Simon Fitzmaurice ist ein mehrfach ausgezeichneter Autor und Regisseur. Seine Filme wurden auf Festivals auf der ganzen Welt gezeigt, und er gewann Preise im In- und Ausland. Er schreibt regelmäßig für The Irish Times. Zurzeit arbeitet Simon Fitzmaurice trotz aller Widerstände an seinem ersten abendfüllenden Spielfilm. Er lebt mit seiner Frau Ruth und den fünf Kindern in Greystones, südlich von Dublin.
Simon Fitzmaurice
Solange das
Leben leuchtet
Mein Körper wird immer schwächer,
aber die Liebe zu meiner Familie
bleibt stark
Aus dem Englischen von
Isabell Lorenz
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Simon Fitzmaurice
Titel der irischen Originalausgabe: »It’s Not Yet Dark«
Originalverlag: Hachette Books Ireland
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Michael Neuhaus, Arnsberg
Titelillustration: © shutterstock/Suzanne Tucker
Umschlaggestaltung: Jana Rumold, LICHTFELD DESIGN
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-1391-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Ruth,
Jack, Raife, Arden, Sadie und Hunter
Ich bin ein Fremdling. Eine andere Rasse. Ich lebe unter euch, aber ich bin anders. So anders, dass es nur Schmerzen bereitet, wenn ich so tue, als sei ich wie ihr. Und doch bin ich wie ihr im selben Maß, wie ich anders bin. Ich bin ein Fremdling.
Ich sehe euer Wesen, wenn ich fernsehe, Musik höre oder lese. Ich war einmal wie ihr. Aber oft fühle ich mich fern von euch.
Mein Wesen hat Gesichter, Namen. Totems. Die Worte, die wir sprechen. Jeder unserer Atemzüge ist Wesen.
Alle bemerken es, aber keiner sieht es.
Auf den Straßen, in den Menschenmengen, keiner sieht es.
Ich war einmal unsichtbar. Ich lebte unter euch, unsichtbar in meiner Verkleidung. Jetzt bin ich der Inbegriff des Andersseins. Ich kann mich nicht verstecken. Ich lebe mit einem Kraftfeld, vor dem ihr den Blick abwendet. Nur die Kinder sehen mich. Ihr zieht sie an euch, wenn ich in eure Nähe komme, aber sie wenden den Blick nicht ab. Ihr geht auf die andere Straßenseite, aber eure Kinder schauen nicht weg. Sie sind noch auf der Suche nach dem, was das Menschsein ausmacht.
Ich erschrecke euch. Ich bin ein Totem der Furcht. Der Krankheit, des Wahnsinns, des Todes. Ich bin ein Prüfstein, dem man aus dem Weg gehen muss.
Doch das tun nicht alle. Die Mutigen kommen näher. Frauen. Kinder. Selten einmal ein Mann. Und ich werde wachgerüttelt.
Die Mutigen sind die, die ich als Freunde ansehe.
Ich bin mit dem Auto in England unterwegs. Auf einer schmalen Landstraße, die zu einer hohen Eiche hinaufführt. Es könnte auch Irland sein. Der Anruf kommt, kurz bevor ich den Baum erreiche. Es ist meine Produzentin, und sie jubelt. Gerade hat sie einen Anruf vom Sundance Film Festival erhalten. Man würde gern unseren Film dort zeigen. Ich spüre, wie sich etwas in mir verschiebt. Sie redet schnell, dann legt sie auf. Ich fahre an dem Baum vorbei. Sie ruft noch einmal an. Sagt, da sei noch ein Anruf gewesen und man sei wirklich ganz begeistert von unserem Film. Wir sind überglücklich, Worte sprudeln aus uns heraus, an die ich mich nicht mehr erinnere. Dann verabschieden wir uns. Ich fahre eine Landstraße hinunter, und ich bin ein anderer geworden.
Ich war schon auf vielen Festivals. Weshalb gerade dieses mir so viel bedeutet, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich mit den Filmen meines Vaters aufgewachsen bin, in einer Zeit, als Robert Redford eine Legende war. Der Unbeugsame war einer unserer Lieblingsfilme. Ich weiß es nicht. Aber ich habe mich oft gefragt, ob womöglich genau in diesem Moment die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) bei mir ausbrach. Dass ich seit Jahren den Atem angehalten hatte. Und mich plötzlich entspannte. Und dass genau in dem Moment etwas aushakte. Etwas hakte aus.
Im Monat darauf kippt mein Fuß weg.
Ich gehe durch Dublin. Vom Stadtteil Rialto zum Park Stephen’s Green. Die Nacht hatte ich im Haus eines Freundes verbracht. Hatte auf dem Fußboden geschlafen. Jetzt höre ich ein klatschendes Geräusch. Mein Fuß auf dem Bürgersteig.
Merkwürdig. Als sei mein Fuß eingeschlafen und schlaff geworden. Es vergeht. Sofort stelle ich eine Verbindung zu den Schuhen her, die ich trage, braunrote, flippige Dinger, in denen ich keinerlei Halt habe. Ich überlege, ob ich mir den Fuß womöglich vergangenes Jahr beim Bergsteigen verletzt habe. Deshalb biege ich von der Grafton Street ab und gehe in ein Geschäft für Sportbekleidung und Trekkingausrüstung, hinauf in die Schuhabteilung. Ich probiere ein Paar Laufschuhe an, bin fest entschlossen, meinem Fuß Halt zu geben.
Ich frage den Verkäufer um Rat. Dies ist ein Laden mit Bergsteigerausrüstung, also wird der Mann mich bestimmt verstehen. Ich erkläre, wie ich vergangenes Jahr im Himalaya klettern war, aber leider mit diesen furchtbaren Schuhen ohne festen Halt, und wie jetzt mein Fuß in den Schuhen auf einmal ganz schlaff wurde. Und ich frage, ob er so etwas schon einmal gesehen hat. Er schaut mich an. Meine Unwissenheit trifft auf seine Besorgnis. Nein, so etwas habe ich noch nie gesehen, sagt er. Der Blick aus seinen Augen wird zu einem Stechen in meinem Magen.
Meine erste Diagnose kommt von einem Schuhverkäufer.
Ich sitze auf einem unbequemen Stuhl in der schäbigen Souterrainwohnung eines Freundes vom College, als eine junge Frau den Raum betritt. Sie ist groß, schlank und schlicht und ergreifend das wunderschönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Mit diesem Freund geht sie in den hinteren Teil des Zimmers. Mein erster Gedanke ist: Wo zum Teufel hat er die nur aufgetrieben? Sie stammt aus Ardee, Grafschaft Louth. Sie spielt in einer anderen Liga als ich. Sie heißt Ruth.
Mein ganzes bisheriges Leben war nichts als die Suche nach Ruth.
Jahre nach dieser ersten Begegnung gehe ich mit meinen Eltern über die O’Connell Street. Wir kamen aus dem Savoy-Kino, und an einer Bushaltestelle vor dem Kaufhaus Clery’s gehe ich an Ruth vorbei. Ich bitte meine Eltern zu warten und laufe ihr hinterher. Wir reden, ohne etwas zu sagen. Die Begegnung findet in unseren Blicken statt. Etwas ist da. Ich bitte sie um ihre Telefonnummer, und sie macht die Handtasche auf. Sie hat kurzes Haar, und in dem schlichten marineblauen Wintermantel sieht sie hinreißend aus. Ich bin dreist. Ich sehe ihren Gehaltszettel und strecke die Hand danach aus, tue so, als wollte ich ihn mir angucken. Ruth gibt mir ihre Telefonnummer, wir verabschieden uns, und ich gehe zurück zu meinen Eltern. Es ist Donnerstag.
Ich rufe nicht an. Es ist einfach zu wichtig.
Am Montag darauf gehe ich von der Haltestelle Lansdowne zur Arbeit. Nach einem Arbeitsaufenthalt in der Ukraine bekam ich einen Job, den sonst keiner wollte. In einem Steuerberatungsbüro mit einem Steuerberater. Das ist das ganze Personal. Er und ich. Ich hatte die Aufgabe, in einem kleinen Büroraum zu sitzen und Anrufe entgegenzunehmen. Es kamen nie welche. Nie. Den ganzen Tag habe ich gelesen. Es war sehr ruhig dort. Bei der Arbeitsvermittlung hieß es, länger als eine Woche hätte es vor mir noch keiner dort ausgehalten. Ich schaffte ein Buch in drei Tagen. Fürs Lesen bezahlt. Seit mehreren Monaten war ich inzwischen da.
Ich stehe bei der Brücke in der Baggot Street und warte mit den vielen anderen Pendlern. Es ist noch nicht einmal Frühstückskaffeezeit, und ich schlafe noch halb. Die junge Frau vor mir hat Kopfhörer auf. Ihr Mantel ist marineblau. Ich begreife und strecke langsam die Hand aus, um sie an der Schulter zu berühren. Ruth dreht sich um. Auch sie schläft noch halb, und es dauert eine Weile, bis sie mich erkennt. Sie wird rot. Ich werde rot. Mit stockenden Bewegungen nimmt sie die Kopfhörer ab, und die Pendler überqueren die Brücke ohne uns.
Ein paar Minuten unterhalten wir uns, bis mir klar wird, dass sie ganz in meiner Nähe arbeitet, und das schon seit Monaten. Dass wir beide denselben Weg zur Arbeit haben, zur selben Zeit kommen, und das schon seit Monaten. Aber dass wir uns erst vier Tage zuvor rein zufällig getroffen haben, das erste Mal seit Jahren. Wie wundersam, wie unheimlich.
Verlegen über alles vernünftige Maß hinaus laufen wir auseinander.
Zum Mittagessen treffen wir uns im Searson’s, einem Pub auf der Baggot Street. Zwei tiefe Teller vollgehäuft mit Pasta stehen zwischen uns. Aber mein Magen ist zugeschnürt. Ruth geht es genauso. Wir können nichts essen. Das ist peinlich. Das ist Liebe.
Am Wochenende gehen wir mit Freunden ins Kino. Ich sitze neben Ruth. Die Luft ist magnetisch aufgeladen von meinem Wunsch, sie zu berühren.
Unser erster Kuss passiert eine Woche später, in einer Kellerbar in der Nähe der Wicklow Street, im Schatten einer Tür.