Bildungsangebote vorbereiten,
durchführen und auswerten
Für Anna, Felix und Florian
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
15., überarbeitete und erweiterte Auflage
(c) 2014 Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau
www.lambertus.de
Umschlaggestaltung, Layout Bilder: Nathalie Kupfermann, Bollschweil
Herstellung: Franz X. Stückle, Druck und Verlag, Ettenheim
ISBN 978-3-7841-2671-5
eISBN 978-3-7841-2748-4
Liebe Leserin, lieber Leser,
vor Ihnen liegt die fünfzehnte, überarbeitete und erweiterte Auflage einer Handreichung, die sich zu einem der meistverbreiteten Lehrbücher für angehende Erzieherinnen und Erzieher im deutschsprachigen Raum entwickelt hat.
Das Buch versteht sich als Studien- und Arbeitshilfe für die Bildungsarbeit im Kindergarten. Es wendet sich an alle, die ihr pädagogisches Vorgehen im Elementarbereich bewusst, wirksam und nachhaltig erfüllen wollen. Leicht verständlich gibt der Band schrittweise Informationen über die Auslösung, Begleitung und Reflexion von Lernprozessen und Situationen, die das Kind in seiner Ich-, Sozial- und Sachkompetenz fördern und stärken. Ein wesentlicher Teil ist der Planung pädagogischer Arbeit gewidmet. Sie ist nach wie vor ein fester Bestandteil erzieherischer Kompetenz und Professionalität. Erzieherinnen im Kindergarten stehen täglich vor der Aufgabe, auch unter schwierigen Bedingungen Konzepte zur besseren ganzheitlichen Förderung der Kinder von heute zu entwickeln.
Diesem aktuellen Anliegen wird das Buch auch in seiner 15. Auflage gerecht.
Wer in der Ausbildung gelernt hat, mit Bedacht, Umsicht und Empathie zu planen und zu strukturieren, kann umso besser fundiert auf Wünsche und Interessen der Kinder eingehen, erfolgreich situativ handeln und ihnen individuelle Wege bei der Entdeckung ihrer Welt eröffnen.
Neben dem Freispiel, das große Freiräume für Bedürfnisbefriedigung, Selbsterfahrung und Selbstregulierung offen lässt, ermöglichen kindgemäße Lern- und Handlungsangebote und geplante Aktivitäten im Kindergartenalltag vielseitige und intensive Lernerfahrungen, die für die Persönlichkeits- und Intelligenzentwicklung des Kindes unerlässlich sind. Bei allen Diskussionen um elementarpädagogische Planungskonzepte, Bildungs- und Orientierungspläne, Strömungen, Moden und Trends, die nicht selten dem politischen Zeitgeist huldigen, kann es nur darum gehen, das Kind in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen, ihm auf der Grundlage seiner Bedürfnisse und Interessen immer wieder Räume, Anregungen, Impulse, aber auch Orientierung, Gewöhnung und somit Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Um diese anzustrebenden Qualitäten zu sichern, können professionell arbeitende Erzieherinnen und Erzieher auf „Basics“, auf pädagogische und didaktisch-methodische Grundlagen nicht verzichten. Möge Ihnen dieses Buch bei Ihrer verantwortungsvollen, wie auch schönen Bildungsarbeit mit Kindern stets ein hilfreicher Begleiter sein.
Lübeck, im Frühjahr 2014 | Peter Thiesen |
Die Bildungs- und Erziehungsaufgabe des heutigen Kindergartens ist komplex zu sehen, auch wenn seine Angebote in einzelne Rahmenbereiche unterteilt sind.
Der Kindergarten ist ein Ort, der Kindern über die Familie und ihre Umwelt hinaus viele Erlebnis- und Handlungsangebote vermittelt.
Während die weitere Umwelt in der Regel auf die Bedürfnisse Erwachsener zugeschnitten ist, berücksichtigt der Kindergarten die Gefühle, Wünsche und Aktivitätsbedürfnisse des Kindes. Dies geschieht in besonderer Weise in der altersgemischten Gruppe.
Will die Erzieherin die Gesamtpersönlichkeit des Kindes unterstützen, so wird sie ihm genügend Freiraum für seine spontanen Äußerungsund Tätigkeitsbedürfnisse bieten (z.B. im Freispiel). Um die differenzierten Formen des Erlebens und Tuns zu fördern, wird die Erzieherin jedoch auch gezielt anregen, anleiten und unterstützen, um dem Kind beim Verstehen- und Begreifenlernen zu helfen.
In den 1990er Jahren wurde der situationsbezogene beziehungsweise -orientierte Ansatz in der Kindergartenarbeit propagiert.
Wenn hierin auch eine nicht von der Hand zu weisende Orientierung am pädagogischen Vorgehen zu sehen ist, muss gerade der Berufsanfänger lernen, gezielt zu planen, bevor er sich auf Situationen einstellen kann, zumal auch das situationsorientierte Vorgehen nicht auf Planung verzichten kann. „Nur Freispiel“ wäre genauso falsch wie „nur situativer Ansatz“, wie „nur gezielte Beschäftigung“. Für die spätere Schulfähigkeit und die gesamte Persönlichkeitsentwicklung lassen sich als übergreifende Ziele nennen:
■emotionale Sicherheit,
■Selbstständigkeit,
■logisches Denken,
■Gemeinschaftsfähigkeit,
■Phantasie, Kreativität und Spielfähigkeit,
■Erlebnisfähigkeit,
■Besitz von Wertvorstellungen.
Ein vielseitiges und umfassendes Angebot an Erfahrungen wird erst durch die Planung des Kindergartenalltags ermöglicht. Dies gilt insbesondere für die gezielte Beschäftigung. Sie darf im Kindergarten nicht zum verschulten Training werden, bei dem es zu einer Überbewertung der Intelligenzförderung kommt, während Spiel und kreative Aktivitäten zu kurz geraten. Weder die Verschulung des Kindergartens, noch der ausschließlich auf Bedürfnisbefriedigung und Selbstbestimmung ausgerichtete Kindergarten werden seinem Bildungs- und Erziehungsauftrag gerecht.
Teilen wir den Tagesablauf im Kindergarten auf, so wird in der Vormittagszeit das Freispiel ca. 60 Prozent der Zeit einnehmen, gezielte Beschäftigungen und gelenktes Tun ca. 20 Prozent. Die verbleibende Zeit (ca. 20 Prozent) ist in der Regel dem Frühstück, Händewaschen, Anziehen, gemeinsamen Singen u.a. vorbehalten.
Wenn also die Erzieherin ihr Vorgehen auch sorgfältig plant, so wird sie die kindliche Spontaneität und Eigeninitiative berücksichtigen. Dabei weiß sie, auf welche Weise Kinder im Kindergartenalter lernen:
Kinder machen sporadische Erfahrungen.
■Das Lernfeld des Kindes ist komplexer Natur.
■Sein Erleben vollzieht sich ganzheitlich, das heißt, kognitive, emotionale, psychomotorische und kreative Kräfte werden zugleich angesprochen.
■Gehen wir von den eben genannten Überlegungen aus, so wird die Erzieherin keinen isolierten Lernstoff mit künstlichem Anfang und Ende vermitteln. Die einzelne Beschäftigung wird sich an den Bedürfnissen der Kinder und an den Rahmenbereichen des Kindergartens orientieren und in ihn eingebettet sein. Die Rahmenbereiche wiederum sind ineinander übergreifende Lernfelder.
■Demnach müsste das Lernangebot für das Kindergartenkind bunt und flexibel sein und ihm helfen, seine Lebensumwelt zu begreifen und Handlungsmöglichkeiten zu entdecken.
Bevor wir Lernprozesse im Kindergarten in Gang setzen, sollten wir uns zuvor noch einmal die bekanntesten Erklärungen für das Lernen vor Augen führen.
Heute wird im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Begriff „Lernen“ das Aufnehmen, die Entwicklung, Ausbildung und Verbesserung einzelner Verhaltensweisen, Verhaltensmöglichkeiten und Fertigkeiten bezeichnet.
Kenntnisse werden erworben und angewendet. Ein Kind, das zum Beispiel gelernt hat, Rad zu fahren, kann es auch, wenn es dies gerade nicht ausübt. Es verfügt über eine Verhaltensmöglichkeit.
Fast jede veränderte Form der Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst und mit seiner Umwelt wird entweder ganz oder zumindest teilweise durch Lernprozesse erklärt. Durch Lernvorgänge werden Bedürfnisse, Interessen, Vorlieben, Ängste und Abneigungen gesteuert. Lernen führt zu einer „Verhaltensänderung“ beim Individuum.
So gesehen wäre auch die Anleitung zum Lügen oder zum Stehlen die Unterstützung eines Lernprozesses. Die Erzieherin wird natürlich nur Lernprozesse in Gang setzen, bei denen eine Veränderung zum Guten hin erfolgt.
Was wiederum als „gut“ angesehen wird, hängt von den geltenden Wertvorstellungen und Normen ab, die innerhalb eines Gesellschaftssystems bejaht werden. Hier gibt es viele ethische Richtlinien und Normen von zeitloser Gültigkeit, wie zum Beispiel Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit und Gewissenhaftigkeit.
Die Wissenschaft hat sich sehr intensiv mit dem Lernen und dessen Arten und Typen befasst, ohne dass es eine einheitliche Lerntheorie gibt. Fest steht, dass für die Existenz des Menschen das Lernen von größter Bedeutung ist.
Das Lernen selbst ist ein nicht beobachtbarer Vorgang, sondern nur erschließbar, das heißt, die Erzieherin beobachtet unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel bei einer gezielten Beschäftigung im Kindergarten bestimmte Verhaltensänderungen und schließt daraus, dass Lernen stattgefunden hat. Für den nicht beobachtbaren Vorgang des Lernens gibt es verschiedene Erklärungen. Als bekannteste Konzeptionen lassen sich nennen:
Die Konditionierung beschreibt einen Lernvorgang, bei dem ein bestimmter Reiz (Eindruck von der Außenwelt) mit einer ganz bestimmten, präzisen, willkürlichen Reaktion verknüpft wird. Beispiel: Rotes Licht an der Fußgängerampel (optischer Reiz) → stehen bleiben (Reaktion).
Ist die Reaktion erfolgreich, führt sie zu einer Verstärkung (Bekräftigung/Belohnung), die dazu beiträgt, dass die Verknüpfung lange beibehalten wird.
Die Verstärkung soll dem Erlernen stets unmittelbar folgen; durch Wiederholung wird die Reiz-Reaktions-Verbindung gefestigt.
Sicherlich ist Ihnen noch das „Beispiel mit der Herdplatte“ bekannt. Ein Kind fasst eine heiße Herdplatte an und verbrennt sich. Es entsteht eine starke Verbindung von Herdplatte (= Reiz) und Schmerz (= Reaktion), die künftig beim Kind erhöhte Aufmerksamkeit auslöst, sobald es eine Herdplatte anfassen will. Es hat durch die räumlich-zeitliche Nähe von Reiz und Reaktion gelernt, dass es sich an einer heißen Herdplatte verbrennen kann und sich vorsichtig verhalten muss. In Zukunft wird das Kind in bestimmten Situationen schneller und sicherer die richtige „Reaktion“ auf den entsprechenden „Reiz“ zeigen. Das Lernen durch Konditionierung findet vorwiegend in der frühen Kindheit statt.
Beim Modell- beziehungsweise Imitationslernen wird davon ausgegangen, dass zahlreiche Verhaltensweisen durch die Beobachtung von Personen (= Modelle, z.B. Eltern, Erzieherin, Vorbilder) und durch die Nachahmung ihres Verhaltens (= Imitation) neue Verhaltensweisen erworben werden.
Ob ein Mensch Verhaltensweisen von einem anderen übernimmt, ist abhängig von der positiven emotionalen Beziehung, die der Beobachter (z.B. Kind) zum Modell (z.B. Erzieherin) hat. Natürlich kann auch negatives Modellverhalten (z.B. ein sich im Straßenverkehr falsch verhaltender Vater) nachgeahmt werden, wenn das Verhalten des Modells als erfolgreich wahrgenommen wird.
Imitation (= Nachahmung) ist demnach die willentliche oder unwillentliche Formung des Verhaltens eines Individuums nach einem anderen. Nachahmung ist eine wichtige Form des sozialen Lernens, wobei das Vorbild ähnliche Verhalten durch direkte Bekräftigung belohnt wird. Das Kind lernt durch Nachahmen und baut somit mehrere Handlungsstrategien auf, die der Lösung eines Problems dienen.
Sehr oft geschieht Lernen durch Probieren, durch Versuch und Irrtum; hat der Lernende mit einer bestimmten Verhaltensweise Erfolg, so wird diese Verhaltensweise „verstärkt“, während erfolglose Verhaltensweisen „gelöscht“ werden.
Ein Kleinkind spielt mit einer Würfelpyramide. Es versucht, die verschieden großen Würfel aufeinander zu stapeln, wobei es feststellt, dass es nur durch eine bestimmte Anordnung der Würfel seinem gewünschten Ziel näher kommt. Es probiert, unterlässt erfolgloses und behält erfolgreiches Verhalten bei. Das „Versuch-Irrtum-Vorgehen“ führt zur Einsicht.
Durch unmittelbares Erfassen von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen gewinnt das Kind Einsichten, zum Beispiel wenn es erkennt, dass eine feste Unterlage die Stabilität eines Turmes erhöht.
Wir können von Lernen durch Einsicht sprechen, wenn die Verhaltensänderung durch (spontanes) Erkennen der Aufgabenstruktur zustande kommt und die Übertragungsleistungen verbessert werden. Beispiel: Ein Kind sieht geometrische Formen und erkennt diese in der Umwelt (z.B. im Straßenverkehr) wieder.
Einsichtig Gelerntes kann leichter auf andere Situationen übertragen und dadurch besser für das Lösen von Problemen verwendet werden, als das durch Versuch und Irrtum Gelernte.
Als wichtigste Ziele pädagogischer Arbeit überhaupt lassen sich Selbstständigkeit und Mündigkeit nennen. Diese Ziele werden sowohl im Kindergarten, im schulischen wie im außerschulischen Bereich angestrebt.
Um gezielt Lernhilfen geben zu können, muss sich die Erzieherin mit dem Phänomen des Lernens auseinandersetzen. Dabei kann sie auch in der sozialpädagogischen Arbeit nicht auf Methoden schulischen Lernens verzichten; insbesondere dann nicht, wenn sie in Bereichen wie im Kindergarten schulvorbereitend tätig wird.
Wenn das Lernen erfolgreich verlaufen soll, muss die Erzieherin ihren zu vermittelnden Lernstoff curricular aufbereiten.
Der aus dem Lateinischen stammende Begriff Curriculum bedeutet soviel wie „Ablauf“ oder „Zeitabschnitt“. Im weitesten Sinn ist das Curriculum ein System von Anregungen, um Lernvorgänge zu stimulieren, zu steuern und zu überprüfen; das heißt, es will Hilfe sein für die Planung, den Ablauf und die Kontrolle von Lern- und Erziehungsprozessen.
Das Curriculum soll Antwort auf folgende Fragen geben:
1.Welche Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen soll der Lernende erwerben?
2.Mit welchen Gegenständen und Inhalten soll er konfrontiert werden?
3.Was soll er lernen?
4.Wann und wo soll er lernen?
5.In welchen Lernschritten, in welcher Weise und anhand welcher Medien (Materialien) soll er lernen?
6.Wie soll das Erreichen der Lernziele festgestellt werden?
Ein Curriculum zeichnet sich dadurch aus, dass
■Lernziele begründet ausgewählt werden,
■Lernziele konkret formuliert werden,
■eine begründete Verbindung zwischen Lernzielen und Lerninhalten hergestellt wird,
■Lernprozesse bewertet werden.
Demnach erfolgt das Lernen nicht zufällig, sondern zielgerichtet und geplant.
Durch das Curriculum wird die Erzieherin gezwungen, ihre Lernangebote zielgerichtet zu überdenken, vorzubereiten und darzustellen.
Auch wenn wir uns zum Beispiel in der Kindergartenpädagogik längst vom starren „Curriculum-Denken“ entfernt haben, sind wir doch auf konkrete, durchdachte Zielformulierungen angewiesen. Durch fehlende Konzeptionen, durch unkontrollierte Anforderungen werden Kinder und Jugendliche überfordert und verunsichert; durch eine gezielte Anleitung gewinnen sie zunehmend an Orientierung und Sicherheit.
Der Begriff Curriculum wird heute dem Begriff Didaktik gleichgesetzt und gilt als Bezeichnung für die Planung und Analyse von Unterricht. Im weiteren Sinne beschreibt der Begriff alle oder einige Fragen im Bereich der Ziele und Inhalte, der Organisationsformen beziehungsweise Methoden und Medien des Lehrens und Lernens.