Inhalt

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Die Zeitmaschine
    1. 1
    2. 2
    3. 3
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    6. 6
    7. 7
    8. 8
    9. 9
    10. 10
  6. Im Land des Ungeheuers
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    6. 16
    7. 17
    8. 18
    9. 19
    10. 20
    11. 21
    12. 22
  7. Findet das Monster im See!
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    5. 27
    6. 28
    7. 29
    8. 30
    9. 31
    10. 32
  8. Der letzte Besucher
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    8. 40
    9. 41
  9. Vidocq
    1. 42
    2. 43
  10. Nachbemerkung
  11. Vidocqs Trainingscamp für Nachwuchsdetektive

RICHARD DÜBELL

036.tif

DAS RÄTSEL VON LOCH NESS

BASTEI ENTERTAINMENT

Für all die Menschen,
die mir den Weg zu den Wundern
und Rätseln der Welt
gezeigt haben.

Allen voran meiner Oma.

Sie hat mir meinen ersten
Büchereiausweis gekauft.

035.tif

Ein paar kleine Erklärungen zu den Namen und ihrer Aussprache

(Ihr wollt ja auch, dass man eure Namen richtig ausspricht, oder?)

Eugène Vidocq Öschänn Widock
Azincourt Ahsangkuhr
Inverness Inwerness
Drumnadrochit Drammnadrochitt
Edinburgh Ädnbarrah
Urquhart Castle Örkart Kaassl
Bridgend Pub Bridschnd Pab
Angus Ejngas
Campbell Kämmbl
Alan Älän
Culduthel Hospital Kalldithl Hospittl
Muirfield Hospital Mjuhrfield Hospittl
Sergeant Sardschnt
Dr. Wilson Doktor Wilssen
Marmaduke Wetherell Marmadjuuk Wätheräll

Alle schottischen Namen werden mit einem dick rollenden R gesprochen, also wie Inwerrrness, Drrrammnadrrrochitt usw.

Das englische TH wird wie ein lispelndes S ausgesprochen. Drückt beim Sprechen die Zungenspitze von unten an die oberen Schneidezähne und sagt: S!

Die Schotten reden die Kinder im Buch immer mit »Mädel« und »Bub« an. Dies ist der Versuch, die freundlich gemeinten schottischen Bezeichnungen von »lassie« und »lad« für »Mädchen« und »Junge« halbwegs ins Deutsche zu übersetzen.

034.tif

Die Zeitmaschine

1

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Das Ding stand im Finsteren. Es schimmerte trotzdem, als ob von irgendwoher Licht darauffallen würde. Vielleicht leuchtet es ja von sich aus, dachte Fynn. Manche Fische taten das, besonders die in der Tiefsee. Und Glühwürmchen. Und Quallen. Und irgendwelche Pilze, über die Fynns Eltern mal eine Fernsehdokumentation gemacht hatten. Dass auch merkwürdige Apparaturen, die im dunkelsten Teil einer Lagerhalle voller Antiquitäten herumstanden, von sich aus leuchten konnten, hatte Fynn noch niemals gehört, aber wenn sogar Pilze leuchten konnten, war alles möglich.

Fynn hätte Cornelius fragen können. Cornelius wusste in den meisten Fällen Bescheid. Doch der stand wie sie alle vor dem Apparat und gaffte ihn ratlos an.

»Was hab ich euch gesagt?«, flüsterte Lena triumphierend. »Ist das Ding ritz, oder was?«

»Unheimlich«, murmelte Cornelius.

Fynn wechselte einen Blick mit Franzi. Seine Zwillingsschwester schüttelte leicht den Kopf. Fynn war mit ihr einer Meinung. Der Apparat war merkwürdig, aber unheimlich war er nicht. Er war …

»Geheimnisvoll«, sagte Franzi leise.

Lena schob die Fliegerbrille mit den dicken Ledermanschetten aus ihrem Haar und über die Augen. Im Dunkeln und im seltsamen Glimmen der Apparatur sah Fynn die Brillengläser sanft schimmern. Hinter einem der Gläser zitterte eine Kompassnadel über einer Windrose. Lena beugte sich vor und musterte den Apparat. Wenn Lena etwas genauer betrachten wollte, setzte sie immer die Brille auf. Sie brauchte sie nicht, aber es sah eben cool aus.

»Voll ritz«, meinte sie. Fynn fiel auf, dass sie so weit Abstand hielt, dass sie das Ding nicht versehentlich berühren konnte.

»Nein, voll unheimlich«, widersprach Cornelius, der eher der ängstliche Typ war.

Die Apparatur bestand aus einem Ring aus golden glänzendem Metall und Holz und einer prächtig geschnitzten, mit tiefrotem Leder überzogenen Sitzbank. Der Ring war mit der Rückenlehne der Bank verbunden und ragte in einem steilen Winkel nach oben, sodass jemand, der sich darunterduckte und auf der Sitzbank Platz nahm, ganz von diesem Ring umfangen wurde. Die Luft innerhalb des Rings schien irgendwie zu wabern – wie die Luft über einer brennenden Kerze. Aber nirgendwo war eine Kerze zu sehen. Drei Erwachsene konnten sich nebeneinander auf die Sitzbank quetschen – oder vier Kinder. Fynn musterte die anderen. Sie waren zu viert. Sollten sie …?

Franzi sah schon wieder zu Fynn herüber. Er wusste es, ohne dass er dazu aufblicken musste. Er wusste oft, was Franzi gerade tat oder dachte. Umgekehrt war es nicht anders. Sie nickten sich erneut zu. Franzi trat vor und streckte die Hand aus.

»Ich würd das nicht anfassen«, sagte Cornelius.

Lena schob sich die Brille aus dem Gesicht. »Würd ich auch nicht, echt jetzt«, sagte sie, obwohl sie diejenige gewesen war, die das Gerät in der Lagerhalle entdeckt und es bewundernd als »ritz« bezeichnet hatte. »Ritz« hieß bei Lena »wunderbar, fantastisch, total interessant«. Sie fand, dass ihre Freundschaft zu Fynn, Franzi und Cornelius »monsterritz« war. Ein größeres Lob gab es in Lenas Vokabular nicht.

Fynn empfand das gleiche Bedürfnis wie seine Zwillingsschwester Franzi, das Gerät zu berühren. Aber Franzi stand näher dran. Sie legte die Hand auf den Ring.

Einen Augenblick lang passierte nichts.

Dann stieß Franzi einen Schrei aus und zog die Hand so schnell zurück, dass Fynn zusammenzuckte, Cornelius vor Schreck quietschte und Lena einen Satz machte wie ein Känguru. Hinter ihnen ertönte eine barsche Stimme: »Was habt ihr hier verloren? Macht, dass ihr wegkommt, sonst gibt’s Ärger!«

2

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Natürlich gab es jede Menge Kinder in München. Es gab ja auch jede Menge Erwachsene. Die Stadt hatte schließlich über eine Million Einwohner. Wenn man die genaue Zahl wissen wollte, musste man Cornelius Jaeckel fragen, der eine Art wandelndes Lexikon war.

Trotzdem hatten Fynn und Franziska Gerolstein, Lena Mazani und Cornelius Jaeckel es nie geschafft, andere Freunde zu finden. Lena, die manchmal total ätzende Dinge sagen konnte, meinte, es lag daran, dass sie eine Freakshow waren.

Franzi und Fynn hielten sich nicht für Freaks. Sie vermuteten eher, es lag daran, dass ihre Eltern ständig auf Reisen waren und sie von klein auf in allen Ferien zu diesen Reisen mitgeschleppt hatten. Wie sollte man denn so Freunde finden?

»Da habt ihr’s«, sagte Lena immer, wenn sie dieses Gespräch führten. »Ihr zwei seid immer einer Meinung und müsst euch nicht mal abstimmen. Freakig, freakig, freakig!«

»Und du läufst neuerdings mit dieser komischen Fliegerbrille rum«, sagte Cornelius. »Und was war’s davor? Ein Piratentuch und ’ne Augenklappe. Und davor diese halbe Maske aus Venedig, die du immer vor einer Gesichtshälfte getragen hast. Wieso eigentlich? Du hast doch zwei Augen, die fabelhaft funktionieren.«

»Weil ich ein Freak bin«, erklärte Lena fröhlich. »Und du bist einen Kopf größer als wir alle und kannst Erwachsenenhemden tragen und wahrscheinlich uns drei mit einer Hand hochheben und hast trotzdem dauernd Angst!«

»Ich hab keine Angst, ich bin nur umsichtig«, korrigierte Cornelius in dem Versuch, seine Würde zu wahren.

»Du bist ein Freak«, sagte Lena grinsend.

Der eigentliche Grund, warum nie weitere Freunde zu ihrer Gruppe gestoßen waren, war aber ein anderer: Sie brauchten sonst niemanden! Sie waren vier beste Freunde. Wer konnte sich noch mehr wünschen?

Fynns und Franzis Eltern hatten eine kleine Firma für Dokumentarfilme. Sie produzierten Filme, bei denen sie stets selbst die Regie führten, natürlich eifrig unterstützt von ihren Kindern, die in den Ferien fleißig mit anpackten.

Lenas Vater, Giuseppe Mazani, war Kameramann und machte tolle Aufnahmen für das Unternehmen. Und für die Tonaufnahmen von Gerolstein Doks war Tanja Jaeckel verantwortlich. Sie war Cornelius’ Mutter.

Weil sie so oft zusammenarbeiteten, waren die Erwachsenen inzwischen eng befreundet, und die Freundschaft war auch auf ihre Kinder übergegangen.

In diesen Sommerferien waren die vier ausnahmsweise zu Hause in München geblieben. Gerolstein Doks hatte einen Auftrag vom Bayerischen Fernsehen erhalten: eine Reportage über die Antiquitätenhändler im Münchner Stadtviertel Schwabing. Die Touristen kamen von weit her, um durch Schwabing zu bummeln. Wenn man aber hier lebte und es gewöhnt war, in den Ferien bei Dreharbeiten auf Island oder in der Sahara, in Australien oder in den Rocky Mountains unterwegs zu sein, übte Schwabing keinen besonders großen Reiz aus. Schon gar nicht, wenn man die Zeit in dunklen, muffig riechenden Hallen zwischen lauter altem Plunder totschlagen musste.

»Antiquitäten sind wertvolle Gegenstände aus vergangenen Epochen«, sagte Cornelius. »Sie sind kein Plunder.«

»Wenn du sie in den Sommerferien die ganze Zeit anschauen musst …«, sagte Fynn.

»… kommen sie einem total wie Plunder vor!«, beendete Franzi den Satz.

»Monsterplunder!«, bestätigte Lena.

Und zu allem Übel hatte es in den Sommerferien bisher fast nur geregnet. Im Juli, bevor die Ferien begonnen hatten, war es drei Wochen lang so heiß und sonnig gewesen, dass selbst die Surfer im bitterkalten Eisbach im Englischen Garten, Münchens riesigem Park, ihre Neoprenanzüge abgelegt hatten. Aber jetzt, Ende August, war es kühl und beinahe herbstlich. Also mal wieder typisch bayerische Sommerferien! Wenigstens sah man in den finsteren Hallen von dem Regen nichts.

Die Ferien hatten also ziemlich langweilig begonnen, doch dann hatte Lena die seltsame Apparatur entdeckt und damit für Aufregung gesorgt. Und jetzt stand der Antiquitätenhändler, der mit seinem langen grauen Haar und seinem Musketierbart selbst wie eines seiner Altertümer aussah, hinter ihnen und war so wütend wie ein Berggorilla.

3

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»Wir haben nichts angefasst«, sagte Lena unschuldig.

»Lasst die Finger von dem Gerät und verschwindet! Eure Eltern sind mit den Arbeiten für heute fertig. Ich will meine Ruhe!«

»Was ist das denn für ein Gerät?«, fragte Lena. Cornelius, der wie üblich eingeschüchtert war, sagte gar nichts, und Fynn musterte besorgt seine Schwester und ignorierte den Händler. Franzi war auf einmal blass und blickte sich dauernd über die Schulter um, als würden sie verfolgt.

Der Händler führte sie nach vorn in den Teil seiner Halle, der den Käufern zugänglich war.

»Was geht’s dich an?«, knurrte er.

Selbst Lena war von der Unfreundlichkeit des Händlers eingeschüchtert und stellte keine weiteren Fragen mehr. Die Kinder halfen, die Kameraausrüstung in den Sprinter von Gerolstein Doks zu verladen. Als ihre Eltern den Händler überreden wollten, ihnen auch für den nächsten Tag eine Drehgenehmigung zu erteilen, bemerkte Lena, dass mit den Zwillingen etwas nicht stimmte.

»Was ist denn mit euch los?«

Cornelius sah überrascht auf. Fynn und Franzi wechselten einen Blick.

»Als Franzi das Ding berührte, hatte sie ein ganz komisches Gefühl«, erklärte Fynn zögernd. Auch das war eine Eigenart der Zwillinge, an die Lena und Cornelius sich längst gewöhnt hatten. Oft konnten beide recht genau schildern, was der jeweils andere gerade fühlte. Deshalb war es egal, wer die Sachlage erklärte – die Erklärung stimmte meistens. »Es war wie ein … wie ein …« Fynn stockte.

Lena zog verwundert die Augenbrauen hoch. So ratlos hatte sie die Zwillinge noch nie gesehen. Auch Cornelius musterte die Geschwister besorgt.

»Wie ein elektrischer Schock?«, fragte er.

»Nein, eher wie … hmmm …«

»Wie ein kalter Hauch?«

»Nein, sondern …«

»Wie ein Schlag ins Gesicht?«

»Halt doch mal die Klappe, Cornelius, und lass ihn ausreden!«, rief Lena genervt.

Doch es war Franzi, die antwortete. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Wangen bleich. »Es war, als hätte ich etwas Lebendiges angefasst«, flüsterte sie. »Und dann fühlte es sich an, als ob etwas unter meine Haut glitt. Als würde für einen winzigen Moment ein Fremder vor dir stehen und sähe dich an … und im nächsten Moment ist er weg, und du spürst, wie er in dich hineinschlüpft wie eine Hand in einen Handschuh.«

»Monstermäßig«, sagte Lena schockiert.

»Voll unheimlich«, sagte Cornelius. »Hättest du das Ding bloß nicht angefasst. Am Ende ist es Ebola.«

Lena verdrehte die Augen. »Und wie geht’s dir jetzt?«

Statt Franzi antwortete Fynn: »Ich habe das auch gespürt. Und eins ist sicher …« Wieder fand die kurze, für die anderen nicht wahrnehmbare Kommunikation der Zwillinge statt, als sie einen Blick tauschten. Franzi nickte. Auf Fynns bloßen Armen bildete sich auf einmal eine Gänsehaut. »… was es auch ist, es ist immer noch da.«

4

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Irgendwie waren dann anscheinend ein paar Tage vergangen, ohne dass Franzi es richtig gemerkt hatte. Und wie sie in die Lagerhalle gekommen war, wusste sie auch nicht. Total verwirrt stand sie nun wieder vor der merkwürdigen Apparatur. Sie sah sich nach den anderen um, aber sie war allein. Nicht einmal Fynn war da, und das war das Beängstigendste an der ganzen Situation. Die Zwillinge unternahmen nur ganz selten etwas getrennt voneinander, und schon gar nicht so etwas wie sich heimlich bei Nacht in eine fremde Lagerhalle schleichen. Nacht war es – das wusste sie, ohne zu wissen, woher. Sie wollte die anderen rufen, aber sie bekam keinen Ton heraus.

Die Apparatur schimmerte in ihrem merkwürdigen, von innen heraus kommenden Glanz. Die wabernde Luft im Inneren des Rings schien Muster zu bilden, Farbwirbel, dunkle Stellen. Es kam Franzi vor, als wäre der Ring die Iris eines riesigen Auges, und die schwarze Pupille in ihrer Mitte ein Schacht, in den sie hineinfiele, wenn sie zu nah herantrat. Sie hob die Hand, mit der sie die Apparatur berührt hatte, doch dann wagte sie nicht, sie noch einmal auf den Ring zu legen.

Das Gerät summte ganz leise. Beim letzten Mal war Franzi das nicht aufgefallen. Wenn man es genau bedachte, war es gar kein Summen, eher ein … Rascheln. Nein, ein … Wispern. Als flüsterte das Gerät ihr etwas zu. Eine Gänsehaut lief über Franzis Körper. Das Gerät wisperte immer und immer wieder einen Namen …

… Franzi …

»FRANZI?«

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Franzi fuhr zusammen und schrie auf. Auf einmal war sie nicht mehr in der Lagerhalle, sondern in ihrem Bett. Sie spürte, dass sie schweißnass war. Fynn stand neben ihr und sah sie mit aufgerissenen Augen an. Sie schluckte. Hatte sie etwa nur geträumt?

»Das Ding in der Lagerhalle«, stotterte Fynn. »Es hat meinen Namen geflüstert.«

»Meinen auch«, sagte Franzi. Sie mussten nicht erwähnen, dass sie beide das Gleiche geträumt hatten. Sie wussten es auch so.

»Es war ein gruseliger Traum«, sagte Fynn. Er setzte sich auf Franzis Bett. Franzi wollte ihm schon zustimmen, zögerte dann jedoch. Sie hatte sich im Traum zwar gefürchtet, weil sie ganz allein vor dem Gerät gestanden hatte. Aber von dem Gerät selbst war keine Bedrohung ausgegangen. Die Situation war unheimlich gewesen, das ja, aber das Gerät schien eher um Hilfe zu rufen, als ihnen etwas tun zu wollen. Sofern einem solch ein Apparat überhaupt gefährlich werden konnte.

Sie und Fynn sahen sich an. Fynn zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht ist es der Mond«, sagte er. »Mama hat gesagt, übermorgen ist Neumond. Da füllt sich der leere Nachthimmel mit merkwürdigen Träumen.«

Franzi schnaubte verächtlich.

»Na gut«, seufzte Fynn resigniert. »’nen Versuch war’s wert, oder? Ich glaube ja auch, dass das Ding … dass es …«

»… uns ruft«, vollendete Franzi den Satz. Sie bekam Gänsehaut.

»Jetzt wird’s mir wirklich zu gruselig«, sagte Fynn. »Ich geh wieder ins Bett und spiel Minecraft. Einschlafen kann ich jetzt eh nicht mehr.«

Als er aufstand, fiel etwas klappernd zu Boden, und er bückte sich, um es aufzuheben. Franzi hörte ihn im Halbdunkel herumtasten.

»Du hast einen Stift im Bett gehabt«, sagte er dann. »Einen Bleistift. Sei froh, dass die Spitze so stumpf ist, sonst hättest du dich beim Schlafen in den Po gepiekst.« Er legte den Stift auf das Nachttischchen. »Warum hattest du einen Stift in deinem Bett?«

»Ich hatte keinen Stift in meinem Bett«, sagte Franzi. Eine merkwürdige Ahnung kroch in ihr hoch. Sie machte die Nachttischlampe an. Das Licht fiel auf ihr Kopfkissen und auf die Wand daneben.

»Oh nein!«, stöhnte Fynn, der es im selben Augenblick sah wie Franzi.

Franzi krabbelte aus dem Bett. Nur weg davon, war ihr erster Gedanke. Dann beruhigte sie sich wieder. »Los, komm, wir schauen bei dir nach«, sagte sie.

Fynn war ebenfalls vom Bett zurückgewichen. »Du meinst …?«

»Weiß ich nicht. Lass uns nachschauen.«

In Fynns Zimmer fanden sie das Gleiche. Nicht mit Bleistift geschrieben, sondern mit einem Filzer. Der Stift lag in Fynns Bett und hatte mit seiner total zerfaserten Spitze einen großen Fleck auf das Leintuch gemacht. »Dafür bringt Mama mich um«, ächzte Fynn. Er deutete auf die Wand neben seinem Kopfkissen. »Und dafür auch.«

Franzi las wieder und wieder, was Fynn geschrieben hatte. Er musste es im Traum getan haben. Genauso wie Franzi – dieselben Worte standen auf der Wand neben ihrem Kopfkissen.

Es waren Namen. Hingekritzelt, während sie geschlafen hatten. Franzi musste dazu sogar aufgestanden sein und den Bleistift vom Schreibtisch geholt haben. Doch sie konnte sich nicht daran erinnern. Zum dritten Mal bekam sie am ganzen Körper Gänsehaut. Fynn zog fröstelnd die Schultern hoch und umfasste seine Oberarme.

Es waren fünf Namen, die wieder und wieder geschrieben worden waren, bis Franzis Bleistift stumpf und Fynns Filzstift ruiniert war.

Franzi.

Fynn.

Lena.

Cornelius.

Franzi Fynn Cornelius Fynn Franzi Lena Lena Cornelius. Fynnfranzilenacornelius. Frynnzinacornelenanzius.

Und dazwischen der fremde Name: Vidocq.

Vidocq.

VIDOCQ!

032.tif

5

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»Es gab einen Eugène Vidocq«, sagte Cornelius am nächsten Tag. Die Freunde hatten sich im Haus der Gerolsteins getroffen. Ihre Eltern waren an einem anderen Drehort. Der Antiquitätenhändler, in dessen Lagerhalle die Apparatur stand, hatte keine weitere Drehgenehmigung erteilt. Sie saßen alle gemeinsam auf Fynns ungemachtem Bett. »Ich hab ihn gegoogelt. Eugène François Vidocq.« Er sprach die französischen Namen richtig aus: Öhschänn Frongswa Widock. Voll ritz, dachte Lena. Was der alles weiß!

»Und was ist das für’n Typ?«, fragte Lena.

»Erst mal ist er schon seit hundertfünfzig Jahren tot«, antwortete Cornelius.

»Voll ritz«, meinte Lena beeindruckt.

»Er war der berühmteste Detektiv der Welt«, erklärte Cornelius. »Er hat die Kriminalpolizei erfunden.«

»Der berühmteste Detektiv der Welt war James Bond«, sagte Lena.

Cornelius stieß die Luft aus. Fynn sagte: »Nein, das war Sherlock Holmes.«

»James Bond ist ein Geheimagent«, sagte Franzi.

»Ist das was anderes?«, fragte Lena.

»Fast alle bekannten Detektivfiguren sind nach dem Vorbild von Vidocq erfunden worden«, sagte Cornelius. »Auch Sherlock Holmes.«

»Und James Bond.«

»Nee!«, rief Cornelius ungeduldig. »Der nicht! Und wir reden hier von einem echten Menschen, keiner Figur aus einem Buch oder einem Film!«

»Wart nur, ich google ›James Bond‹, dann werd ich’s euch zeigen«, murmelte Lena aufgebracht.

»Die Frage ist: Wieso habt ihr seinen Namen im Traum an die Wand gekritzelt, wenn ihr noch nie was von ihm gehört habt?«, überlegte Cornelius.

Die Zwillinge zuckten mit den Schultern. Dann sagte Franzi: »Ich glaube, es hängt mit dem Gerät zusammen.«

031.tif

Lena schob die zwei Kissen beiseite, die Fynn an die Wand gelehnt hatte, um das Gekritzel vor seinen Eltern zu verbergen. »Das kriegst du echt nie mehr weg«, sagte sie. »Deine Eltern müssen die Wand neu streichen.«

Doch wieder hörte ihr keiner zu. »Mit dem Gerät?«, fragte Cornelius. »Wie das?«

»Es war, als würde das Ding uns rufen«, erklärte Fynn und fügte hinzu: »Im Traum, meine ich.«

Cornelius fragte nachdenklich: »Warum ruft es euch gerade jetzt? So wie das Ding aussieht, steht es ja nicht erst seit gestern dort.«

»Vielleicht weil ich es erst jetzt berührt habe?«, meinte Franzi.

»Das ist wirklich voll …«, begann Cornelius.

»Alter!«, unterbrach ihn Lena ungeduldig, »hör mal auf mit deinem ›unheimlich’!«

»Ich wollte sagen: voll ritz«, sagte Cornelius beleidigt.

»Oh.« Lena grinste. »Das ist jetzt aber monsterritz.«

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Franzi.

»Radiergummis raus, dann radieren wir bei dir den Mist spurlos von der Wand«, sagte Lena. Dann sah sie Fynn etwas mitleidig an und fügte hinzu: »Du bist allerdings erledigt. Überleg dir besser schon mal ’ne gute Ausrede.«

»Und was ist mit dem Traum?«

Lena winkte ab. »Was wollt ihr denn machen? Zu dem Antiquitätenhändler gehen und das Gerät kaufen, bloß weil ihr ’nen komischen Traum hattet?«

»Aber wir haben beide zur selben Zeit das Gleiche geträumt.«

»Ihr macht immer zur selben Zeit das Gleiche«, sagte Lena. »Vergesst die Sache einfach. Träume sind Schäume, sagt mein Pa.«

»Und das seltsame Gefühl, das ich hatte, als ich das Teil berührte … ?«, fragte Franzi.

Lena ignorierte sie. »Wo sind die Radiergummis?«

6

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In der nächsten Nacht träumte Franzi wieder. Wieder stand sie vor der Apparatur in der Lagerhalle. Doch als sie zur Seite blickte, sah sie Fynn. Sie war also diesmal nicht allein.

»Das ist nur ein Traum«, sagte Fynn zu ihr. »Ich weiß es diesmal. Aber warum wache ich nicht auf?«

»Weil ich es nicht zulasse«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Erschrocken drehten sie sich um. Ein Mann stand vor ihnen. Er trug völlig altmodische Kleidung, einen langen Mantel mit hoch aufgestelltem Kragen, und um den Hals eine weiße Binde mit einer Schleife statt einer Krawatte. Er war ziemlich alt und ziemlich dick. Sein Haar war weiß und lockig und viel zu lang für den heutigen Geschmack, seine Koteletten buschig und bis zu den Kinnbacken heruntergewachsen. Er lächelte über sein ganzes breites Gesicht, und dieses Lächeln wirkte so freundlich, dass es den Schreck über sein unerwartetes Auftauchen milderte.

»Wer sind Sie?«, fragte Fynn.

»Woher soll ich das wissen?«, fragte der Mann. »Es ist doch dein Traum.« Er zwinkerte Fynn zu.

»Es ist unser Traum«, korrigierte Franzi. »Und Sie kontrollieren ihn. Sie sind Herr Vidocq, nicht wahr?«

Der Mann verbeugte sich. Er lächelte jetzt noch breiter. »Nicht schlecht«, sagte er. »Ihr kombiniert schnell. Nicht, dass ich etwas anderes von euch erwartet hätte.«