Über Christian Liedtke

Christian Liedtke, geboren 1964 in Hamburg, studierte Germanistik und Philosophie in Hamburg, Cincinnati (USA) und Bonn. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf, und Autor einer Heine-Biographie (erschienen 1997). Bei Hoffmann und Campe erschienen die von ihm herausgegebenen Bände: Heinrich Heine »… und grüßen Sie mir die Welt. Ein Leben in Briefen« (mit Bernd Füllner, 2005); Heinrich Heine im Porträt. Wie die Künstler seiner Zeit ihn sahen (2006); »Der Weg von Ihrem Herzen bis zu Ihrer Tasche ist sehr weit!« Aus dem Briefwechsel zwischen Heinrich Heine und seinem Verleger Julius Campe (mit Gerhard Höhn, 2007); Heinrich Heine, Die Harzreise (2008), Totentanz und Mitternachtsgraus. Schauerballaden (2009); Heinrich Heine, Französische Zustände. Artikel IX vom 25. Juni 1832, Urfassung. Faksimile- Edition der Handschrift. Mit einem Essay von Martin Walser (2010); Heinrich Heine, Reise nach Italien (2011); zusammen mit Gerhard Höhn schrieb er Auf der Spitze der Welt. Mit Heine durch Paris (2012).

Vorwort

»Leise zieht durch mein Gemüt, / Liebliches Geläute. / Klinge, kleines Frühlingslied, / Kling’ hinaus in’s Weite.« – »Aber habt Ihr gar keine Furcht, daß dem Narren mal all die Lasten zu schwer werden, und daß er Eure Soldaten von sich abschüttelt und Euch selber, aus Überspaß, mit dem kleinen Finger den Kopf eindrückt so daß Euer Hirn bis an die Sterne spritzt?«

Man möchte kaum glauben, dass diese beiden Sätze aus derselben Feder stammen. Doch beide sind von Heinrich Heine; der eine steht in dem Gedichtzyklus »Neuer Frühling« (1831) und wurde unsterblich durch die Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy, der andere in der meisterhaften Vorrede zu den »Französischen Zuständen« (1832), deren Verbreitung die Zensurbehörden des Deutschen Bundes mit allen Mitteln zu verhindern versuchten, nicht zuletzt wegen dieser drohenden Frage, die Heine an Preußens König richtete. Lyrische Innigkeit in Reinkultur auf der einen Seite, flammende, aggressive Polit-Rhetorik auf der anderen markieren die stilistische, inhaltliche und emotionale Bandbreite dieses Schriftstellers, der stets betont hat, »daß meine poetischen, ebenso gut wie meine politischen, theologischen und philosophischen Schriften, einem und demselben Gedanken entsprossen sind, und daß man die einen nicht verdammen darf, ohne den andern allen Beifall zu entziehen«.

Der weite Horizont, den die beiden zitierten Sätze umspannen und Heines Poetik als untrennbare Einheit begreift, erklärt vielleicht, warum es über ihn zwar Bücher von A bis Z gibt – Anthologien, Biographien, Chroniken bis hin zu Zitatsammlungen –, aber keines, das ihn selbst von A bis Z darzustellen versucht. Ein solches Heine-Lexikon wäre uferlos. Kurze Blicke in die Personenregister der beiden historisch-kritischen Heine-Editionen, in das Verzeichnis der vom Dichter verwendeten Motive, Chiffren und Figuren, das Klaus Briegleb für seine Heine-Ausgabe erarbeitet hat, und in das nach Werktiteln gegliederte Heine-Handbuch von Gerhard Höhn lassen ahnen, welch eine unüberschaubare Zahl von Einträgen ein solches Lexikon haben müsste.

Dieses kleine Heine-ABC dagegen buchstabiert sich mit nur fünfundzwanzig Stichworten von A bis Z durch Heines Leben und Werk. Aber der Effekt ist der gleiche wie bei einem großen Lexikon: Die alphabetische Anordnung hat etwas Egalitäres, gleichrangig nebeneinanderstehend bekommen alle Begriffe die gleiche Wichtigkeit. Und indem sie aus den Kontexten und der Chronologie gelöst werden, in denen sie bei Heine selbst stehen, ergibt sich ein besonderer Überblick – nicht mit der Absicht, eine scheinbare Ordnung in das durch und durch assoziative Denken Heines zu bringen, sondern um das vielfältige Nebeneinander zu zeigen, aus dem er die originellen Verbindungen knüpfte, die die Besonderheit seines Werkes ausmachen. Dass das nicht nur reizvoll ist, sondern auch Erkenntnisse über sein Denken und seine Arbeit ermöglicht, liegt an Heine selbst: an seiner Kunst, mit einem einzigen kleinen Wort große Zusammenhänge auszudrücken. Stets war er auf der Suche nach dem, was er »Signaturen« nannte, den Charakteristika im Denken und Sprechen, die seine eigene Zeit ausmachten. Und er versuchte nicht nur durch seine Kunst der Verknüpfung Begriffe als »Signaturen« erkennbar zu machen, sondern auch selbst »Signaturen« zu prägen: durch seine eigenen Wortschöpfungen, die zu den originellsten und komischsten der deutschen Sprache gehören – auf dem Gebiet des Privaten ebenso wie im Poetologischen oder Politischen: Ob er von seinem »Gehirnschweiß« beim Schreiben seiner ersten Tragödie spricht (→ Bretterkonnexionen) oder über das »Gemütslazarett« seiner frühen, melancholischen Liebeslyrik (→ Erzfreund), ob er die »Kunstbehaglichkeit« Goethes (→ Goethentum) oder das »Ureichelfraßtum« der Deutschnationalen (→ Nationalzuchthaus) anprangert – stets sagt das eine Wort, das er erfunden hat, mehr als all diejenigen, mit denen man es zu erklären versuchen könnte. Weil so viel in Heines Wörtern steckt, führen die Betrachtungen, die man über sie anstellen kann, auch oft zu zentralen Aspekten seiner Gedankenwelt. Darum widmen sich diese fünfundzwanzig kleinen Essays wichtigen Begriffen oder auch besonderen Wortschöpfungen Heines und beleuchten schlaglichtartig die damit verknüpften Facetten seines Werkes, seines Lebens oder seiner Wirkungsgeschichte.

Den Klassifizierungswahn mancher seiner wissenschaftsgläubigen Zeitgenossen verspottete Heine zwar, etwa als er in »Ideen. Das Buch Le Grand« erklärte: »unser einer ist ein ehrlicher Deutscher, kann die deutsche Natur nicht ganz verleugnen, und ich muß mich daher noch nachträglich über den Titel meines Buches aussprechen. Madame, ich spreche demnach:

I. Von den Ideen.

A. Von den Ideen im Allgemeinen.

 a. Von vernünftigen Ideen.

 b. Von unvernünftigen Ideen.

  a. Von den gewöhnlichen Ideen.

  b. Von den Ideen, die mit grünem Leder überzogen sind.«

Andererseits hätte ihn bei dem Gedanken an ein Heine-ABC sicher die Erinnerung daran amüsiert, dass er selbst 1825 in Hamburg in der ABC-Straße gewohnt hat (der Name rührt daher, dass dort die Häuser statt mit Nummern mit Buchstaben gekennzeichnet waren). Die Auswahl der Stichworte für dieses ABC folgt Heines eigener Losung, die er in seinen »Briefen aus Berlin« ausgab: »Assoziation der Ideen soll immer vorwalten«, das sei wichtiger als alle »Systematie«. Darum wurden auch keine literaturwissenschaftlichen oder -historischen Fachbegriffe ausgesucht, sondern Wörter, die Heine – abgesehen von zwei Ausnahmen – selbst verwendet hat und die gewiss nicht repräsentativ, aber doch alle auf ihre Weise bezeichnend für ihn sind. Zusammen bilden sie eine Miniatur-Enzyklopädie mit Wissenswertem, Kuriosem oder Überraschendem von und über Heinrich Heine – für alle, die den Dichter der Liebe und der Revolution beim Wort nehmen wollen. Vollständigkeit wird in keiner Hinsicht angestrebt; versteht man »Enzyklopädie« aber im Sinne Umberto Ecos als ideelles System literarischen, kulturellen und historischen Wissens und Meinens, als semantisches Netzwerk von Ideologien, Formen und Traditionen, aus dem Autoren und ihre Leser Bedeutung und Verständnis von Texten immer wieder neu konstruieren, dann bietet dieses ABC einen kleinen Ausschnitt aus der großen Heine-Enzyklopädie. Für sie wie auch für Heine selbst gilt seine Beobachtung: »Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekömmt, bekömmt auch neue Augen, und sieht gar viel Neues in den alten Geisteswerken.«

 

Christian Liedtke

Düsseldorf, im Januar 2015

Apfeltörtchen

Die meisten Menschen verbinden die Gedanken an die eigene Kindheit mit bestimmten Speisen, seien es Lieblingsgerichte oder Dinge, die man essen musste, obwohl sie einem überhaupt nicht schmeckten. Den Dichtern diente das Motiv des Essens darum von jeher als Sinnbild für die Verbindung mit der Vergangenheit oder gar als Medium der Erinnerung. Das gilt auch für Heinrich Heine, und was für Marcel Proust die Madeleine war, für Günter Grass die Zwiebel oder für Uwe Timm die Currywurst, das waren für ihn: Apfeltörtchen.

Ihnen galt die »Passion« des Kindes Harry Heine, und der erwachsene Dichter hat sie poetisch verewigt, indem er sie ins Zentrum eines seiner berühmtesten Erinnerungstexte stellte: »Ideen. Das Buch Le Grand«, 1827 im zweiten Band seiner »Reisebilder« erschienen. Es schildert ebenso humorvoll wie hintergründig das Leben in seiner Heimatstadt Düsseldorf zur Zeit der französischen Besetzung. Dass »Heine-Apfeltörtchen« heutzutage zur Düsseldorfer Altstadt-Folklore gehören und zu besonderen Anlässen von Bäckereien angeboten werden, liegt – neben dem Charme von Heines Hommage an das Gebäck – vor allem daran, dass er sie in »Ideen. Das Buch Le Grand« mit einem Wahrzeichen der Stadt verband, nämlich dem barocken Reiterstandbild des Kurfürsten Johann Wilhelm II., das 1711 von Gabriel de Grupello auf dem Marktplatz errichtet wurde und um das sich eine Legende rankt. Heine berichtet, welchen Eindruck jene Erzählung und das Denkmal in seiner Kindheit auf ihn machten:

»Als Knabe hörte ich die Sage, der Künstler, der diese Statue gegossen, habe während des Gießens mit Schrecken bemerkt, daß sein Metall nicht dazu ausreiche, und da wären die Bürger der Stadt herbeigelaufen, und hätten ihm ihre silbernen Löffel gebracht, um den Guß zu vollenden – und nun stand ich stundenlang vor dem Reuterbilde, und zerbrach mir den Kopf: wie viel silberne Löffel wohl darin stecken mögen, und wie viel Apfeltörtchen man wohl für all das Silber bekommen könnte? Apfeltörtchen waren nämlich damals meine Passion – jetzt ist es Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe – und eben unweit des Kurfürstenbildes, an der Theaterecke, stand gewöhnlich der wunderlich gebackene, säbelbeinige Kerl, mit der weißen Schürze und dem umgehängten Korbe voll lieblich dampfender Apfeltörtchen, die er mit einer unwiderstehlichen Diskantstimme anzupreisen wußte – ›Die Apfeltörtchen sind ganz frisch, eben aus dem Ofen, riechen so delikat‹ – Wahrlich, wenn in meinen späteren Jahren der Versucher mir beikommen wollte, so sprach er mit solcher lockenden Diskantstimme, und bei Signora Giulietta wäre ich keine volle zwölf Stunden geblieben, wenn sie nicht den süßen, duftenden Apfeltörtchenton angeschlagen hätte. Und wahrlich, nie würden Apfeltörtchen mich so sehr angereizt haben, hätte der krumme Hermann sie nicht so geheimnisvoll mit seiner weißen Schürze bedeckt – und die Schürzen sind es, welche – doch sie bringen mich ganz aus dem Kontext, ich sprach ja von der Reuterstatue, die so viel silberne Löffel im Leibe hat.«

Der Wahrheitsgehalt jener »Sage« über die Entstehung des Denkmals ist ungewiss. Aber durch die wiederholte Rede von den »silbernen Löffeln« gibt Heine ihr einen Doppelsinn, der die in ihr enthaltene historische Wahrheit enthüllt: Jan Wellem, wie der Volksmund den Kurfürsten nannte, der als Herzog von Jülich und Berg auch die Geschicke Düsseldorfs lenkte, hatte zwar nicht direkt »silberne Löffel gestohlen«, aber seine Untertanen dennoch viel Geld gekostet, da er die enorme Prachtentfaltung seines Hoflebens auf Pump finanzierte. Der große Förderer der Künste, als der er in die Geschichte einging, war ein noch größerer Schuldenmacher, und insofern steckten in seinem Denkmal – das er selbst in Auftrag gegeben hatte – tatsächlich »silberne Löffel«. Der Junge Harry Heine reklamierte sie für sich selbst und rechnete sie keck in seine eigene Währung um, in jene heißbegehrten Apfeltörtchen, denen der Dichter Heinrich Heine symbolische Bedeutung verlieh: als Inbegriff kindlicher (aber keineswegs unschuldiger) Wünsche setzte er mit ihnen dem Denkmal feudalistischer Selbstdarstellung ein Sinnbild für den Anspruch auf individuellen Genuss entgegen.

Der paradiesische Apfel, Symbol für Verführung wie für Wissenshunger, erscheint hier nicht naturhaft als Frucht, sondern zu Gebäck verarbeitet und damit gewissermaßen zivilisatorisch verfeinert, was den »Sündenfall« erst recht appetitlich macht. Dessen theologische oder moralische Verdammung war ohnehin ebenso wenig Heines Sache wie der Garten Eden selbst: »Das war kein wahres Paradies – / Es gab dort verbotene Bäume«, dichtete er. Sein Bekenntnis zur »Passion« für Apfeltörtchen ist mehr als eine sentimentale Reminiszenz an die Heimatstadt; der Wunsch des Kindes weist voraus auf ein anderes, ein emanzipatorisches Begehren, denn »Apfeltörtchen waren […] damals meine Passion – jetzt ist es Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe«. In dem respektlosen Kind spiegelt sich der spätere revolutionäre Dichter und umgekehrt.

Freiheit schmeckte auch bei dem erwachsenen Heine stets süß. Ebenso klein und fein wie die Apfeltörtchen sind etwa jene Früchte, die er in den berühmten Versen aus »Deutschland. Ein Wintermärchen« besingt: »Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder. / Ja, Zuckererbsen für Jedermann, / Sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.« Es ist charakteristisch für Heine, dass er bei seinen Utopien nicht nur an politische Systeme oder Gesellschaftsstrukturen dachte, sondern auch an den sinnlichen Lebensgenuss. Politische Erörterungen verband er darum häufig mit kulinarischer Metaphorik, und von »Apfeltörtchen« bis »Zuckererbsen« ließe sich aus seinen Werken ein großes Menü zusammenstellen. »Laßt uns die Franzosen preisen!«, forderte er. »Sie sorgten für die zwei größten Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft, für gutes Essen und bürgerliche Gleichheit; in der Kochkunst und in der Freiheit haben sie die größten Fortschritte gemacht.« Deutschland war für ihn dagegen das »Kartoffelland«. »Ihr heimischen Stockfische seid mir gegrüßt! / Wie schwimmt Ihr klug in der Butter!«, ruft der Erzähler in »Deutschland. Ein Wintermärchen« sarkastisch. Seine Fahrt durch die von Adel und Klerus unterjochte Heimat ist auch eine kulinarische Reise, und hintersinnig bemerkt er während einer Mahlzeit: »Auch einen Schweinskopf trug man auf / In einer zinnernen Schüssel;/ Noch immer schmückt man den Schweinen bei uns / Mit Lorbeerblättern den Rüssel.«

Ob mit dem Bekenntnis zur »Passion« für die verführerischen Apfeltörtchen oder zu »Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe« – stets gehörten zu Heines Utopie auch die sinnlichen Bedürfnisse, denn, so schrieb er, »es handelt sich nicht mehr um Gleichheit der Rechte, sondern um Gleichheit des Genusses auf dieser Erde«. Denjenigen, die diese Sichtweise kritisierten, hielt er emphatisch entgegen: »Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen. […] wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien – Seid deshalb nicht ungehalten, Ihr tugendhaften Republikaner! Auf Eure zensorische Vorwürfe, entgegnen wir Euch, was schon ein Narr des Shakespeare sagte: meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf dieser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt mehr geben?«

Der Schriftsteller Fürst Hermann von Pückler-Muskau, der selbst ein großer Genießer war, schrieb einmal an Heine: »Wissen Sie, worin unsere Ähnlichkeit bei so großer Verschiedenheit des Genies besteht? Darin, daß wir Beide hundert Jahre alt werden können, und dennoch immer Kinder bleiben werden. Diese ewige Kindlichkeit ist eine Größe.« Pücklers Beobachtung wird bestätigt durch die vielen Kindheitserinnerungen, auf die Heine in seinem Werk zurückkommt – nicht nur in »Ideen. Das Buch Le Grand«. Aber sie ist nicht nur in inhaltlicher Hinsicht zutreffend, sondern vor allem für die Grundhaltung des Autors Heinrich Heine. Er hat sich die Kraft, die Unmittelbarkeit und Unbedingtheit des kindlichen Begehrens, wie sie sich exemplarisch in seiner Lust auf Apfeltörtchen spiegelt, erhalten, sei es in seinem Verlangen nach Liebe oder nach Gerechtigkeit, und diese Kraft ist es, die sein Werk als Dichter prägt. Sie befeuert seinen Zorn und seinen Spott, sie gibt seiner Melancholie und seiner Sentimentalität Nahrung. Und sie beflügelt seine Phantasie, die – wie die des Kindes auf dem Düsseldorfer Marktplatz – die wenig heroischen Fundamente erspäht, auf denen die ehernen Standbilder der Vergangenheit stehen, und sie in eine süße Zukunftsverheißung umzuwandeln vermag. Die Apfeltörtchen waren der Vorgeschmack »jener zwei Passionen«, denen er, wie Heine in seinen »Memoiren« schrieb, sein Leben als Dichter gewidmet hatte: »die Liebe für schöne Frauen und die Liebe für die französische Revolution«.

Bretterkonnexionen

»Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden.« Dieser Satz, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik formulierte, hatte zu Beginn von Heines Schriftstellerlaufbahn uneingeschränkte Gültigkeit. Das Drama war die »Königsklasse« unter den literarischen Gattungen, und jeder ehrgeizige junge Dichter strebte nach Erfolg als Bühnenautor. Das war bei Heine nicht anders: Als er zum ersten Mal in seinem Leben Zeit für ein umfangreicheres literarisches Projekt hatte – 1820, in den Ferien nach seinem ersten juristischen Studiensemester an der Universität Bonn –, versuchte er sich an einem Drama. Sein »Almansor« spielt im Spanien der Reconquista. Der Titelheld, von den siegreichen Christen vor die Wahl gestellt, sich taufen zu lassen oder das Land, in dem er aufgewachsen war, zu verlassen, hatte sich entschlossen, mit den besiegten Mauren abzuziehen. Seine Jugendliebe Zuleima blieb und wurde aus Überzeugung Christin. Als Almansor aus dem Exil zurückkehrt, nimmt die Tragödie ihren Lauf: Er sieht Zuleima wieder, die im Begriff ist, einen scheinheiligen Betrüger zu heiraten. Ihre Liebe erwacht aufs Neue, sie fliehen und stürzen gemeinsam in den Tod.

Zwar war der Orient zu jener Zeit in Mode, nicht zuletzt durch Goethes 1819 erschienenen »West-östlichen Divan«, dennoch war ein muslimischer Tragödienheld in Deutschland ungewöhnlich; »religiös-polemisch« nannte Heine denn auch selbst das Stück, in dem er sich zum ersten Mal mit der historischen Rolle des Christentums auseinandersetzte, wobei darin berührte Themen wie Konversion, Bekehrungseifer, religiöser Hass, Assimilation oder Orthodoxie in deutlicher Analogie zur aktuellen Lage der Juden in seiner eigenen Gegenwart stehen (→ Taufzettel). Dennoch gilt das Stück als missglückt. Heine selbst ging hart damit ins Gericht, und obwohl es ihn nach eigenem Bekunden viel »Gehirnschweiß« kostete, befand er, »daß dieses von mir selbst angestaunte und vergötterte Prachtwerk nicht allein keine gute Tragödie ist, sondern gar nicht mal den Namen einer Tragödie verdient«. Es sei vor allem nicht »drastisch« genug – ein Fehler, den er bei seinem zweiten Trauerspiel, dem 1822 in Berlin geschriebenen »William Ratcliff«, nicht wiederholte: Es wartet mit blutigen Kampfszenen, Schauereffekten und einem wahnsinnigen Titelhelden auf, der als abgewiesener Liebhaber seine Nebenbuhler, die Geliebte und am Ende sich selbst tötet. Eine Nebenhandlung spielt im plastisch dargestellten Bettler- und Banditenmilieu, und wie in »Almansor« das Christentum, wird auch in »Ratcliff« ein Thema angeschnitten, dem Heine sich danach immer wieder gewidmet hat: die soziale Lage. In seinen Gaunerszenen, so stellte er später fest, »brodelt schon die große Suppenfrage, worin jetzt tausend verdorbene Köche herumlöffeln, und die täglich schäumender überkocht«.

Beide Stücke veröffentlichte Heine 1822 in einem Buch, zusammen mit einem Gedichtzyklus. »Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo« hieß der Band, und obwohl diese Kombination von Dramatik und Lyrik neuartig war und »William Ratcliff« das populäre Genre des Schicksalsdramas bediente, erwies er sich als Ladenhüter: Ganze 270 Exemplare wurden verkauft. Aber während das »Lyrische Intermezzo«, nachdem Heine es 1827 in sein »Buch der Lieder« aufgenommen hatte, berühmt wurde – nicht zuletzt durch Robert Schumanns Vertonungen unter dem Titel »Dichterliebe« –, gerieten die beiden Tragödien in Vergessenheit. »Almansor« kam zwar bereits 1823 in Braunschweig auf die Bühne, aber die Uraufführung im renommierten Nationaltheater musste nach Zuschauerprotesten vorzeitig beendet werden. Ob diese sich gegen das Stück richteten oder möglicherweise einen judenfeindlichen Hintergrund hatten, ist unklar. Tatsache ist, dass es zu Heines Lebzeiten keine weiteren Aufführungen gab. »William Ratcliff« wurde erst 1875 uraufgeführt – in Mailand, in italienischer Übersetzung –, obwohl Heine sich mehrfach um eine Produktion des Stückes bemüht hatte, das er höher einschätzte als seinen Erstling. Das Scheitern dieser Versuche führte er auf mangelnde Verbindungen zur Theaterwelt zurück. »Ich bin zu sehr ohne Bretterkonnexionen«, klagte er 1823 gegenüber einem Freund.

Später jedoch hatte er zahlreiche »Bretterkonnexionen«. Heine ging häufig ins Theater, ob auf Reisen oder an seinen Wohnorten. Fast alle seine »Reisebilder« enthalten Theaterschilderungen, meist fielen sie kritisch aus. Noch schlechter als die Aufführungen selbst kamen aber die Theaterkritiker weg, obwohl er in dem Hamburger Friedrich Gottlieb Zimmermann einen der bedeutendsten Vertreter dieser Zunft zum Freund hatte. »Um den Hamlet ganz als Schwächling zu schildern, läßt Shakespeare ihn […] als einen guten Theaterkritiker erscheinen«, bemerkte er, und in seinem Reisebericht »Über Polen« meldete er aus Posen: »Auch einen Theater-Rezensenten gibt es hier. Als wenn die unglückliche Stadt nicht genug hätte an dem bloßen Theater!« In Hamburg, wo sein Onkel Salomon Heine ein begeisterter Theaterbesucher war, spendete er ironisches Lob für die darstellerischen Künste der Schauspieler des Stadttheaters: »Letzteres verdient besonders gepriesen zu werden, seine Mitglieder sind lauter gute Bürger, ehrsame Hausväter, die sich nicht verstellen können und niemanden täuschen, Männer die das Theater zum Gotteshause machen, indem sie den Unglücklichen, der an der Menschheit verzweifelt, aufs wirksamste überzeugen, daß nicht alles in der Welt eitel Heuchelei und Verstellung ist.« In der wichtigsten deutschen Theaterstadt sah es für ihn nicht besser aus: »Die Berliner Bühne ist eine vortreffliche Anstalt und besonders nützlich für hegelsche Philosophen, welche des Abends von dem harten Tagwerk des Denkens ausruhen wollen. […] Man geht ins Theater, streckt sich nachlässig hin auf die samtnen Bänke, lorgniert die Augen seiner Nachbarinnen, oder die Beine der eben auftretenden Mimin, und wenn die Kerls von Komödianten nicht gar zu laut schreien, schläft man ruhig ein.«

Die »Theatermisere« war für Heine ein Sinnbild der politischen Zustände im rückständigen, verschlafenen Deutschland; in bewussten Gegensatz dazu stellte er das bewegte Pariser Theaterleben: »Im deutschen Parterre sitzen friedliebende Staatsbürger und Regierungsbeamte, die dort ruhig ihr Sauerkraut verdauen möchten, und oben in den Logen sitzen blauäugige Töchter gebildeter Stände, schöne blonde Seelen, die ihren Strickstrumpf oder sonst eine Handarbeit ins Theater mitgebracht haben und gelinde schwärmen wollen, ohne daß ihnen eine Masche fällt. […] Ein Franzose hingegen geht ins Theater, um das Stück zu sehen, um Emotionen zu empfangen […], und hier sucht er am allerwenigsten Ruhe.« Besondere Einblicke in die Pariser »Bretterwelt« gewann Heine durch eine journalistische Auftragsarbeit: Für die Allgemeine Theater-Revue, herausgegeben von seinem Freund, dem Schauspieler und Theaterleiter August Lewald, schrieb er 1837/38 die Artikelserie »Über die französische Bühne«. Sie bietet eine Übersicht über die vielfältige Pariser Theaterlandschaft, vom altehrwürdigen Theatre Français, dessen Ringen gegen das moderne, romantische Schauspiel Heine mit Skepsis betrachtete – »Hier spuken noch die Gespenster der alten Tragödie, mit Dolch und Giftbecher in den bleichen Händen; hier stäubt noch der Puder der klassischen Perücken« –, bis zu den zahlreichen volkstümlichen Lustspielhäusern und Vaudeville-Bühnen, die sich von der Porte-Saint-Martin den Boulevard du Temple entlang eng aneinanderreihten und in Heines Augen den gesellschaftlichen Zustand des Landes an der Schwelle zur Moderne besser darstellen konnten als die Tempel der klassischen Schauspielkunst: »dieser Zwist der Gegenwart mit der Vergangenheit, die sich wechselseitig verhöhnen, […] dieser Umsturz aller Autoritäten, der geistigen sowohl als der materiellen; dieses Stolpern über die letzten Trümmer derselben; […] das ist schrecklich, gewissermaßen sogar entsetzlich, aber für das Lustspiel ist das ganz vortrefflich!«

Durch seine intensiven Beobachtungen und durch Bekanntschaften wie die mit dem berühmten Schauspieler Pierre-Martinien Tousez, genannt Bocage, mit Bühnenautoren wie Victor Hugo oder Alexandre Dumas verfügte Heine durchaus über »Bretterkonnexionen«. Dennoch wandte er sich erst spät noch einmal der Bühne zu, und zwar dem Ballett: Für das königliche Londoner Opernhaus verfasste er 1846 und 1847 die Ballett-Szenarien »Die Göttin Diana« und »Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem« (→ Quellen). Obwohl sie Auftragsarbeiten waren, wurden diese beiden originellen, hochpoetischen Werke zu Heines Lebzeiten nicht aufgeführt. Dafür gelangten andere Texte von ihm über Umwege auf die Musiktheaterbühne: Das berühmte Ballett »Giselle« (1841) basiert auf einem Stoff, der Heines mythologischer Schrift »Elementargeister« entnommen ist, und Richard Wagner fand in Heines »Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski« die Quelle für seine Oper »Der fliegende Holländer« (1843). Kurzlebiger waren diejenigen Heine-Adaptionen, die erst nach seinem Tod auf die Musiktheater-Bühne kamen: Die acht (!) verschiedenen »William Ratcliff«-Opern, die komponiert wurden, sind heute nur noch Spezialisten bekannt (die bedeutendste stammt von Pietro Mascagni, 1895 in der Mailänder Scala uraufgeführt); Heines ambitioniertes Tanzpoem »Der Doktor Faust« erlebte seine erste Aufführung 1926 am Prager Nationaltheater, die Musik dazu schuf dessen Kapellmeister František Škvor. In Deutschland wurde es erst 1948 mit Musik des deutschen Komponisten Werner Egk unter dem Titel »Abraxas« in München auf die Bühne gebracht – die Absetzung des Stückes durch den bayerischen Kultusminister Alois Hundhammer, der einer Beschwerde des Erzbischöflichen Ordinariats wegen »Sittenverderbnis« stattgab, war der erste deutsche Zensur- und Theaterskandal der Nachkriegszeit.

Heines »Bretterkonnexionen« waren also ausgesprochen vielschichtig. Der mit ihm befreundete Heinrich Laube (→ Erzfreund), der selbst Dramatiker und Direktor des Wiener Burgtheaters war, erinnerte sich, er habe »in Gesprächen mit ihm oft mit Staunen bemerkt, welch’ eine Teilnahme für dramatische Form er zeigte«, und war überzeugt, »daß auf dem Grunde seines Talents das Drama geruht hätte«. Das zeigt sich in manchen seiner Gedichte, die wie komprimierte Tragödien wirken, und in vielen lebendigen Dialogpassagen seines Prosawerkes. Dass Heine nach seinen beiden Trauerspielen nicht mehr für das Sprechtheater geschrieben hat, lag nicht nur an deren Misserfolg. Was die Schwäche seiner Tragödien ausmachte, wurde zur Stärke seiner Lyrik: die Konzentration von Konflikten im Subjekt. Zudem hatte er kurz nach dem »Almansor«-Fiasko das ideale Medium für seine satirisch-poetische Zeitkritik gefunden, auf das er sich fortan konzentrierte: »Die Reisebilder sind vor der Hand der Platz wo ich dem Publikum alles vorbringe was ich will«, stellte er 1826 fest, und eine literaturgeschichtliche Folge seiner »Reisebilder«, denen eine ganze Schriftstellergeneration nacheiferte, bestand schließlich darin, dass Hegels Satz von der Vorherrschaft des Dramas als poetische Leit-Gattung seine Gültigkeit verlor.

Campejaden

Bei dem Wort »Campejaden« fragt man sich: Ist damit ein Gestirn gemeint, wie die Plejaden? Oder eher eine besondere Form von Eskapaden? Wenn man aber weiß, dass es in einem Brief von Heinrich Heine an seinen Verleger Julius Campe steht, dann kann man sich denken, dass Letzteres gemeint sein muss. Denn die beiden verband zwar eine freundschaftliche und erfolgreiche, aber eben auch ausgesprochen konfliktträchtige Beziehung. Mit jenem Wort fasste ein verärgerter Heine in einem Brief, den er am 2. Juli 1835 an Campe schickte, all das zusammen, worunter er, wie er meinte, bei diesem zu leiden hatte: »die Pfeffernüsse, die angeklebten Verlagsanzeigen mit Kotrenommeen, die Schadenfreude bei schlechten Rezensionen, die ewigen Klagen, die großen Auflagen, die kleinen Foppereien, kurz die Julius-Campejaden. Können Sie Ihre Natur etwas für die Zukunft bezwingen, so tun Sie es doch, bitte!«

Was hat es mit den von Heine angeprangerten »Campejaden« im Einzelnen auf sich? Mit der ersten, den »Pfeffernüssen«, spielt er auf einen Streich Campes aus der Hamburger Anfangsphase ihrer Bekanntschaft an: Zur Weihnachtszeit ließ Campe Heine eines Abends eine Tüte Pfeffernüsse bringen. Er wusste, dass Heine gern naschte, und auch, dass er die Rache derjenigen fürchtete, die er in seinen Schriften verspottet hatte. Darum trug er dem Überbringer der Süßigkeiten auf, Heine zu sagen, sie seien ein Geschenk von Professor Hugo aus Göttingen. Der Name des »Absenders« war gut gewählt, denn Gustav Hugo, bei dem Heine sein juristisches Examen abgelegt hatte, war ein prominentes »Opfer« der Akademikersatire in seiner »Harzreise«. Heines Verlagskollege Ludolf Wienbarg berichtete amüsiert, dass dieser bei der nächsten Begegnung mit Campe das Geschenk überhaupt nicht erwähnte, bis der ihn schließlich fragte: »Wie haben Ihnen die Pfeffernüsse geschmeckt? – Sind sie von Ihnen? schrie Heine. Und nun kam es heraus, daß er […] aus Furcht vor Vergiftung sie nicht berührt hatte. Nun werde ich sie essen, sagte er froh und erleichtert.«

1826Der Gesellschafter1826