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Wem gehört die schreckliche Stimme in Percys Kopf?
Was lauert im alten Leuchtturm auf der Toteninsel?
Gibt es Seeungeheuer?
Kann man Tote zum Leben erwecken?
Und wie entkommt man einem irren Axtmörder?

Percy weiß es nicht.
Aber er wird es bald herausfinden!

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1. Überfahrt zur Toteninsel

2. Gefährliche Treppen

3. Der Masken-Mann

4. Eine böse Überraschung

5. Unerwartetes Wiedersehen

6. Der unsichtbare Schütze

7. Das Ding im Tank

8. Die Stimme

9. Die Maschine

10. Flammendes Inferno

11. Unter dem Meer

12. Rollmops, Speck und Schokoflocken

13. Im Teufelsgraben

14. McMurdoch Mansion

15. Onkel Toby greift ein!

16. Mord am Seeufer

17. Kalt bis auf die Knochen

18. Schüsse im Schloss

19. Hot Dogs!

20. Im Ostflügel

21. Das Labyrinth

22. Das dritte Labor

23. Der Fluch des Hauses Darkmoor

24. Die Wahrheit muss auf den Tisch!

25. Das Geheimnis der Stimme

26. Die Verwandlung

27. Eine alte Kriegslist

28. Dr. Uides Rache

29. China-Kracher

Je länger ich allein in Onkel Hardys Schloss lebe, desto verschrobener werde ich – das meint zumindest meine Tochter. Sie kommt mich gelegentlich besuchen und ist inzwischen alt genug, um mir beim Übersetzen von Onkel Hardys Schauergeschichten zu helfen (und wie sich herausgestellt hat, kann sie das Gekrakel des alten Zausels oftmals besser lesen als ich). Lange bleibt sie allerdings nie. Und das liegt nicht nur daran, dass die nächsten Nachbarn mit Kindern drei Meilen entfernt in einer Friedhofsgärtnerei leben. Sondern eben auch an meiner eigenen zunehmenden Zauseligkeit, wie ich fürchte.

»Papa, seit wann rauchst du dänische Pfeifen?«, will meine Tochter wissen. Oder: »Papa, musst du immer den alten Kram auf dem Dachboden durchwühlen?« Fehlt nur noch, dass ich demnächst anfange, Posthörner zu spielen oder Schrumpfköpfe zu sammeln. Was ich damit sagen will, ist dies: Ich werde so langsam zu einem zweiten Onkel Hardy – und das ist irgendwie eine gruselige Vorstellung, auch wenn ich meinen Onkel sehr gemocht habe.

Deshalb überlege ich, erneut zu heiraten. Aber werde ich jemanden finden, der freiwillig in ein Gebäude zieht, das in dem Fachbuch »Die hässlichsten Burgen Englands« gleich im ersten Kapitel erwähnt wird?

Wie dem auch sei, ein erster Schritt, mich von dem unguten Einfluss Onkel Hardys zu befreien, wird eine Pause bei meinen Übersetzungsarbeiten seiner Jugendromane sein. Ich habe zwar auf dem Dachboden noch zwei weitere Kisten mit kleinen schwarzen Notizbüchern gefunden, aber die lasse ich fürs Erste dort. Die Nachbarn mit der Friedhofsgärtnerei haben mir einen Job angeboten, der fast so einträglich ist wie das Veröffentlichen von Büchern, sodass ich auch auf diese Weise ein bisschen Geld für den Unterhalt des Schlosses verdienen kann.

Deswegen wird dieser Band vorerst die letzte Percy-Pumpkin-Geschichte sein. Alle Leser, die sich über die offengehaltenen Enden der ersten beiden Romane geärgert haben, kann ich an dieser Stelle beruhigen. Diesmal gibt es einen richtigen Schluss mit Pauken und Trompeten! Und wenn ihr euch nicht mehr an jedes Detail der bisherigen Ereignisse erinnert, findet ihr am Ende des Buchs eine Zusammenfassung von »Percy Pumpkin – Der Mumienspuk«.

Euer Christian Loeffelbein

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Gerade eben hatte alles noch so leicht ausgesehen, aber jetzt kamen Percy die ersten Zweifel, ob ihr überstürzter Aufbruch zur Toteninsel eine gute Idee gewesen war. Das kleine Boot, in dem sie saßen, schaukelte bedenklich hin und her, und seit der Mond hinter einer Wolke verschwunden war, konnte man kaum noch etwas sehen. Percy schaltete die leuchtende Armbanduhr ein, die er von Onkel Adalbert zu Weihnachten bekommen hatte, aber selbst ihr starkes Licht wurde von der bedrohlichen Finsternis verschluckt. Nur der Strand mit den schroffen Felswänden der Steilküste war noch als dunkles Band zu erkennen.

»Iiiii«, kreischte Claire und trat John gegen sein Bein.

»Ich denke, du kannst rudern«, sagte Linda und spuckte ihrem Cousin einen Schwall Meerwasser entgegen.

»Kann ich ja auch! Letzten Sommer habe ich die Meisterschaften unserer Schule gewonnen. Aber da habe ich auch nicht gedacht, dass ich jede Sekunde erfriere.«

John versuchte, das Ruder in den Griff zu bekommen, das ihm gerade entglitten war und für eine Flutwelle gesorgt hatte. Es rutschte allerdings erneut aus seiner Hand und wieder begann das Boot gefährlich zu schaukeln. Zum zweiten Mal klatschte eine Welle über die Bootswand, dicht gefolgt von einer weiteren, deren Gischt mitten in den Gesichtern der Zwillinge landete.

»Das reicht jetzt!«, sagte Claire und schubste John von der Ruderbank. »Ich übernehme.«

Sie versuchte, die Holzgriffe zu fassen zu bekommen, doch die Paddel polterten links und rechts an die Außenwände und das alte Fischerboot drehte sich im Kreis.

Jim begann zu heulen wie ein Wolf.

Percy streichelte seinem Hund über den Kopf. Auch ihn hatten die ins Boot schlagenden Wellen erwischt, und er spürte, wie sich die Feuchtigkeit durch seine Cordhose und seine Winterjacke fraß. Er begann zu zittern, allerdings nicht nur wegen der beißenden Kälte, die ihm in die Knochen kroch. Vor ihnen lag die Toteninsel, deren zerklüftete Klippen mit dem großen Leuchtturm schwarz vor dem nächtlichen Winterhimmel aufragten.

Die Toteninsel! Percy war sich zwar immer noch sicher, dass sie dort das Rätsel um Allan Darkmoors unheimliche Experimente aufklären würden, aber vielleicht hätten sie mit ihrem Aufbruch doch lieber bis zum Morgen warten sollen. Wenn ihnen jetzt etwas zustieß, gab es womöglich keine Hoffnung mehr für seine Eltern.

»Vorsicht!«, schrie Claire und sorgte dafür, dass Percy aus seiner starren Haltung aufschreckte. Im letzten Moment klammerte er sich an der Bootswand fest, sonst wäre er über Bord gegangen.

»Von wegen du übernimmst.« John schüttelte ärgerlich den Kopf und verlor dabei seine Mütze, die in den schwarzen Wellen verschwand. Er wollte seiner Cousine dafür lauthals die Schuld geben, aber Claire hielt auf einmal beide Ruder fest in den Händen, tauchte sie gleichmäßig ins Wasser und drückte sie kraftvoll nach hinten.

Das Fischerboot sprang so plötzlich nach vorn, dass John von der Bank fiel. Er stieß sich den Kopf an einer eisernen Kiste, die aus einer Klappe am Heck gerutscht war, und fluchte. Linda beugte sich über ihn, holte aus der Kiste einen Schiffszwieback hervor und stopfte John das trockene Brot zwischen die Zähne. Allein die Tatsache, dass er etwas Nahrhaftes im Mund hatte, beruhigte ihn augenblicklich.

»Mipf pfür ungut, aber dapf mupfte mal gepfagt werden«, nuschelte er und angelte sich einen zweiten Zwieback aus der Truhe.

»Seid ihr sicher, dass wir an der Toteninsel anlegen können?«, wechselte Percy das Thema.

»Bist du sicher, dass wir dort des Rätsels Lösung finden?«, fragte Claire zurück. »Wir riskieren nämlich gerade Kopf und Kragen, das ist dir hoffentlich klar.«

John stieß ein prustendes Lachen hervor. Krümel flogen durch die Luft. »Als ob wir in den letzten Tagen irgendetwas anderes gemacht hätten, als Kopf und Kragen zu riskieren«, beschwerte er sich. »Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir überhaupt noch leben!«

»Nimm noch einen Zwieback«, sagte Linda, die jetzt gemeinsam mit Percy dem dunklen Schatten der Toteninsel entgegenblickte. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht hast du es dir ja doch nur eingebildet«, sagte sie leise. »Nach allem, was wir erlebt haben, wäre das wirklich nicht weiter verwunderlich.«

Percy schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er entschieden. »Ich habe diese Stimme wirklich gehört, das bilde ich mir nicht nur ein.«

Linda zog ihre Stirn in Falten.

»Die Stimme war da«, wiederholte Percy. »Ich weiß, dass es merkwürdig klingt, aber ich spüre einfach, dass wir so schnell wie möglich zur alten Leuchtturmruine müssen …«

»Auf Percys Eingebungen ist Verlass«, sagte Claire. »Schließlich haben wir denen auch die Entschlüsselung der Hieroglyphen zu verdanken.«

Percy griff erneut nach der hölzernen Kante der Bootswand. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und ließ seine Knöchel aufleuchten wie die Knochen eines Skeletts.

»Wir werden deine Eltern finden«, sagte Linda und klopfte ihm ermutigend auf den Rücken. »Und wir werden unser Familiengeheimnis lüften.« Dann blickte sie wieder zu den schwarzen Klippen der Toteninsel, denen die vier mit jedem von Claires Ruderschlägen näher kamen.

»Aber warum machen wir dabei immer wieder dieselben Fehler?«, rief John vom Heck. Er hatte seinen Zwieback hinuntergeschluckt. »Wir hätten wenigstens Jasper oder Sam Jackberry Bescheid sagen sollen.«

»So ein Blödsinn!«, entgegnete Linda. »Wir sind die Einzigen, die eine heiße Spur haben. Und die Erwachsenen versuchen doch eh immer nur, alles zu vertuschen.«

»Genau!«, unterstützte Claire ihre Zwillingsschwester. »Außerdem ist Sam verschwunden, und es gibt niemanden mehr, der uns helfen könnte. Mama und Papa sind nicht ansprechbar, Onkel Adalbert hat ein Bein verloren und Onkel Eric verfrachtet uns alle sofort in die Irrenanstalt, wenn wir ihm unter die Augen treten.«

»Was ist mit Onkel Toby?«, schlug John vor.

»Kannst du dir vorstellen, dass Onkel Toby außer beim Tischdecken und Bratentranchieren eine große Hilfe ist?«, fragte Claire. Sie war inzwischen ziemlich kurzatmig geworden, weil das Rudern so anstrengend war.

John ließ resigniert die Schultern hängen. Im selben Moment verschwand der Mond wieder hinter einer dicken Wolke.

»Auch das noch«, keuchte Claire. »Kannst du was sehen, Percy?«

»Die Insel liegt direkt vor uns«, rief er und lehnte sich, so weit er konnte, über den Bug des Bootes, um sein Handgelenk mit der leuchtenden Uhr in die Finsternis zu halten. »Ich kann die Entfernung nur nicht abschätzen.«

»Aber ich«, mischte sich Linda ein. »Im Gegensatz zu dir bin ich die Strecke nämlich schon ein paarmal gerudert. Wir müssten gleich dort sein, wenn ich mein Schwesterherz jetzt ablöse.«

»Ich bin noch nicht müde«, protestierte Claire.

»Du kannst kaum noch die Ruder festhalten«, widersprach Linda und kletterte zu Claire auf die Ruderbank. »Geh mal zu Percy und rede mit ihm«, flüsterte sie ihr leise ins Ohr. »Der ist kurz davor durchzudrehen.«

»Kein Wunder«, flüsterte Claire zurück und stieg dann zu ihrem Cousin in den vorderen Teil des Bootes. »Was meinst du, was wir auf der Toteninsel finden werden?«, fragte sie ihn. »Außer dem Leuchtturm, meine ich.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Percy.

Dann starrte er wieder in die Dunkelheit.

»Mir tut das Ganze so schrecklich leid«, murmelte er nach einer Weile. »Es ist alles meine Schuld. Ich hätte niemals nach Darkmoor Hall kommen und mich in eure Angelegenheiten einmischen dürfen.«

»Was redest du denn da für einen Quatsch?« Claire rammte Percy ihren Ellenbogen in die Seite. »Du bist doch nicht hierhergekommen, sondern deine Eltern. Und dafür, dass sie entführt worden sind, kannst du am allerwenigsten. Genauso wenig wie für alles andere, was seitdem geschehen ist. Und jetzt reiß dich zusammen. Die Darkmoors jammern nicht.«

»Ja, hast recht.« Percy atmete die salzige Seeluft tief ein und begann wieder, Jim den Kopf zu kraulen. »Jammern hilft nichts.«

»So gefällst du mir schon besser«, sagte Claire. Sie kniff die Augen zusammen und sah nun ebenfalls zur Toteninsel hinüber. »Linda und ich sind schon häufig drüben gewesen, aber wir konnten nicht einmal den Aufgang zum Leuchtturm finden.«

»Unter uns ist etwas!«, schrie John in dieser Sekunde von hinten. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf und wedelte mit den Armen in der Luft herum.

»Jetzt dreht der auch noch durch«, stöhnte Linda.

»Ein Flügelrochen!«, brüllte John. Aufgeweichte Zwiebackkrümel schossen ihm aus dem Mund, und es sah aus, als ob er Schaum vor den Lippen hätte. »Oder ein Walfisch mit Schwingen oder …« Er brach ab und sackte in sich zusammen.

Jim zog seinen Schwanz ein und winselte.

»Himmel!«, rief Claire und warf einen Blick auf das Meer. »So langsam verlieren wir wohl alle den Verstand.« Sie hielt inne und kräuselte die Stirn. »Bilde ich mir das nur ein oder ist da unten tatsächlich etwas?«

Sie drehte sich zu ihrer Schwester um und zeigte mit der rechten Hand auf das Wasser. Percy starrte angestrengt auf die Wellen und versuchte, etwas zu erkennen.

»Es hat geleuchtet«, schrie John und rappelte sich wieder auf. »Die Augen des Monsterrochens haben geleuchtet, deswegen konnte ich sie sehen.«

Percy beugte sich noch tiefer über die pechschwarzen Fluten. Er hielt seine Uhr vor sich, aber ihr Schein glitzerte nur auf der Wasseroberfläche wie ein Irrlicht. »Also, ich kann nichts entdecken«, sagte er.

»Vielleicht war es nur eine Spiegelung«, überlegte Claire. »Wenn man …« Sie wurde mitten im Satz von einem unheimlichen schabenden Geräusch unterbrochen. Irgendetwas drückte das Boot jäh nach oben.

»Der Monsterrochen!«, kreischte John.

»Jetzt halt aber mal die Luft an«, erwiderte Linda. »Wir sind auf Grund gelaufen, das ist alles.«

Plötzlich riss die Wolkendecke erneut auf und der Mond tauchte die Umgebung in ein unwirkliches Licht.

»Wir müssen hier weg!«, schrie John, dessen Stimme sich mit jedem Wort weiter in die Höhe schraubte. »Da oben sitzt das nächste Monster-Vieh!«

Selbst Claire und Percy zuckten zusammen, als sie sahen, was John meinte.

Nur Linda bewahrte die Ruhe. Ihre Stimme klang verärgert: »Ihr seid ja wirklich eine Heldentruppe. Das ist der Leuchtturm, meine Güte!«

Percy rieb sich über die Augen. Ihm war kalt und er fühlte sich so müde wie noch nie in seinem Leben. Außerdem hatte er Angst – wahrscheinlich sogar noch mehr als John. Zitternd ließ er seinen Blick über den schmalen Strand, die steil aufragende Felswand und die dunkle Silhouette des Leuchtturms über ihnen gleiten.

Die Klippe war viel steiler, als er gedacht hatte, und die ungeheure Masse des Leuchtturms nahm ihm regelrecht den Atem.

Vom Festland hatte das Gebäude wie einer der Schlosstürme von Darkmoor Hall ausgesehen, doch nun musste Percy feststellen, dass es mindestens dreimal so breit war. Eine Gruppe von Seemöwen kreiste kreischend um die oberen Geschosse. Oder waren es Fledermäuse?

Percy legte den Kopf in den Nacken.

Er hatte noch nie einen Leuchtturm gesehen, der eine derart bedrohliche Ausstrahlung hatte. Das ganze Bauwerk wirkte eher wie die Festung eines grausamen Herrschers und nicht wie eine Vorrichtung, um Schiffen den Weg zu weisen. Im Sockelgeschoss wurde die Fassade von hohen, schmalen Fenstern durchbrochen, die aussahen wie Schießscharten. Ansonsten waren die Außenmauern des riesigen Turms völlig schmucklos. Sie bestanden aus Abertausenden Ziegelsteinen.

Percy atmete die kalte, klare Nachtluft ein und strich sich seine durchnässten Locken aus der Stirn. Es war besser, nicht weiter nach oben zu starren, entschied er. Doch leider bot der Strand vor ihm auch keinen sehr viel ermutigenderen Anblick.

Linda und Claire waren bereits mit John über die zerklüfteten Gesteinsbrocken am Ufer geklettert und standen nun auf dem harschen Schnee vor der steilen Felswand. Sie wirkten verloren und verängstigt.

»Menschenskinder«, flüsterte Percy seinem Hund Jim ins Ohr, während er ihn auf den Arm nahm. »Das ist ja ein gemütliches Plätzchen hier.«

Schwankend stieg er aus dem Boot und stakste über die glitschigen Steine zum Strand, wo er Jim absetzte. Die salzige, feuchte Meeresluft hatte den Schnee der letzten Tage in eine raue, harte Masse verwandelt, deren schmutziges Grau fast noch deprimierender wirkte als der schwarze Granit der Felswand.

»Wenn das Boot ein Leck hat, dann sitzen wir hier fest«, sagte John und deutete in Richtung der schroffen Felsen im Meer. »Und bis uns jemand suchen kommt, sind wir verhungert.«

»Du verbreitest ja mal wieder eine Bombenstimmung.« Linda schaute zwischen John und den Klippen in ihrem Rücken hin und her.

»Ist euch nichts aufgefallen?«, fragte Claire und überging damit sowohl Johns als auch Lindas Bemerkung. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Es ist komplett windstill hier. Hättet ihr das gedacht?«

Percy schüttelte erstaunt den Kopf. Claire hatte recht. Nicht einmal in einem der vielen Innenhöfe des Familienschlosses war die Luft derart unbewegt wie hier auf der Toteninsel. »Es ist unheimlich«, flüsterte er. »Als ob man in einer riesigen Halle steht.«

»Ja«, brummte John. »In einer Leichenhalle.«

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»Hier sind Schleifspuren«, rief Percy. Seine Finger glitten über mehrere tiefe Furchen in der Steilwand, die sich wie ein Spinnennetz zu allen Seiten hin ausbreiteten. Dann zog er seine Hand von dem kalten Gestein und steckte sie in seine Jackentasche.

Während er auf die Zwillinge und John wartete, die er losgeschickt hatte, um die Ostseite des Strands nach einem Aufgang zum Hochplateau abzusuchen, schaute er wieder an den Klippen hoch. Der Leuchtturm war von hier aus nicht zu sehen, aber die schwarze Felsmasse hatte auf ihn eine ähnliche Wirkung wie das unheimliche Bauwerk, das auf dem Plateau errichtet worden war: Sie übte eine hypnotische Anziehungskraft aus und war zugleich abstoßend und furchterregend.

»Hierher!«, rief Percy noch einmal.

Er zwang sich, nicht länger die Steilwand anzustarren, und ließ seinen Blick über den Strand schweifen. Im blassen Mondlicht leuchtete der harsche Schnee gespenstisch auf und bis zu den zerklüfteten Felsen des Ufers war die Umgebung gut zu erkennen. Jim schnüffelte an dem Wrack eines alten Fischerboots herum, dessen zerborstene und verfaulte Holzplanken aus dem Sand ragten wie die Knochen eines verendeten Tiers. Von John und den Zwillingen jedoch fehlte jede Spur.

»Hallo?«, brüllte Percy, so laut er konnte. »Hierher!«

Plötzlich tauchte Linda hinter einem Vorsprung der Felswand auf.

»Pssst!«, machte sie. »Jetzt schrei doch nicht so.«

Auch die anderen kamen nun über den Schnee heran, und Percy begriff, dass es von seiner Position nur so aussah, als könnte man den ganzen Strand überblicken.

»Ich habe etwas gefunden«, sagte er leise, als John und die Zwillinge ihn erreicht hatten. Sein ängstlicher Aufschrei von gerade eben war ihm peinlich.

»Tatsächlich!« Claire hielt ihre Taschenlampe auf die Stelle, die Percy entdeckt hatte. »Diese Risse hier sind ziemlich merkwürdig.«

»Warum suchen wir eigentlich ausgerechnet hier nach einem Zugang zu dem Hochplateau?«, fragte John. »Vielleicht kann man ja doch besser von der anderen Seite hochklettern«, fügte er hinzu und machte eine vage Geste mit der Hand in Richtung des Meers. »Womöglich gibt es dort sogar eine Treppe!«

Linda schüttelte den Kopf. »Nein, glaub’s mir!«, widersprach sie. »Auf der Nordseite befindet sich ein Riff, das aus jedem Boot Kleinholz macht, das sich der Toteninsel nähert. Das weiß ich von Papa und Onkel Adalbert.«

John war mit dieser Antwort offensichtlich alles andere als zufrieden, schwieg aber.

Percy nickte gedankenverloren und konzentrierte sich dann wieder auf die schwarze Felswand vor ihnen. »Wenn du recht hast, dann muss es hier ja irgendwo einen versteckten Gang oder so etwas geben.«

Er ließ seine Finger wieder über die Furchen gleiten.

»Wie ist der Leuchtturm eigentlich gebaut worden?«, fragte er nach einer Weile. »Und wann?«

»Vor mehr als dreihundert Jahren«, sagte Claire. »Als es noch eine schmale Landbrücke zwischen der Bucht und der Toteninsel gab. Das Meer hat dann im Laufe der Zeit dafür gesorgt, dass der Damm versunken ist.«

»Da oben!«, rief John unvermittelt.

Er zeigte mit der rechten Hand auf eine Reihe grauer Schatten, die bislang keinem aufgefallen waren. Bei genauerem Hinschauen aber sah man ganz deutlich, dass sie sich in regelmäßigen Abständen wiederholten.

»Das sind Stufen.« John gestikulierte aufgeregt. »Da oben sind Stufen!«

»Tatsächlich«, sagte Claire und hielt ihre Taschenlampe in die Höhe.

Percy trat neben sie und leuchtete mit seiner Armbanduhr in die gleiche Richtung. Der erzeugte Lichtkegel reichte zwar nicht aus, um die grauen Schatten inspizieren zu können, aber dafür erkannten die vier jetzt, dass sich die merkwürdigen Schleifspuren, die Percy entdeckt hatte, nach oben hin fortsetzten. Und zwar genau auf die vermeintlichen Stufen zu.

»Wir suchen also keinen versteckten Gang«, stellte Linda fest, »sondern versteckte Stufen. Es muss irgendeinen Mechanismus geben, den man hier unten betätigt, sodass sie sich aus der Felswand schieben. Mit ihrer Hilfe kann man die Treppe dort oben erreichen.«

Claire nickte. »Daher stammen die Risse und Furchen. An genau diesen Stellen kommen die Geheimstufen hervor. Sehr raffiniert.«

Währenddessen strich Linda mit den Fingern über einen Gesteinsbrocken, der aus der Wand herausragte und ungewöhnlich aussah, fast wie ein Würfel.

»Das muss er sein«, sagte Percy. Er legte seine Hand nun ebenfalls auf den würfelförmigen Vorsprung. »Natürlich«, hörte er sich auf einmal mit einer Stimme sagen, die ihm gar nicht wie seine eigene vorkam. »Natürlich ist das der Mechanismus.«

Er drängte die anderen beiseite, umfasste das Felsstück mit beiden Händen und drückte es nach oben. Ein leises Klicken ertönte. Percy flüsterte etwas vor sich hin, was sich wie eine Folge von Zahlen anhörte. Danach drehte er den Quader nach rechts und nach links. Erneut klickte es mehrmals hintereinander. Percy gab ein befriedigtes Brummen von sich und schob das Felsstück nach vorn. Es verschwand in der Wand, die gleichzeitig zu vibrieren begann. Wenige Sekunden später traten schmale Stufen aus dem Fels.

Percy machte einen Schritt zurück. Er holte tief Luft. Trotz der kalten Nachtluft war ihm so heiß, als ob er Fieber hätte. Seine Beine gaben nach und er fiel in den Sand.

Jim kam aufgeregt zu ihm gelaufen, traute sich aber nicht richtig an ihn heran. Der Hund jaulte ängstlich und versteckte sich schließlich hinter Claire, die beruhigend auf ihn einredete.

»Meine Güte, Percy«, sagte Linda und kniete sich neben ihren Cousin. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Was … was ist passiert?«, fragte Percy, obwohl er sich an alles erinnerte. Nur erklären konnte er sich sein Verhalten nicht.

»Was passiert ist?« Linda zog ihn wieder auf die Beine. »Du hast mit ein paar Handgriffen einen Mechanismus bedient, der eine Ecke komplizierter war, als Claire und ich gedacht hatten. Ist doch so, oder?«

Claire nickte. »Einfach nur einen Stein befummeln und drücken, das hätte hier gar nichts gebracht. Aber du scheinst ganz genau gewusst zu haben, was zu tun ist.«

»Ja, ich … ich verstehe das auch nicht …« Percy schüttelte den Kopf.

»Hast du wieder dieses Kribbeln gespürt?«, wollte John wissen.

»Ich bin euch unheimlich, oder?«, sagte Percy leise und überging damit Johns Frage. »Ich meine, ihr habt Angst vor mir. So wie Jim …«

Statt einer Antwort fing Claire so laut zu lachen an, dass es von den Klippen widerhallte. Linda stimmte sofort mit ein und schließlich auch John.

Und dann prustete Percy ebenfalls los. Zuerst tat ihm dabei das Zwerchfell weh, aber je lauter und länger er lachte, desto besser fühlte er sich.

»Mannometer«, schnaubte Claire, »du bist vielleicht eine Marke, Percy. Abgesehen davon, dass du merkwürdige Vorahnungen und Visionen hast und mit einer fremden Stimme redest, bist du doch eigentlich ganz nett.« Sie klopfte ihm auf die Schulter.

Percy sah seine Cousine fragend an und wurde ein bisschen rot.

»Lass dich nicht ärgern«, sagte Linda. »Wir haben nicht mehr Angst vor dir als du selbst. Vermutlich eher weniger. Und jetzt wollen wir doch mal sehen, was deine Vorahnungen taugen. Komm!«

Sie nahm ihrer Schwester die Taschenlampe aus der Hand und begann, die Stufen nach oben zu balancieren. Linda hielt sich dabei dicht an der Felswand, denn die Quader ragten jeweils nur wenige Zentimeter hervor, und sie bildeten auch keine geschlossene Treppe, sondern lediglich einzelne Stege über dem Abgrund. Mitunter waren die Trittflächen sogar ziemlich weit voneinander entfernt, sodass man einen großen Schritt wagen musste, um voranzukommen.

»Ihr dürft nicht nach unten schauen«, ermahnte Linda die anderen. »Sonst wird euch schwindelig und ihr stürzt ab.«

Claire nickte und folgte ihrer Schwester.

»Wunderbare Aussichten.« John blickte zu seinem Cousin, als ob er erwartete, dass dieser die Zwillinge zum Umkehren aufforderte.

»Wird schon schiefgehen«, sagte Percy.

John seufzte und murmelte etwas, das Percy nicht genau verstand. Die beiden Jungen machten sich nun selbst an den Aufstieg, die Gesichter zu den Felsen und die Rücken zum Abgrund. John lief voran.

Percy wurde schon nach wenigen Stufen klar, dass er mit Jim nicht so klettern konnte wie die anderen. Er musste sich umdrehen, sonst würde er den Hund gegen die Klippen pressen und Jim würde ihm vom Arm springen.

»Ganz ruhig bleiben«, flüsterte er dem schwarzen Labrador ins Ohr. »Am besten machst du die Augen zu und denkst an einen leckeren Knochen.«

Am liebsten hätte Percy selbst nicht gesehen, wohin er trat. Doch sobald er sich von der Steilwand weggedreht hatte, wanderte sein Blick unwillkürlich nach unten zum Strand, der noch keine fünf Meter unter ihm lag. Die scharfkantigen Felsen am Ufer, der harte Schnee und die Umrisse des vor langer Zeit gestrandeten und zerfallenen Fischerboots schienen sich im Mondlicht hin und her zu bewegen wie Eisschollen auf einem See. Percy wurde sofort schwindelig. Seine Füße zitterten und Jim wand sich auf seinem Arm.

»Ganz ruhig«, wiederholte Percy. »Gleich sind wir oben.«

Er bewegte seinen Kopf vorsichtig nach rechts. Die Zwillinge und John waren bereits ziemlich weit vorausgeeilt. Wie ein fernes Glühwürmchen sah er Claires Taschenlampe vor dem Schwarz der Steilklippe hin und her tanzen.

Bei dem Gedanken daran, dass sie alles andere als gleich oben waren, bekam Percy ein flaues Gefühl im Magen. Die Stufen waren so schmal, dass er gerade so seine Füße in voller Länge aufsetzen konnte, und die Aussicht, auf diese Weise immer höher steigen zu müssen, kam ihm wie ein Albtraum vor.

»Ich kann nicht mehr«, flüsterte er verzweifelt. Er stand jetzt beinahe zehn Meter über dem Abgrund und wollte weder in die eine noch in die andere Richtung auch nur noch einen Schritt machen. Tränen traten in seine Augen, und er drückte Jim so fest an sich, wie er konnte. »Ich kann einfach nicht mehr.«

Noch einmal drehte er den Kopf langsam zur Seite, konnte seine Verwandten aber nirgendwo mehr entdecken. Nur die Leuchtturmruine, die inzwischen wieder in seinem Blickfeld aufgetaucht war, schien sein Versagen mit boshaftem Interesse zu verfolgen. Warum hatte er ausgerechnet in diesem Augenblick wieder den Eindruck, dass das furchterregende Bauwerk ihn zu sich rief?

Percy lehnte sich an die kalte Felswand und sah aufs Meer. Weiße Schaumkronen leuchteten im Mondlicht und machten deutlich, dass die merkwürdige Windstille nur auf der Toteninsel herrschte, nicht aber jenseits ihres zerklüfteten Ufers.

Ein Zittern durchfuhr Percys Glieder. Er musste weiter: Jim wurde immer unruhiger in seinem Arm, und sie würden beide abstürzen, wenn der Hund sich noch stärker aus seinem Griff zu befreien versuchte.

Plötzlich spürte Percy, wie sich etwas vor seine Gedanken schob wie eine Wolke vor den Mond, und wie so oft in den letzten Tagen handelte und fühlte er, als sei er nicht mehr er selbst. Die Furcht vor der Tiefe war mit einem Mal verschwunden und der unheimliche Leuchtturm hatte jeden Schrecken verloren.

Jim winselte ängstlich und bäumte sich auf. Er bebte am ganzen Körper und seine Pfoten zuckten unkontrolliert durch die Luft.

»Hör auf zu zappeln«, sagte Percy in einem ernsten, befehlenden Ton, den er Jim gegenüber noch nie angeschlagen hatte.

Er hörte seine eigene Stimme, die fremd und tief klang, und im nächsten Moment hatte er den Eindruck, sich selbst zu beobachten. Es war, als ob seine Augen sich aus seinem Kopf gelöst hätten und durch die Nacht davonflögen. Immer schneller entfernten sie sich von ihm und dennoch konnte er sich gut erkennen.

Mit dem Rücken zur Felswand stand er auf den schmalen Stufen der Treppe. Dann drehte er sich abrupt zur Seite und hastete mit riesigen Sätzen weiter. Bei jedem Sprung schwebte er für einen Moment über dem Abgrund, aber wie durch ein Wunder schaffte er es jedes Mal, nicht die Balance zu verlieren und sicher auf den Trittflächen zu landen.

Kurze Zeit später erblickte er auch die Zwillinge und John, die inzwischen eine kleine Höhle im oberen Teil der Klippe erreicht hatten. Ihre erstaunten Gesichter erschienen über einer niedrigen Brüstung – und plötzlich stand Percy genau vor ihnen und sah wieder durch seine eigenen Augen.

»Heiliger Bimbam!«, rief Claire und nahm ihm Jim ab. »So langsam bekomme ich doch Angst vor dir. Weißt du eigentlich, was du da gerade gemacht hast? Was kommt denn als Nächstes? Kletterst du die Wand hoch wie eine Spinne? Oder fliegst du gleich durch die Luft zum Leuchtturm wie eine Fledermaus?«

Percy sank gegen die Wand der Höhle und betastete seine Lider. »Ich habe mich selbst beobachtet«, flüsterte er. »Und mich wieder mit dieser fremden Stimme sprechen hören. Es war … es war schrecklich. Erst hatte ich furchtbare Angst, Höhenangst meine ich, aber dann war sie wie weggeblasen. Irgendetwas in mir hat … ich weiß auch nicht … meinen Körper und mein Denken übernommen.«

»Oh, Mann«, sagte John und ließ seinen Blick durch den Innenraum der Felsengrotte schweifen. Er machte ein Gesicht, als würde er überlegen, was er schrecklicher fand: Percys Erlebnis oder die Tatsache, dass überall Knochen und Totenschädel herumlagen.

»Ich glaube, ich werde wahnsinnig.« Percy rutschte am kalten Gestein hinab und vergrub seinen Kopf in den Händen. »Onkel Eric hat recht. Ich gehöre in die Klapsmühle!«

»Jetzt mach aber mal halblang! Da gehörst du natürlich nicht hin!« Linda hockte sich neben ihn und legte ihren Arm um seine Schultern. »Es gibt für alles eine wissenschaftliche Erklärung, das sagt Onkel Adalbert immer. Wir kennen sie manchmal nur noch nicht.«

»Genau!« Claire setzte Jim, der zwar immer noch winselte, aber nicht mehr mit seinen Pfoten zuckte, auf dem Boden ab.

»Wo sind wir hier?«, fragte Percy unvermittelt.

»Sieht aus wie eine Grabkammer«, bemerkte John mit düsterer Stimme. »Oder wie eine Falle. Vielleicht sperrt man uns hier ein und wir müssen verenden wie …«

»… wie die Hasen, Marder und Füchse, die hier offenbar verspeist worden sind«, beendete Claire den Satz. »Das sind Tierkadaver und keine menschlichen Skelette.«

»Äh, ja, ach so«, stotterte John. »Trotzdem will ich so schnell wie möglich hier raus.«

»Hat ja auch keiner gesagt, dass wir erst mal an Ort und Stelle ein Nickerchen halten«, spottete Linda, sie hatte sich zusammen mit Percy inzwischen darangemacht, den hinteren Teil der Höhle zu durchsuchen.

Jim begann zu bellen und Percy ließ den Schein seiner leuchtenden Armbanduhr über die Felswände gleiten. Die Vorstellung, hier festzusitzen, fand er genauso gruselig wie John, auch wenn keine menschlichen Skelette auf dem Boden verstreut lagen. Irgendetwas in der Höhle erzeugte in ihm ein beklemmendes Gefühl, das noch viel stärker war als eben in der unbewegten Luft unten am Strand. An was für einem Ort waren sie bloß gelandet?

Percy wischte sich eine Locke aus der Stirn und stellte dabei fest, dass er schwitzte. Ob er krank wurde und Fieber hatte? Benommen tastete er nach rechts und wollte sich am Fels abstützen, griff aber ins Leere und stolperte in einen schmalen Gang, dessen Wände so schwarz waren, dass sie alles Licht sofort verschluckten – deswegen hatte er die Öffnung auch nicht gesehen, als er die Stelle mit der Uhr angestrahlt hatte.

»Hier geht’s lang«, rief er den anderen zu, klang dabei aber nicht sehr zuversichtlich. Doch immerhin wusste er nun, warum ihm so warm war. Er hatte kein Fieber – aus dem düsteren Gang wehte ihm stickige, fast schon heiße Luft entgegen.

»Meine Güte«, sagte Claire. »Gibt es hier irgendwo eine warme Quelle?«

»Riecht auf jeden Fall danach«, stellte Linda fest. »Irgendwie so schwefelig.«

Percy nickte und wischte sich erneut eine Locke aus der Stirn. Er ging mit ausgestreckten Händen voran, denn das Licht seiner Uhr wurde immer noch von dem dunklen Gestein absorbiert, sodass die Kinder außer ihren eigenen ängst lichen Gesichtern nicht viel erkennen konnten.

Percy wusste nicht, wovor er sich mehr fürchtete: dass Boden verstreut lagen. Irgendetwas in der Höhle erzeugte in ihm ein beklemmendes Gefühl, das noch viel stärker war als eben in der unbewegten Luft unten am Strand. An was für einem Ort waren sie bloß gelandet?

Percy wischte sich eine Locke aus der Stirn und stellte dabei fest, dass er schwitzte. Ob er krank wurde und Fieber hatte? Benommen tastete er nach rechts und wollte sich am Fels abstützen, griff aber ins Leere und stolperte in einen schmalen Gang, dessen Wände so schwarz waren, dass sie alles Licht sofort verschluckten – deswegen hatte er die Öffnung auch nicht gesehen, als er die Stelle mit der Uhr an gestrahlt hatte.

»Hier geht’s lang«, rief er den anderen zu, klang dabei aber nicht sehr zuversichtlich. Doch immerhin wusste er nun, warum ihm so warm war. Er hatte kein Fieber – aus dem düsteren Gang wehte ihm stickige, fast schon heiße Luft entgegen.

»Meine Güte«, sagte Claire. »Gibt es hier irgendwo eine warme Quelle?«

»Riecht auf jeden Fall danach«, stellte Linda fest. »Irgendwie so schwefelig.«

Percy nickte und wischte sich erneut eine Locke aus der Stirn. Er ging mit ausgestreckten Händen voran, denn das Licht seiner Uhr wurde immer noch von dem dunklen Gestein absorbiert, sodass die Kinder außer ihren eigenen ängstlichen Gesichtern nicht viel erkennen konnten.

Percy wusste nicht, wovor er sich mehr fürchtete: dass wieder diese fremde Stimme in ihm erwachte und Besitz von ihm ergriff oder dass oben im Leuchtturm etwas Schreckliches auf sie wartete und ihnen noch viel schlimmere Ereignisse bevorstanden als in den letzten Tagen.

Plötzlich stieß sein Fuß gegen etwas Hartes und im selben Moment rief Claire: »Eine Treppe!«

Sie hatte ihre Taschenlampe ebenfalls nach vorn gerichtet, und der graue Granit, aus dem die Treppe bestand, reflektierte das Licht besser als die Wände.

»Es geht nach oben«, sagte Linda hörbar erleichtert. »Dann müssten wir jetzt eigentlich gleich am Leuchtturm sein.«

Aber sie irrte sich. Die Treppe führte nicht zum Hochplateau, auf dem der Leuchtturm errichtet worden war, sondern in eine weitere Höhle. Sie war riesig und durch ein ovales Loch in der Decke schien der Mond hinein. In der Mitte des großen Raums wand sich eine Wendeltreppe mit rostigen Eisenstufen nach oben. Auch in diesem Teil des Höhlensystems war es ungewöhnlich warm.

»Immerhin nähern wir uns unserem Ziel«, sagte Linda und zeigte auf das Loch in der Decke. »Über uns kann nur noch das Hochplateau sein. Das heißt, dass diese Wendeltreppe entweder direkt im Leuchtturm endet oder zumindest nahe an seinem Sockel.«

»Die Trittflächen sehen allerdings ziemlich gammelig aus«, meinte Claire, die die Konstruktion als Erste erreicht hatte. Sie ließ ihre rechte Hand über das verrostete Eisen gleiten. »Kann gut sein, dass das Ding sofort zusammenkracht, wenn wir hinaufsteigen.«

»Mit einstürzenden Treppen haben wir ja inzwischen Erfahrung«, sagte Linda betont leichtfertig und setzte einen Fuß auf die unterste Stufe. »Die hält«, stellte sie erleichtert fest.

John seufzte. »Natürlich kommt es für die Knochenbande ganz und gar nicht infrage umzukehren«, brummte er mit einem verdrießlichen Gesichtsausdruck.

»Genau!«, sagte Claire, ehe er weitersprechen konnte. Dann wuchtete sie Jim hoch und folgte ihrer Schwester, die sich bereits auf die nächsten Stufen gewagt hatte.

Jim bellte den beiden Jungen aufmunternd zu. Percy lächelte und boxte John dann spielerisch in die Seite, wie es eigentlich typisch für die Zwillinge war.

»Die letzte Treppe war doch noch viel schlimmer«, sagte er und machte sich ebenfalls an den Aufstieg.

John kam eilig hinterher, was Percy gut verstehen konnte. In der drückenden Luft der Höhle wäre er auch nicht gerne allein geblieben.

Das Licht von Claires Taschenlampe und Percys Leuchtuhr sorgte dafür, dass die beiden auf dem Weg nach oben von bizarren Schatten begleitet wurden. Außerdem gaben die rostigen Trittflächen bei jedem Schritt, den sie machten, ein Knarzen von sich, das nicht gerade vertrauenerweckend klang.

Claire rief ein paarmal »Hoppla« und »Nanu«, wurde aber immer schweigsamer, je höher sie kamen und je lauter die Stufen knarzten. Schließlich stieß sie ein erleichtertes Keuchen aus, überholte ihre Schwester und setzte Jim auf einer Plattform am Ende der Treppe ab. Dann half sie Linda auf die Fläche, die sofort zu quietschen und zu schaukeln begann.

»Schnell, durch die Tür da!«, schrie Claire. Sie gab Percy und John ein Zeichen, sich zu beeilen, und wedelte mit der Hand in Richtung einer Eisentür, die sich am anderen Ende der Plattform befand

Die Jungen hasteten nach oben, und Claire schob John zur Seite, während Percy gegen die massive Tür trat, die aber keinen Zentimeter nachgab.

»Schneller!« Claire war inzwischen so bleich geworden, dass ihre Sommersprossen im Licht der Taschenlampe wie Mücken in einem Schwarm zu tanzen schienen.

Percy holte tief Luft. Dann warf er sich mit aller Kraft gegen die Tür. Er hatte das Gefühl, dass seine Schulter dabei ausgekugelt wurde, aber die Tür gab mit einem dumpfen Schaben nach, krachte aus ihren Angeln und Percy landete mit Jim in einem engen Korridor. Die Zwillinge und John stolperten hinterher und schlugen beim Fallen gegen seinen Hinterkopf.

Benommen rappelte Percy sich auf und sah gerade noch, wie die Plattform zusammen mit der Wendeltreppe auseinanderbrach und scheppernd in die Tiefe stürzte.

»Das war knapp«, ächzte Claire.

»Ich befürchte, da vorn wartet schon das nächste Problem auf uns«, sagte Percy und blinzelte ins Zwielicht des Gangs. Als die anderen über ihn getrampelt waren, hatte er aus dem Augenwinkel einen merkwürdigen Schatten am anderen Ende des Flurs wahrgenommen.

Jim begann zu knurren und drückte sich eng an die Beine seines Herrchens.

»Wir brauchen Licht!«, rief Percy und versuchte, seine Uhr wieder zum Leuchten zu bringen. Aber der Mechanismus war bei dem Aufprall gegen die Eisentür offenbar beschädigt worden.

»Die Taschenlampe ist kaputt«, rief Linda zurück.

»Mist!«, fluchte Percy. »Meine Uhr auch.«

»Moment, ich glaube, der Schalter hat nur geklemmt.« Linda leuchtete in den Flur, ließ dann aber vor Schreck die Lampe fallen. Die Birne zersprang.

»Aaah!«, hallte Johns Schrei durch die Dunkelheit.