Migration – Asyl – Integration
F.A.Z.-eBook 38
Frankfurter Allgemeine Archiv
Herausgeber: Jasper von Altenbockum
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher
Key Account Management Archivpublikationen:
Christine Pfeiffer-Piechotta, c.pfeiffer-piechotta@faz.de
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2015 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Titelfoto: © Fotolia / Monkey Business
ISBN: 978-3-89843-385-3
Von Jasper von Altenbockum
Doch das ist nur die Statistik. Ist Deutschland wirklich das, was es sein möchte? Wird Deutschland auch in Zukunft so sein, wie es sein möchte? Die Bundesrepublik scheint zumindest ein Land zu sein, wie es sich Auswanderer wünschen – warum sonst sollten sie so zahlreich hierherkommen, warum sonst sollte jeder dritte EU-Migrant ausgerechnet Deutschland als sein Ziel wählen? Das passt nicht so ganz zu den Bildern, die viele Deutsche gerne von ihrem Land zeichnen oder gezeichnet bekommen: viel zu abweisend, noch immer integrationsfeindlich, diskriminierend, jedenfalls ohne wirkliche »Willkommenskultur«. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wer Arbeit finden will, dem haben sich selten so gute Möglichkeiten geboten wie jetzt. Wer sich einfügen will, dem werden keine Hindernisse in den Weg gelegt.
Warum Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinanderfallen, liegt an einer anderen Zahl. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen, die nach Deutschland kommen, aber im Ausland geboren sind, können nur schlecht Deutsch – sprechen, lesen, schreiben. Jeder dritte junge Einwanderer bleibt ohne Berufsabschluss. Das sind dreimal so viele wie junge Deutsche. Diese Zahl wirft nicht nur einen Schatten auf die Generationen, die den Eingewanderten folgen und die schon das eigentliche Integrationsproblem früherer Einwanderungswellen waren. Sie beantwortet auch die Frage etwas weniger freundlich, ob hier ein Deutschland heranwächst, wie es sich die Deutschen – die alteingesessenen und die eingewanderten – wünschen können.
Die Reaktionen auf solche Fehlentwicklungen fallen so unterschiedlich aus, wie man sich dieses künftige Deutschland vorstellt. Die einen setzen auf ein Gemeinwesen, das von der Selbständigkeit und Freiheit seiner Bürger lebt, die anderen auf eines, das Gleichheit und Fürsorge garantiert. Die einen suchen die Ursachen deshalb eher bei den Ausländern, von denen sie mehr Initiative verlangen, die anderen eher bei den Deutschen, von denen sie mehr Zuwendung erwarten. Nirgends wird das so deutlich wie in der Auseinandersetzung darüber, warum junge Ausländer (oder junge Deutsche mit Migrationshintergrund) keinen Ausbildungsplatz finden. Das Argument, sie würden wegen ihres Namens diskriminiert, scheint unwiderstehlich zu sein. Warum kommt nicht viel häufiger auch anderes zur Sprache, das wesentlich lebensnäher ist? Etwa, dass viele Jugendliche einfach nicht wollen, sondern lieber »hartzen«? Dass die Eltern ganz offenbar versagt und versäumt haben, ihren Kindern beizubringen, dass sie gutes Deutsch lernen müssen, um hierzulande eine Chance zu haben? Oder dass in den Schulen noch immer etwas grundfalsch läuft? Oder dass nicht politisches Mitleid oder willkommenskulturelle Streicheleinheiten zum Erfolg führen, sondern klare Anforderungen, gute Leistungen, konsequente Regeln und der Respekt vor Gesellschaft und Gesetzen?
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg ist die oberste Bundesbehörde für das Asylverfahren. F.A.Z.-Foto / Philip Lisowski.
Einwanderung lässt sich nur begrenzt »steuern«, und nicht jede Form von Einwanderung kann an denselben Prinzipien gemessen werden. Wer aus seiner Heimat flieht, um Krieg und Hunger zu entgehen, der hat erst einmal andere Bedürfnisse als der EU-Bürger, der Arbeit sucht. Doch spätestens in der zweiten Generation entscheidet sich, ob Einwanderung mehr oder weniger dem Zufall überlassen wird oder aber »kontrolliert, fair und im Einklang mit dem nationalen Interesse« geschieht, wie es der britische Premierminister David Cameron in der vergangenen Woche für Großbritannien und die EU forderte. Tut sie das nicht, setzt also Einwanderungspolitik nicht schon in der ersten Generation mit einer klaren Linie an, verändert sie das Land in eine Richtung, die nicht zu mehr Selbstbestimmung und Freiheit seiner Bürger führt, sondern zu mehr staatlichen Eingriffen, Überwachung und Verwaltungsaufwand – oder, wegen Überforderung, zum Verlust staatlicher Autorität.
Es ist kein Widerspruch, dass ausgerechnet die Befürworter von Selbsthilfe, Freiheit und Anpassung auf eine »unfreie«, also reglementierte Einwanderung dringen. Und es ist kein Widerspruch, dass Befürworter einer mehr oder weniger ungezügelten Einwanderung auch die Sozialingenieure sind, die im staatlichen Mehraufwand, in der nacheilenden Steuerung oder vorbeugenden Kontrolle der Gesellschaft nichts Schlechtes erkennen können. Der Widerstand, den ein wachsender Rechtspopulismus gegen diese Bevormundung durch sorglose Eliten richtet, gehört auch schon zu dem anderen Deutschland, das langsam, aber sicher entsteht. Damit dieses andere Deutschland ein Deutschland bleibt, das man sich wünscht, sollte es nicht ihnen und dem Zufall überlassen bleiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.2014
Von Jonathan Fischer
»Beim Freitagsgebet in der Moschee musterten die Kämpfer unter den Wollmasken uns Jugendliche. Alle, die stark genug zum Kämpfen schienen, mussten mitkommen. Sogar 14-Jährige wie ich. Zum Glück war ich für mein Alter sehr klein und dünn geraten. Niemand von uns Jugendlichen wollte zum Töten ausziehen. Wir wollten lieber Fußball spielen und Filme schauen, so wie früher, bevor die islamistischen Shabaab-Milizen unsere Stadt besetzten und Kämpfer aus Afghanistan, Arabien und Nordamerika durch die Straßen patrouillierten. Sie verboten uns das Fernsehen und die Musik. Alle Frauen mussten sich verschleiern. Und Fußball spielen durften wir nur noch in langen Hosen.
Am nächsten Freitag ließ mich meine Mutter nicht mehr zur Moschee gehen. Doch die Milizen durchkämmten alle Häuser: »Seid ihr gläubige Muslime? Dann müsst ihr eure Kinder mit uns gegen die Christen kämpfen lassen!« Wer nicht folgte, bekam eine Waffe an den Kopf gehalten. Meine Mutter flehte um mein Leben. Ich sei ihr Ältester. Wie solle sie ohne mich und meinen Vater, der als LKW-Fahrer bei einer Minenexplosion ums Leben gekommen war, meine vier Geschwister großziehen? Außerdem hätte ich noch zu schwache Arme, um ein Maschinengewehr zu halten. So handelte sie einen Aufschub heraus. Beim nächsten Mal nutzte ihr Bitten nichts mehr: Die Milizionäre erklärten, dann müsse ich eben mit einer Pistole kämpfen. Sie würden in der Nacht wiederkommen und mich mitnehmen. Meine Mutter sagte mir, ich müsse die Stadt verlassen. In ein anderes Land flüchten. Ohne sie. Da habe ich geweint: »Mama, mit dir gehe ich überall hin. Aber wie soll ich ganz alleine durch die Fremde kommen?«
München-Giesing, eine helle, karg möblierte Altbauwohnung. Mohamed öffnet die Tür, reicht höflich und fast etwas schüchtern die Hand und bietet ein Glas Wasser an. »Ich bin gerade am Kochen. Möchten Sie mitessen?« Ein Lächeln huscht über sein rundes Gesicht. Man merkt dem etwas pummeligen Jungen in Sandalen und kurzer Hose die Genugtuung an, Gastgeber zu sein. Einzuladen. Zu einem Essen, das er sich vom eigenen Geld leistet, in einer Wohnung, die er selbständig in Schuss hält. In der Küche duftet es nach Kreuzkümmel und Curry. Mohamed, den seine Freunde nur Moha nennen, sagt, er habe das Kochen von seiner Mutter gelernt. So wie das Putzen. Die Wohnung wirkt erstaunlich aufgeräumt – zumindest für einen Jugendlichen, dessen Kontrolle sich auf ein, zwei wöchentliche Treffen mit seinem Betreuer beschränkt. Als ob die Ordnung das vergangene Chaos, die Wunden der Flucht, die Gedanken an die Zurückgebliebenen in Schach halten könnte.
Auch die siebzehnjährige Julie ist unter Lebensgefahr aus ihrer afrikanischen Heimat geflohen. Die Hoffnung auf ein sicheres und besseres Leben in Deutschland hat sie das Risiko der Flucht eingehen lassen. F.A.Z.-Foto / Henning Bode.
Seit drei Jahren wohnt Mohamed in einer Wohngemeinschaft für Jugendliche. 19 Jahre ist er inzwischen alt, auch wenn er mit seinen Pausbacken und dem unbefangenen Blick oft jünger geschätzt wird. Obergiesing, der Bolzplatz um die Ecke, die sommerlichen Isarauen: Sie sind längst zur Heimat geworden. Als Moha, so wie Tausende anderer somalischer Kinder, auf die Flucht geschickt wurde, hatte er keine Ahnung von Deutschland. Sicherheit sollte es dort geben, eine Chance auf ein besseres Leben. Und ja, natürlich, Fußball: »In Somalia haben wir über Satellitenfernsehen die Spiele der Bundesliga verfolgt. Ich kannte die Spieler von Bayern München. Wir haben das nur anders ausgesprochen: Baia Munk.« Baia Munk! Moha und sein somalischer Mitbewohner müssen laut lachen. Ansonsten, sagt Moha, würden sie vermeiden, über die Vergangenheit zu sprechen.
»Wenn ich an Somalia denke, erinnere ich mich vor allem an den Krieg. Gewehrsalven Tag und Nacht. Nach Einbruch der Dunkelheit kamen die Bomber aus Äthiopien über unsere Stadt geflogen, und wir hörten Detonationen und sahen Feuer. Viele Nächte lang konnte ich deshalb nicht schlafen. Meine Mutter stellte mir Gurey, einen 35-jährigen Mann, vor, der ebenfalls der Rekrutierung durch al Shabaab entfliehen wollte. Er würde mich mitnehmen. Um meine Flucht zu finanzieren, verkaufte meine Mutter die Hälfte unserer kleinen Kuhherde. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich Mamas kleiner Junge. Nichts hatte mich darauf vorbereitet, was ich die nächsten Monate erleben sollte. Die endlosen Nachtfahrten in vollkommen überfüllten Kleinlastern, die Enge von 30, 40 Personen, die sich auf der Ladefläche zusammenkauerten. Das ständige Sich-Verstecken. Der Hunger – und die Unsicherheit, wann einem die Schleuser wieder ein bisschen Wasser und ein paar Salzkekse geben würden. Wenn wir keinen Transport fanden, sind wir manchmal nächtelang zu Fuß gegangen. Tagsüber schliefen wir am Straßenrand. Vor Menschen in Uniformen lernte ich mich zu fürchten – egal ob in Äthiopien, Sudan oder Libyen. Gurey musste dauernd für uns Schmiergeld zahlen, sich demütigen lassen. Manchmal haben sie uns geschlagen. Einfach so. Weil wir für sie Freiwild waren.«
Moha serviert Reis mit Hühnchen und Kartoffeln. Auf seinem Handy laufen somalische Schlager. Sein Freund Hussein stößt dazu. Er braucht Mohas Rat: Ob er die Lehre als Lagerist beim Baumarkt empfehlen kann? »Ich sortiere Kisten«, erklärt Moha. »Mein Chef sagt, er kann sich auf mich verlassen. Wenn ich so weitermache, darf ich bald Gabelstapler fahren.« Mohas Enthusiasmus ist mit Händen zu greifen. Sein Vater, der Lastwagenfahrer, hätte ihn so sehen sollen! Und auch seine Arbeitgeber können froh sein, denn Lageristen-Lehrlinge sind hierzulande schwer gesucht. Genauso wie Elektriker, Heizungsbauer, Bäcker. Die deutsche Wirtschaft kann sich angesichts geburtenschwacher Jahrgänge und der hohen Ansprüche heimischer Jugendlicher Zuwanderer wie Moha nur wünschen. »Das Schönste für mich ist es«, sagt Moha, »wieder zur Schule zu gehen. In Somalia mussten wir zu Hause bleiben – aus Angst, dass uns eine Granate treffen könnte.« Seinen Quali hat Moha bestanden. Ohne Probleme. Und dass sich in sein Schulbuch-Deutsch manchmal ein »krass« einschleicht, er seinem Mitbewohner im Streit auch mal ein »Wichser« an den Kopf wirft, kann man wohl als Teil einer gelungenen Integration verbuchen. Denn in letzter Zeit hört Moha auch deutschen Rap. »Am besten gefällt mir Bushido«, erklärt Moha. »In der Schule habe ich ein Referat über seine Raps gehalten. Was seine Texte sagen.« Hat er selbst Ambitionen als Rapper? Moha schaut amüsiert: »Die schimpfen immer. Aber was soll ich schimpfen? Mir gefällt mein Leben.«
»Die Schlepper haben uns all unser Geld abgenommen, dann verfrachteten sie uns versteckt unter Lastwagenplanen durch die Wüste. Wochenlang. Die Hitze und der ständige Durst führte dazu, dass wir bald nur noch kraftlos dahinvegetierten. Und es waren nicht nur Jugendliche auf dem LKW, sondern auch Mütter mit ihren Babys. Die Schlepper nahmen auf niemanden Rücksicht. Ob du krank warst, Bauchschmerzen oder Durchfall hattest. Egal! Nach fünf Monaten erreichten wir Tripoli. Dort pferchten uns die Schlepper in einen Verschlag am Stadtrand. Wir durften das Haus nicht verlassen, weil die libysche Polizei jeden aufgegriffenen Flüchtling ins Gefängnis steckt. Eines Nachts wurden wir an den Strand gekarrt. Zu einem Holzkutter für vielleicht zwanzig Personen. Aber wir waren mehr als siebzig. Die Schlepper fragten, wer von uns einen Außenbordmotor bedienen könne. Dann schickten sie uns los. Alleine. Sie gaben uns lediglich ein paar Kanister Treibstoff und Trinkwasser mit – und die Anweisung, immer geradeaus zu fahren. Kompass? Navigationsgeräte? Rettungswesten? Gab es nicht. Niemand wusste, wann wir ankommen würden. Oder ob überhaupt. So fuhren wir drei Tage und drei Nächte lang. Das Meer machte mir Angst. Und von den großen Wellen wurde mir schwindlig. Hoch und runter. Hoch und runter. Tag und Nacht. Normalerweise würde es bei einer so großen Gruppe von Somalis lebhaft zugehen. Aber es war ganz still an Bord. Niemand hatte die Kraft zum Reden. Niemand wagte es, zu schlafen. Ich klammerte mich fest, um nicht aus dem Boot zu fallen. Dann wäre ich verloren gewesen, denn ich konnte wie die meisten anderen nicht schwimmen.«
»Du hast Glück gehabt«, sagt der Sozialpädagoge mit dem graumelierten Pferdeschwanz, »du bist als Letzter noch auf die Liste gekommen.« Heinz schaut Moha erwartungsvoll an. Wie ein Vater, der seinem Sohn ein überraschendes Erbe eröffnet. Die Liste: Sie bezieht sich auf die Antragsstellung beim städtischen Wohnprojekt »Wohnraum für Flüchtlinge«, denn auf dem normalen Wohnungsmarkt besteht wenig Hoffnung für junge Lehrlinge wie Moha. Erst recht solche mit nichtdeutschen Nachnamen. Auf dem Tisch zwischen Heinz und seinem 19-jährigen Schützling zwei dampfende Kaffeetassen – und ein Packen Behördenschreiben. Mohas Post der letzten Tage. Im verglasten Büroraum der Jugendhilfe München in Schwabing lernt er die Ordnung eines deutschen Erwachsenenlebens. Behördenanrufe, Arztbesuche organisieren, Anträge ausfüllen. Zweimal die Woche trifft Moha seinen Betreuer. »Er hört mir immer zu. Und er hilft, wenn es Probleme mit der Schule oder der Lehre gibt.« Heinz verbessert den Jugendlichen geduldig beim Vorlesen der Vordrucke: »Haus-halts-an-gehörige« – »Sind das mein Bett und Schrank?« – »Nein, deine Frau. Oder bist du noch ledig?« Gelächter. »Ich hätte dich schon auf meine Hochzeit eingeladen«, sagt Moha. »Und was bedeutet eigentlich Seniorenwohngruppe?«
»In der vierten Nacht sahen wir dann die Lichter einer Küstenstadt. Ein Schiff der maltesischen Küstenwache nahm uns ins Schlepptau. An Land bekamen wir alle warme Decken umgelegt. Wir waren in Europa. Aber wir waren noch längst nicht frei. Die Polizei hatte uns in verschiedene Gruppen eingeteilt. Wir Jugendliche sollten in ein anderes Gefängnis als die Erwachsenen. Aber ich wollte mich nicht von Gurey trennen lassen. Wie sollte ich allein zurechtkommen? Ich konnte weder Englisch noch eine andere europäische Sprache. Ich protestierte so lange, bis sie mich zu Gurey ließen. Wir waren 50 Leute in einem kleinen Raum. Zum Schlafen mussten wir uns Kopf an Fuß aneinanderdrängen. Es fühlte sich fast so eng an wie zuvor auf dem Fischerboot. Aber ich war zumindest bei Gurey. Ein Jahr lang blieb ich in dieser Zelle. Im Gegensatz zu den anderen Gefangenen gewährten mir die Wärter Ausgang. So lernte ich auf Malta andere somalische Flüchtlinge kennen. Sie klärten mich auf: Man würde mich als Jugendlichen ziehen lassen. Ich würde Papiere bekommen. Und dann könnte ich ein Flugzeug nach Deutschland oder Dänemark besteigen. Ein somalischer Flüchtling, der schon ein paar Jahre auf Malta arbeitete, kaufte mir ein Flugticket. Vielleicht hatte er Mitleid, weil ich so jung war. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Und auch von Gurey weiß ich nicht, ob er noch im Gefängnis in Malta sitzt.«
Auf dem Bolzplatz ist Moha wie ausgewechselt. Er dribbelt geschickt, lässt ein, zwei Gegenspieler aussteigen, hält kurz inne, bevor er flankt: »Geh vor!«, ruft er und »Doppelpass!« Heinz steht an der Linie und schaut so zufrieden wie ein Trainer nach einer taktisch gelungenen Einwechslung. »Moha hat es faustdick hinter den Ohren.« Dem hilfsbedürftigen, verloren wirkenden Flüchtlingskind von einst trauert er nicht nach. »Sobald er eine eigene Wohnung findet, können wir ihn guten Gewissens entlassen.« Wenn der Sozialpädagoge die Somalis daheim besucht, dann meist nur noch zum gemeinsamen Fußballschauen. Dass der einstige Analphabet Moha den Hauptschulabschluss geschafft hat, aus einem mittellosen Flüchtling ein deutscher Steuerzahler heranwächst – das ist auch der Jugendhilfe zu verdanken. In Deutschland gewährleistet sie für minderjährige Flüchtlinge besonderen Schutz. Sie dürfen nicht abgeschoben werden. Und haben das Recht auf Betreuung. So erhielt Moha von Anfang an Deutschunterricht, bekam später einen Platz in der auf Flüchtlinge spezialisierten Schlauschule. Pädagogen wie Heinz brachten ihm bei, vernünftig zu wirtschaften. Und klärten ab, ob er eine Traumatherapie braucht. »Ich habe Glück gehabt«, sagt Moha. »Die meisten haben auf der Flucht Freunde sterben sehen. Andere wurden von den Schleppern gefoltert, um Geld von den Familien daheim zu erpressen.« Das Wort zynisch gehört nicht zu Mohas Wortschatz. Aber seine Geschichte zeigt, wie europäische Flüchtlingspolitik funktioniert: Menschenverachtend nach außen, sehr sozial nach innen. Erst wer alle Schikanen überlebt – die kriminellen Schlepperbanden, willkürliche Gefängnisaufenthalte, die tödlichen Überfahrten, aber auch nordafrikanische Grenzpolizisten, die, von EU-Geldern zur Flüchtlingsabwehr angespornt, Migranten in Verliese sperren oder gleich in die Wüste aussetzen -, der darf mit unserer Hilfe rechnen. Wiedergutmachung? Oder einfach die Auslagerung des schlechten Gewissens?
»Ich bin dann mit ein paar anderen jungen Somaliern in ein Flugzeug Richtung Dänemark gestiegen Von dort nahmen wir den erstbesten Zug Richtung Deutschland. An der Grenze kam die Polizei. Sie fragten mich: ,What is your name? How old are you? Where do you go?‹ Ich war erstaunt, dass sie ganz normal mit uns geredet haben. So eine Polizei kannte ich nicht. Sie sagten, man darf nicht ohne gültige Papiere einfach so einreisen. Dann brachte man mich in einem Polizeibus nach München.
Ungefähr einmal im Monat rufe ich meine Mutter an. Ich habe sie jetzt seit fünf Jahren nicht gesehen, und sie behandelt mich immer noch wie einen 14-Jährigen. Sie redet sehr streng mit mir: ,Lernst du auch genügend für die Schule? Trinkst du Alkohol? Rauchst du?‹ Ich kann spüren, dass sie stolz auf mich ist. Aber sie glaubt mir nicht, was ich auf der Flucht durchgemacht habe. Ich will ihr das Schlimme nicht so genau erzählen. Manchmal sagt sie: ,Ich werde deinen Bruder nachschicken.‹ Aber ich versuche, ihr das auszureden. Zu viele sterben auf der Flucht. Mein Bruder soll nicht all das erleben, was ich erleben musste. Auf keinen Fall.«
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.10.2014
Von Reiner Burger und Eckart Lohse
Die schnelle Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern hat für Ulbig hohe Priorität. Daher findet er es misslich, wenn das durch die langwierige Beschaffung von Passersatzpapieren erschwert wird. Was wie ein Detail der Verwaltungsarbeit klingt, ist eines der größten Probleme im Umgang mit Menschen, die kein Asyl zugesprochen bekommen haben und abgeschoben werden sollen. Achtzig Prozent von ihnen haben keine Pässe oder sonstige Ausweisdokumente oder behaupten zumindest, dass das so sei. Es ist schwierig bis unmöglich, die Menschen in ihr Herkunftsland zurückzuschicken, wenn sich nicht nachweisen lässt, welches das ist.
Immer wieder geben Flüchtlinge auch falsche Herkunftsländer an: Nigerianische Asylbewerber behaupten oftmals, aus Kamerun, Zimbabwe oder Sudan zu stammen. In einigen Fällen kann das dann zwar durch eine Sprach- und Textanalyse widerlegt werden. Dadurch entstehen aber zusätzliche Kosten, und durch den bürokratischen Aufwand zieht sich das Verfahren weiter in die Länge. Ein interner Behördenbericht mit dem Titel »Vollzugsdefizite« kam schon vor knapp vier Jahren zu der Erkenntnis, dass Schlepperorganisationen Flüchtlingen rieten, keine Papiere vorzulegen. Mittlerweile sei das »das wirksamste Mittel, um in Deutschland einen Daueraufenthalt zu erzwingen«, steht in dem 17 Seiten starken Papier, an dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Bundespolizei und sieben Bundesländer mitwirkten.
Zurück nach Dresden. Die zweitgrößte Gruppe der Asylbewerber, die nach Sachsen kommen, ist die der Tunesier. Nur aus dem vom Krieg gebeutelten Syrien gelangen noch mehr Menschen in das ostdeutsche Land. Doch während die Syrer von den deutschen Behörden nach kürzester Prüfung Asyl bekommen, ist die Anerkennungsquote bei den Tunesiern in Sachsen bei null. Ulbig plädiert deswegen sogar dafür, auch Tunesien zum sicheren Herkunftsland zu erklären, was eine Ablehnung von Asylbewerbern beschleunigen würde. Doch die tunesische Botschaft und der Konsul halten nach Schilderung der sächsischen Regierung ihre Zusagen zur Hilfe bei der raschen Beschaffung von Ersatzpapieren nicht ein. Die Zahl der nicht bearbeiteten Fälle sei von 240 im Mai vorigen Jahres auf 400 zum Jahresende gestiegen, heißt es in Dresden. Gerade für ein vergleichsweise kleines Bundesland wie Sachsen sind das viele.
Tunesien ist nicht das einzige Land, das Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten bereitet. In einer Studie der deutschen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk EMN werden insgesamt 29 Länder genannt, darunter Ägypten, Indien, Marokko und Somalia. Immer wieder scheitert die Identitätsfeststellung auch daran, dass Länder keine funktionierenden Meldesysteme haben wie etwa Afghanistan. Weil dort wie in Pakistan Korruption weitverbreitet ist, führen Flüchtlinge oft gefälschte Papiere bei sich, weshalb das BAMF eine eigene Abteilung zur physikalisch-technischen Urkundenuntersuchung eingerichtet hat. Eine ganz eigentümliche Verschleierungsmethode stellen Behörden immer wieder bei somalischen Asylsuchenden fest. Bei ihnen komme es »zu Manipulationen an den Fingerkuppen, um einen Abgleich der Fingerabdrücke zu verhindern«, heißt es in der Studie. Weil Ausländerbehörden mit alldem überfordert wären, können sie die Clearingstelle Passbeschaffung in Trier und die Bundespolizei mit der Beschaffung von Heimreisedokumenten für die (wie es in der Studien ausdrücklich heißt) »Problemstaaten« beauftragen.
Die Zahlen der in Deutschland ankommenden Asylbewerber, der nach einem Asylverfahren abgelehnten und der abgeschobenen, lässt sich nicht ohne weiteres in ein Verhältnis setzen. Manche, die geduldet werden oder bei denen es Abschiebehindernisse gibt, halten sich lange, manchmal jahrelang in Deutschland auf, bevor ihr Antrag endgültig abgelehnt und eine Rückführung angeordnet wird. Trotzdem ergibt sich ein interessantes Bild, wenn man die Zahlen nebeneinanderstellt. Im vorigen Jahr wurden etwas mehr als 200 000 Asylanträge in Deutschland gestellt. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums (BMI) wurden gut zwei Drittel von ihnen abgelehnt. Das bedeute, dass die Betroffenen »unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Schutz begehren« könnten. Sofern die abgelehnten Personen nicht freiwillig ausreisen, muss die »logische Konsequenz« laut BMI »eine Aufenthaltsbeendigung sein, die letztlich staatlicherseits mit Nachdruck durchgesetzt werden muss«. Also Abschiebung. Ein »andauerndes Defizit im Bereich der Aufenthaltsbeendigung« ist aus Sicht des vom CDU-Politiker Thomas de Maizière geführten Ministeriums »sehr bedenklich«. Dadurch leide die Akzeptanz der legalen Einwanderung und der humanitär begründeten Aufnahme von Schutzbedürftigen.
De Maizière weiß das, schließlich lebt er in Dresden, in der Stadt, in der – Stichwort Pegida – die Ängste vor einer »Islamisierung des Abendlandes« auf die Straße getragen wurden. Doch der Spielraum des Bundesinnenministers ist gering. Denn für die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern sind die Länder zuständig. »Wenn unter keinem Gesichtspunkt – auch nicht humanitär« ein Aufenthaltsrecht in Betracht komme, so müssten die Länder die Ausreisepflicht »zeitnah vollziehen« heißt es im BMI. Und weiter: »Trotz dieser klaren Zuständigkeitsverteilung besteht ein Vollzugsdefizit.« Gemessen daran, wie zurückhaltend die Bundesregierung sonst mit Kritik am Verhalten der Länder zu sein pflegt, ist das eine ungewöhnlich offene Darstellung der Lage. Zwar sind die Zahlen der Abschiebungen im vorigen Jahr gegenüber 2013 um neun Prozent gestiegen. Vom Januar bis zum November 2014 wurden etwas mehr als 10 000 Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht. Im selben Zeitraum des Jahres 2013 waren es 9200. Doch gemessen daran, dass von den 200 000 Asylbewerbern des vorigen Jahres gut zwei Drittel abgelehnt wurden und abgeschoben werden müssten, sind beides sehr niedrige Werte.
Wie groß das von de Maizières Ministerium beklagte »Vollzugsdefizit« ist, belegen auch die nordrhein-westfälischen Daten. Seit mehreren Jahren steigt die Zahl der Ausreisepflichten im größten Bundesland. Waren es 2010 noch etwas mehr als 26 500, zählte das Innenministerium in Düsseldorf 2014 etwas mehr als 45 000. Ihnen standen 2232 Abschiebungen gegenüber. Wie viele Ausreisepflichtige Deutschland freiwillig verlassen haben, wird nach Angaben des nordrhein-westfälischen Innenministeriums statistisch nicht erfasst das gilt auch für jene abgelehnten Asylbewerber, die sich ihrer Abschiebung entziehen, indem sie untertauchen. »Ausreisepflichtige Personen machen darüber hinaus von ihrem Recht Gebrauch, die Anordnung der Abschiebung beziehungsweise der Abschiebungshaft durch Rechtsmittel und/oder Petitionen überprüfen zu lassen«, schreibt der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger, ein Sozialdemokrat, in der Antwort auf eine kleine Anfrage der CDU-Landtagsfraktion.
In Nordrhein-Westfalen gibt es eine liberale Tradition in der Flüchtlingspolitik. Vor neun Jahren forderte der damalige Oppositionspolitiker Jäger sogar einmal eine Bleiberechtsregelung für alle seinerzeit 7000 von der Abschiebung bedrohten Flüchtlinge im Land. Aktuell setzt sich die rot-grüne Landesregierung mit einer Initiative im Bundesrat dafür ein, dass geduldete Flüchtlingskinder leichter Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Hochschulen bekommen. Bisher besteht für Flüchtlingskinder ein Beschäftigungsverbot, wenn ihre Eltern ihre Herkunft verschleiern, um einer Abschiebung zu entgehen. Allein in Nordrhein-Westfalen soll es Hunderte geduldete Jugendliche geben, die dank guter Schulabschlüsse ein Studium oder eine Ausbildung beginnen könnten.
Mit Verve kämpften im vergangenen Sommer die nordrhein-westfälischen Grünen gegen das Vorhaben der schwarz-roten Bundesregierung, die Staaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-Hercegovina als »sichere Herkunftsländer« einzustufen. Beim Asylrecht handele es sich um ein individuelles Menschenrecht, argumentierten sie. Umso konsternierter waren die Grünen in Nordrhein-Westfalen, als dann das grün-rot regierte Baden-Württemberg im Bundesrat dem Asylkompromiss zustimmte. Im Dezember haben sich dann wiederum die Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen in Düsseldorf ausdrücklich zur Abschiebehaft bekannt. Auch wenn sie »weitestgehend vermieden werden soll« und die Ultima Ratio bei der »Rückführung vollziehbar ausreisepflichtiger« Ausländer darstelle, »wird Nordrhein-Westfalen in Zukunft auf eine eigene Abschiebehafteinrichtung nicht verzichten können«, heißt es in einem Gesetzentwurf zur Abschiebehaft.
Der neuen landesgesetzlichen Norm bedarf es, weil der Europäische Gerichtshof und der Bundesgerichtshof den parallelen Vollzug von Straf- und Abschiebehaft in ein und demselben Gefängnis nicht mehr zulassen. Nordrhein-Westfalen musste die Justizvollzugsanstalt im westfälischen Büren schließen. Sie wird nun modernisiert und soll künftig nur noch für Abschiebehäftlinge genutzt werden. Derzeit ist das Land auf die Amtshilfe von Berlin und Brandenburg angewiesen. Mehr als 100 Abschiebehäftlinge mussten zwischenzeitlich schon im Abschiebungsgewahrsam in Berlin-Köpenick oder in der Abschiebehafteinrichtung in Eisenhüttenstadt untergebracht werden. Der Aufwand ist immens. Stets müssen Beamte der Ausländerbörden die Abschiebehäftlinge von Berlin oder Brandenburg und wieder zurück nach Nordrhein-Westfalen begleiten. Einzelne Landkreise sollen deshalb schon auf Abschiebungen verzichtet haben.
Es gibt viele Gründe für Vollzugsdefizite bei Abschiebungen. Der Bericht des BAMF, der Bundespolizei und der Länder zu dem Thema hat einen hochinteressanten einleitenden Teil. Bevor operative Probleme wie das Fehlen von Papieren, angedrohter Selbstmord oder andere Gründe angesprochen werden, beschreiben die Autoren den Einfluss von »politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf den Abschiebevollzug«. Damit gemeint ist, dass einzelne Abschiebungen häufig von Politikern und Medien so thematisiert würden, dass sie als inhuman erschienen. »Interessierte Kreise« hätten es geschafft, ein länderübergreifendes Netzwerk aufzubauen, um in diesem Sinne auf allen Ebenen Einfluss zu nehmen.
Ein möglichst objektives Bild macht sich an beinahe jedem Tag der Woche Dalia Höhne. Die Sozialwissenschaftlerin, die in Johannesburg »Forced Migration« studiert hat, ist unabhängige Abschiebebeobachterin der Diakonie auf dem Flughafen in Düsseldorf. Die Idee, eine neutrale Schiedsstelle zu schaffen, die beobachtet, ob Abschiebungen regelkonform und ohne unverhältnismäßige Zwangsmittel ablaufen, entstand 2001. Mittlerweile ist das Düsseldorfer Modell Vorbild für andere Flughäfen und wird von der Bundespolizei ausdrücklich gelobt. Häufig muss Höhne aber auch ganz konkrete Hilfe leisten. Regelmäßig lässt sie Flüchtlinge auf ihrem Diensthandy mit Angehörigen telefonieren. »Viele wollen ihre Verwandten über die unerwartete Abschiebung informieren.« Immer wieder müssen mittellose Ausländer mit Handgeld ausgestattet werden, damit sie nach der Landung weiterreisen können.
Vom Flughafen Düsseldorf aus finden wie von den Flughäfen in München und Frankfurt besonders viele Rückführungen statt. Sogenannte Sammelabschiebungen mit manchmal mehr als 70 Flüchtlingen können in Düsseldorf diskret in einem gesonderten Terminal abgewickelt werden. Aber auch von den Einzelabschiebungen bekommen die anderen Fluggäste meistens nichts mit, weil die Flüchtlinge von der Bundespolizei als Erste in die Maschinen gesetzt werden. Allein im ersten Halbjahr 2014 gab es von Düsseldorf aus neun Gruppenabschiebungen, von denen bis auf eine alle von Frontex, der europäischen Grenzschutzagentur, bezahlt und auch anderen EU-Ländern zur Mitnutzung angeboten werden. Die meisten der Abschiebeflüge gehen nach Mazedonien, Serbien oder in das Kosovo.
Dalia Höhne hat schon viele Abschiebeflüchtlinge begleitet. »Manche waren nur ein paar Tage in Deutschland«, erzählt sie. Neulich aber wurde wieder einmal eine Familie abgeschoben, die seit zwanzig Jahren in Nordrhein-Westfalen lebte. »Das lässt mich natürlich nicht kalt.« Manchmal scheitert die Abschiebung in buchstäblich letzter Sekunde, wenn der Rechtsanwalt eines Flüchtlings einen Eilantrag faxt. »Es kam schon vor, dass die Bundespolizei eine Abschiebung an der Flugzeugtür abgebrochen hat.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.2015