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ÜBER DEN AUTOR

Martin Amis, geboren 1949 in Swansea, ist einer der bedeutendsten britischen Gegenwartsautoren. Er ist der Verfasser von vierzehn Romanen, sechs Sachbüchern und zwei Kurzgeschichtensammlungen. Für sein Romandebüt Das Rachel-Tagebuch (1973) erhielt er den Somerset Maugham Award. Zu seinen bekanntesten Werken zählen weiterhin Gierig (1984), London Fields (1989) und Pfeil der Zeit (1991). Martin Amis lebt in New York.

ÜBER DAS BUCH

Golo Thomsen – SS-Offizier mit den besten Verbindungen nach Berlin – arbeitet im »Interessengebiet Auschwitz«, dem größten Vernichtungslager während der Zeit des Nationalsozialismus. Vor dem Hintergrund des unromantischsten Ortes des 20. Jahrhunderts verliert Thomsen sein Herz an Hannah Doll, die Frau des Lagerkommandanten, und unterwirft sich seiner dreisten Obsession, auch wenn er die Folgen seines Strebens nicht absehen kann.

Interessengebiet ist mehr als die Geschichte über eine unmögliche Liebe. Der Roman fragt: Was treibt den Menschen zu unmenschlichen Taten an? Und können wir uns noch in die Augen blicken, nachdem wir gesehen haben, wer wir wirklich sind?

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Um den Kessel dreht euch rund!
Giftgekrös in seinen Schlund!
Kröt, die unterm kalten Stein
Tag’ und Nächte, dreißig und ein,
Giftschleim schlafend ausgegoren,
Sollst zuerst im Kessel schmoren! …

Sumpfger Schlange Schwanz und Kopf
Brat und koch im Zaubertopf:
Molchesaug und Unkenzehe,
Hundezung und Hirn der Krähe;
Zäher Saft des Bilsenkrauts,
Eidechsbein und Flaum vom Kauz …

Wolfeszahn und Kamm des Drachen,
Hexenmumie, Gaum und Rachen
Aus des Haifischs scharfem Schlund;
Schierlingswurz aus finsterm Grund;
Auch des Lästerjuden Lunge,
Türkennase, Tatarzunge;
Eibenreis, vom Stamm gerissen
In des Mondes Finsternissen;
Hand des gleich erwürgten Knaben,
Den die Metz gebar im Graben,
Dich soll nun der Kessel haben.
Tigereingeweid hinein,
Und der Brei wird fertig sein …

Kühlt es nun mit Paviansblut,
Zauber wird dann stark und gut.

Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen,
Dass, wollt ich nun im Waten stillestehn,
Rückkehr so schwierig war als durchzugehn.

Macbeth

KAPITEL I

INTERESSENGEBIET

1. Thomsen:

ERSTER BLICK

Der Blitz war mir nicht fremd. Der Donnerschlag war mir nicht fremd. Beneidenswert erfahren in solchen Dingen, war mir der Wolkenbruch nicht fremd – der Wolkenbruch und dann die Sonne und der Regenbogen.

Sie kam gerade mit ihren zwei Töchtern aus der Altstadt zurück, und sie waren schon wieder tief im Interessengebiet. Vor ihnen lag, wartend, eine Allee – fast eine Kolonnade, deren Zweige und gelappte Blätter sich zu einem Gewölbe schlossen. Ein später Nachmittag im Hochsommer, erfüllt von winzigen glitzernden Mücken … Auf einem Baumstumpf lag offen mein Notizbuch, in dem die Brise neugierig blätterte.

Großgewachsen, breit und füllig, dabei aber leichtfüßig, bewegte sie sich zwischen Inseln flauschiger, hellbrauner löwenartiger Wärme. Sie trug ein weißes knöchellanges Gewand mit gezacktem Saum und einen cremefarbenen Strohhut mit schwarzem Band und schwang in der Hand eine Strohtasche (die Mädchen, ebenfalls in Weiß, trugen die gleichen Strohhüte und Strohtaschen). Sie lachte, den Kopf nach hinten geworfen, mit gestraffter Kehle. Ich folgte ihr parallel zur Allee, in maßgeschneidertem Tweedjackett und Drillichhose, Klemmbrett und Füllfederhalter in der Hand.

Jetzt kreuzten die drei die Auffahrt zur Reitschule. Neckend umkreist von ihren Kindern, passierte sie die dekorative Windmühle, den Maibaum, den dreirädrigen Galgen, den lasch an die eiserne Wasserpumpe gebundenen Karrengaul und schritt weiter.

In das Kat Zet – das Kat Zet I.

Etwas war geschehen. Blitz, Donner, Wolkenbruch, Sonnenschein, Regenbogen – die Meteorologie des ersten Blicks.

Ihr Name war Hannah – Frau Hannah Doll.

Im Offiziersklub, auf einem Rosshaarsofa, inmitten von Pferdeskulpturen und Pferdegemälden, sagte ich bei einer Tasse Ersatzkaffee (Kaffee für Pferde) zu meinem lebenslangen Freund Boris Eltz:

»Für einen Augenblick war ich wieder jung. Es war wie Liebe.«

»Liebe?«

»Ich sagte: wie Liebe. Verzieh nicht so das Gesicht. Wie Liebe. Ein Gefühl der Unausweichlichkeit. Du weißt schon. Wie der Beginn einer langen und wunderbaren Romanze. Romantische Liebe.«

»Déjà-vu und das ganze übliche Zeug? Fahr fort, hilf meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Also. Schmerzhafte Bewunderung. Schmerzhaft. Und Gefühle der Demut und Unwürdigkeit. Wie bei dir und Esther.«

»Das ist was vollkommen anderes«, sagte er und hob einen waagrechten Finger. »Rein väterlich. Das wirst du begreifen, wenn du sie siehst.«

»Wie auch immer. Dann ging es vorbei, und ich … Und ich begann mich zu fragen, wie sie ohne alle ihre Kleider aussehen würde.«

»Da haben wir’s ja. Ich frage mich nie, wie Esther ohne alle ihre Kleider aussehen würde. Wahrscheinlich wäre ich entsetzt. Ich würde mir die Augen zuhalten.«

»Und vor Hannah Doll, würdest du dir vor ihr die Augen zuhalten, Boris?«

»Hm. Wer hätte gedacht, dass der alte Säufer so was Gutes abbekommen würde.«

»Ja. Unglaublich.«

»Der alte Säufer. Überleg nur mal. Gesoffen hat er bestimmt schon immer. Aber alt war er nicht immer.«

Ich sagte: »Die Mädchen, wie alt sind die? Zwölf, dreizehn? Also ist sie in unserem Alter. Oder etwas jünger.«

»Und als der alte Säufer sie geschwängert hat, war sie – achtzehn?«

»Als er in unserem Alter war.«

»Na schön. Ihn zu heiraten war wohl verzeihlich«, sagte Boris achselzuckend. »Achtzehn. Aber dass sie ihn nicht verlassen hat, das lässt sich nicht so leicht abtun.«

»Ich weiß. Das ist schwer zu …«

»Hm. Sie ist mir zu groß. Und genau genommen ist sie auch für den alten Säufer zu groß.«

Und wieder fragten wir uns: Wie kommt jemand dazu, Frau und Kinder hierher mitzunehmen? Hierher?

Ich sagte: »Diese Umgebung ist eher was für Männer.«

»Ich weiß nicht. Manche Frauen stören sich nicht daran. Manche Frauen sind genau wie die Männer. Denk an deine Tante Gerda. Die würde sich hier wohlfühlen.«

»Tante Gerda dürfte grundsätzlich damit einverstanden sein«, sagte ich. »Aber wohlfühlen würde sie sich hier nicht.«

»Ob Hannah sich hier wohlfühlen wird, was meinst du?«

»Sie sieht nicht so aus, als ob sie sich hier wohlfühlen wird.«

»Allerdings. Aber vergiss nicht, sie ist glücklich mit Paul Doll verheiratet.«

»Hm, dann lebt sie sich bestimmt gut ein«, sagte ich. »Ich hoffe es zumindest. Mein physisches Erscheinungsbild wirkt besser auf Frauen, die sich hier wohlfühlen.«

»… Wir fühlen uns hier nicht wohl.«

»Stimmt. Aber Gott sei Dank haben wir einander. Das ist schon eine Menge.«

»Stimmt, Junge. Du hast mich, und ich hab dich.«

Boris, mein beständiger Vertrauter – rigoros, unerschrocken, attraktiv wie ein kleiner Cäsar. Kindergarten, Kindheit, Pubertät und dann, später, unsere Radtouren durch Frankreich und England und Schottland und Irland, unsere dreimonatige Wanderung von München nach Reggio und weiter nach Sizilien. Erst im Erwachsenenalter geriet unsere Freundschaft in Schwierigkeiten, als die Politik – als die Geschichte – in unser Leben einbrach. Er sagte:

»Weihnachten bist du hier raus. Ich bleibe bis Juni. Warum bin ich nicht im Osten?« Er trank mürrisch und machte sich eine Zigarette an. »Im Übrigen, Bruder, hast du keine Chance. Wo, zum Beispiel? Sie ist viel zu auffällig. Und sieh dich vor. Der alte Säufer mag ein alter Säufer sein, aber er ist auch der Kommandant.«

»Hm. Trotzdem. Es sind schon seltsamere Dinge geschehen.«

»Viel seltsamere Dinge sind geschehen.«

Ja. Denn es war eine Zeit, in der jeder den Betrug spürte, die sarkastische Schamlosigkeit, die atemberaubende Heuchelei aller Verbote. Ich sagte:

»Ich hab eine Art Plan.«

Boris seufzte auf und stierte ins Leere.

»Zunächst muss ich von Onkel Martin hören. Dann mache ich den ersten Zug. Bauer von d2 auf d4.«

Nach einer Weile meinte Boris: »Ich glaub, der Bauer machts nicht lange.«

»Möglich. Aber es kann nicht schaden, sich das mal genau anzusehen.«

Boris Eltz empfahl sich: Er wurde an der Rampe erwartet. Ein Monat Schichtdienst an der Rampe war seine Strafe innerhalb einer Strafe für eine weitere Schlägerei. Die Rampe – das Ausladen, die Selektion, dann die Fahrt durch den Birkenwald zur Kleinen Braunen Laube im Kat Zet II.

»Das Unheimlichste ist die Selektion«, sagte Boris. »Das solltest du dir mal ansehen. Um deinen Horizont zu erweitern.«

Mittag aß ich allein im Offiziersklub (ein halbes Huhn, Pfirsiche und Cremespeise. Kein Wein), danach war ich in meinem Büro in den Buna-Werken. Dort gab es eine zweistündige Besprechung mit Burckl und Seedig, wo es hauptsächlich um die ins Stocken geratene Karbid-Produktion ging; es stellte sich aber auch heraus, dass ich meinen Kampf um die Verlagerung unserer Arbeitskräfte verlieren würde.

Als es dunkel wurde, begab ich mich zu Ilse Greses Stube im Kat Zet I.

Ilse Grese fühlte sich hier wohl.

Ich klopfte an die sacht schwingende Blechtür und trat ein.

Wie der Teenager, der sie noch war (zwanzig im nächsten Monat), hockte Ilse im Schneidersitz auf der Pritsche und las, ohne aufzublicken, in einer Illustrierten. Ihre Uniform hing an dem Nagel im Balken, unter dem ich mich durchduckte, und sie trug einen faserigen dunkelblauen Hausmantel und ausgebeulte graue Socken. Ohne sich umzudrehen, sagte sie:

»Aha. Ich rieche Isländer. Ich rieche Arschloch.«

Ilses üblicher Habitus mir – und vielleicht allen ihren Männerfreunden – gegenüber, war von spöttischer Trägheit geprägt. Mein üblicher Habitus ihr – und jeder Frau, zumindest anfangs – gegenüber, war exzessiv belehrend (was ich mir als Gegengewicht zu meiner physischen Erscheinung angewöhnt hatte, die manche zunächst abstoßend fanden). Auf dem Boden lagen Ilses Pistolenhalfter und auch ihre Peitsche aus Rindsleder, eingerollt wie eine Schlange im Schlaf.

Ich zog die Schuhe aus und setzte mich. Während ich es mir an ihrem Rücken bequem machte, ließ ich ein Amulett importierten Parfüms an einem Goldkettchen über ihre Schulter baumeln.

»Das isländische Arschloch. Was will er?«

»Hm, Ilse, der Zustand deines Zimmers. Wenn du deiner Arbeit nachgehst, machst du immer einen tadellosen Eindruck – das will ich zugeben. Aber im privaten Bereich … Wo du es in puncto Ordnung und Sauberkeit bei anderen so genau nimmst.«

»Was will das Arschloch?«

Ich sagte: »Was gewollt ist?« Und fuhr dann fort, mit nachdenklichen Pausen zwischen den Sätzen: »Gewollt ist, dass du, Ilse, gegen zehn auf mein Zimmer kommst. Dort werde ich dich mit Weinbrand und Schokolade und kostbaren Geschenken traktieren. Ich werde zuhören, wenn du mir von den neuesten Wechselfällen deines Lebens berichtest. Mein großmütiges Mitgefühl wird dein Fingerspitzengefühl bald wiederherstellen. Denn an Fingerspitzengefühl, Ilse, hat es dir in manchen Situationen bekanntlich gemangelt. Jedenfalls höre ich das von Boris.«

»… Boris liebt mich nicht mehr.«

»Erst neulich hat er dich in höchsten Tönen gepriesen. Wenn du möchtest, rede ich mit ihm. Du kommst um zehn, hoffe ich. Nach unserem Gespräch und deinen Geschenken gibt es ein empfindsames Intermezzo. Das ist es, was gewollt ist.«

Ilse las weiter – einen Artikel, der nachdrücklich, ja zornig die Meinung vertrat, dass Frauen sich unter keinen Umständen die Beine oder die Achseln rasieren oder auf andere Weise enthaaren sollten.

Ich erhob mich. Sie blickte auf. Der breite und ungewöhnlich faltige und wellige Mund, die Augenhöhlen einer Frau, die dreimal so alt war wie sie, die Fülle und Kraft des schmutzig blonden Haars.

»Du bist ein Arschloch.«

»Um zehn? Kommst du?«

»Kann sein«, sagte sie und blätterte um. »Kann aber auch nicht sein.«

Die Wohnungen in der Altstadt waren so primitiv, dass die Buna-Leute gezwungen waren, in dem Dorf östlich davon eine Art Schlafsiedlung zu errichten (dort gab es eine Schule mit Unter- und Oberstufe, eine Klinik, mehrere Geschäfte, ein Restaurant, eine Schankstube und viele störrische Hausfrauen). Gleichwohl fand ich bald eine recht brauchbare, geschmacklos möblierte Wohnung in einer vom Marktplatz steil ansteigenden Gasse. Dzilka-Straße Nr. 9.

Ein schwerwiegender Nachteil: Ich hatte Mäuse. Nach der Zwangsvertreibung seiner Eigentümer wurde das Haus fast ein Jahr lang als Unterkunft für Bauarbeiter genutzt, was die Plage hatte chronisch werden lassen. Zwar gelang es den kleinen Wesen, außer Sicht zu bleiben, aber hören konnte ich sie, wie sie unermüdlich in den Ritzen und Rinnen umherflitzten, fiepten, fraßen, sich fortpflanzten …

Bei ihrem zweiten Besuch brachte meine Putzfrau, die junge Agnes, einen großen schwarzen Kater mit weißen Flecken mit, Max oder Maksik. Max war ein legendärer Mäusefänger. Er müsse nur alle vierzehn Tage einmal kommen, sagte Agnes, mehr sei nicht nötig; ein Schälchen Milch ab und zu wisse Max zu schätzen, feste Nahrung besorge er sich selbst.

Mein Respekt vor diesem geschickten und unaufdringlichen Raubtier wuchs rasch. Maksiks Auftreten hatte etwas Feierliches mit seinem dunklen Anzug, dem perfekten Dreieck seines weißen Lätzchens und den weißen Gamaschen. Wenn er sich duckte und die Vorderläufe streckte, spreizten sich seine Pfoten hübsch wie Gänseblümchen. Und jedes Mal, wenn Agnes ihn aufhob und wieder mit sich nahm, blieb eine tiefe Stille zurück.

In einer solchen Stille ließ ich mir ein heißes Bad ein, oder sammelte es mir vielmehr ein (Kessel, Töpfe, Eimer), und machte mich besonders sauber und ansehnlich für Ilse Grese. Ich stellte ihr Kognak und Zuckerwerk hin, dazu vier Paar originalverpackte robuste Strumpfhosen (sie verschmähte Strümpfe) und sah wartend zu dem alten Herzogsschloss hinaus, das sich schwarz wie Max vor dem Abendhimmel abzeichnete.

Ilse war pünktlich. Sie sagte nichts als – und sie sagte es leicht spöttisch und ausgesprochen gelangweilt, kaum dass die Tür hinter ihr zugefallen war –, sie sagte nichts als: »Schnell.«

Soweit ich das feststellen konnte, brachte Hannah Doll, die Frau des Kommandanten, ihre Töchter zur Schule und holte sie wieder ab, ansonsten aber verließ sie das Haus so gut wie nie.

Sie besuchte weder die beiden versuchsweise veranstalteten thés dansants noch die von Fritz Möbius in der Politischen Abteilung gegebene Cocktailparty noch die Galavorführung der Liebeskomödie Zwei glückliche Menschen.

Paul Doll konnte sich solchen Verpflichtungen nicht entziehen. Er zeigte auf allen diesen festlichen Ereignissen dasselbe Gesicht: das eines Mannes, der heldenhaft seinen verletzten Stolz bekämpfte … Er hatte eine Art, die Lippen zu spitzen, als wollte er gleich lospfeifen – bis ihn (so schien es jedenfalls) bourgeoise Skrupel befielen und der Mund wieder zu einem Schnabel erschlaffte.

Möbius sagte: »Ohne Hannah, Paul?«

Ich rückte näher.

»Unpässlich«, sagte Doll. »Du weißt schon. Die berühmten Tage?«

»Du meine Güte.«

Andererseits bekam ich sie doch recht gut zu sehen, minutenlang, durch die schüttere Hecke hinten am Sportplatz (als ich dort vorbeispazierte, blieb ich stehen und tat so, als schlüge ich etwas in meinem Notizbuch nach). Hannah stand auf dem Rasen und dirigierte ein Picknick, das dort ihre zwei Töchter mit einer Freundin veranstalteten – sehr wahrscheinlich war es die Tochter der Seedigs. Der Korb war noch nicht ausgepackt. Sie setzte sich nicht zu ihnen auf die rote Decke, ging aber gelegentlich in die Hocke, nur um sich dann mit einem energischen Schwenk ihrer Hüften wieder aufzurichten.

Der Kleidung nach weniger, der (gesichtslosen) Silhouette nach umso mehr entsprach Hannah Doll dem völkischen Ideal junger Weiblichkeit – stumpf, bäuerlich, geschaffen für Fortpflanzung und harte Arbeit. Dank meiner physischen Erscheinung hatte ich umfassende geschlechtliche Erfahrung mit diesem Typus. Ich hatte gar manches dreilagige Dirndl hochgerissen und entfaltet, gar manchen molligen Wollschlüpfer abgestreift, gar manchen genagelten Holzschuh über meine Schulter geworfen.

Ich? Ich war einen Meter neunzig groß. Mein Haar frostig weiß. Die abschüssige flämische Nase, der verächtlich gefaltete Mund, das stattlich aggressive Kinn, die rechtwinklige Kieferpartie, wie angenietet unter den zierlichen Schnörkeln meiner Ohren. Meine Schultern waren flach und breit, meine Brust ein Brett, schlank meine Taille; der expansible Penis, klassisch kompakt in Ruhephasen (mit ausgeprägter Vorhaut), die Schenkel massiv wie Schiffsmasten, die Kniescheiben kantig, die Waden michelangelesk, die Füße kaum weniger weich und wohlgeformt als die langen Tentakelklingen der Hände. Komplettiert wurde diese Palette willkommener und hilfreicher Reize vom Kobaltblau meiner arktischen Augen.

Nur ein Wort von Onkel Martin, ein konkreter Befehl von Onkel Martin in der Hauptstadt – und ich würde in Aktion treten.

»Guten Abend.«

»Ja?«

Auf den Stufen der orangefarbenen Villa trat mir eine verwirrende kleine Gestalt in grob gestrickten Wollsachen (Wams und Rock) entgegen, an ihren Schuhen glänzten Silberschnallen.

»Ist der Hausherr zu sprechen?«, fragte ich. Ich wusste genau, dass Doll woanders war. Er war mit den Ärzten und Boris und vielen anderen an der Rampe, um Sonderzug 105 in Empfang zu nehmen (und Sonderzug 105 sollte ein schwieriger Fall werden). »Sehen Sie, ich habe eine höchst wichtige …«

»Humilia?«, rief eine Stimme. »Was gibt es, Humilia?«

Eine Luftverdrängung weiter hinten, und da war sie, Hannah Doll, wieder in Weiß, schimmernd im Schatten. Humilia hüstelte höflich und verschwand im Haus.

»Gnädige Frau, entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich. »Mein Name ist Golo Thomsen. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«

Finger um Finger pflückte ich flink den sämischledernen Handschuh und hielt ihr die Hand hin. Sie nahm sie und sagte:

»Golo?«

»Jawohl. Nun, das war mein erster Versuch, Angelus zu sagen. Ich habs vermasselt, wie Sie sehen. Aber es blieb hängen. Unsere Fehler verfolgen uns ein Leben lang, nicht wahr?«

»… Womit kann ich Ihnen helfen, Herr Thomsen?«

»Frau Doll, ich habe sehr wichtige Nachrichten für den Kommandanten.«

»Ach?«

»Ich möchte nicht melodramatisch sein, aber man ist in der Reichskanzlei zu einer Entscheidung in einer Angelegenheit gelangt, die, wie ich weiß, für ihn von größtem Interesse ist.«

Sie ließ nicht ab, mich unverhohlen zu taxieren.

»Ich habe Sie schon einmal gesehen«, sagte sie. »Ich erinnere mich, weil Sie keine Uniform trugen. Tragen Sie nie Uniform? Was genau sind Sie?«

»Verbindungsoffizier«, sagte ich mit einer leichten Verbeugung.

»Wenn es wichtig ist, sollten Sie wohl besser warten. Ich habe keine Ahnung, wo er ist.« Sie zuckte die Schultern. »Wie wärs mit einem Glas Limonade?«

»Nein – ich möchte Ihnen keine Mühe machen.«

»Das macht mir keine Mühe. Humilia?«

Wir standen jetzt im rosigen Dämmer des Salons, Frau Doll mit dem Rücken zum Kamin, Herr Thomsen vorm zentralen Fenster mit Aussicht über die Wachtürme am Zaun und Teile der Altstadt dahinter.

»Bezaubernd. Ganz bezaubernd. Sagen Sie«, fragte ich mit bedauerndem Lächeln, »können Sie ein Geheimnis bewahren?«

Ihr Blick straffte sich. Aus der Nähe betrachtet, schien sie eher vom südlichen Typ, ihre Haut von südländischer Färbung; und unpatriotisch dunkelbraun waren ihre Augen, wie feuchtes, sämig glänzendes Karamell. Sie sagte:

»Nun, ich kann ein Geheimnis bewahren. Wenn ich will.«

»Oh, gut. Die Sache ist die«, sagte ich durchaus unwahrheitsgemäß, »die Sache ist die, ich interessiere mich sehr für Inneneinrichtung, Möbel und Dekor. Sie verstehen, warum ich nicht wollte, dass sich das herumspricht. Nicht sehr männlich.«

»Stimmt. Eher nicht.«

»Also, war das Ihre Idee – die Marmorflächen?«

Ich hoffte, sie abzulenken, sie aber auch in Schwung zu bringen. Jetzt sprach und schritt Hannah gestikulierend von Fenster zu Fenster, und ich hatte die Möglichkeit, mich zu akklimatisieren. Ja, sie war in der Tat enorm gebaut: ein gewaltiges Unternehmen ästhetischer Konfiguration. Und der Kopf, die Spannweite der Lippen, die Macht der Zähne und Kieferknochen, der weiche Schliff ihrer Wangen – der Schädel, quadratisch, aber hübsch, mit Knochen, die sich nach oben und nach außen wölbten. Ich sagte:

»Und die überdachte Veranda?«

»Ich wollte entweder die oder ein …«

Humilia kam durch die offene Tür und trug das Tablett herein, darauf ein irdener Krug und zwei Teller mit Kuchen und Keksen.

»Dank dir, liebe Humilia.«

Als wir wieder allein waren, sagte ich sanft: »Ihr Mädchen, Frau Doll. Ist sie zufällig Zeugin Jehovas?«

Hannah wartete, bis irgendeine für mich nicht bemerkbare häusliche Schwingung ihr erlaubte, nicht ganz flüsternd zu antworten: »Ja, das ist sie. Ich verstehe diese Leute nicht. Sie hat ein frommes Gesicht, nicht wahr?«

»Ja, sehr.« Humilias Züge waren markant vage, vage, was das Geschlecht, und vage, was das Alter betraf (eine unharmonische Mischung aus männlich und weiblich, aus jung und alt); und doch strahlte sie unter dem kompakten Haarschopf eine furchtbare Selbstgenügsamkeit aus. »Das kommt von der randlosen Brille.«

»Was schätzen Sie, wie alt sie ist?«

»Na ja – fünfunddreißig?«

»Sie ist fünfzig. Ich glaube, sie sieht so aus, weil sie denkt, dass sie niemals sterben wird.«

»Hm. Da wäre ja sehr erfreulich.«

»Und es ist so einfach.« Sie schenkte ein, und wir nahmen Platz, Hannah auf dem gepolsterten Sofa, ich auf einem schlichten Holzstuhl. »Sie müsste nur ein Papier unterschreiben, und das wärs. Dann wäre sie frei.«

»Hm. Einfach abschwören, wie die das nennen.«

»Ja, aber … Humilia kümmert sich reizend um meine zwei Mädchen. Sie hat selbst ein Kind. Einen zwölfjährigen Jungen. Der lebt in staatlicher Obhut. Und sie müsste nur ein Formular unterschreiben, dann könnte sie ihn haben. Tut sie aber nicht. Will sie nicht.«

»Schon seltsam, oder? Man sagt, diese Leute lieben es, zu leiden.« Mir fiel Boris’ Beschreibung eines Zeugen ein, den sie ausgepeitscht hatten; aber ich wollte Hannah nicht damit erheitern, wie der Zeuge um mehr gefleht hatte. »Das bestätigt ihren Glauben.«

»Man denke nur!«

»Die lieben das.«

Sieben Uhr rückte heran, das rötliche Licht im Zimmer verblasste jäh und senkte sich … Ich hatte zu dieser Tageszeit schon manche bemerkenswerte Erfolge gehabt, manche erstaunliche Eroberungen, wenn die Dämmerung, noch ungehindert von Lampen oder Laternen, einen nebulösen Freibrief auszustellen schien – das Gerücht traumwunderlicher Möglichkeiten. Wäre es wirklich so unwillkommen, wenn ich mich zu ihr auf das Sofa setzen und nach ein paar geflüsterten Komplimenten ihre Hand nehmen und (je nachdem, wie das ausging) meine Lippen sanft auf ihren Hals drücken würde? Ja?

»Mein Mann«, sagte sie – und verstummte, als wollte sie aufhorchen.

Die Worte hingen in der Luft, und kurz erschütterte mich diese Mahnung: die immer bestürzendere Tatsache, dass ihr Mann der Kommandant war. Doch ich bemühte mich weiter um eine ernste und respektvolle Miene. Sie sagte:

»Mein Mann meint, wir könnten viel von ihnen lernen.«

»Von den Zeugen? Was denn?«

»Ach, na ja«, sagte sie gleichgültig, fast schläfrig. »Glaubensstärke. Unerschütterlichen Glauben.«

»Die Tugend des Eifers.«

»Sollten wir die nicht alle besitzen?«

Ich lehnte mich zurück. »Verständlich, dass Ihr Mann den fanatischen Glaubenseifer dieser Leute bewundert. Aber was ist mit ihrem Pazifismus?«

»Natürlich nicht.« Mit ihrer betäubten Stimme fuhr sie fort: »Humilia weigert sich, die Uniform meines Mannes zu reinigen. Oder seine Stiefel zu putzen. Das gefällt ihm gar nicht.«

»Das glaub ich gern.«

An dieser Stelle begann ich zu spüren, wie sehr die Erwähnung des Kommandanten die Stimmung dieses vielversprechenden und durchaus ein wenig entzückenden Rendezvous gedämpft hatte. Also schlug ich leise in die Hände und sagte:

»Ihr Garten, Frau Doll? Könnten wir? Ich fürchte, ich habe Ihnen noch ein weiteres recht peinliches Geständnis zu machen. Ich liebe Blumen.«

Die Fläche war zweigeteilt: rechts ein Weidenbaum, der die niedrigen Nebengebäude und das kleine Netzwerk von Pfaden und Wegen, wo die Töchter zweifellos gern Verstecken spielten, teilweise verdeckte; links die fruchtbaren Beete, der gestreifte Rasen, der weiße Zaun. Und jenseits davon das Monopol-Gebäude auf seinem sandigen Hügel, und jenseits davon die ersten rosa Schlieren des Sonnenuntergangs.

»Ein Paradies. Was für herrliche Tulpen.«

»Das sind Mohnblumen«, sagte sie.

»Mohnblumen, natürlich. Wie heißen die da drüben?«

Nach einigen Minuten solchen Geplänkels lachte Frau Doll, die bis dahin noch nicht einmal gelächelt hatte, ebenso überrascht wie wohlklingend auf und sagte:

»Sie wissen nichts von Blumen, hab ich recht? Sie wissen nicht einmal … Sie wissen nichts von Blumen.«

»Etwas weiß ich über Blumen«, sagte ich, vielleicht bedenklich ermutigt. »Und das ist etwas, was nicht viele Männer wissen. Warum Frauen Blumen so sehr lieben?«

»Sagen Sie schon.«

»Gern. Blumen geben Frauen das Gefühl, schön zu sein. Wenn ich einer Frau einen üppigen Strauß überreiche, weiß ich, dass sie sich schön fühlen wird.«

»… Von wem haben Sie das?«

»Von meiner Mutter. Gott habe sie selig.«

»Nun, sie hatte recht. Man fühlt sich wie ein Filmstar. Tagelang.«

Benommen sagte ich: »Und das macht ihnen beiden Ehre. Es macht den Blumen und den Frauen Ehre.«

Und Hannah fragte: »Können Sie ein Geheimnis bewahren?«

»Ganz gewiss.«

»Kommen Sie.«

Neben der uns bekannten Welt gab es, wie ich glaubte, eine verborgene Welt; sie existierte in potentia – um dort hinzugelangen, musste man durch den Schleier des Gewöhnlichen dringen und handeln. Eilenden Schrittes führte Hannah Doll mich den Aschepfad hinunter zum Gewächshaus, und das Licht verharrte, und wäre es wirklich so sonderbar, sie dort hineinzudrängen, an sie heranzutreten, meine Hände sinken zu lassen und die weißen Falten ihres Rocks zu packen? Ja? Hier? Wo alles erlaubt war?

Sie öffnete die halb verglaste Tür, trat aber nicht ganz ein, sondern bückte sich und stöberte in einem Blumentopf herum, der auf einem niedrigen Brett stand … Offen gesagt, hatte ich bei meinen amourösen Geschäften seit sieben oder acht Jahren keinen einzigen anständigen Gedanken mehr im Kopf (früher war ich so etwas wie ein Romantiker. Aber das habe ich abgelegt). Und als ich Hannah ihren Leib nach vorne beugen sah, ihr strammes Hinterteil und das mächtige, balancierend nach hinten gestreckte Bein, sagte ich mir: Das wäre ein großer Fick. Ein großer Fick: Genau das sagte ich mir.

Sie richtete sich auf, wandte sich zu mir um und öffnete die Hand. Und zeigte mir was? Ein zerknautschtes Päckchen Davidoffs: ein Fünferpäckchen. Drei waren noch drin.

»Möchten Sie eine?«

»Ich rauche keine Zigaretten«, sagte ich und nahm ein teures Feuerzeug und eine Dose Schweizer Stumpen aus meiner Tasche. Ich trat näher, ließ die Flamme aufspringen und hielt, da ein leichter Wind ging, schützend die Hand davor …

Das kleine Ritual war von hoher sozio-sexueller Bedeutung – denn wir, sie und ich, lebten in einem Land, wo dergleichen auf einen Akt unerlaubter Vertraulichkeit hinauslief. In Kneipen und Restaurants, in Hotels, Bahnhöfen et cetera, überall wiesen Aushänge darauf hin, dass Frauen sich des Gebrauchs von Tabak enthalten sollten; und auf der Straße oblag es Männern eines gewissen Typs – viele von ihnen Raucher –, eigensinnige Frauen zurechtzuweisen und ihnen die Zigarette aus den Fingern oder gar aus den Lippen zu schlagen. Sie sagte:

»Ich weiß, ich sollte das nicht tun.«

»Geben Sie nichts darauf, Frau Doll. Wie sagt doch unser Dichter? Entbehren sollst du! Sollst entbehren! Das ist der ewige Gesang!«

»Ich finde, das hilft ein wenig«, sagte sie, »gegen den Geruch.«

Dieses letzte Wort lag noch auf ihrer Zunge, da vernahmen wir etwas, vom Wind herbeigetragen … Einen hilflosen, bibbernden Akkord, einen fugalen Mehrklang menschlichen Schreckens und Entsetzens. Wir standen ganz still, die Augen schwollen uns im Kopf. Mein Körper spannte sich in Erwartung deutlicherer Rufe. Dann aber trat schrilles Schweigen ein, wie das Summen einer Mücke im Ohr, gefolgt von dem zögernd ausweichenden Anschwellen von Violinen eine halbe Minute später.

Zu sprechen schien in diesem Augenblick nicht möglich. Geräuschlos inhalierend, rauchten wir weiter.

Hannah legte die zwei Stummel in eine leere Samentüte, die sie in der offenen Abfalltonne begrub.

»Was ist deine Lieblingsnachspeise?«

»Hm. Grießpudding«, sagte ich.

»Grieß? Grießpudding ist schauderhaft. Was ist mit Obstsalat?«

»Obstsalat hat auch was für sich.«

»Was wärst du lieber: blind oder taub?«

»Blind, Paulette«, sagte ich.

»Blind? Blind ist viel schlimmer. Taub!«

»Blind, Sybil«, sagte ich. »Blinde treffen immer auf Mitgefühl. Taube kann niemand leiden.«

Ich glaubte bei den Mädchen ganz gut angekommen zu sein, und zwar aus zwei Gründen – zum einen hatte ich ihnen ein paar Beutelchen französischer Süßigkeiten mitgebracht, zum anderen, und entscheidender, hatte ich mir nichts von meiner Überraschung anmerken lassen, als sie mir sagten, sie seien Zwillinge. Sybil und Paulette waren vollkommen verschieden – lediglich Schwestern, die zur selben Zeit geboren worden waren; sie sahen nicht einmal entfernt verwandt aus. Sybil kam nach ihrer Mutter, während Paulette, um einiges kleiner, wehrlos das trostlose Versprechen ihres Vornamens erfüllte.

»Mami«, sagte Paulette, »was war das für ein schreckliches Geräusch?«

»Oh, nur ein paar Leute, die herumalbern. Spielen Walpurgisnacht und versuchen, sich gegenseitig Angst zu machen.«

»Mami«, sagte Sybil, »woher weiß Vati immer, ob ich mir die Zähne geputzt habe?«

»Was?«

»Er hat immer recht. Wenn ich ihn frage, sagt er: Vati weiß alles. Aber woher weiß er das?«

»Er zieht dich nur auf. Humilia, heute ist Freitag, wir könnten ihnen trotzdem ein Bad einlassen.«

»Oh, Mami. Können wir noch zehn Minuten mit Bohdan und Torquil und Dov spielen?«

»Fünf Minuten. Sagt Herrn Thomsen gute Nacht.«

Bohdan war der polnische Gärtner (alt, groß und natürlich sehr schlank), Torquil war die kleine Schildkröte, und bei Dov handelte es sich anscheinend um Bohdans jungen Gehilfen. Unter den Strähnen des Weidenbaums: die kauernden Kinder, Bohdan, noch eine Gehilfin (Bronislawa, ein Mädchen von hier), Dov und die winzige Humilia, die Zeugin …

All das vor unseren Augen, sagte Hannah: »Er war Professor für Zoologie. Bohdan. In Krakau. Man stelle sich das einmal vor. Da war er früher. Jetzt ist er hier.«

»Hm. Frau Doll, wie oft kommen Sie in die Altstadt?«

»Oh. An den meisten Wochentagen. Manchmal geht Humilia, aber normalerweise bringe ich die zwei zur Schule und hole sie auch wieder ab.«

»Meine Wohnung dort. Ich versuche, sie schöner zu machen, aber mir sind die Ideen ausgegangen. Ich denke, mir fehlen noch die passenden Vorhänge. Könnten Sie vielleicht einmal vorbeikommen und mir ein paar Anregungen geben?«

Profil zu Profil. Jetzt Gesicht zu Gesicht.

Sie verschränkte die Arme. »Und wie gedenken Sie das anzustellen?«

»Daran ist doch nichts kompliziert. Ihr Mann wird nie davon erfahren.« Ich ging so weit, weil die Stunde mit Hannah mich hinreichend davon überzeugt hatte, dass jemand wie sie für jemanden wie ihn keinerlei Zuneigung empfinden konnte. »Überlegen Sie es sich?«

Sie starrte mich lange genug an, um mein Lächeln gefrieren zu sehen.

»Nein. Herr Thomsen, das ist ein sehr gewagter Vorschlag … Und Sie begreifen nichts. Auch wenn Sie sich das einbilden.« Sie trat zurück. »Gehen Sie ins Haus, falls Sie immer noch auf ihn warten wollen. Gehen Sie. Sie können solange den Beobachter von Mittwoch lesen.«

»Ich danke Ihnen. Danke für Ihre Gastfreundschaft, Hannah.«

»Nichts zu danken, Herr Thomsen.«

»Wir sehen uns Sonntag in einer Woche, Frau Doll? Der Kommandant war so freundlich, mich einzuladen.«

Wieder verschränkte sie die Arme. »Dann sehen wir uns wohl. Bis dann.«

»Bis dann.«

Mit ungeduldig zitternden Fingern stülpte Paul Doll den Dekanter über seinen Kognakschwenker. Er trank wie ein Verdurstender, schenkte nach und fragte über die Schulter:

»Wollen Sie auch einen?«

»Wenn es keine Umstände macht, Major«, sagte ich. »Ah. Vielen Dank.«

»Es ist also entschieden. Ja oder nein? Lassen Sie mich raten. Ja.«

»Was macht Sie so sicher?«

Er warf sich in den Ledersessel und riss seine Uniformjacke auf.

»Weil es dann noch mehr Schwierigkeiten geben wird. Das scheint das Leitprinzip zu sein. Lasst uns Paul Doll noch mehr Schwierigkeiten bereiten.«

»Sie haben wie immer recht, Major. Ich habe mich dagegen ausgesprochen, aber man wird es bauen. Kat Zet III«, fing ich an.

Auf dem Kaminsims in Dolls Büro stand eine gerahmte, etwa fünfzig mal fünfzig Zentimeter große Fotografie, die etwas Professionelles hatte (nicht vom Kommandanten selbst fotografiert: vor seiner Zeit). Der Hintergrund war scharf zweigeteilt, verschwommen hell auf der einen, filzig dunkel auf der anderen Seite. Eine sehr junge Hannah stand dort im Licht, wie in der Mitte einer Bühne (es hatte etwas von einer Bühne – ein Tanzvergnügen? Maskenball? Amateurtheater?), sie trug ein Abendkleid mit Schärpe und wiegte einen Blumenstrauß in bis zu den Ellbogen behandschuhten Armen. Verlegen über das Ausmaß ihres Entzückens, lächelte sie in die Kamera. Das hauchzarte Gewand war an der Taille eingeschnürt, und alles lag da vor einem …

Das war vor dreizehn, vierzehn Jahren – und jetzt war sie viel besser.

Man nennt es eine der furchterregendsten Erscheinungen in der Natur: einen Elefantenbullen im Zustand der Musth. Aus den Drüsen an seinen Schläfen triefen ihm Ströme einer abscheulich stinkenden Flüssigkeit ins Maul. In solchen Momenten ist das Riesentier imstande, Giraffen und Flusspferde aufzuspießen oder ausgewachsene Nashörner zu zertrampeln. Elefantische Brunst.

Musth: das Wort stammt via Urdu vom persischen mast oder maest – »berauscht«. Aber ich sah es eher als Verb. Du musth, ich muss, ich muss einfach.

Am nächsten Morgen (es war ein Samstag) verließ ich mit schwerem Handkoffer die Buna-Werke und ging zur Dzilka-Straße zurück, wo ich den wöchentlichen Baubericht durchzuarbeiten begann. Dazu gehörten natürlich eine Menge Kalkulationen für die neue Einrichtung in Monowitz.

Um zwei kam Besuch; und fünfundvierzig Minuten lang hatte ich eine junge Frau zu Gast, Loremarie Ballach. Dieses Treffen war gleichzeitig ein Abschied. Sie war die Frau von Peter Ballach, einem meiner Kollegen (ein freundlicher und fähiger Metallurg). Loremarie gefiel es hier nicht, so wenig wie ihrem Gatten. Das Kartell hatte endlich seiner Rückversetzung ins Hauptquartier zugestimmt.

»Schreib nicht«, sagte sie, während sie sich anzog. »Erst wenn alles vorbei ist.«

Ich arbeitete weiter. So und so viel Zement, so und so viel Bauholz, so und so viel Stacheldraht. Manchmal spürte ich Erleichterung, manchmal Bedauern darüber, dass Loremarie nicht mehr da war (und folglich ersetzt werden musste). Ehebrecherische Schürzenjäger hatten ein Motto: Verführe die Frau, verleumde ihren Mann. Und wenn ich mit Loremarie im Bett war, empfand ich Peters wegen immer eine sedimentäre Unruhe – seine dicken Lippen, sein stotterndes Lachen, seine falsch geknöpfte Weste.

Bei Hannah Doll wäre es anders. Dass Hannah den Kommandanten geheiratet hatte, war kein guter Grund, in sie verliebt zu sein – aber ein guter Grund, mit ihr ins Bett zu gehen. Ich arbeitete weiter, addierte, subtrahierte, multiplizierte, dividierte und sehnte mich nach dem Knattern von Boris’ Motorrad (mit dem verlockenden Beiwagen).

Gegen halb neun stand ich vom Schreibtisch auf, um mir eine Flasche Sancerre aus dem mit einem Strick verschlossenen Kühlschrank zu holen.

Max – Maksik – saß aufrecht und reglos auf den nackten weißen Brettern. In seiner Obhut, gehalten von einer nachlässigen Pfote, eine kleine staubgraue Maus. Sie zitterte noch, lebte noch, sah zu ihm auf und schien zu lächeln – schien entschuldigend zu lächeln. Während Max woanders hinsah, entwich ihr das Leben. Starb sie unter dem Druck seiner Krallen? Vor Todesangst? Wie auch immer, Max machte sich sogleich über seine Mahlzeit her.

Ich ging nach draußen und den Hang zur Altstadt hinunter. Menschenleer, als ob Ausgangssperre herrschte.

Was sagte die Maus? Sie sagte: Zur Besänftigung, zur Beschwichtigung, habe ich nichts weiter anzubieten als die Totalität, die Vollkommenheit meiner Wehrlosigkeit.

Was sagte die Katze? Sie sagte naturgemäß gar nichts. Glasigen Blicks, herrscherlich, einer anderen Ordnung zugehörig, einer anderen Welt.

Als ich in meine Wohnung zurückkam, lag Max auf dem Teppich im Arbeitszimmer. Die Maus war weg, restlos verschlungen, mitsamt Schwanz und allem.

In dieser Nacht hielt der Himmel über der schwarzen Unendlichkeit der eurasischen Ebene so lange wie selten sein Indigo und Violett – die Farbe eines gequetschten Fingernagels.

Es war der August 1942.