GRÜNE ERZIEHUNG
Das Kind wachsen lassen
mit der Natur
Aus dem Spanischen
von Antoinette Gittinger
Bücher haben feste Preise.
1. Auflage 2013
Heike Freire
Grüne Erziehung
© Heike Freire 2011
Der Titel des spanischen Originals lautet »Educar en Verde«, erschienen bei:
Editorial GRAO de IRIF, S.L. C/Hurtado, 29. 08022 Barcelona www.grao.com
Übersetzt aus dem Spanischen von Antoinette Gittinger.
Lektorat: Natalie Nicola, Andreas Lentz und Fred Hageneder
© für die deutsche Ausgabe Neue Erde GmbH 2013
Alle Rechte vorbehalten.
Titelseite:
Foto: Andrew Penner/istockphoto.com
Gestaltung: Dragon Design, GB
eISBN 978-3-89060-151-9
ISBN 978-3-89060-631-6
Neue Erde GmbH
Cecilienstr. 29 · 66111 Saarbrücken · Deutschland · Planet Erde
www.neue-erde.de
Für Tristan und Lala
Einleitung: Die Farben der Erziehung
1. Eine naturabgewandte Kultur
Fortschritt und Gesellschaft: das Leben in der technologischen Kapsel
Biophobie und Biophilie
Die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Veränderung
Eine Kindheit in vier Wänden voller Technologie
Ist der fehlende Kontakt mit der Natur eine Hypothese oder Wirklichkeit?
Folgen mangelnder Naturverbundenheit
2. Die Farbe Grün in Zusammenhang mit der körperlichen und emotionalen Gesundheit der Kinder
Wie die Natur heilt
Besser als Pillen
Natur und Entwicklung von Kindern
Kreativität, Autonomie und Selbstwertgefühl
Das spontane Spiel in der Natur
Langsames Verschwinden
Die Rolle des Erwachsenen
Konventionelle oder natürliche Spielsachen?
Neuorientierung für die Spielplätze
3. Den Kontakt wiederherstellen
Überwindung von Ängsten und Zweifeln
Gefühle zulassen und Gefühle ausdrücken
In das Vertrauen hineinwachsen
Unserem natürlichen Instinkt vertrauen
Veränderung des Begriffs »Sicherheit«
Die Natur nach Hause bringen
Die vier Elemente
Pflanzen und Haustiere
»Ich langweile mich«
Die Natur in der Schule
Ein anderer Fokus bei der Umwelterziehung
Schulen voller Leben
Unterricht in der freien Natur
Wälder, die besten Lehrmeister
Die Natur in der Stadt
4. Natur entdecken und erkunden
Der Ausflug aufs Land: eine gesunde Gewohnheit
Die entblößte Natur
Geht von Kindern Gefahr für die Natur aus?
Der Märchenwald
Das Leben in ländlicher Umgebung
Urinstinkte und Empathie für Tiere
Aktivitäten für die Familie
5. Rückkehr zur Erde: Die Lehren der Mutter
Das Leben kennenlernen und respektieren
Das Geheimnis des Todes
Auch Schnecken sterben
»Ich werde wiedergeboren«
Nahrung für die Seele
Das geheime Leben der Kinder
Staunen und seinen Platz finden
Kinder in ihrer spirituellen Entwicklung unterstützen
Ökologie – wichtig für »Umwelt« und Mensch
Wer mehr wissen möchte: Webseiten, Fachzeitschriften
Bibliographie
Bildnachweis
Über die Autorin
Anmerkungen
Noch vor den Büchern gab es die Bäume (…) Und vielleicht erreicht die Menschheit eine Kulturstufe, auf der sie keine Bücher mehr benötigt. Bäume wird es immer geben, und dann düngt man die Bäume mit den Büchern.
Die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller verwendet in ihrem bekannten Werk Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst (2009)1 den Begriff »schwarze Pädagogik«, mit dem sie sich auf eine Erziehungsart bezieht, die Gehorsam durch Autorität und Gewalt erreichen will. Sie vergleicht diese pädagogische Herangehensweise, die auf einer Reihe von Wertvorstellungen, Prinzipien und Techniken beruht, mit der »weißen Pädagogik«, die für dieselbe Zielsetzung »sanftere« Methoden benutzt, wie etwa Liebesentzug und verschiedene Formen der Manipulation. Beide Erziehungsmethoden beruhen auf einer moralisierenden und negativen Sicht auf die menschliche Natur; sie beabsichtigen, die Spontaneität des Kindes auszumerzen, und gehen überhaupt nicht auf dessen Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche ein. Sie sehen in der Erziehung eine Art Drill, der das Individuum auf bestimmte Ziele abrichtet, und es fehlt ihnen an Verständnis und Mitgefühl für die Entwicklungsprozesse des Kindes.
Andererseits prägten einige Autoren2 den Begriff der »roten Pädagogik«, worunter ein kritisches, emanzipatorisches und freiheitliches Erziehungssystem zu verstehen ist, das nicht nur dem Erwerb von Wissen dient, sondern bei dem vor allem die Reflektion der gesellschaftlichen und politischen Lage die Grundlage für die eigene Persönlichkeit bildet und das entsprechende Handeln fördert.
Das vorliegende Werk will ein bescheidener Beitrag zu dem sein, was man als »grüne Pädagogik« bezeichnen könnte: eine erzieherische Philosophie, die an die humanistische Tradition in den Sozialwissenschaften anknüpft. Diese Philosophie sieht, metaphorisch betrachtet, den Menschen als Samen oder Pflanze, in deren Innerem alles Nötige zur Verfügung steht, damit sie sich entwickeln kann. Wie die ökologische Landwirtschaft auf Gewalt verzichtet (das heißt Unkrautvernichtungsmittel, Pestizide oder übermäßigen Baumschnitt), so ist die grüne Erziehung ein organischer Prozeß der Begleitung und des gemeinsamen Lernens; so pflegt der Erwachsene zugleich sein eigenes inneres Wesen, erfüllt von Werten wie Gleichheit in Würde und Respekt und aus der Überzeugung, daß Kinder uns genauso viel geben können wie wir ihnen. Wie ein guter Gärtner, hat auch die grüne Pädagogik keine feste Vorstellung davon, was aus dem Kind werden soll; sie beobachtet lediglich sein Heranwachsen und hilft ihm dabei, nach und nach zu entdecken, wer es ist: seine Begabungen und Eigenschaften, die Dinge, die es mag, seine Interessen und seine Schwächen. Sie respektiert auch die natürlichen Rhythmen seiner Entwicklung sowie seine natürliche Lernfähigkeit und vertraut auf sie.
Die grüne Erziehung – die das Wesen des Kindes und die Natur, die es verkörpert, achtet – berücksichtigt vor allem dessen Bedürfnis nach Kontakt mit der greifbaren, nicht vom Menschen geschaffenen Welt, damit es sich in all seinen Dimensionen gesund entfalten kann: körperlich, emotional, sozial und intellektuell wie auch spirituell. Während sich normalerweise der Blick hauptsächlich auf die kognitiven Aspekte des Menschen richtet, pflegt die grüne Erziehung, auch Ökopädagogik3 genannt, ganz gezielt auch andere menschliche Fähigkeiten wie etwa die Intuition, die Empfindungsfähigkeit und die Sensibilität für Erlebnisse und konkrete Erfahrungen, die den ganzen Menschen einschließen. Sie fördert ein intensives Gefühl der Verbundenheit mit dem Leben, mit sich selbst und den anderen sowie die Fähigkeit zu Empathie und Verantwortung.
Die grüne Pädagogik bedient sich der Landschaft als Mittel der Annäherung an die Welt und ihres Verständnisses und fördert eine positive, nicht schuldbehaftete Einstellung gegenüber der Umwelt, was die Entfaltung eines authentischen Umweltbewußtseins begünstigt.
Die Erde und alles, was sie mit einschließt (Atmosphäre, Biosphäre, Weltmeere…), stellt unseren Lebensraum dar, unser Zuhause und unser geschütztes Heim; sie ist nicht nur ein schlichtes Vorratslager oder leblose Materie, auf der mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie agiert wird. Wenn wir uns der bekannten Gaia-Hypothese4 anschließen, beginnen wir die Erde als einen lebendigen Organismus zu erleben. Sie ist ein sich selbst steuerndes Wesen, das sich in ständiger Entwicklung befindet, um die Lebensbedingungen, von denen auch die Menschen ein Teil sind, aufrechtzuerhalten. Sie bildet eine Einheit, eine Gemeinschaft, in der alles mit allem verbunden ist, in der kein Lebewesen isoliert ist und wo wir alle voneinander abhängig sind.
Die Verbindung mit der Natur ist die Grundlage für die Liebe zur Erde, eine grundlegende Einstellung, um Kenntnisse zu erwerben und zu vermitteln, die uns helfen, ein nachhaltiges Leben zu führen und damit unser Überleben auf dem Planeten zu sichern.
Wir fragen uns:
Gibt es eine »natürliche« Erziehungsmethode?
Bis zu welchem Punkt braucht der Mensch die Natur?
Was ist Biophobie? Was ist Biophilie?
Haben heutige Kinder genügend Kontakt zur Natur und zur Umwelt?
Kann man von einem Defizit in Sachen Natur sprechen?
Worin bestehen die Folgen?
Wir sprechen über…
Erziehung getragen von Respekt für die Natur und die Begleitung innerer Entwicklungsprozesse.
zwei gegensätzliche Einstellungen gegenüber dem Leben auf unserem Planeten: Biophobie und Biophilie.
die Notwendigkeit einer Änderung unseres Bewußtseins und unserer Beziehung zur Natur.
den »Hausarrest«, in dem die modernen Kinder leben.
das Defizit in Sachen Natur und seine Folgen.
Seit den Griechen gründet die westliche Sicht der Welt auf dem Gegensatz Mensch/Tier, Natur/Kultur und Zivilisation/Wildnis. Wir wissen sehr wohl, daß wir tierischen Ursprungs sind, von der Klasse der Säugetiere, der Ordnung der Primaten, der Familie der Menschenaffen, der Spezies Homo sapiens. Doch wenn wir uns als menschliche Wesen definieren, leugnen wir unsere Tiernatur, um uns über deren »niedrige Instinkte« zu erheben, bis wir die Höhen eines idealen, fast übernatürlichen Zustands erlangt haben. Auch wenn feststeht, daß »die Natur des Menschen seine Kultur ist«, wie die Anthropologen behaupten, haben wir unsere Kultur isoliert von unserem Ursprung und unserem Wesen entwickelt und uns dadurch vom biologischen Leben, in das wir eingebunden sind, abgewandt. Wir haben uns ein Schicksal zurechtgeschneidert, das uns über die anderen Arten stellt, als ob wir die Herren der Schöpfung wären. Wir bauen Städte aus Stein und Stahl, konstruieren Flugzeuge, mit denen wir weite Strecken zurücklegen und den Raum überwinden können. Dank dessen, was wir als »Fortschritt« bezeichnen, sind wir dabei, den Mühsalen des Lebens zu entrinnen, die Natur zu beherrschen, sie zu erobern und auszubeuten, statt uns ihr zu »unterwerfen« – und wir haben es geschafft.1 Verstrickt in einen Machtanspruch gegenüber der Erde (und folglich auch gegenüber uns selbst) haben wir ihr alles genommen, und statt ihr eine Seele, Gefühl und Bewußtsein zuzubilligen, haben wir sie zu einem bloßen Gegenstand gemacht (auch unser Körper ist nicht das, »was wir sind«, sondern etwas, das wir »haben«). Die Erde ist ein Mittel zum Zweck, leblose Materie, über die man ohne allzu große Skrupel verfügen kann.
Auch wenn wir uns von der Schönheit der Wildnis angezogen fühlen, bringen wir sie häufig mit Vorstellungen von Unordnung und Chaos in Verbindung; es ist eine fremde und bedrohliche Welt, vor der wir uns schützen müssen, indem wir sie »zivilisieren« oder Mauern errichten, um sie uns vom Leib zu halten. Wir schaffen uns künstliche Lebensräume, pflastern die Erde mit dicken Betonschichten; wir stecken Bäume und Pflanzen in Kübel, sehen in ihnen bloß Dekoration. Wir bauen »sterile« Häuser, führen einen komfortablen Lebensstil und pflegen eine Hygiene, mit der wir alles Leben abtöten.2 Unsere abgeschotteten Wohnungen haben sich in regelrechte Bunker verwandelt, in mit Technik vollgestopfte Kapseln, die uns von der Umwelt abschotten, in Zufluchtsstätten, in denen wir uns sicher fühlen, die uns aber auch beschränken und bedrücken. Je mehr wir uns körperlich und emotional von unserer Verbindung zu den anderen Lebewesen und Elementen, die die Erde bevölkern, lösen, um so schwerer fällt es uns, wieder mit ihnen in Kontakt zu kommen, und so ziehen wir uns immer mehr in unseren Kokon zurück.
Das Ergebnis ist eine Kultur, die zu Agoraphobie neigt: Wir haben große Angst vor weiten und offenen Räumen entwickelt, die wir auf vielfache Weise zu markieren, einzuzäunen und zu begrenzen suchen. Wie in Die Stahlhöhlen, dem berühmten Roman von Isaac Asimov, sind wir drauf und dran, uns in eine Gesellschaft zu verwandeln, die in riesigen Städten eingepfercht ist, unfähig, ins Freie zu gehen, in eine Gesellschaft, der der bloße Anblick des freien Himmels Schwindel verursacht.
Je mehr wir uns körperlich und emotional von unserer Verbindung zu den übrigen Lebewesen und Elementen, die die Erde bevölkern, lösen, um so schwerer fällt es uns, wieder mit ihnen in Kontakt zu kommen.
Gefangen in einer industriellen verstädterten Welt, benötigen wir alle Kraft und Unterstützung, die wir bekommen können, um unsere Entfremdung von der nicht-menschlichen Welt, von der wir mit jedem Atemzug abhängen, zu überwinden.
»Die Natur und ich sind zweierlei«, sagte der Autor und Cineast Woody Allen, der dafür bekannt ist, jegliche Berührung mit der Natur, mit Tieren und Pflanzen zu meiden. Er geht nie aufs Land, »da dort viele lebendige Dinge anzutreffen sind«. Eine »wilde« Natur, die er viel angenehmer findet, sind die Straßen seines geliebten New York. Diese Art von Aversion gegen nicht-menschliches Leben bezeichnete David Orr,3 Professor für Umweltstudien, als »Biophobie«, ein sehr häufig vorkommendes »Leiden« bei Menschen, die in Ballungsgebieten aufgewachsen sind: mit Fernsehen, Computerspielen, Einkaufszentren und Zierpflanzen. Die Biophoben beschränken sich auf Technologie und menschliche Bauten und Gegenstände; sie sind allergisch gegen alles Natürliche (das sie als schmutzig, bedrohlich und rundum gefährlich ansehen).4 Gehen sie aufs Land, dann sind sie mit unzähligen Vorrichtungen ausgestattet. Laut Orr vollzieht sich in der Wahrnehmung und Einstellung der Menschen eine langsame Veränderung, die sich bereits im Mittelalter abzeichnete. Diese Störung zeigt sich in einem »ökologischen Analphabetismus«, der sich aus folgenden Überzeugungen entwickelt hat:
• Die Natur ist ausschließlich seelenlose Materie und erfordert keinerlei Respekt.
• Wir menschlichen Wesen stehen über den Tieren und müssen uns von ihnen distanzieren.
• Die Natur ist eine unbeseelte Sache, eine Art großes Warenlager, mit dem wir auf objektive Weise in Verbindung treten: durch Wiegen, Abmessen und Berechnen.
• Der Mensch muß die Natur in etwas verwandeln, das von Nutzen ist, zum Beispiel in Reichtum.
Auf der anderen Seite stößt man auf den Begriff »Biophilie«, die E. O. Wilson5 als »die Notwendigkeit, sich anderen Lebensformen anzunähern«, definiert. Einige Jahre zuvor sprach Erich Fromm von der »leidenschaftlichen Liebe zum Leben und allem Lebendigen«.6 Beide sind sich darin einig, daß es sich um eine angeborene Eigenschaft unserer Spezies handle, um ein Zeichen geistiger und körperlicher Gesundheit. Sie stimmen auch darin überein, daß diese Einstellung unser Überleben auf der Erde sichern kann.
Nach der Hypothese der Biophilie ist das Gehirn der Menschen darauf programmiert, eine Verbindung mit anderen Lebewesen zu haben. Der Kontakt mit den anderen Gattungen, Tieren oder Pflanzen, führt zu grundlegenden Veränderungen in der Gehirnstruktur, die bessere Erkenntnis, stabilere Gesundheit und größeres Wohlbefinden zur Folge haben. Die Biophilie stellt eine angeborene Lebensbejahung dar, ein in unseren Zellen verankertes Interesse für die Natur in allen ihren Erscheinungsformen, eine angeborene Tendenz, der Natur Wert und Bedeutung beizumessen. Dies kann durch die Kultur umgeformt werden und führt am Ende dazu, daß ihr Sinn völlig verkehrt wird (Biophobie). Mit Hilfe der Biophilie entwickeln wir Aufmerksamkeit und Empathie für die nicht-menschlichen Lebewesen. Sie ist auch ein starker Antrieb für den Erhalt der bedrohten Artenvielfalt auf der Welt.
Nach der Hypothese der Biophilie ist das Gehirn der Menschen darauf programmiert, mit anderen Lebewesen im Kontakt zu sein.
Die Lebensformen der indigenen Völker zeigen, daß es sehr wohl möglich ist, in einem respektvollen »Geben-und-Nehmen«-Verhältnis mit der Pflanzen- und Tierwelt, den Flüssen und Bergen, dem Himmel und der Erde, die wir für unseren physischen Unterhalt wie für praktische Erkenntnisse brauchen, auf der Erde zu leben. Anstelle von Beherrschung oder Kampf, die uns dazu bringen, die Erde zu schädigen und zu zerstören, können wir im Einklang mit der Natur harmonische und ausgeglichene Beziehungen herstellen. Die Lebensweise, die Überlieferungen und die Spiritualität der indigenen Völker zeigen uns sehr eindrucksvoll, wie Biophilie von der Kultur unterstützt und gestärkt werden kann.7
Für die Anhänger der Ökopsychologie, zu deren Hauptvertretern Professor Theodore Roszak8 zählt, steht fest, daß die Umweltbewegung den Planeten nicht mit einer rein intellektuellen Einstellung retten kann; es bedarf vielmehr einer grundlegenden Veränderung im Herzen und in der Gesinnung der Menschen. Allein eine tiefgreifende Bewußtseinsrevolution kann verhindern, daß bei dem Zerstörungstempo, das wir vorlegen, bald alle Wälder verschwunden sind. Die Ökopsychologen sind davon überzeugt, daß sich der Schlüssel dazu genau im tiefsten Inneren der menschlichen Seele befindet, in ihrem emotional mit der Erde verbundenen Kern. Die Mechanismen der städtischen industriellen Zivilisation versperren jedoch den schmalen Zugang zu dieser Erkenntnis, indem sie uns glauben machen, unser Planet sei eine tote und uns untergeordnete Sache, ohne Gefühl, Erinnerung oder eigenen Willen. Eine Verdrängung des Ökologischen ins Unbewußte – beim Individuum und beim Kollektiv – ist für alle Mißstände, die wir gegenwärtig im Bereich der Umwelt vorfinden, verantwortlich. Wenn es uns gelingt, unser Bewußtsein und unser Wesen zu öffnen und die Natur mit einzuschließen, wird das Verhalten, das zur Zerstörung der Umwelt führt, als selbstzerstörerisch erkannt.
…daß die Umweltbewegung den Planeten nicht mit einer rein intellektuellen Einstellung retten kann; es bedarf vielmehr einer grundlegenden Veränderung im Herzen und in der Gesinnung der Menschen.
Um dieses angeborene Gefühl des Gebens und Nehmens der Natur gegenüber wieder entstehen zu lassen, müssen die derzeitigen sozialen und kulturellen Systeme verändert und neue Kosmogonien, das heißt neue Sichtweisen unserer Herkunft, eingenommen und der Sinn der Welt und der Platz, den die Menschen darin innehaben, neu definiert werden.
Die Ökotherapie kann die Entfremdung zwischen dem einzelnen Menschen und der Natur heilen, die Ursache vieler Störungen und Krankheiten ist. Die Bedeutung der grünen Erziehung besteht jedoch darin, daß sich in der Kindheit, in der die Welt als Wunder wahrgenommen wird, ein authentisches ökologisches Bewußtsein entwickeln kann, das auf der emotionalen Kraft beruht, die uns mit dem Leben verbindet.
Tatsache ist: Die Kinder von heute haben im Gegensatz zu den Kindern vor dreißig Jahren viel weniger Gelegenheit, im Freien zu spielen. Die kleinen Bewohner von Städten oder Vorstädten, die vollkommen asphaltiert und eben sind, leben in geschlossenen Räumen mit künstlichem Licht, umgeben von Bildschirmen, Plastikspielzeug und elektronischen Geräten. Überfordert von schulischen Pflichten und außerschulischen Aktivitäten, werden sie im Auto chauffiert und verbringen ihre Freizeit zwischen Spielkonsole und Einkaufszentrum.
In der Familie, in der Schule oder bei den Freizeitaktivitäten wird ihr Leben immer mehr von Erwachsenen organisiert und kontrolliert. Außerdem verfügen sie häufig nicht über ein eigenes Zimmer, in dem sie sich spontan mit ihren Freunden treffen können. Laut einer aktuellen in England9 durchgeführten Umfrage ging seit den siebziger Jahren das eigenständige Spielen der Kinder außerhalb des Hauses um 90% zurück, und die Freizeit reduzierte sich um 15 Stunden pro Woche. Nur noch 29% der Kinder kommen dazu, im Freien zu spielen (im Vergleich zu 70% vor zwanzig Jahren). 51% der Sieben- bis Zwölfjährigen dürfen nicht ohne Aufsicht eines Erwachsenen einen Baum hinaufklettern. In Spanien gehen lediglich 30% der Schüler zwischen 8 und 12 Jahren allein zur Schule.
Bis zu Beginn der 1980er-Jahre bedeutete in den Dörfern und Städten Spaniens und anderen Teilen Europas das Wort »spielen« das Spielen im Freien, und die Kinder verfügten über genügend Freiheit und weitläufige Spielräume, wo sie sich frei bewegen und mit Freunden treffen konnten. Heutzutage ändert sich der Sinn von »Spielen«, das für die Entwicklung in der Kindheit eine so große Rolle spielt, sehr schnell: Wir müssen uns ein einsames Kind in einem Zimmer vorstellen, das in den Fernseher starrt. Spanische Kinder zwischen 4 und 12 Jahren verbringen durchschnittlich 990 Stunden pro Jahr vor dem Fernseher, dem PC oder elektronischen Spielgeräten; folglich mehr Zeit als in der Schule (960 Stunden).10 In einem Interview, das Carl Honoré vor kurzem gab, mokierte er sich über diese Situation: »Die Jugendlichen von heute haben 400 Freunde bei Facebook, aber keinen einzigen, mit dem sie im Park spielen könnten.«11
Der Mangel an unmittelbarer Berührung mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralien wird heute durch ein immer größeres Angebot an virtueller Wirklichkeit, die die Natur imitiert, ersetzt. Facebook zum Beispiel bietet einen Service an, bei dem man sich um einen virtuellen Bauernhof kümmern kann, andere soziale Netze laden dazu ein, für digitale Aquarien, Hunde und Katzen zu sorgen.12 Heutzutage sind die meisten Kinder eifrige Konsumenten vor allem von Technologie und kennen Dutzende von Marken.
»Die Jugendlichen von heute haben 400 Freunde bei Facebook, aber keinen einzigen, mit dem sie im Park spielen könnten.«
Eine 2002 vom Fachbereich Zoologie der Universität Cambridge13 durchgeführte Studie ergab, daß Grundschüler sehr viel mehr Figuren der Serie Pokémon aufzählen können als Tier- und Pflanzenarten ihrer Umgebung. Und auf weiterführenden Schulen kannten die Jugendlichen nicht einmal die Hälfte der häufigsten Tiere und Pflanzen: »Es ist offensichtlich, daß das mangelnde Wissen über die Natur eine zunehmende Isolierung begünstigt. Die Menschen kümmern sich um das, was sie kennen«, schlußfolgern die Wissenschaftler.
Die Folge ist, daß unsere Kinder nicht mehr Protagonisten ihres Lebens sind, sondern sich in Zuschauer verwandeln und ihr Leben aus zweiter Hand erleben, wie Claire Warden, pädagogische Beraterin, 2010 schrieb:14 Statt selbst einen Berg hochzuklettern, beobachten sie lieber, wie ein anderer es auf dem Bildschirm tut. Sie machen nicht mehr selbst Parfum aus Rosenblättern, wie wir es als Kinder taten. Heutzutage kaufen sie es im Geschäft, in Plastikflaschen.
Die Natur hat sich für uns in ein Konsumgut verwandelt, stellt eher eine Abstraktion dar, eine Touristenattraktion (hübsche Bilder von exotischen fernen Ländern), weniger eine Realität. Die Natur hat etwas Idyllisches, von dem wir träumen und es anhand von Reiseprospekten kaufen. Gleichzeitig hat sie auch etwas Bedrohliches, etwas wovor wir uns mit einer Unmenge von Utensilien schützen, wenn wir aufs Land fahren oder in die Berge gehen. In beiden Fällen haben wir ein beschränktes und distanziertes Verhältnis zur Natur, das wir auf die Kinder übertragen, im Haus und in der Schule. Häufig finden die Kinder die Natur ätzend, weil es da keine Steckdosen gibt, an denen sie die Batterien ihres Nintendo aufladen können. Auf unsere Überflußgesellschaft wirkt die Schlichtheit der Natur, die sich uns in aller Bescheidenheit präsentiert, sehr armselig.
Die meisten heutigen Jugendlichen unter 25 (einige davon sind bereits Eltern oder werden es bald sein), haben kaum Erfahrung mit dem Landleben, vielleicht haben sie auch noch nie ein Baumhaus gebaut oder aus Rosenblättern Parfum hergestellt. Auch wenn sie eine Steineiche von einer Traubeneiche unterscheiden können, blieb ihnen eine sehr tiefgreifende Erfahrung verwehrt: die der Verbindung zum Ursprung des Lebens, zu der Kraft, die uns antreibt und ausmacht. Welche Folgen wird es für eine Generation haben, wenn sie den Kontakt zur Erde verloren hat? Kann die verlorene Zeit wieder aufgeholt werden? »Einige entdecken die Natur dank ihrer Kinder«, versichert Claire Warden. »Sie haben erkannt, daß da ein Mangel ist, und als sie versuchten, diesen zu beheben, haben sie sich selbst geholfen.«
Wir haben die Natur in ein Konsumgut verwandelt, sie stellt eher eine Abstraktion dar, eine Touristenattraktion (hübsche Bilder von exotischen fernen Ländern), weniger eine Realität.
Als einer der Hauptgründe für den drastischen Rückgang der Aktivitäten im Freien, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, wird die Sicherheit angeführt: gefährlicher Verkehr, Sturzgefahr und Unfälle, Unsicherheit in der Stadt und die Angst vor Fremden. Tatsache ist, daß die Zahl der Kindesentführungen sich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht geändert hat; der Anteil von Verbrechen an Kindern ist im Vergleich zu 1975 zurückgegangen, und Verkehrsunfälle haben erheblich abgenommen. – Natürlich ist nicht zu leugnen, daß dies auch auf die Bewegungseinschränkung der Kinder zurückzuführen ist.
Doch wie ist bei uns die irrige Vorstellung entstanden, es sei sicherer, »drinnen« zu sein als »ins Freie« zu gehen? Wir glauben zum Beispiel, die Autos seien für uns als Fußgänger gefährlicher, als wenn wir mit ihnen fahren. Doch seit einigen Jahren sind in Spanien (wie auch in ganz Europa15) Autounfälle und die damit verbundenen Verletzungen die Hauptursache für den Tod von Kindern (bis 14 Jahre). Wenn die Kinder sich der Kälte aussetzen, holen sie sich einen Schnupfen, könnte man meinen; doch Mediziner versichern uns, daß diese Krankheiten mehr auf die schlechte Luft in geschlossenen Räumen (auch wegen giftiger Baumaterialien), Hausstaubmilben oder Bakterien, die durch die Heizungen freigesetzt werden, zurückzuführen sind.
Der Großteil der Unfälle (Stürze, Schnittwunden, Brandwunden, Vergiftungen und Erstickungsfälle) ereignet sich in der Wohnung, vor allem in der Küche, auf Treppen, im Bad und im Schwimmbecken.16 Eine Untersuchung der britischen Royal Society for the Prevention of Accidents ergab zum Beispiel, daß mehr Jungen und Mädchen aus Kinder- oder Stockbetten fallen als von Bäumen. Wahrscheinlich liegt dies nicht an der größeren Sicherheit der Bäume (obwohl man dies vielleicht behaupten könnte), sondern einfach daran, daß die Kinder häufiger in Betten sind als auf Bäumen. Aber was wäre, wenn sie mehr Gelegenheit hätten, auf Bäume zu klettern? Würden sie dann weniger häufig aus den Stockbetten fallen? Was sich zuerst absurd anhört, ist eine ernsthafte Frage. Ich persönlich glaube allen Ernstes, daß die Antwort ja lautet: Wie wir weiter unten sehen werden, bietet die Natur vielfältige Möglichkeiten für die Entwicklung der Motorik, die allen Bereichen des Lebens zugute kommt.
Ist es also die beste Methode, Unfälle garantiert zu vermeiden, wenn man »in aller Ruhe zu Hause bleibt«? Oder, wie Miguel (8 Jahre alt) es ausdrückte, »wurde das elektronische Spielzeug erfunden, damit wir uns nicht verletzen«?17