem impliziten Gesamtanliegen verpflichtet. Ob man sich mit Erkenntnistheorie, Ethik oder Ästhetik befaßt, wenn dies – was keineswegs notwendig ist! – mit einer philosophischen Absicht geschieht, dann geht es auch um den Menschen – und das heißt, es geht um die Fragen: Was kann der Mensch in seiner unüberwindbaren Situation, ein Mensch zu sein, wissen? Was soll der Mensch tun, insofern er nun einmal mit dem Schicksal geschlagen ist, ein Mensch zu sein? Was kann der Mensch in seiner ausweglosen Lage, immer ein Mensch sein zu müssen, hoffen? Diese Interpretation der philosophischen Teildisziplinen als Zubringer zur Anthropologie ist heute fest mit dem Namen Kants verbunden. Zumindest war es seine explizite Meinung, daß die klassischen Fragen der Philosophie letztlich in der einen entscheidenden Frage Was ist der Mensch? aufgehoben sind.
Wenn man von der Philosophie zu Recht verlangen darf, daß in ihr nicht nur ausschließlich ein konkretes Problem bearbeitet wird, sondern daß diese Bearbeitung selbst wiederum in einer Weise geschieht, die ein Bild über die Lage des Menschen, über seinen Aufenthalt in der Welt entwirft, dann ergibt sich hieraus ein Problem für die Bewertung philosophischer Überlegungen. Lagepläne und Situationsberichte haben eine eigentümliche Eigenschaft: Ihre Qualität nimmt keineswegs proportional mit der Bestimmung von Details zu; man kennt dies von Landkarten und Stadtplänen. Obwohl selbstverständlich ohne Detailwissen und Präzision keine fundierte Darstellung irgendeiner Situation gegeben werden kann, sind nicht selten grobe Pläne mit einem kleinen Maßstab besser geeignet, einen Überblick über die jeweilige Befindlichkeit zu verschaffen, als eine extrem detaillierte Karte mit großem Maßstab. Etwas in dieser Art dürfte auch mit der Volksweisheit Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht gemeint sein. Zumindest paßt diese Sentenz auf nicht wenige philosophische Reflexionen der Gegenwart, die trotz ihrer faszinierenden Detailliertheit und subtilen Präzision als Ganze doch zweifelhaft erscheinen können – jedenfalls, wenn man davon ausgeht, daß die Philosophie in ihren Darstellungen immer auch die menschliche Lage reflektiert. Unter dieser Voraussetzung würde zumindest verständlich, wieso man bei der gegenwärtigen Philosophie von einer Unzufriedenheit auf höchstem Niveau sprechen darf: In der Geschichte der Philosophie wurde die Lage des Menschen selten so alternativlos dargestellt wie in den letzten Jahrzehnten. Wenn man von akademischen Streitereien im Detail und von den wenigen zweifelsohne vorhandenen Ausnahmen und Außenseitern absieht, dann wird zumindest in der professionell betriebenen Philosophie die Lage des Menschen erschreckend einhellig eingeschätzt und eben genau aufgrund dieses quasi-universellen Konsenses auch eigentlich gar nicht mehr ernsthaft erforscht: Ob Hermeneutiker oder Sprachanalytische Philosophen, ob Dekonstruktivisten oder Pragmatisten, die Kantianer, Hegelianer und Nietzscheianer, sie alle sind sich einig: Den Menschen tangiert nichts unmittelbar; das In-der-Welt-sein ist für den Menschen ein vermitteltes In-der-Welt-sein. Der Mensch lebt in der entrückten Situation, daß ihm weder die Wahrnehmung noch das Handeln, weder das Denken noch die Imagination irgend etwas unmittelbar präsent sein lassen könnte. Der Mensch ist nicht Teil einer Welt, sondern er besitzt Zugänge hinüber zur Welt. Die Situation des Menschen zeichnet sich nach dieser gleichermaßen implizit wie explizit verbreiteten Meinung dadurch aus, daß es überhaupt keine unmittelbare Gegenwart von irgend etwas gibt – obwohl der Mensch diese Gegenwart selbst so erfährt. Doch diese Erfahrung soll eine blanke Illusion sein. Die Mittel, welche die Welt des Menschen eine Welt des Menschen sein lassen, arbeiten anonym im Hintergrund; sie sind selbst verborgen, denn sie wirken still und leise. Immer dann, wenn der Mensch meint, irgend etwas sei irgend etwas – wenn er zum Beispiel der Auffassung ist, daß dort ein Tisch sei, daß die Ohrfeige berechtigt oder das Bild ein Kunstwerk sei – dann glaubt er dies, weil es ihm aufgrund von Interpretationen und Repräsentationen so erscheint. Diese Vermitteltheit gilt uneingeschränkt und ist unhintergehbar. Egal was der Mensch auch weiß, von allem, was er zu wissen meint, weiß er nur durch die hierfür spezifischen Mittel; er kann gar nicht anders. Denn selbst die eigenen Intentionen und Gedanken über seine eigene Situation sind ihm nur mittelbar zugänglich. Ausschließlich aufgrund von Medien ereignet sich überhaupt irgend etwas, kann irgend etwas eine Gegebenheit sein. Denn nur Medien bieten die Gelegenheit, etwas gegeben sein zu lassen. Das heißt: Der Mensch befindet sich in der unüberwindbaren Lage, sich ausschließlich mittelbar befinden zu können; er lebt in einer Mittelwelt ohne direkte Gegenwart von irgend etwas, in einem ausbruchsicheren Mediengefängnis. Denn die Grenzen seiner Medien sind die Grenzen seiner Welt, wenn man nicht sogar pointiert sagen will, daß die medial vermittelte und interpretierte Welt seine eigentliche und einzige Welt darstellt, da sie des Menschen unverlaßbares Universum bildet – so lautet der Mythos des Mittelbaren.
In der Tat bestärkt ein distanzierter Blick auf die gegenwärtig vorherrschenden Philosophiepositionen die Meinung, daß der Glaube an Mythen diese in ihren Grundansichten durch und durch bestimmt. Dies mag im ersten Moment als ein recht harter Vorwurf erscheinen, aber es gilt zu beachten: So radikal dieser Vorwurf auf der einen Seite ist, so wird durch den Mythenbegriff doch eine ganz besondere Art der Kritik formuliert, welche weit davon entfernt ist, nur ein grobschlächtiges Das ist alles falsch und unhaltbar zum Ausdruck bringen zu wollen. Mit dem Mythenbegriff ist eine Kritik möglich, die gleichzeitig eine Würdigung enthält. Zumindest wird aus diesem Grund in der Philosophie in einer ganz bestimmten Weise auf den Mythenbegriff rekurriert. Wegweisend für die Verwendung des Mythenbegriffs als philosophiekritische Kategorie dürfte nicht zuletzt Gilbert Ryles viel beachtete Darstellung von Descartes’ Bewußtseinstheorie in Der Begriff des Geistes von 1949 sein. Nach Ryle erzählt Descartes in seiner Bewußtseinsphilosophie nichts anderes als einen Mythos, der von einem Gespenst in einer Maschine handelt. Ryles besondere Art, den Mythenbegriff zu verwenden, wirkt für die Sprachanalytische Philosophie ähnlich vorbildlich wie für die phänomenologische Bewegung Edmund Husserls berühmte Rede von den bloß »mythischen Konstruktionen Kants« aus § 30 der Krisis-Schrift von 1936. Wie ernsthaft und bewußt Husserl den Mythenbegriff als kritische Kategorie verwendet, kann man schon daran sehen, daß er ihn auch graduiert und zum Beispiel in der Vorlesung über Erste Philosophie aus dem Jahr 1923/24 von »noch halb mythischen Begriffen« spricht (Husserliana VII, S. 235). Doch unabhängig davon läßt sich leicht beobachten, daß diese Art der Verwendung des Mythenbegriffs in der Philosophiegeschichte gerne aufgegriffen wurde und wird. In den letzten Jahrzehnten häufen sich die Mythenvorwürfe geradezu; man findet ein Beispiel nach dem anderen: Wilfrid Sellars interpretiert in Der Empirismus und die Philosophie des Geistes von 1956 den Empirismus als einen »Myth of the Given«; Donald Davidson wirft 1988 – in einem programmatisch auch so betitelten Aufsatz – der traditionellen Bewußtseinsphilosophie vor, einen »Mythos des Subjektiven« zu vertreten; und Daniel C. Dennett sieht 1990 von den Kritikern der Künstlichen Intelligenz einen »Myth of Original Intentionality« ausgedacht (so in seinem ebenfalls gleichnamigen Aufsatz). Auch Jean-François Lyotards Diagnose von den »grands récits«, den großen Erzählungen der Moderne aus Das postmoderne Wissen von 1979, läßt sich in diese Denktradition stellen. Schon 1969 bezeichnet Jean-Paul Sartre in einem Interview – veröffentlicht als Vorwort zur deutschen Ausgabe von Das Imaginäre – die Psychoanalyse Freuds als eine einzige »Mythologie des Unbewußten«. Es besteht kein Zweifel: Die Reihe der Beispiele ließe sich leicht fortsetzen und wird sicherlich auch noch fortgesetzt. Die Frage ist nur: Warum immer Mythos? Was für eine besondere Art von Skepsis soll mit dem Mythenvorwurf zum Ausdruck gebracht werden? Das heißt insbesondere: Was genau besagt der Mythenvorwurf mehr als nur, daß diese Position falsch sei?
Daß der Mythenvorwurf einen Vorwurf der Falschheit einschließt, steht außer Zweifel. Mit der Beschreibung einer Philosophie als Mythos soll auch gesagt sein, daß diese Philosophie schlicht und ergreifend wissenschaftlich unhaltbar sei, daß sie einen Irrtum vertrete – aber eben nicht nur: Im Mythenvorwurf wird das Falsche in seiner Falschheit auch gewürdigt und zwar als eine erklärende Geschichte. Das Kritisierte ist zwar falsch, aber immerhin doch eine Geschichte. So hält der Mythenvorwurf das traditionelle Mythenverständnis gegenwärtig: Die Philosophie, die als Mythos kritisiert wird, soll nicht nichts, sondern eben eine besondere Erzählung sein. Denn keineswegs gilt, daß jede wissenschaftlich unhaltbare Erklärung eine bemerkenswerte literarische Erzählung ist, so wie man es von einem Mythos kennt. Deshalb ist die Mythendiagnose gleichermaßen ein Vorwurf wie auch eine Form der Anerkennung. Nicht alles, was irrational und unlogisch, spekulativ und unwissenschaftlich ist, ist deshalb per se auch gleich schon mythisch. Es muß neben dem bloß negativen und notwendigen Merkmal, daß die Erklärung wissenschaftlich untauglich ist, auch ein positives und hinreichendes Merkmal geben, das eine wissenschaftlich untaugliche Erklärung als einen Mythos auszeichnet. Dieses hinreichende Merkmal läßt sich in der spezifischen Art finden, wie ein Mythos eine komplexe Situation reduziert und ihr Sinn gibt: Mythen sind anfänglich stets allegorische Geschichten von Ursprüngen und Hintergründen. Ein unverständliches Phänomen – man denke zum Beispiel an Naturgewalten – wird im klassischen antiken Mythos durch literarisch dargestellte Vergleiche auf verborgene, aber hintergründig wirkende Mächte zurückgeführt. Es sind die im Mythos beschriebenen, geheimen Ursprünge, die dafür verantwortlich sind, daß das Rätselhafte so ist, wie es ist. Die Besonderheit der klassischen antiken Mythen besteht darin, daß die wirkenden und erklärenden Eigentlichkeiten anschaulich und bildlich gedacht, theologisch und anthropomorph ausgearbeitet werden: Das Feuer und die Eruptionen eines Vulkans lassen sich verstehen, wenn man annimmt, daß ein Mann, eben der mythische Vulkan, in der Unterwelt sein Eisen schmiedet – was aber nicht heißt, daß ein jeder Mythos die hypostasierten Eigentlichkeiten immer personifizieren muß. Wenn man von einem Mythos unabdingbar eine allegorische Personifikation verlangen würde, dann könnte man nur schwer einer philosophischen Position vorwerfen, daß sie ein Mythos sei. Jedenfalls will weder Ryle Descartes noch Husserl Kant vorwerfen, daß ihre Philosophien allegorische Personifikationen enthalten. Das Mythosverständnis im Mythenvorwurf der Philosophie sieht die Personifikation der erklärenden Unterstellung, welche für die antiken Anfänge des Mythos wesentlich ist, als eine kontingente Eigenschaft des mythischen Denkens an. Denn es kann sehr wohl mit Unterstellungen von Analogien und Ursprüngen erzählt und argumentiert werden, ohne deshalb diesen Ursprüngen eine menschliche Gestalt geben zu müssen. Wenn Philosophen andere Philosophien als Mythen bezeichnen, so geschieht dies, weil die angeblich mythischen Philosophien in einer Weise argumentieren, die sich mit der Erklärung durch allegorische Vermenschlichung nicht inhaltlich, aber doch formal vergleichen läßt. Das heißt, eine philosophische Argumentation wird nicht durch Stoffe oder bestimmte Thesen zum Mythos, sondern durch ihre Denkform. Was Ryle Descartes und Husserl Kant vorwirft, ist, daß sie die Wirklichkeiten und Phänomene, die sie thematisieren, nicht genau beschreiben, sondern sich statt dessen ausdenken, wie diese zustande gekommen sein könnten – und genau dies ist eine Erklärungsstrategie, die sich in der Tat auch in jedem Mythos finden läßt. Nicht die Personifikation selbst, sondern eine Denkform, welche sich auch mit Personifikationen verwirklichen läßt, ist für Mythen spezifisch: Die Ereignisse, welche wir nicht verstehen, wären doch verständlich, wenn angenommen wird, daß sie durch diese oder jene nicht erfahrbaren Bedingungen entstanden sind. Kurzum: Einer Philosophie, der vorgeworfen wird, ein Mythos zu sein, wird vorgeworfen, sie konstruiere eine Entstehungsgeschichte aus bloß ausgedachten Annahmen. Denn der Mythos will den wahren Hintergrund des vordergründig Unverständlichen, vielleicht sogar Absurden aufweisen; dafür erzählt der Mythos Geschichten von Mitteln, die die Phänomene so haben entstehen lassen, wie sie sind; Mythen machen sich Hintergedanken. Denn diese Mittel sind selbst keine erfahrbaren Ereignisse, keine erfahrbaren Phänomene, sondern Konstruktionen und Unterstellungen, mit denen sich beobachtbare Phänomene erklären lassen. Im Mythenvorwurf der Philosophen wird der Begriff »Mythos« für eine Erklärungsart verwendet, mit der auch wissenschaftliche Modelle arbeiten.
In der Tat läßt sich die Erklärungsart eines Mythos mit der eines wissenschaftlichen Modells formal vergleichen, ja sogar identifizieren. Diese Behauptung mag auf den ersten Blick verwundern, denn Modelle genießen zu Recht in der wissenschaftlichen Arbeit ein ausgesprochen hohes Ansehen – was bei Mythen gerade nicht der Fall ist. Der Ruf, den Modelle und Mythen innerhalb der empirischen Wissenschaft haben, könnte nicht unterschiedlicher sein. Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß dennoch eine geradezu fundamentale Verwandtschaft besteht. Mythen funktionieren formal wie wissenschaftliche Modelle und umgekehrt: wissenschaftliche Modelle wie Mythen. Denn Modelle und Mythen sind gleichermaßen erklärende Erdenklichkeiten angesichts rätselhafter, empirischer Vorgaben. So unvergleichlich sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Inhalte auch sein mögen: Mythen und Modelle sind Erklärungshilfen, die das Unverständliche auf anschauliche, zumeist bildlich darstellbare Ursprünge zurückführen. Die Erklärung stiftenden Unterstellungen werden in beiden Fällen zwar nicht wahrgenommen, können aber doch angesichts des Problems und der bekannten Tatsachen über das Problem sinnvollerweise als deren Gründe und Ursprünge gedacht werden. Modelle und Mythen haben gar keinen anderen Sinn, als Sinn durch Hintergedanken zu stiften. Sie stellen gleichermaßen vereinfachende Konstruktionen zur Verfügung, welche als Regel für die fraglichen Tatsachen gehandhabt werden. In beiden Fällen geht man davon aus, daß ein Phänomen verstanden ist, wenn seine Entstehung durch eine bekannte Geschichte erklärt wird. In beiden Fällen wird – so würde Martin Heidegger schreiben – etwas Seiendes als Seiendes durch Rückführung auf ein anderes Seiendes in seiner Herkunft bestimmt; in beiden Fällen wird – so würde Charles Sanders Peirce schreiben – durch Abduktion eine sinnvolle und erklärende Unterstellung gesucht. Ob man nun das Verhalten der stofflichen Materie auf ein Atommodell oder einen Weltenmythos zurückführt, das Problematische wird als das Ergebnis von unterstellten Wirkmächten und Mechanismen interpretiert, und der Interpret glaubt zu wissen, wie sich die hypostasierten Mächte verhalten: Die unterstellten Atomteile, deren Existenz keiner je erfahren hat, verhalten sich nach den Gravitationsgesetzen, und der unterstellte Weltenschöpfer verhält sich, wie man es aus der religiösen Überlieferung kennt. So wie durch Homer bekannt ist, daß Hermes ein betrügender und unzuverlässiger Gesell ist, so weiß man durch die Gravitationsgesetze, wie sich konstruierte Elektronen verhalten. Eben genau deshalb, weil Modelle und Mythen Unbekanntes auf Bekanntes zurückführen, wirken sie beide so ausgesprochen erfolgreich heuristisch. Womit nicht negiert werden soll, daß die Kenntnisse über das Bekannte bei einem Modell und einem Mythos aus sehr unterschiedlichen Quellen stammen: sei es aus religiösem Glauben, aus Überlieferung oder aus idealisierenden Auslegungen wissenschaftlicher Experimente. Doch wenn man diese unterschiedliche Herkunft des Wissens über das Eigentliche außer acht läßt, dann gilt wiederum gleichermaßen für Mythen wie Modelle, daß sich in beiden Fällen das jeweils Unterstellte stets so verhält, wie man es kennt. Formal betrachtet besteht zwischen der mythischen Geschichte und dem wissenschaftlichen Modell kein Unterschied in ihrer hintersinnigen Erklärungsstrategie. Was aber nicht heißt, daß es deshalb keinen Unterschied zwischen Mythen und Modellen gibt. Allerdings findet sich dieser Unterschied nicht in der Art der Argumentation, sondern entsteht erst durch eine unterschiedliche Verwendung der vergleichbaren Argumentationen: Mythen entstehen in der Philosophie durch eine spezifische Art der Verwendung von Modellen.
Weder ein Mythos noch ein Modell ist losgelöst von seiner Verwendung – sozusagen an sich – in irgendeiner Weise bedenklich oder gar verwerflich. Wenn überhaupt ein Mythos oder ein Modell kritisch beleuchtet werden kann, dann immer und ausschließlich nur angesichts der jeweiligen konkreten Handhabung dieser Erklärung. Was sollte man auch dagegen haben, daß sich Menschen ihre Welt und ihr Dasein mit der Hilfe von Mythen verständlich machen? Was kann man daran kritisieren, daß Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen gleichermaßen gut funktionierende wie faszinierende Modelle ihrer Forschungsgegenstände liefern? Jedes Modell, das etwas gut kann, ist aus genau diesem Grund ein gutes Modell. Solange ein Modell ausschließlich dazu verwendet wird, wozu es sich gut eignet, wie zum Beispiel zur Berechnung und Vorhersage bestimmter Ereignisse, so ist und bleibt das Modell ein alternativloses Erklärungsmittel der modernen Wissenschaft. Das Modell unterstellt eine wirkende Realität mit der Begründung, daß sich so eine erscheinende Realität, die ganz anders als die des Modells aussieht, verstehen, erklären und vorhersagen läßt. Modelle sind Erklärungsmethoden, und solange man an funktionierenden Methoden interessiert ist, gibt es überhaupt keinen Grund, warum nicht mit mehreren Modellen, deren Behauptungen sich sogar gegenseitig widersprechen können, gleichzeitig gearbeitet werden sollte. Es ist gerade die ausschließlich methodische Nutzung, welche definiert, wann eine erklärende Unterstellung als Modell verstanden wird. Eine konstruierte Unterstellung ist genau dann ein Modell, wenn darauf verzichtet wird, die Unterstellung als eine Antwort auf die ontologische Frage zu nehmen: Was ist das, was mit dem Modell handhabbar wird? Modelle sind weder wahr noch falsch; sie sind nur mehr oder weniger effektiv. Daraus ergibt sich aber umgekehrt auch: Sobald eine modellierende Theorie auf Fragen bezogen wird, in denen es um Wahrheit geht, muß jedes Modell scheitern. Dies ist nun in keiner Weise ein Vorwurf gegen ein Modell, denn ein ontologisch gedeutetes Modell ist schließlich ein zweckentfremdetes Modell. Es wird als die Lösung einer Frage präsentiert, die es als Modell gar nicht beantworten kann und auch nicht sollte, da sonst der Modellcharakter zweifelhaft wird.
So bekannt und unstrittig diese prinzipiellen Überlegungen über den rein pragmatischen Erkenntnisstatus und die Grenzen von Modellen sind, so bemerkenswert ist nun, daß derartige prinzipielle Fragen, bei denen a priori feststeht, daß sie mit einem Modell nicht befriedigend beantwortet werden können, die typischen Fragen sind, von denen man erwartet, daß sie in der Philosophie diskutiert werden. Es ist gerade die Philosophie, welche aufgrund ihres disziplinären Selbstverständnisses Fragen stellen muß, die das Modell ausklammern muß, damit es eine Methode bleibt – und genau dadurch entsteht ein einzigartiges Verhältnis zwischen der Philosophie auf der einen Seite und der Verwendung von Modellen auf der anderen Seite: Jeder noch so verlockende Versuch, die Fragen, welche das Modell überlasten müssen, dennoch mit einem Modell zu beantworten, wird das Modell einzig und allein durch diese überlastende Anforderung in einen philosophischen Mythos verwandeln. Mythen entstehen in der Philosophie durch Zweckentfremdung von Modellen – oder anders gesagt: durch Verwechslung von Wahrheit und Methode. Genausowenig, wie sich am Aussehen eines Gegenstands erkennen läßt, ob es sich bei diesem Gegenstand um ein Geschenk handelt, genausowenig, wie man am Aussehen ein Kunstwerk erkennen kann, lassen sich Modelle oder Mythen an ihren Inhalten erkennen. Aus jedem Modell kann durch einen äußerlich herangetragenen Wahrheitsanspruch ein Mythos werden. Wenn jemand behauptet, daß die modellierte Wirklichkeit auch unabhängig vom Modell so ist, wie sie das Modell beschreibt, so macht er aus dem Modell einen Mythos. Wohlgemerkt: Es wäre in einem schlechten Sinne postmoderner Skepsis gedacht, wenn man behaupten würde, daß wissenschaftliche Modelle per se Mythen seien – das ist nicht der Fall. Doch jedes wissenschaftliche Modell ist ein potentieller Mythos. Denn die Behauptungen eines Modells werden genau dann zu einem Mythos, wenn sie mit dem überzogenen Anspruch verbunden werden, auch philosophisch relevant zu sein – und genau diese Verklärung des Gewöhnlichen, diese Transfiguration des gewöhnlichen Modells in einen literarischen Mythos ist keineswegs ein seltener Ausnahmefall, sondern vollzieht sich immer dann, wenn wissenschaftliche Modelle als philosophische Wahrheit verstanden werden. Anders gesagt: Philosophie ist der eigenwillige Versuch, die Wirklichkeit mal ausnahmsweise ohne Modell zu denken; Philosophie beginnt mit einer Epoché von Modellannahmen.
Der heute in Vergessenheit geratene Wiener Privatdozent Vincenz Knauer schrieb 1875 in Band XI der Philosophischen Monatshefte einen Aufsatz mit dem Titel Zum Atome-Mythus. In diesem stellt er präzise dar, wieso die Annahme von Atomen philosophisch gesehen mythisch ist. Einen Band später antwortet ihm in derselben Zeitschrift der allerdings kaum bekanntere Ministerialrat Ludwig Weis unter dem sprechenden Titel Die Atome kein Mythus! So vergessen diese beiden Aufsätze heute auch sind, sie können rückwirkend als Muster für viele müßige Diskussionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Diskussion zwischen Knauer und Weis ist gleichermaßen typisch wie auch langweilig, weil in ihr zwischen Mythos und Modell inhaltlich und nicht funktional differenziert wird. Für beide Philosophen steht außer Zweifel, daß sich die Frage, ob eine Theorie mythisch oder logisch ist, auf die Inhalte der Theorie bezieht. Sie streiten sich zum Beispiel darüber, ob die Unsichtbarkeit von Atomen ihre Existenzbehauptung zu einer mythischen Annahme werden läßt. Doch schon die Tatsache, daß man sich über solche inhaltlichen Fragen streitet, zeigt, daß die Streitenden gleichermaßen der Überzeugung sind, man müsse sich nur genau anschauen, was über ein Atom gesagt wird, um erfahren zu können, ob die Annahme von Atomen ein Mythos oder ein wissenschaftliches Modell ist – genau aufgrund dieser Annahme reden Knauer und Weis aneinander vorbei. Beide haben mit ihrer jeweiligen Meinung gleichermaßen recht wie unrecht: In der Funktion eines ontologischen Substanzbegriffs ist die Annahme von Atomen ein Mythos, in der physikalischen Praxis ist sie ein erfolgreiches Modell. Das Beispiel der Diskussion um das Atommodell läßt sich verallgemeinern: Immer wenn ein unerfahrbares X – eine Tätigkeit oder Entität – als hintergründige Erklärung für erfahrbare Phänomene unterstellt wird, liegt ein Modell vor, das mythisch wird, sobald es nicht als Methode, sondern als Wahrheit verstanden wird. Auf die Fragen Was ist Erkenntnis?, Was ist Wahrheit?, Was ist Wahrnehmung?, Was ist Wirklichkeit? geben heute in zahlreichen Formen Modelle faszinierende und überzeugende Antworten – nur kann sich die Philosophie diese Nutzung des Modells leider nicht erlauben, denn in der Philosophie – und vielleicht nur hier – läßt sich die Differenz zwischen Bild und Abgebildetem, zwischen Modell und Modelliertem, zwischen Methode und Wahrheit nicht mit Praktikabilitäts- oder Plausibilitätserwägungen übergehen. Diese prinzipielle Unmöglichkeit gibt der Philosophie verglichen mit anderen Wissenschaften ein einzigartiges Verhältnis zu Mythen und Modellen. Es handelt sich sogar um ein derart spezifisches Verhältnis, daß es sich durchaus dazu eignet, die philosophische Tätigkeit zu definieren: Philosophie ist der Versuch, wissenschaftlich und doch ohne Verwendung von Modellen zu arbeiten. Daß dieser Versuch vielleicht immer zum Scheitern verurteilt ist, muß für möglich erachtet werden. Allerdings heißt dies nicht, daß die Philosophie aufgrund ihrer Modellverweigerung eine Art Wissenschaft mit freiwilliger Selbsteinschränkung wäre; das wäre blanker Unsinn. Alles, was hilfreich ist, sollte ein Wissenschaftler – da Wissenschaftler Menschen sind: innerhalb der Grenzen der Moral – ausnutzen. Der Verzicht auf die Modellnutzung ist daher auch in der Philosophie keineswegs eine positive Entscheidung, sondern ergibt sich zwangsläufig durch die besondere philosophische Fragestellung; das besondere Interesse zwingt zur Epoché. Jeder Wissenschaftler verwendet gerne Modelle, und folglich würde dies auch jeder Philosoph gerne tun – wenn er nur könnte. Doch leider muß er bei redlicher Prüfung feststellen, daß er mit jedem Modell scheitert, weil er sich nicht mit erfolgreichen Methoden zufrieden gibt und selbst nach dem fragt, was das Modell modelliert. Diese unvermeidliche Opposition der Philosophie zum Modelldenken rührt aus der Differenz von Wahrheit und Methode her, welche in der Philosophie nicht mit Praktikabilitäts- und Plausibilitätsvorstellungen zur Identität gebracht werden können. Wenn behauptet werden soll – sozusagen in einer Art Selbstanwendung von Pragmatismus auf die eigenen Wahrheitsansprüche philosophischer Überlegungen –, daß diese Identität doch auch für die Philosophie möglich sei, dann muß beachtet werden, daß diese Behauptung selbst – unabhängig davon, ob sie überzeugt – nicht mehr nur eine praktische oder plausible Methode, sondern eine philosophische Metareflexion über das Verhältnis von Wahrheit und Praxis ist, die selbst als Metareflexion alles andere als pragmatisch ist. Auch der Pragmatist verlangt von seiner eigenen philosophischen Theorie etwas anderes als von einer Einzelwissenschaft. William James hat jedenfalls in The Principles of Psychology von 1890 die praktische Modellannahme von Ideen im Bewußtsein für philosophische Theorien keineswegs mit ihrer hohen Praktikabilität verteidigt, sondern sie im Gegenteil – und dies vielleicht sogar als erster – eben wegen ihres zweifelhaften ontologischen Modellstatus als einen philosophischen Mythos gebrandmarkt: »No doubt it is often convenient to formulate the mental facts in an atomistic sort of way, and treat the higher states of consciousness as if they were all built out of unchanging simple ideas. It is convenient often to treat curves as if they were composed of small straight lines, and electricity and nerve-force as if they were fluids. But in the one case as in the other we must never forget that we are talking symbolically, and that there is nothing in nature to answer to our words. A permanently existing ›idea‹ or ›Vorstellung‹ which makes its appearance before the footlights of consciousness at periodical intervals, is as mythological an entity as the Jack of Spades« (New York 1950, Bd. I, S. 236). Wenn man diese Argumentation verallgemeinert, dann bedeutet dies: Der Philosophie kommt in jedem Fall unter den Wissenschaften eine Sonderstellung zu, weil sie, gerade um eine selbständige Wissenschaft zu werden, nicht das machen kann, wodurch andere Wissenschaften erfolgreich werden – nämlich a prioricontradictio in adjecto