Edgar Wallace


Die Bande des Schreckens


Kriminalroman

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-086-5


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Kapitel 42



Zwei Wochen waren inzwischen vergangen. Die Totenschau für Miss Revelstoke hatte großes Aufsehen erregt, war aber bald wieder vergessen worden. Der Wetter sah seinen Vater nicht, aber Nora Sanders war täglich bei ihm. Sie brauchte seinen Rat, denn sie hatte sich entschlossen, das Testament Monkfords nicht anzuerkennen, da die Unterschrift wahrscheinlich gefälscht war.

Sir Godley kam erholt von Bournemouth zurück, aber der Überfall, der auf ihn gemacht worden war, hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er zugeben wollte.

Als sich am Abend die Dienstboten nach dem Essen zurückgezogen hatten, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und wandte sich an Nora.

"Hast du den Bericht über die Totenschau gelesen?" fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

"Arnold wollte mir die Zeitung nicht zeigen. Und auch dann hätte ich ihn nicht gelesen. Ich habe nur die Überschrift gesehen: 'Die erstaunliche Geschichte eines Bankiers'. Warst du das?"

"Ja, und es handelt sich um die Geschichte, die ich euch damals erzählen wollte, als ich zum Gefängnis gerufen wurde."

"Wer war eigentlich Miss Revelstoke?" fragte sie.

Sir Godley holte tief Atem.

"Meine Frau! Die vollständige Geschichte der Bande des Schreckens wurde vor Gericht nicht vorgebracht, und Gott sei Dank war meine Anwesenheit nicht nötig. Clay Shelton war mein Bruder, oder vielmehr mein Halbbruder, ein wilder, gewissenloser Junge, der meinen Vater und später auch mich bestahl. Als unser Vater den Diebstahl entdeckte, brannte Clay von Hause durch. Ich war damals mit einer hübschen Dänin, einer Miss Ostlander, verlobt, die als Gouvernante bei einem Nachbarn angestellt war. Ich traf sie auf einem Gartenfest, verliebte mich in sie und heiratete sie kurz nach dem Verschwinden meines Bruders."

Er streifte die Asche seiner Zigarre ab und lächelte bitter.

"Hoffentlich mußt du niemals so traurige Erfahrungen in der Ehe machen wie ich. Äußerlich war sie das liebenswürdigste junge Mädchen, aber an unserem Hochzeitstag erzählte sie mir eine Geschichte, die mich tief unglücklich machte. Sie liebte meinen Bruder und hatte mich nur geheiratet, damit das Kind, das sie erwartete, einen Namen bekam. Warum sie mir das alles sagte, habe ich niemals begriffen. Ich glaube, sie wollte mich nur verletzen oder so abstoßen, dass meine Liebe zu ihr getötet wurde.

Damals war ich sehr gutmütig und hatte eine hohe Meinung von den Frauen. Wir waren nach Kopenhagen gefahren. Drei Tage später verließ sie mich und teilte mir in einem Brief mit, dass sie nicht die Absicht hätte, zu mir zurückzukehren, und dass sie dorthin gegangen wäre, wo sie ihr wahres Glück fände. Ich reichte sofort die Klage gegen sie ein, und die Scheidung wurde vom Gericht ausgesprochen. Ich glaube, dass sie dann heirateten ..."

"Am 9. Februar 1886", unterbrach ihn der Wetter. "Das ist das dritte Datum, das in die Kabinenwand eingeschnitten war. Das zweite war der Geburtstag seiner Frau. Das vierte der Geburtstag Crayleys, Jackson Crayley Longs."

"Crayley war der Name unseres Familiengutes in Yorkshire", fuhr Sir Godley fort. "Ich hatte niemals wieder etwas von ihnen gehört, bis mein Geschäftsführer eines Tages aufgeregt in mein Büro kam und mir sagte, dass wir achtzigtausend Pfund auf eine gefälschte Bankanweisung gezahlt hätten. Zuerst hatte ich die Absicht, die Sache der Polizei zu übergeben, und ließ mir die Schriftstücke vorlegen. Auf der Rückseite sah ich in Bleistiftschrift die beiden Buchstaben 'J. X.'. Sie waren der Aufmerksamkeit des Kassierers entgangen, aber ich erkannte an dem X sofort Johns Handschrift. Mein Bruder hatte also die Papiere gefälscht, und die beiden Buchstaben hatte er gewissermaßen als Herausforderung auf die Rückseite geschrieben. Ich zahlte die achtzigtausend Pfund aus meinem Privatvermögen und setzte eine Annonce in die persönlichen Anzeigen der Times ein: 'J. X. Diesmal habe ich gezahlt, das nächste mal zeige ich dich an.' Er hat dann auch niemals wieder versucht, mich zu betrügen, aber kurz darauf begann diese Serie der internationalen Fälschungen, die den Namen Clay Sheltons bekannt und gefürchtet machten.

Ich bewunderte seine eiserne Energie und seine Selbstbeherrschung. Er war verheiratet, hatte eine Familie, aber er lebte nur drei Wochen im Jahr mit ihr zusammen. Sie trafen sich gewöhnlich in einem kleinen dänischen Seebad an der Ostsee. Die Kinder wurden in Dänemark erzogen und sprachen infolgedessen ebenso fließend Dänisch wie Englisch. Als sie heranwuchsen, fand Clay den Mut, ihnen seinen wahren Charakter zu enthüllen.

Er wußte, dass sie früher oder später entdeckt würden, wenn sie zusammenlebten und kam deshalb zu folgender Lösung. Jedes Familienmitglied wurde zu einer anderen Persönlichkeit abgestempelt. Sie zeigten in der Öffentlichkeit nicht, dass sie miteinander verwandt waren. Nur während der wenigen Wochen an der Ostsee fielen diese Schranken.

Ihre Mutter zog dann nach England und ließ sich als unverheiratete Dame mit großem Vermögen dort nieder. Die Jungen wurden unter verschiedenen Namen auf verschiedenen Schulen erzogen, und später ergriffen sie verschiedene Berufe. Crayley wurde Landwirt, verwaltete aber sein Gut schlecht. Dann kauften sie ihm ein Haus in der Nähe des Stroms. Er hatte die Aufgabe, nach dem Festland zu reisen, mit reichen Leuten Bekanntschaft zu schließen und sich nicht nur ihre Unterschriften, sondern auch alle Details aus ihrem Leben zu verschaffen.

Henry wurde ein Rechtsanwalt, und Cravel, der zweite Sohn, Hotelbesitzer. Er war ein erfolgreicher Kaufmann und unterhielt auch seine Schwester Alice. Außerdem war er die rechte Hand seines Vaters. Jackson Crayley spielte nur eine untergeordnete Rolle und verdarb gewöhnlich alles. Ich berichte nur, was ich von Arnold gehört habe. Er führte sogar den Tod seines Vaters herbei, weil er ihm in dem Augenblick der Verhaftung eine Pistole zusteckte. Seine Mutter liebte ihn nicht.

Crayley war aber ein guter Junge, der seine Tätigkeit haßte. Er suchte immer nach einer Gelegenheit, sich von dieser schrecklichen Gesellschaft zurückzuziehen und ein anständiges Leben zu führen. Seine Schwester Alice unterstützte ihn bei diesen Bestrebungen, und die beiden waren gute Freunde. Nach dem Tode seines Vaters war Cravel der führende Geist, obwohl Miss Revelstoke mit den Verbrechern in Verbindung trat, die die Gewalttaten verüben sollten. Sie verkleidete sich als Mann, setzte eine weiße Perücke auf und engagierte die Leute. Aber Cravel war stets in der Nähe, um den Mörder zu töten, ob dieser sein Ziel erreichte oder nicht.

An dem Morgen, an dem Arnold von Chelmsford zurückkam, wurde er von Henry verfolgt, der eine Bombe in seinen Wagen werfen sollte, falls Ulanen-Harry ihn verfehlte. Es war ganz einfach, nicht wahr, Arnold?"

Der Wetter nickte.

"Ja. In der Seitenstraße stand ein Auto bereit, das anscheinend einem Gemüsehändler gehörte. Sobald Harry tot war, fuhr der Wagen los, nahm Henry und sein Motorrad auf und verschwand."

"Nacheinander brachten sie die Leute um, die sie für den Tod ihres Vaters verantwortlich machten. Crayley verpfuschte gewöhnlich alles, aber hinter Henry und Cravel stand stets diese ungewöhnliche Frau."

"Hat sie mich eigentlich auch mit irgendeiner Nebenabsicht engagiert?" fragte Nora gespannt.

"Nein. Es war ein Zufall, dass du angestellt wurdest. Aber nachdem du einmal im Hause warst, benützte sie dich natürlich auch als Werkzeug. An dem Tag, an dem du Monkford besuchtest, wurde sie sich klar darüber, wie sie dich verwenden konnte. Du hast uns ja erzählt, dass sie sagte, Monkford hätte angerufen und wäre des Lobes über dich voll gewesen. Aber Monkford hatte das Telephon nicht angerührt. Dann kam der mysteriöse Ring an, und wieder wurde Monkford vorgeschoben. All dies sollte dir nur die spätere Erbschaft plausibel machen. Das Testament war bereits von Henry aufgesetzt und die Unterschrift gefälscht.

Unglücklicherweise gab sie dir einen Ring, den Arnold auf ihrem Jugendbildnis gesehen hatte. Das brachte ihn auf die Spur. Als er zu mir kam und ihn mir beschrieb, konnte ich ihm sagen, dass ich ihn an dem Tag unserer Ankunft in Kopenhagen für sie gekauft hatte.

Alice Long berichtete uns alles, was sich an dem Nachmittag vor Monkfords Tod ereignete. Henry und Crayley, ich glaube, Henry kam auf die Idee, erzählten Monkford, dass Arnold über ihn und dich Gerüchte verbreitet hätte, und der Mann war natürlich wütend darüber. Obwohl er dich sicher gern gehabt hat, dachte er doch nicht daran, sich in dich zu verlieben oder dich gar zu heiraten. Im Gegenteil, er war ein eingefleischter Junggeselle. Aber sie wollten unter allen Umständen erreichen, dass er Arnold sein Vertrauen entzog. Darin lag das Teuflische ihres Plans. Wenn er mit dem Wetter schlecht stände, würde er ihn von sich fernhalten, dachten sie. Und er mußte so lange ferngehalten werden, bis sie ihr elendes Werk vollbracht hatten. Wie er starb, weißt du. Das Telephon hatte offenbar Cravel erfunden, der ein ideenreicher Techniker war.

Ich kann aufrichtig sagen, dass ich nicht die geringste Ahnung von Miss Revelstokes Identität hatte, selbst nachdem ich von dem Ring gehört hatte. Ich erfuhr erst davon, als ich eines Nachts ausging, um einen Brief zum Kasten zu bringen, und ein Auto an mir vorüber kam. Die Hand des alten Herrn, der darin saß, lag auf dem Fensterrahmen, und ich erhaschte einen Blick seines Gesichts. Eine Sekunde lang streiften mich die dunklen Augen, und ich wäre beinahe vor Schrecken umgefallen. All diese Jahre hatten die Erinnerung an Alicia Ostlander nicht in mir auslöschen können, und instinktiv wußte ich, dass Alicia Ostlander und Miss Revelstoke ein und dieselbe Person waren. Es gab keinen Grund, warum ich sie miteinander in Verbindung bringen sollte, aber ich tat es.

Mein Wagen folgte dem anderen, bis wir Colville Gardens erreichten, wo er in der hinteren Einfahrt verschwand. Nun war ich meiner Sache vollkommen sicher. Ich hatte eine kleine Unterredung mit meinem Chauffeur und fragte ihn, ob er dem Wagen folgen wollte, wenn er wieder herauskäme. Der Mann ging auf meinen Vorschlag ein, obwohl er mich wahrscheinlich für etwas verrückt gehalten hat. Ich wußte allerdings nicht, ob Miss Revelstoke in der Nacht noch einmal ausfahren würde; aber während ich noch mit dem Mann sprach, erschien ihr Auto bereits wieder. Glücklicherweise regnete es, sonst hätten wir die Verfolgung des starken Wagens nicht aufnehmen können. Außerhalb der Stadt ging es besser, weil die Straßen glatt und schlüpfrig waren, so dass man vorsichtig fahren mußte. Ich bestimmte den Chauffeur, seine Lampen abzublenden; aber die Mühe hätte ich mir sparen können, denn sie dachte nicht an eine Verfolgung und sah sich kein einziges Mal um.

Schließlich kamen wir zu einem Ort, den ich der Beschreibung nach für Heartsease hielt. Der Wagen fuhr durch das Tor, und ich setzte meinen Weg zu Fuß fort.

Es regnete jetzt heftig, und ich stellte mich unter eine Zeder, die mir einigen Schutz gewährte. Die Frau war in dem Hotel verschwunden. Dann kam ein Mann heraus und brachte den Wagen fort, vermutlich in die Garage. Ich wartete und wartete und hielt mich beinahe selbst für verrückt. Nach einer Weile machte ich mir klar, dass es vernünftig, sein würde, nach Hause zurückzufahren und meine alarmierten Dienstboten zu beruhigen. Ich ging gerade den Fahrweg hinunter, als zwei helle Lichter vor mir auftauchten. Es blieb mir noch Zeit, mich zu verbergen, dann raste ein Krankenauto vorüber. Es hielt nicht vor dem Haupteingang, sondern an einer Seitentür, die auch Miss Revelstoke benützt hatte.

Ich ging zurück und achtete darauf, dass ich immer in Deckung blieb. Sie stellten eine Tragbahre heraus, und ein Mann, es war wohl Cravel, nahm eine Gestalt in die Arme und trug sie ins Hotel. Gleich darauf entfernte sich der Krankenwagen auf dem Weg, den er gekommen war. Meine Neugierde erwachte nun aufs neue. Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber doch noch elastisch und kräftig. Die Haupttür zum Hotel konnte ich nicht öffnen, und ich kletterte daher kurz entschlossen an der Vorhalle empor, die oben einen Balkon trug. Dabei verlor ich allerdings meine Brille. Nach fünf Minuten stieg ich ohne weitere Mühe in ein Fenster ein und befand mich im Korridor des ersten Stockwerks, wie ich nachher bemerkte. Irgendwo hörte ich Stimmen, aber es war alles dunkel. Ich tastete mich an der Wand entlang und probierte jede Türklinke. Sie waren alle verschlossen. Schließlich stieg ich zum zweiten Geschoß hinauf, und als ich Miss Revelstokes Stimme hörte, glaubte ich mich plötzlich um dreißig Jahre zurückversetzt. Was sie sagte, interessierte mich in höchstem Maße. Ihr Plan war so kaltblütig und entsetzlich, dass mir die Haare zu Berge stiegen. Ich sah mich nach einem Versteck um und untersuchte auch hier alle Türen, fand sie aber gleichfalls verschlossen. Vorsichtig ging ich zur Eingangshalle hinunter und sah in dem gedämpften Licht einer Lampe die offene Tür des Büros. Ich ging hinein und wagte es, das Licht anzudrehen, weil ich hoffte, hier einen Schlüssel zu finden. Zum Glück entdeckte ich auch den Hauptschlüssel, der an einem Haken des Pultes hing. Ich nahm ihn und ging schnell wieder nach oben. Ich hatte gerade den ersten Stock erreicht, als ich oben Licht sah. Rasch öffnete ich die nächste Tür und schlüpfte hinein, um zu warten, bis sie gegangen waren."

Sir Godley lächelte traurig.

"Hier hätte meine Geschichte enden können. Als ich den Fuß behutsam vorschob, berührte ich nichts. Ich hatte eine Schachtel Streichhölzer in der Tasche, steckte eins an und bemerkte nun die Löcher im Boden und in der Decke. Das obere war durch die Unterseite eines Teppichs verdeckt. Es war nicht schwer zu vermuten, dass bauliche Veränderungen in dem Haus vorgenommen wurden, denn Gerüste und Werkzeuge deuteten darauf hin.

Ich hatte die Tür von innen verriegelt, als ich eintrat, und wartete nun geraume Zeit. Ich hoffte, dass die drei anwesenden Leute weggehen würden. Aber dauernd schien der eine oder andere auf der Treppe oder wenigstens in Hörweite zu sein. Stunde auf Stunde verging, dann hörte ich plötzlich zu meiner Verwunderung und Freude Arnolds Stimme, der wenige Schritte von mir entfernt die Treppe hinaufging. Ich wartete und wunderte mich, was geschehen würde.

Nach einem langen, beängstigenden Schweigen hörte ich Schritte in dem Zimmer über mir und auch wieder Arnolds Stimme. Das Loch in der Decke war, wie ich schon erzählte, von einem Teppich bedeckt, und sonderbarer weise war mein erster Gedanke, dass Arnold herunterstürzen könnte. Ich hörte ihn sprechen und Cravel antworten. Ich hatte meinen Mund gerade geöffnet, um ihn zu warnen, als der Teppich schon nachgab. Arnold fiel herunter, stieß gegen einen Gerüstbalken und warf mich um. Aber ich konnte ihn im letzten Augenblick noch packen und in Sicherheit bringen.

Es wurde mir bald klar, dass wir uns beide in einer sehr gefährlichen Lage befanden, und ich war froh, dass ich meine Pistole eingesteckt hatte. Glücklicherweise war Arnold bewußtlos und konnte seine Gegenwart nicht verraten. Nach einer halben Stunde wurde es oben still.

Wasser war nicht in der Nähe, und ich konnte seine Wunde nicht verbinden. Aber ich merkte, dass er nicht ernstlich verletzt war. Als er wieder zur Besinnung kam, waren die Leute oben schon gegangen. Ich sagte ihm, wer ich war, und was sich ereignet hatte. Auch von dem Hauptschlüssel erzählte ich ihm.

Vom Fenster aus sah ich den Wagen, in dem offenbar Miss Revelstoke und ihr Sohn Henry das Hotel verließen. Arnolds erster Gedanke galt dir, Nora, und als ich nach einer kleinen Weile bemerkte, dass Cravel in dem Polizeiauto wegfuhr, durchsuchten wir das Haus. Wir begannen im Erdgeschoß und arbeiteten uns allmählich hoch. Ich hatte eigentlich geglaubt, sie würden sich nicht die Mühe machen, dich in ein oberes Stockwerk zu bringen.

Wir hatten den ersten Stock erreicht, als wir hörten, dass Cravel zurückkam. Wieder versteckten wir uns in Nr. 3 und warteten, bis er aus seinen Zimmern nach unten ging.

'Jetzt wollen wir es riskieren', meinte Arnold und stieg hinauf. Die erste Tür, die wir öffneten, führte zu Cravels Wohnung.

Wir hüllten dich dann in eine Decke und trugen dich nach Nr. 3. Natürlich hätten wir dem Mann begegnen können, und Arnold fürchtete, dass er in diesem Fall schießen würde. Dann erschien, wie durch ein Wunder, die Berkshire-Polizei, die Rouch telefonisch herbeigerufen hatte. Als sie nach Nr. 3 kamen und Cravel seinen Hauptschlüssel holen wollte, riegelte Arnold die Tür auf, zeigte sich dem Inspektor und überredete ihn, Cravel in ein Gespräch zu verwickeln, damit wir dich in Sicherheit bringen konnten. Nun kennst du die ganze Geschichte."

"Eine verflucht gute Geschichte", sagte der Wetter. "Sie hat nur den einen Fehler, dass sie nicht genügend Licht auf meinen Scharfsinn und meine Tüchtigkeit wirft, aber ich habe ja noch genug Zeit, dich mit meinen glänzenden Eigenschaften bekannt zu machen."

Nora lächelte ihn glücklich an.


Ende

 

 

Inhalt



Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20
 
Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

 

 

 

Kapitel 1



Ulanen-Harry kam zur Polizeistation in der Burton Street, um seine Papiere vorzuzeigen. Düster und verbissen trat er näher und reichte dem diensttuenden Sergeanten seinen Entlassungsschein.

"Henry Beneford, auf Bewährung entlassen, ich soll mich hier melden."

Dann sah er sich um und bemerkte Detektivinspektor Long, den man auch den "Wetter" nannte. Seine Augen blitzten unheimlich auf.

"Morgen, Inspektor, leben Sie auch noch?"

"Wie Sie sehen, bin ich immer noch im Amt", entgegnete Long vergnügt.

Ulanen-Harry grinste häßlich.

"Wunder mich nur, dass Sie bei Ihrem verdammt schlechten Gewissen noch schlafen können. Die letzten fünf Jahre hab ich durch Ihre Lügen auf den Buckel gekriegt!"

"Hoffentlich gelingt es mir bald, Ihnen weitere fünf Jahre aufzupacken", erwiderte der Wetter in guter Laune. "Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie an den Galgen bringen, dann gäbe es einen schlechten Menschen weniger auf der Welt."

Harry hatte tatsächlich früher eineinhalb Jahre lang bei den Ulanen gedient, war aber dann mit drei Jahren Festung bestraft worden, weil er seinen Unteroffizier mißhandelt hatte. Er war ein vielfach vorbestrafter, brutaler, gefährlicher Mensch. Aber auch der Wetter war auf seine Art gefährlich.

"Hören Sie zu, Inspektor. Ich will Ihnen nicht drohen. Sie sollen keine Gelegenheit haben, mich wieder ins Kittchen zu stecken. Aber eins sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich in acht!"

"Sie reden zu viel", meinte der Wetter gutmütig. "Am Ende kommen Sie noch ins Parlament."

Harry kochte vor Zorn und konnte vor Aufregung nicht sprechen. Er wandte sich kurz zu dem Sergeanten um und legte mit zitternder Hand seine Papiere auf das Pult.

"Gerissen sind Sie ... wirklich gerissen", stieß er schließlich wütend hervor. "Leute wie mich können Sie ja leicht fangen, aber warum machen Sie sich denn nicht hinter Shelton? Warum fangen Sie den nicht? Das kriegt kein Polizist in England fertig! Nicht einmal die Amateure!"

Der Wetter antwortete nicht darauf. Er interessierte sich im Augenblick nicht für Clay Shelton. Die Bemerkung über Amateurdetektive war natürlich auf ihn gemünzt, aber er kümmerte sich nicht weiter darum.

Aber als er nach Scotland Yard zurückkehrte, erfuhr er, dass er sich in Zukunft doch eingehend mit Mr. Shelton befassen mußte.

Einen Mann wie Shelton gab es auf der ganzen Welt nicht wieder. Fünfzehn Jahre lang war es ihm bisher gelungen, unter den verschiedensten Namen Kreditbriefe, Schecks, Tratten und andere Wertpapiere zu fälschen. Und fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.

Inspektor Vansitter saß niedergeschlagen und mit düsterem Gesichtsausdruck im Büro seines Vorgesetzten.

"Es tut mir außerordentlich leid, Vansitter, aber es geht Ihnen ebenso wie allen anderen Beamten", sagte Colonel Macfarlane. "Es ist noch das Beste, was Ihnen passieren kann, dass ich Ihnen die Bearbeitung des Falles nehme und sie einem anderen übertrage. Wirklich ein Glück für Sie, dass alle Leute, die sich bisher mit Sheltons Fälschungen befaßt haben, auch nur Mißerfolg hatten."

"Wir können ihn nicht fangen, weil wir seine Person ja gar nicht kennen", entgegnete Vansitter, "und vor allem, weil er vollkommen allein arbeitet. Nur ein glücklicher Zufall könnte uns helfen. Wenn eine Frau in die Sache verwickelt, wenn er verheiratet wäre oder sonstige Helfershelfer hätte, wäre er nicht fünfzehn Jahre lang unentdeckt geblieben. Ich glaube kaum, dass es jemandem gelingen wird, Shelton zu fassen, wenn er nicht einen groben Schnitzer machen sollte. Höchstens ..."

Der Inspektor wollte nicht weitersprechen, bevor er nicht von seinem Vorgesetzten dazu ermutigt wurde. Colonel Macfarlane wußte sehr wohl, wen er meinte, sagte aber nichts, da er die Verantwortung nicht allein tragen wollte.

"Der Wetter", sagte Vansitter schließlich.

Der Colonel runzelte die Stirne.

"Der Wetter!" Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

"Wetter" Long hatte studiert und war Polizeibeamter, obwohl er sich den Sohn eines Millionärs nennen konnte. Er wandte sich diesem Beruf zu, weil er von Cambridge relegiert wurde. Mit Schimpf und Schande schickte man ihn nach Hause zurück, weil er einen Universitätspedell verprügelt hatte. Sein Vater war sehr böse darüber und sagte seinem Sohn Arnold, dass er in die weite Welt gehen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Der Wetter tat das auch und erschien einen Monat später wieder im Hause seines Vaters, und zwar in der Uniform eines Polizisten. Und alle Bitten und Drohungen Sir Godleys konnten ihn nicht dazu bewegen, von seinem Entschluß abzulassen.

Wegen Arnolds einflußreicher Beziehungen hätten es seine Vorgesetzten gern gesehen, dass er nicht so schnell avancierte. Sie fürchteten den Vorwurf der Bevorzugung. Sicher würden im Parlament Anfragen kommen, wenn man ihn außer der Reihe beförderte. Trotzdem war er aber nach zwei Jahren Sergeant, denn es gelang seinem klugen Vorgehen, einige berüchtigte Verbrecher zu fassen.

"Reines Glück", sagten seine Kollegen und Vorgesetzten von Scotland Yard. Und als er sich weiter auszeichnete, konnte man nicht umhin, ihm die Stelle eines Polizeiinspektors zu geben, weil ihn der Minister des Innern selbst zu dieser Beförderung vorschlug. Den "Wetter" nannten sie ihn, weil er gern herausfordernd sagte: "Wetten, dass?"

Aber er war kein Mann nach dem Herzen der Beamten von Scotland Yard, und sie hielten ihn den jüngeren Leuten auch nicht als leuchtendes Beispiel vor.

Wetter Long war groß, schlank und hübsch und verfügte über die Kraft eines trainierten, geschulten Körpers. Er zeichnete sich besonders im Laufen aus und hatte als Boxer seit zwei Jahren den Meistertitel für Amateure im Mittelgewicht. Klettern konnte er wie eine Katze, und er besaß auch etwas von der Zähigkeit und dem Instinkt dieses Tieres.

Auf seinem langen, schmalen Gesicht lag gewöhnlich ein Lächeln, denn er betrachtete Leben und Welt als einen großen Scherz.

"Meinen Sie wirklich, der Wetter wäre dieser Aufgabe gewachsen?" fragte Colonel Macfarlane und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Das kann ich eigentlich nicht riskieren. Er stellt sicher irgend etwas Unmögliches an, und wir müssen nachher wieder die Vorwürfe hören ... und doch, man müßte es überlegen..."

Er dachte den ganzen Tag darüber nach, und um fünf Uhr abends ließ er Arnold Long in sein Büro kommen.

Mit einem vergnügten Grinsen hörte der Wetter, was ihm sein Vorgesetzter zu sagen hatte.

"Nein, ich brauche die Akten nicht einzusehen, ich weiß alles auswendig, was über Shelton berichtet worden ist. Geben Sie mir drei Monate Zeit, dann sitzt der Mann hinter Schloß und Riegel."

"Nehmen Sie die Sache nur nicht zu leicht", warnte Colonel Macfarlane.

"Wetten, dass?"

Kapitel 2



An einem schönen Frühlingsmorgen ging Mr. Shelton die Lombard Street entlang, in der ausschließlich große Bankhäuser liegen. Er schwang seinen sorgfältig zusammengerollten Schirm und dachte an die Zeiten, als hier noch Pfandleiher und Geldwechsler ihre Geschäfte hatten.

Vor einem Gebäude mit einer blendenden Granitfassade hielt er an und betrachtete die monumentale Architektur, als ob er ein Tourist wäre, der sich zum ersten mal London anschaute.

"Was ist das für ein Gebäude?"

Der Polizist, den er fragte, stand gerade in der Nähe des Gehsteigs.

"Die City & Southern Bank."

"Donnerwetter", sagte Shelton bewundernd. "Wirklich stattlich!"

Ein Auto hielt vor dem Gebäude. Der Chauffeur sprang heraus und riss den Wagenschlag auf. Zuerst stieg ein schönes junges Mädchen aus, dann eine ältere Dame mit ernstem Gesicht und schließlich ein hübscher junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und Monokel.

Die drei gingen in die Bank, und der Polizist trat zu dem Chauffeur.

"Wie lange haben sie wohl in der Bank zu tun?"

"Vielleicht fünf Minuten", erwiderte der Mann und streckte sich behaglich auf seinem Sitz aus.

"Wenn es aber länger dauern sollte, müssen Sie drüben auf der anderen Seite parken..."

Der Polizist gab ihm noch einige Anweisungen und kehrte dann wieder zu dem "Touristen" zurück.

"Sie sind wohl fremd in London?"

"Ja. Ich bin erst vor kurzem aus Südamerika zurückgekommen. Dreiundzwanzig Jahre war ich dort. Liegt nicht auch das Gebäude der Argentinischen Bank hier in der Nähe?"

Der Polizist gab ihm Auskunft, aber Mr. Shelton machte keine Anstalten, dorthin zu gehen.

"Es ist schwer, zu glauben, dass in dieser Straße Millionen und aber Millionen von Goldreserven im Depot liegen."

"Ich habe sie auch noch nicht zu sehen bekommen", meinte der Beamte und lächelte ironisch. "Aber zweifellos ... "

Plötzlich hob er die Hand halb zum Gruß. Eine Autodroschke war vorgefahren, und ein junger Mann war ausgestiegen. Er sah den Polizisten vorwurfsvoll an und betrachtete Mr. Shelton mit einem prüfenden Blick. Dann verschwand er auch in der Bank.

"War das ein Polizeibeamter?" Shelton hatte den unterbrochenen Gruß wohl bemerkt.

"Nein, ein Herr aus der City, den ich kenne", entgegnete der Polizist und ging zu dem Chauffeur der Droschke, um auch ihm Instruktionen zu geben.

Als Wetter Long in die Bank kam, sah er das hübsche Gesicht des jungen Mädchens am Schalter und blieb einige Augenblicke stehen, bevor er in das Privatbüro des Direktors trat. Der kleine, untersetzte Herr mit dem kahlen Kopf erhob sich sofort bei seinem Eintritt und schüttelte ihm herzlich die Hand.

"Entschuldigen Sie mich, bitte, noch ein paar Minuten, ich muß eben eine Kundin begrüßen."

Mit diesen Worten verschwand er aus dem Büro, kam aber nach kurzer Zeit wieder. Er lächelte und rieb sich die Hände.

"Das ist eine charaktervolle Frau", sagte er. "Haben Sie die Dame gesehen?"

"Ja, sie ist wirklich ungewöhnlich hübsch."

"Ach, Sie meinen die Sekretärin. Ich spreche aber von der älteren Dame, Miss Revelstoke. Sie ist schon fast dreißig Jahre meine Kundin. Die sollten Sie eigentlich kennenlernen. Der junge Mann, der sie begleitet, ist ihr Rechtsanwalt. Etwas eitel und stutzerhaft, aber er wird sicher Karriere machen."

Durch ein kleines, viereckiges Fenster konnte man von dem Privatbüro aus die lange Reihe der Schalter beobachten. Die ältere Dame zählte gerade ein Bündel Banknoten, das ihr der Kassierer ausgehändigt hatte. Ihre Sekretärin schien sich zu langweilen, denn sie betrachtete die schön geschnitzte Decke des prachtvollen Raums. Ihr anziehendes Gesicht verriet Lebhaftigkeit und Intelligenz. Den freundlich lächelnden jungen Mann neben Miss Revelstoke beachtete er kaum. Plötzlich sah die junge Dame zu dem Fenster hinüber und begegnete Longs Blick. Eine Sekunde schauten sie einander wie gebannt an, dann wandte sich der Wetter schnell ab. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, dass der Bankdirektor dauernd zu ihm gesprochen hatte.