Frederick Marryat
Newton Forster – im Dienst der Company
Marryat Werke Band 1
Kuebler Verlag
Das Buch
Newton Forster ist Handelsschiffer. Er wird für einige Zeit auf ein Kriegsschiff gepresst, tritt aber dann in die Dienste der East-India-Company und wir erleben die Geschichte aus dieser Perspektive. Zahlreiche Nebenhandlungen und der Humor des Autors, der mit dem von Smollet verglichen wird, machen dieses Buch zu einem Genuss. Einige Teile dieses Romans wurden zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt.
Der Autor
Frederick Marryat, geboren 1792 machte Karriere in der Navy und danach als Autor maritimer Romane. Schon als Jugendlicher riss er aus, um zur See zu fahren. Er konnte Seekadett (Midshipman) auf der Fregatte Impérieuse von Kapitän Lord Cochrane werden. Nach mehreren Fahrten mit weiteren Schiffen und Teilnahme an zahlreichen Gefechten wurde er Kapitän (Commander) und schließlich Kapitän zur See (Vollkapitän, Post-Captain). 1830 nahm er seinen Abschied und widmete sich der Schriftstellerei. Schon zuvor hatte er sich wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet und unter anderem den Marryat-Signalcode für die Handelsschifffahrt entwickelt. Seine Romane wurden von Joseph Conrad und Ernest Hemingway bewundert und Forester und O'Brian wurden durch ihn inspiriert. Marryat gilt als das Urgestein des maritimen historischen Romans.
Die Übersetzung
Neu übersetzt von Maximilian Vonderheidt unter Verwendung einiger Teile der Übertragung von Dr. Carl Kolb. Einige Passagen wurden zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. In der direkten Rede ist die altertümliche Sprechweise aus Gründen der Authentizität weitgehend beibehalten worden.
Frederick Marryat
Newton Forster
Im Dienst der Company
3 Teile in einem Band
Übertragung aus dem Englischen
von Maximilian Vonderheidt
Marryat Werke Band 1
Impressum
Copyright © 2012 by Kuebler Verlag GmbH
Übersetzung aus dem Englischen von Maximilian Vonderheidt
Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung, Vermietung, Verleih, Einspeisung ins Internet oder Aufführung
ISBN 978-3-86346-127-0
Anmerkungen zu Frederic Marryat
(1792-1848)
„Kapitän, äh… wie war doch gleich der Name?“ Diese Antwort bekomme ich nur zu häufig, wenn die Rede auf Kapitän Frederick Marryat kommt und mein jeweiliger Gesprächspartner guckt mich aus großen erstaunten Augen an. Das ist sehr oft der Fall, wenn ich im Laufe einer Diskussion die Meinung vertrete, dass wirklich gute Romane über die Seefahrt und Seeleute nur von Männern geschrieben werden können, die selbst aktiv zur See gefahren sind. Als Beispiele führe ich dann Frederick Marryat, Joseph Conrad, Herman Melville, Richard Dana und aus neuerer Zeit Richard Woodmann und Dewey Lambdin an (der ist zwar kein Profiseemann, aber seit seiner Jugend passionierter Segler!). Das Erstaunen meines Gegenübers wird noch größer, wenn ich ihm klar mache, dass Marryat der Urgroßvater aller moderner maritimer Schriftsteller ist – Die Odyssee des großen Homer wollen wir heute nicht bemühen. Die Söhne Marryats und legitimen Erben sind Dana, der 1840 Two Years Before the Mast herausbrachte, Melville, von dem 1846 das erste Buch erschien. Ihm verdanken wir zwei Perlen der maritimen Literatur, nämlich Moby Dick und White Jacket. (Es ist nicht ohne eine gewisse Pikanterie, dass von Moby Dick während Melvilles Lebenszeiten nur etwa 3.000 Exemplare verkauft wurden). Jeder Autor, der dieses großartige Epos liest, denkt zwangsläufig daran, den Beruf zu wechseln und Rosen zu züchten.
Als Enkel Marryats kann man wohl guten Gewissens einen gewissen Józef Konrad Korzeniowski genannt Joseph Conrad bezeichnen. Er musste die Seefahrt aufgeben, weil er sich auf dem Kongo eine tropische Fieberkrankheit zugezogen hatte, die nicht heilbar war. Er veröffentlichte seinen ersten Roman 1895 (Almayer's Folly – Allmayers Wahn). Alle Werke Conrads hier aufzuführen wäre wohl das, was die Engländer so treffend als „carry coal to Newcastle“ bezeichnen. Aber zweifellos gehört auch er zu den Giganten der historisch-maritimen Literatur.
Der einflussreichste Urenkel dürfte zweifellos Cecil Scott Forester sein, dem wir die Hornblower-Saga verdanken. Er hat eine ganze Reihe von Epigonen beeinflusst. Zu nennen wären da neben Woodman und O'Brian auch Lambdin. Die nicht erwähnten Autoren müssen sich nicht beleidigt in die Schmollecke verziehen, denn sie können sich damit trösten, dass sie sich in guter Gesellschaft befinden, denn auch auf Jack London, Sommerset Maugham und andere gewiss lesenswerte, großartige Autoren wird hier nicht eingegangen.
Wer war nur dieser Frederick Marryat? Er wurde 1792 in London geboren. Seine Familie gehörte zur aufstrebenden middling-class (diesen Ausdruck einfach mit Mittelklasse zu übersetzen wäre falsch!) Englands, der Vater verfügte als Abgeordneter des Parlaments über einigen Einfluss und war Beauftragter für die westindische Kolonie Grenada. Seine Mutter, eine geborene von Geyer, stammte aus Deutschland. Sie schenkte fünfzehn Kindern das Leben, Frederik war der Zweitgeborene. Er war ein schwieriges Kind. Er war das, was man früher als Rüpel oder Bengel bezeichnete. Ausgestattet mit einem unbändigen Freiheitswillen und einer tiefen Abneigung gegen jede Autorität – da lässt Peter Simpel grüßen – wurde er meist von Hauslehrern erzogen, aber da er seine Lehrer zutiefst verabscheute, lief er mehrfach von zu Hause weg. Was machte man damals in Britannien mit derartigen Jungen? Man schickte sie zur See. Als er vierzehn Jahre alt war, besorgte ihm der Vater durch seine Verbindungen einen Platz auf der H.M.S. Impérieuse, die von Kapitän Lord Cochrane (Dieser wäre ganz sicher der berühmteste englische Seeheld seiner Zeit gewesen, hätte es da nicht einen gewissen Nelson gegeben…) kommandiert wurde. Marryat war dann folgerichtig auch der Erste, der Cochranes ungewöhnliche Persönlichkeit für seine Werke ausgeschlachtet hat, später haben dann auch Forester und O'Brian den Seehelden in ihren Büchern gerne und häufig als Vorlage genutzt.
Marryat rettet 1811 einem vor der Girondemündung über Bord gefallenen Seemann das Leben. Er diente im Mittelmeer, der Karibik und während es Britisch-Amerikanischen Krieges vor der Atlantikküste der USA. Er wurde 1815 zum Commander befördert. Als Bewacher Napoleons kreuzte er mit der Sloop Beaver vor St. Helena. 1817 entwickelte er für die Handelsschifffahrt einen Flaggenkode, der nicht so kompliziert wie der der Navy war – und nicht so viel spezialisiertes Personal benötigte.
1819 heiratete er Catherine Shairp, mit der elf Kinder hatte.
Auf der Sloop Rosario nahm er die Überwachung von St. Helena wieder auf und überbrachte 1821 die Nachricht vom Tod des Korsen in die Heimat. 1823 nahm er mit der Korvette Larne am Ersten Anglo-Burmesischen Krieg teil und wurde 1825 auf der Fregatte Tees zum Postcapitain ernannt. In den folgenden Jahren des Friedens wurde er mit Vermessungsarbeiten um Madeira und die Kanarischen Inseln beauftragt, das langweilte ihn. Dazu kam, dass ihn eine Lungenerkrankung plagte, die er sich vermutlich bei seiner Rettungstat in der Biscaya zugezogen hatte. 1830 nahm er seinen Abschied und widmetet sich ganz seinen literarischen Neigungen. Sein erstes Buch war 1829 (The Naval Officer) erschienen.
Warum diese recht umfangreiche Biographie? Ich möchte zeigen, dass dieser Mann das Leben auf den Schiffen der Royal Navy und das Funktionieren sowohl der Bordgemeinschaft, als auch das der Institutionen in- und auswendig kannte. Marryat meisterte die lebensgefährlichen Orkane des Nordatlantiks, den beklemmend dichten Nebel der Nordsee, die enervierenden Flauten der Rossbreiten, die Gefahren der tückischen tropischen Gewässer, einschließlich der dort lauernden gesundheitlichen Risiken, bewältigte die Aufgabe zweihundertfünfzig Männer auf engstem Raum zu verpflegen, zu disziplinieren und zu einer funktionierenden Einheit zusammenzuschweißen, die im Gefecht und bei allen Wetterbedingungen ein so hochkomplexes Gebilde, wie es ein Segelkriegsschiff jener Zeit war, zuverlässig bedienen konnte. Er wusste wie man die Käfer aus dem Schiffszwieback vertreibt, wie halb verdorbenes Salzfleisch, steinharter Uraltkäse und halb verfaultes Trinkwasser schmecken. Das genau ist die Crux. Einige meiner maritim interessierten Freunde meinen, dass es ausreicht, ein guter Geschichtenerzähler zu sein, um einen erstklassigen Seefahrtsroman zu schreiben – das langt eben nicht! Den Unterschied macht das Salz, das man im Blut haben muss – und genau das ist die Besonderheit, die Marryats Bücher so interessant macht. Zu Unrecht wurde er lange Zeit – besonders in Deutschland – als Kinderbuchautor belächelt. Doch nur vier seine sechsundzwanzig Werke waren als Kinderbücher konzipiert. Das Einzige, was ich manchmal bedauere, dass dem Autor vieles, über das er schrieb, so selbstverständlich war, dass er auf Einzelheiten verzichtete. Ein Großteil war so sehr Teil seines täglichen Lebens, dass er es nicht der Mühe wert fand, darüber auch nur eine Zeile zu verlieren. Aber auch so ist Marryat eine wertvolle Quelle für das Leben an Bord und an Land der Jahrhundertwende vor gut zweihundert Jahren. Seine Schilderungen bieten elegante und lebensnahe Darstellungen aller denkbaren Aspekte, mit denen sich ein Seefahrer der damaligen Zeit abmühen musste. Nicht zu vergessen ist die ständig präsente kleine Prise britischen Humors, die das Ganze würzt.
Worunter die Akzeptanz der Werke in unserer Zeit allerdings auch gelitten hat, ist die Tatsache, dass sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts übersetzt worden sind. Das damals verwendete Deutsch kommt uns heute zu Recht „altfränkisch“ vor. Dem Kuebler Verlag gebührt das große Verdienst, dass er jetzt eine Neufassung auf den Markt bringt. Es ist zu hoffen, dass das Buch eine große Leserschaft erreicht. Verdient hat es der Urgroßvater von Hornblower, Drinkwater und Aubrey allemal.
Kapt. Uwe D. Minge
Teil I
Erster Teil
Kapitel 1
Es war im düsteren Monat des Nebels, der Misanthropie und des Selbstmords – dem Monat, in dem der Himmel nur spärlich den Dank der unzufriedenen Menschen erhält – während dem die Sonne zwar aufgeht, aber nicht hell scheint und nur unwillig Licht gibt, uns aber nicht mit ihren heiteren Strahlen munter stimmt –, während der Handelsherr im Licht großer Talkkerzen seinen Gewinn berechnet oder über seinen Verlust philosophiert – kurz, es war an einem Abend im Monat November, als Edward Forster, der lange Zeit in der englischen Flotte gedient hatte, in seinem bequemen Armsessel in seinem gemütlichen Stübchen in seinem gemütlichen Häuschen saß. Hierher hatte er sich infolge einer schweren Wunde zurückgezogen, die in jedem Frühjahr wieder aufzubrechen pflegte. Er lebte von seinem Halbsold.
Das Häuschen, welches er bewohnte, lag in einer Gegend, die nicht ganz so gemütlich war, wie seine Wohnung selbst; es lag ganz in der Nähe eines schroffen Kliffs, dessen Abhang zum Atlantischen Ozean führte, der hier an die Küsten von Cumberland brandet und Irische See genannt wird. Forster war fast sein ganzes frühere Leben zur See gefahren und fühlte noch die gleiche Freude über den Wind, wie er jetzt um das Häuschen pfiff und stöhnte und die Fensterläden klappern lies. Es erinnerte ihn an so manche Nacht auf hoher See, in der er in seiner Hängematte vom Wüten eines Sturms geweckt worden war. Nun war er nicht mehr der Wut der Elemente ausgeliefert und er wickelte sich fester in seine Decke, um ein Nickerchen zu machen.
Seine finanziellen Verhältnisse erlaubte ihm kein luxuriöses Leben, so musste der in der Gegend gebrannte verdünnte Schnaps den Genuss des Weins ersetzen. Mit den Füßen auf einem Fender und seinem Becher an der Seite führten ihn seine Gedanken zu dem Buch, in dem er in den letzten Stunden gelesen hatte. Es hatte in ihm lang zurückliegende Erinnerungen geweckt – an seine Jugend, an die Hoffnungen, an seine Träumereien – und wie sie von der Zeit und den vielen Enttäuschungen zerschlagen und aufgelöst worden waren.
Die Regenbö hatte aufgehört, als ob sie den Wind genährt hätte, der erneut seine Gewalt zeigte und sich überall hin seinen Weg bahnte. Der Teppich in dem kleinen Zimmer erhob sich gelegentlich, die Flamme der einsamen Kerze, die aus Nachlässigkeit einen zu langen Docht hatte, bildete eine Art Pilz und war am Erlöschen, während die Chintzvorhänge feierlich hin und her winkten. Aber die Träumerei im Halbschlaf von Edward Forster wurde plötzlich durch den Knall eines Kanonenschusses gestört, der durch das Ungestüm des Sturms nach Lee gefegt wurde. Forster ließ sein Buch fallen und stützte sich auf den Ellbogen. Der Ruß um den Docht fiel mit dem Schlag ab und die Kerze, befreit von der Belastung, spendete einen helleren Schimmer.
„Gott sei uns gnädig, Mr. Forster; habt Ihr diesen Schuss gehört?“ rief die alte Haushälterin, seine einzige Mitbewohnerin, die zur Tür hereinstürzte.
„Freilich, Mrs. Beazeley“, erwiderte Forster; „es war ein Signalschuss von einem Schiff in Not, das ganz dicht an der Lee-Küste sein muss. Gebt mir meinen Hut!“ Er stürzte den Rest in seinem Glas hinunter, stülpte den dargereichten Hut auf den Kopf und eilte hinaus.
Die Tür, die nach der See hinausging, flog unter der Gewalt des Windes weit auf – und die alte Haushälterin hatte Schwierigkeiten, sie wieder zu schließen. Sie wurde tüchtig nass, was ihrem Rheuma nicht gut tun würde. Sie zündete die nun erloschene Kerze wieder an und mit vielen Stoßseufzern schürte sie das Feuer und zog sich in den Lehnstuhl des Hausherrn zurück, wo sie sich mit einem Glas Grog1 erwärmte. Sobald ihre Kleider getrocknet waren, hörte man sie laut schnarchen.
Es war bereits Abend, als Edward Forster sich den Elementen stellte. Das Heulen des Windes betäubte sein Ohr, der Regen sprühte ihm ins Gesicht. Nur ab und zu konnte er den breiten Schaumgürtel erkennen, der die Küste begrenzte. Mühsam erzwang er sich seinen Weg zur sandigen Bucht die – fast ganz von Land umschlossen – einen kleinen aber sturmsicheren Hafen bildete.
Hier wohnte in einer Kate ein Fischer mit seiner Familie. Er war Forsters Helfer und hatte dessen Jolle in Verwahrung, in der Forster im Sommer viel Zeit verbrachte. Er klopfte an die Hütte und rief, so stark er nur konnte: „Robertson – he, Robertson!“
„Hier bin ich, Mr. Forster“, rief der Fischer, der schon am Ufer stand. „Ich habe den Schuss gehört, kann aber kein Schiff entdecken.“
„Es muss aber dem Schall nach dicht an der Küste sein. Holt einige Reisigbündel aus Eurem Schuppen und zündet ein Feuer an, so groß, wie Ihr es nur könnt. Spart nicht am Holz, mein guter Freund; ich will es bezahlen.“
„Soll geschehen, Herr, und zwar ohne Bezahlung. Ich hoffe nur, dass sie das Feuerzeichen verstehen und auf die Bucht zusteuern. Da – wieder ein Schuss!“
Dieses zweite Notsignal klang viel lauter als das erste und kündigte an, dass sich das Schiff rasch dem Land genähert hatte. Es musste jetzt dicht an dem Vorsprung der kleinen Hafeneinfahrt sein.
„Beeilt Euch, mein Freund, beeilt Euch“, rief Forster, „ich will auf die Klippe gehen und versuchen, das Schiff zu sehen.“ Die beiden Männer machten sich an ihr Werk.
Forster konnte nur mit Mühe und Gefahr den Gipfel erreichen. Als er endlich oben war, hätte ihn ein Windstoß beinahe umgeworfen, wenn er nicht auf die Knie gesunken wäre und sich am Gras festgehalten hätte. Doch verlor er seinen Hut, der vom Wind weit landeinwärts geweht wurde.
Vom Regen durchnässt und vor Kälte zitternd, verblieb er so einige Minuten. Vergebens strengte er seine Augen an, um das Dunkel der Nacht zu durchdringen, bis ihn endlich ein Blitzstrahl den Gegenstand seines Spähens entdecken ließ. Nur einige Sekunden währte das Leuchten – dann war die Nacht umso finsterer. Und doch hatte der kurze Augenblick dem Auge des alten Seemanns genügt. Er hatte eine Viertelmeile vom Land ein großes Schiff unter Sturmsegeln bemerkt, das sich durch die schwere See kämpfte, oft tief ins Wasser gedrückt und als ein Schwell unter ihr durchlief, zeigte der Bugspriet steil in den Himmel – dann rollte die schaumige See wieder über ihr Deck.
Das Feuer an der Bucht loderte hell auf, nachdem Regen und Wind es anfänglich zu ersticken versucht hatten, es jetzt aber durch ihr Brausen unterstützten.
„Er kann sich noch retten“, dachte Forster, „wenn er nur richtig steuert; noch zwei Kabellängen2, dann ist das Schiff an der Klippe vorbei.“
Wieder und immer wieder zeigten ihm zuckende Blitze das Schiff, während die furchtbaren Donnerschläge, die fast im gleichen Moment dem Leuchten folgten, ihm zeigten, dass er sich im Mittelpunkt des Kampfes der Elemente befand. Das Schiff näherte sich immer mehr der Klippe. Forster war atemlos vor Angst, denn der letzte Blitzstrahl ließ ihn erkennen, dass sich in den nächsten Augenblicken das Schicksal des Schiffes entscheiden musste.
Der Sturm verdoppelte seine Wut. Forster musste sich platt auf das nasse Gras legen, um die drohende Gefahr zu vermindern. Er war dicht am Rand der Klippe – ein neuer Blitz! – er hatte genug gesehen!
„Gott sei ihren Seelen gnädig!“ rief er aus und drückte sein Antlitz ins Gras, als wolle er dem furchtbaren Anblick entgehen. Er hatte das Schiff nur wenige Meter von dem äußeren Felsen entfernt, mitten in der Brandung gesehen; es lag auf der Seite und seine Segel waren fortgerissen. Vergeblich ertönten Hilferufe – das Jammern der Verzweiflung wurde nicht gehört, die Rettungsversuche der Ertrinkenden wurden nicht gesehen, da die wütenden Elemente über ihren Opfern brüllten und heulten.
Als wäre der Sturm durch dieses Werk der Zerstörung beruhigt, ließ er allmählich nach. Forster benutzte dies dazu, um in die Bucht hinunterzusteigen, wo er Robertson noch immer beim Schüren des Feuers traf.
„Spart Euer Holz, mein guter Freund; es ist alles vorbei“, sagte Forster in trübem Ton.
„So ist es gesunken?“
„Gerade an der äußersten Felsenspitze; es kann keine lebende Seele mehr da sein, um Euer Feuerzeichen zu sehen.“
„Gottes Wille geschehe!“ erwiderte der Fischer; „Dann war ihre Zeit gekommen – aber ER, der zerstört, kann auch helfen, wenn ER will; ich werde das Feuer nicht löschen, solange noch ein Reisigbündel da ist, denn Ihr wisst, Mr. Forster, dass noch ein Entkommen möglich ist, wenn etwa einer durch ein Wunder in das ruhige Wasser diesseits der Klippe geworfen wurde. Allerdings muss er dann gut schwimmen können.“
Robertson warf neue Reisigbündel in das Feuer. Die lodernde Flamme beleuchtete das Wasser der Bucht – als Forster auf einmal einen schwimmenden Körper auf den Wogen bemerkte, der sich augenscheinlich dem Ufer näherte. Er machte den Fischer darauf aufmerksam, und beide gingen hinab zum Wasser, wo sie ängstlich ausspähten.
„Ist es ein Mensch? Was meint Ihr?“ fragte Robertson.
„Ich kann es noch nicht erkennen“, versetzte Forster, „etwas Lebendiges ist es ganz gewiss.“
Nach ein paar Minuten erkannten sie einen großen Hund, der etwas Weißes zwischen den Zähnen trug und auf die Stelle zu schwamm, wo sie standen.
Sie riefen dem armen Tier zu, um es zu ermutigen, denn es war offensichtlich sehr erschöpft und näherte sich nur langsam. Bald hatten sie aber die Freude zu sehen, wie es durch die Brandung schwamm, wie es mit seiner Bürde im Maul auf sie zu schwankte und sie zu Forsters Füßen niederlegte, um dann das Wasser aus dem zottigen Fell zu schütteln. Forster nahm den Gegenstand auf, den das Tier so sorgfältig geborgen hatte, und sah, dass es der Körper eines erst ein paar Monate alten Kindes war.
„Das arme Ding!“ rief er traurig aus.
„Es ist mausetot, Sir“, entgegnete der Fischer.
„Ich fürchte es“, versetzte Forster, „doch, wer weiß, ob wir es nicht wieder ins Leben rufen können.“
„Wenn es durch irgendetwas wiederbelebt werden kann, so wird es die Wärme einer Mutterbrust sein. Jane soll es zwischen sich und die Kleinen ins Bett nehmen.“
Der Fischer begab sich mit dem Kind in die Hütte, wo sich seine Frau des armen Würmchens mit all dem Mitleid annahm, die ein Mutterherz auch für fremde Kinder zu fühlen vermag. Zu Forsters großer Freude kam Robertson nach einer Viertelstunde mit der Nachricht, das Kind habe sich bewegt und ein wenig geschrien, und es sei daher zu hoffen dass es am Leben bleiben werde.
„Es ist ein schönes kleines Mädchen, Sir, sagt Jane; und wenn es überlebt, will sie ihre Milch zwischen ihm und unserem Tommy teilen.“
Forster blieb noch eine halbe Stunde, bis er wusste, dass das Kind die Brust genommen hatte und eingeschlafen war. Er freute sich, dass er die Veranlassung zur Rettung dieses kleinen Wesens war, während so viele von den Wellen verschlungen wurden. Dann rief er den Hund, der ruhig am Feuer lag, und stand auf, um zu seiner Wohnung zurückzukehren. Der Neufundländer aber ging zur Tür der Hütte, in welcher er das Kind hatte verschwinden sehen, und ließ sich durch keine Schmeichelei von dort weglocken. So kehrte Forster allein nach seinem Häuschen zurück, wo seine Haushälterin mit ihm zankte, weil er bei diesem Wetter aus dem Haus gegangen war und mehr noch, dass er Schuld daran sei, dass sie die ganze Nacht hier sitzen und wachen musste.
*** Anmerkungen zum Kapitel 1 ***
1 Heißgetränk aus Rum, Arrak, Weinbrand, Whiskey oder Rotwein und Wasser. Rum mit Wasser verdünnt wurde an die Schiffsmannschaften ausgeteilt.
2 Kabellänge, eigentlich Kabel: 1/10 Seemeile = 182 Meter, nach anderen Quellen auch 1/8 Seemeile = 231 Meter
Erster Teil
Kapitel 2
Forster schlief nach diesen Anstrengungen bald ein; seine Träume waren wirr und wild. Aber Träume sagen uns nichts. Sie sind für die Vernunft nur ein kleine Pause und ersetzen diese durch Exzentrik. Hier einen Sinn zu sehen ist wie der Versuch eines Affen, sich mit den Ritualen des Rasierens vertraut zu machen. So viel zu Träumen.
Als er am anderen Morgen später als gewöhnlich aufgewacht war, beeilte er sich mit seinem Frühstück, um sich Gewissheit über das Befinden seines kleinen Schützlings zu verschaffen. Aber zuerst musste er die Neugier seiner Mrs. Beazeley befriedigen, die ihn nicht eher fortließ, bis er ihr alle Ereignisse des Abends erzählt hatte.
Welch ein veränderter Anblick bot sich Forster, als er vor die Haustür trat, im Vergleich zu dem von gestern Abend! Die See war noch immer in Bewegung, aber die Strahlen der Sonne vergoldeten die Wellenspitzen mit einer Pracht und Majestät, so dass die Wogen nicht mehr schreckenerregend aussahen. Die Luft, durch den Kampf der Elemente gereinigt, war erfrischend und kräftigend. Das Gras, welches den Vorsprung und die angrenzenden Höhen bedeckte, zeigte sich in frischerem Grün und schien sich nach der Reinigung, welche der schwere Regen vorgenommen hatte, in der Sonne zu wärmen. In der Bucht war das Wasser schon ziemlich ruhig, während draußen die Wogen noch brausten. Das Gemurmel der leichten Wellen, die in langen, sanft gekrümmten Linien auf dem gelben Sand ausliefen, sein kleines Boot an seinem Ankerplatz, mit dem die Wogen spielten, die Möwen, die vor wenigen Stunden noch unheimlich kreischend von der Wut des Sturmes umhergestoßen worden waren, sich jetzt aber auf den Wogen oder in der Luft wiegten – alles dies weckte in Edward Forsters Herzen eine Fröhlichkeit, die er seit langem nicht mehr gekannt hatte. Er erreichte bald die Fischerhütte, aus der beim Geräusch seiner Schritte der Fischer und seine Frau hervortraten. Die letztere trug den Gegenstand seiner Sorge auf den Armen.
„Sehen Sie, Mr. Forster“, sagte Jane, wobei sie ihm das Kind entgegenhielt, „es ist wohl und munter und lächelt immerfort. Was für ein allerliebstes Kind es doch ist!“
Forster sah das Kind an, das wirklich wie in frohem Dank lächelte. Der Neufundländer-Hund kam auch heran, schmiegte sich wedelnd an ihn und setzte sich auf den Sand nieder, den er mit dem Schwanz peitschte, wobei er klug zu Forster aufblickte.
Dieser nahm das Kind aus den Armen seiner neuen Mutter.
„Du armes Ding“, sagte er, „du bist knapp dem Tod entgangen. Wer weiß, welche Gefahren dir noch drohen? Wer könnte sagen, ob du je wieder in die Arme deiner Verwandten zurückkehren wirst – oder ob du als Waise der Obhut eines Seemanns anvertraut bleibst? Ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die Wellen dich in deiner Unschuld und Reinheit verschluckt hätten, statt nun in einer herzlosen Welt des Kummers und des Verbrechens leben zu müssen; aber Der, Der dich gerettet hat, wird wohl wissen, was das Beste für dich ist.“ Er küsste das Kind auf die Stirn und gab es der Fischerfrau zurück.
Nachdem er mit den Fischersleuten die nötigen Verabredungen betreffs der Kleinen getroffen hatte, die vorläufig in ihrer Obhut bleiben sollte, ging er zur Felsenspitze hinauf, um sich zu überzeugen, ob von dem Schiff nichts übrig geblieben sei. Als er einige zwischen Klippen festgeklemmte Balken sah, kletterte er so nahe wie möglich heran, um vielleicht einen Hinweis auf die Identität des Schiffes zu erhalten. Aber nichts war da, woran er den Namen des Schiffes hätte feststellen können, nicht mal Teile der Masten oder Segeltuch. Die heftige Flut hatte alles weggespült und die Unterströmung alles in das tiefe Wasser gezogen. Es war nur zu erkennen, dass das Schiff von großer Tonnage und fremder Bauart gewesen war. Über die Verunglückten und über die Ladung aber ließ sich nicht einmal eine Vermutung anstellen.
Das Hemdchen des Kindes war mit JF gezeichnet – das war das einzige, was zur Entdeckung seiner Zugehörigkeit führen konnte.
Lange saß Forster da wie eine Statue, in tiefe Melancholie versunken und betrachtete die Wellen, die anbrandeten und sich an den Trümmern teilten. Kein Objekt führt zu mehr Reflexionen als ein Wrack. Der Stolz und der Einfallsreichtum der Menschen versucht den Elementen zu trotzen, der menschliche Intellekt kann mit der Hilfe geblähter Leinwand den Raum überwinden, um zu anderen Menschen in anderen Ländern zu gelangen. Doch nun erfreute sich der Ozean an seiner Überlegenheit und die Sonne schien auf die Stätte seines Sieges. Der Kiel, der mit der Schärfe einer Sense durch das Wasser geglitten war, war jetzt tief im Sand vergraben. Wie viele Menschen hatten dazu beigetragen, das Schiff zu bauen und auszurüsten. Wie oft hatte der müde Bergmann sein Werkzeug niedergelegt, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, bevor er wieder die Metalle in der Dunkelheit aufzuspüren versuchte. Tausende waren damit beschäftigt, das Schiff auf seinen Einsatz vorzubereiten. Kupferbolzen waren mit übermenschlicher Kraft gedreht worden, aus dem Norden, Süden, Osten und Westen kamen ihre Masten, Spieren, ihre Segel, die ganze Ausrüstung in ihrer Vielfalt. Und die, die im Vertrauen auf ihre Fähigkeiten Tausende von Meilen gefahren waren – wie viele Seufzer waren nun vergebens, wie viele Feuerstellen würden leer bleiben. Wo blieben nun ihre Hoffnungen, ihre Ängste, ihr Ehrgeiz und ihr Stolz, ihre Zukunftserwartungen, die Liebe und die Sehnsucht nach ihren Angehörigen? Alles versunken…
*
Wochen und Monate vergingen: alle Versuche, den Namen des Schiffes ausfindig zu machen, blieben erfolglos. Die Herkunft des verwaisten Kindes blieb im Dunkel. Entweder unternahmen die Verwandten, überzeugt von dem Untergang des Schiffes, keine Nachforschungen oder sie kannten den Namen des Schiffes nicht, in dem das Kind gefahren war. So nahm es Forster, als es entwöhnt war, in sein Haus, wo es ihn und seine alte Haushälterin sehr in Anspruch nahm. Da er daran zweifelte, dass es je zurückverlangt würde, beschloss er, es als sein eigenes Kind aufzuziehen.
Mrs. Beazeley, Forsters Haushälterin, war eine gutmütige Frau, längst jenseits des Klimakteriums und stark an ihn gebunden, mit dem sie so viele Jahre zusammen gewohnt hatte. Aber wie alle Frauen – verheiratet oder nicht – hatte sie ihren eigenen Kopf bei der Haushaltsführung und sie hatte es sich angewöhnt, so mit Forster zu schimpfen, wie wenn sie durch eheliche Bindung das Recht dazu hätte.
Forster hatte lange genug gelebt um zu wissen, dass die Menschen nicht immer in Glück und Harmonie zusammen leben können und er war Philosoph genug, um das Strafgesetzbuch der Ehe auch ohne die fleischlichen Genüsse der Ehe ertragen zu können. Die Ankunft des Kindes gab ihm das Gefühl, ein verheirateter Mann zu sein und eine Familie zu haben und er genoss die Freuden des Aufziehens des Kindes. Er spielte schon bald mit dem Säugling und unterwarf sich den Anforderungen seiner Haushälterin mit all der Fügsamkeit eines gut gedrillten verheirateten Mannes.
Der Name des Neufundländers wurde – da er nicht bekannt war – in „Faithful“ geändert. Er schlief am Fuß der Krippe seiner kleinen Herrin, die auch umgetauft wurde. „Sie ist wie ein Schatz, den der Ozean ausgeworfen hat“, sagte Forster und küsste das schöne Kind. „Ihr Name soll deshalb Amber1 sein.“
*** Anmerkungen zum Kapitel 2 ***
1 Engl. Amber: Bernstein
Erster Teil
Kapitel 3
Edward Forster war der jüngste Sohn eines Geistlichen, der seinen Kindern nicht viel hinterlassen hatte. So war jeder seine eigenen Wege gegangen. John, der älteste, wurde nach London geschickt, wo er unter Anleitung eines Verwandten die Rechte studierte. Er war ein unverdrossener Bursche, studierte mit großem Fleiß und behielt, was er gelernt hatte, obgleich er nicht schnell von Begriff war; was ihm aber an rascher Auffassungsgabe fehlte, ersetzte er durch Ausdauer und Fleiß, so dass er mit der Zeit durch seine unermüdlichen Anstrengungen eine sehr geachtete Stellung erreichte.
Er war Junggeselle und in den Fünfzigern, bärenartig und ungeschlacht in seinem Äußeren und linkisch in seinem Benehmen. In seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, brütete er über den trockenen Formalitäten seines Berufs und hatte demgemäß auch die Menschen in zwei Parteien geteilt – in ehrlich und unehrlich – gesetzlich und ungesetzlich. Alle übrigen Gefühle und Neigungen, soweit er solche besaß, lagen begraben und hatten sich nie bis zu der Oberfläche emporgehoben. In der Zeit, von welcher wir sprechen, verfolgte er seinen mühsamen, aber einträglichen Beruf, häufte Reichtümer an, ohne zu wissen, was er damit tun sollte oder wem sie einst zufallen sollten – nicht aus Geiz, sondern nur aus langer Gewohnheit, welche ihn in seinem Beruf nicht nur eine Lust, sondern auch das eigentliche Element seines Daseins finden ließ. Edward Forster hatte ihn seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen – das letzte Mal, als er durch London kam, um sich vom Dienst zurückzuziehen.
Der andere Bruder hieß Nicholas. Der ehrwürdige Mr. Forster, der seiner Familie nichts hinterlassen konnte als einen unbescholtenen Namen, beobachtete natürlich bei seinen Kindern sorgfältig jedes Zeichen von Genie, welches sie für irgendeinen der verschiedenen Pfade zu Ruhm und Reichtum zu befähigen imstande war. Es stellte sich heraus, dass Nicholas, als er noch in Kinderkleidern stak, eine große Vorliebe zu einem Brennglas zeigte, mit dem es ihm gelang, viel Unfug anzurichten. So verbrannte er zum Beispiel dem Hund, der vor der Tür in der Sonne schlief, die Nase; auch das Kleid seiner Mutter zeigte Proben von seinem Scharfsinn in unterschiedlichen, kleinen, runden Löchern, die sich mehr und mehr vergrößerten, so oft im Haus eine Wäsche vorgenommen wurde. Ja, auch seines Vaters Amtsrock gestaltete sich infolge der wiederholten und hinterlistigen Angriffe des jungen Naturforschers zu einem wie von Motten zerfressenen Gewand. Das Brennglas entschied sein Schicksal. Er wurde zu einem Optiker und Mechaniker in die Lehre gegeben, aus der er möglichst mit dem höchsten Grad des Könnens hervorgehen sollte. Mangel an Ehrgeiz oder Talent gestatteten ihm jedoch nicht, die höchste Stufe der Leiter zu ersteigen, weshalb er nur einen Laden in der kleinen Hafenstadt Overton führte und dort Hilfsmittel für die Wissenschaft ausbesserte – an einem Tag eine Taschenuhr, am anderen einen Quadranten oder Kompass. Seine Hauptstärke lag jedoch in Fernrohren, weshalb er ein großes Schild mit der Inschrift: „Nicholas Forster, Optiker“ über dem kleinen Ladenfenster anbrachte, an dem man ihn stets beschäftigt sehen konnte.
Er war der einzige von den drei Brüdern, welcher es wagte, zu heiraten. Ein Mensch kann ein Anwesen erwerben, ein Mietshaus oder ein Pferd, weil er denkt, dass sie seine Phantasie erfreuen – und dann mag sich herausstellen, dass diese Dinge nicht genau das sind, was er wollte. Und manchmal kann es vorkommen, dass ein Mann in eine ähnliche Situation in Bezug auf die Wahl seiner Frau kommt: Das ist dann das weitaus größere Übel; da, obwohl die Gestehungskosten oft sehr gering sind, es keine Chance gibt, sie wieder loszuwerden und es erneut zu versuchen. So erging es auch Nicholas Forster: Obwohl er zum Zeitpunkt seiner Heirat dachte, dass die Person, die er ausgewählt hatte, genau zu ihm passen würde, entdeckte er schließlich, dass er viel kurzsichtiger in seiner Wahl gewesen war, als es für einen Optiker gut war.
Vielleicht hatte Mrs. Nicholas Forster bei ihrer Vermählung persönliche Reize besessen, obschon sie sich nun deren kaum mehr rühmen konnte, denn sie war eine magere, scharfnasige, kleine Frau, voller Argwohn, Eifersucht und böser Launen. Ihre ganze Freude bestand darin, Fehler bei anderen zu finden; ihre schrille Stimme konnte über der Straße drüben von morgens bis in die Nacht gehört werden. Der einzige Dienstbote, den sich die Familie bei ihren spärlichen Finanzen leisten konnte und der in allen Sätteln gerecht sein musste, natürlich sich auch nie bei seinen vielseitigen Dienstleistung ausruhen durfte – blieb selten über einen Monat. Nichts als die drohende Aussicht auf den Hungertod konnte ein Mädchen veranlassen, sich bei Mrs. Forster zu verdingen.
Zum Glück für seinen eigenen Frieden besaß Mr. Nicholas Forster jenes eigentümliche Temperament, welches sich durch nichts in Zorn versetzen lässt; er war in höchstem Grad geistesabwesend – wenn je eine Rede oder ein Benehmen von Seiten seines Weibes seine Galle zum Kochen brachte, so pflegten andere Gedanken die Ursache wieder aus seinem Gedächtnis zu drängen.
Das Ungestüm und die Tadelsucht der ehrenwerten Gemahlin gingen daher an Nicholas Forster verloren, aber die Unmöglichkeit, den Gleichmut seines Temperaments zu stören, steigerte ihre eigene Reizbarkeit noch mehr. Dennoch konnte sich Mr. Nicholas Forster, wenn er in Augenblicken eines beiläufigen Nachdenkens die Sache bedachte, sich nicht des Gedankens erwehren, dass er viel ruhiger und glücklicher leben könnte, wenn es dem Himmel gefiele, Mrs. Forster nach einer besseren Welt abzurufen, und dieser Gedanke bemächtigte sich zuletzt seiner ganzen Einbildungskraft. Ihre unablässige Streitsucht hinderte ihn dermaßen in der Ausführung seiner Pläne, dass er alles, was ihm von Bedeutung erschien, in seinem Geist auf die Zeit verschob, wenn Mrs. Forster tot wäre.
„Nun, Forster, wie lange muss das Essen noch warten, bis es dir einfällt, zu kommen? Wie gewöhnlich wird wieder alles kalt werden.“ – Das Mahl bestand sowieso aus den Überresten einer kalten Hammelkeule. – „Oder willst du vielleicht gar nicht essen? Betty, räume den Tisch ab; ich habe zu tun und kann nicht länger warten.“
„Ich komme, meine Liebe, ich komme; aber diese Ausgleichsfeder kann ich doch nicht unvollendet liegen lassen“, versetzte Nicholas, mit einem Vergrößerungsglas vor dem Auge, sein Geschäft fortsetzend.
„Ja ja, ich komme! Weihnachten kommt auch, Mr. Forster. – Schon recht, das Essen wird abgetragen, sage ich dir.“
Nicholas, dem es nicht an Appetit fehlte, und der außerdem nur zu genau wusste, wenn der Braten wieder in den Speiseschrank käme, würde es schwer sein, ihn wieder heraus zu holen – legte die Uhr auf die Werkbank nieder und ging in die hintere Wohnstube.
„So, meine Liebe, da bin ich; tut mir leid, dass ich dich so lange habe warten lassen, aber das Geschäft geht allem vor. – Ach, du meine … der Braten ist ja wirklich ganz kalt“, fuhr Nicholas fort, indem er ein großes Stück in den Mund steckte, denn er hatte ganz vergessen, dass er schon ein paarmal von dieser Keule hatte essen müssen. „Mr. Tobin hat mir da eine schöne Uhr zum Reparieren gebracht; aber ich denke, wenn ich meine Verbesserung der doppelten Hemmung zustande gebracht habe –“
„Ja, ja, wenn du das zustande gebracht hast!“ entgegnete die Dame; „sage mir, bringst du denn je etwas zustande, Forster? Ei ja, freilich, zustande bringen!“
„Nun, meine Liebe“, entgegnete der Gatte, der bei dem Gekeife in Geistesabwesenheit verfallen war – „ich gedenke, sie zustande zu bringen, wenn – wenn du tot bist!“
„Wenn ich tot bin!“ kreischte die Dame in Wut – „wenn ich tot bin!“ wiederholte sie, indem sie von ihrem Stuhl aufsprang und die Fäuste in die Seiten stemmte. „Ich kann dir sagen, Meister Forster, dass ich lange genug leben werde, um dich zu plagen; es ist nicht das erste Mal, dass du mir so kommst, aber verlass dich darauf, ich werde noch auf deinem Grab tanzen!“
„Ich wollte das nicht so sagen – nicht so, meine Liebe“, versetzte Nicholas verwirrt. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich gesagt habe – ich meinte genau –“
„Natürlich; du meintest dies und du meinst dass, und das ist der ganze Dank, den ich dafür bekomme, dass ich so liebevoll um dein Wohl besorgt bin – mich den ganzen Tag plage und abrackere! Aber du bist unverbesserlich, Forster. Da sehe man nur – bedient er sich jetzt aus der Schnupftabakdose, statt aus der Salzbüchse. Welcher Mensch von gesundem Verstand wird seinen Hammelbraten mit Tabak würzen?“
„Verdammt – ja, es ist wirklich wahr“, entgegnete Forster, die Prise, welche er aus der gewöhnlich offen vor ihm liegenden Tabakdose genommen hatte, nicht wieder in die Dose zurück, sondern in die Salzbüchse streuend.
„Und wer soll jetzt dieses Salz essen, du garstiges Vieh?“
„Ich bin kein Vieh, Mrs. Forster“, erwiderte der Gatte, dem jetzt die Galle stieg. „Ich habe eben einen Missgriff begangen und sehe nicht ein – da fällt mir übrigens ein, hast du Betty mit dem Tag- und Nachtglas zu Kapitän Simkins geschickt?“
„Freilich, tat ich's, Mr. Forster. Möchte wohl auch wissen, was aus uns werden würde, wenn ich mich nicht auch noch um das Geschäft kümmern würde; und ich kann dir sagen, Forster, wenn du nicht dafür sorgst, dass du mehr Arbeit kriegst, so wirst du bald nichts mehr zu essen haben. In der ganzen letzten Woche habe ich siebzehn Schillinge und sechs Pence erhalten, wie soll ich da Hausmiete, Feuer, Essen und Trinken bezahlen? Wie das möglich ist, will ich von dir hören, denn es überschreitet meine Möglichkeiten.“
„Was kann ich da tun, meine Liebe? Ich weise nie ein Geschäft zurück.“
„Du weist nie ein Geschäft zurück? Nein; aber du musst sehen, dass du mehr Geschäfte erhältst.“
„Ich kann eine Uhr reparieren und ein Fernrohr machen, bin aber nicht imstande, die Leute zu zwingen, dass sie mir Arbeit ins Haus tragen, meine Liebe“, versetzte Nicholas.
„Nun, du kannst es und du musst es, Forster“, fuhr die Dame fort, mit dem Überrest der Hammelkeule weggehend und ihn in den Speiseschrank schließend, als eben ihr Gatte sein Auge auf die nächsten Scheibe geheftet hatte. „Und wenn du es nicht tust, sollst du gar nichts mehr zu essen kriegen, Forster!“
„So scheint es, meine Liebe“, versetzte der demütige Nicholas, eine Prise nehmend; „aber ich weiß in der Tat nicht –“
„Freilich, Forster; wenn du nicht einer der größten –“
„Nicht doch, meine Liebe“, unterbrach sie der ungemein bescheidene Nicholas, „ich gehöre noch nicht zu den größten Optikern; aber wenn ich meine Verbesserung –“
„Unter die größten Optiker?“ erwiderte die Dame. „Unter die größten Narren, wollte ich sagen!“
„Das ist etwas ganz anderes, meine Liebe; aber –“
„Ich will kein aber von dir hören, Forster; sei so gut, mich endlich mal ausreden zu lassen, unterbrich mich nicht immer wieder. Warum betreibst du dein Geschäft, wie du es tust? Wer bringt dir je wieder eine Uhr oder ein Fernrohr zum zweiten Mal, nachdem du sie in Händen gehabt hast?“
„Warum sollen sie auch, meine Liebe, wenn ich sie einwandfrei in Ordnung gebracht habe?“
„In Ordnung gebracht? Aber warum bringst du sie in Ordnung?“
„Warum ich sie in Ordnung bringe, meine Liebe?“ entgegnete Forster höchst erstaunt.
„Ja; warum lässt du nicht irgendwo eine Schraube locker? Dann müssen sie wiederkommen. Das ist die Art und Weise, wie man ein ordentliches Geschäft führt!“
„Die Art und Weise, mein Geschäft ordentlich zu betreiben, meine Liebe, besteht darin, dass ich alle Schrauben mit der passenden Kraft festziehe.“
„Und dabei verhungerst?“ fuhr die Dame fort.
„Wie Gott will“, erwiderte Nicholas.
Dieses eheliche Duett wurde jetzt durch den Eintritt des Sohnes unterbrochen. Newton Forster – denn so hatte ihn sein Vater aus Achtung für den großen Sir Isaac Newton genannt – war ungefähr siebzehn Jahr alt, gut gebaut, mit einem angenehmen Gesicht und auch in geistiger Hinsicht nicht vernachlässigt. Seine offene Stirn bekundete freimütige Aufrichtigkeit, in seinem Lächeln lag eine Ehrlichkeit, die ihm alle Herzen gewann; auch war sein Aussehen der Spiegel seines Innern. Der alte Nicholas hatte alle seine freie Zeit und die wenigen Mittel, die er mit Entbehrung erschwingen konnte, für seine Erziehung verwendet, hoffend, sein Sprössling werde eines Tages mit dem Genie wetteifern, dessen Namen er trug; aber Newton hatte kein Sitzfleisch, weder am Pult noch an der Werkbank. So oft er der Stube oder der Schule entwischen konnte, fand man ihn entweder am Ufer oder am Hafendamm, wo die Schiffe ein- oder ausgeladen wurden; auch hatte er schon seit mehreren Jahren angekündigt, dass er ein Seemann werden wolle. Der Vater hatte nur mit Widerstreben und unter dem Vorbehalt, dass Newtons Erziehung erst beendet sein müsse, seine Zustimmung gegeben; beide Teile hielten sich streng an die gegenseitigen Abmachung.
Als Newton das sechzehnte Lebensjahr erreichte, hatte er bereits alles gelernt, was ihm der benachbarte Schulmeister unterrichten konnte; er ging deshalb, bis sich etwas Besseres bieten würde, an Bord eines Handelsschiffes der Küstenfahrt, auf welchem er im Lauf der letzten paar Jahre mehrere Fahrten gemacht hatte. Bei solchen Gelegenheiten blieb er gewöhnlich etwa sechs Wochen fort und dann eben solange im Hafen, bis der Reeder wieder eine Ladung für eine Fahrt besorgen konnte.
So jung er auch war, hatte ihm doch die Überlegenheit seiner Erziehung die Stelle eines Steuermannes verschafft; sein Sold setzte ihn bald in die Lage, seinem Vater beizustehen, dessen Geschäft – wie Mrs. Forster nicht müde wurde zu erklären – „nicht einmal von der Hand zum Mund reichte.“
Seine Liebe zur Wissenschaft und Tätigkeit veranlasste ihn, zu Hause so viel wie möglich von dem Geschäft seines Vaters zu lernen, so dass er die meisten Gegenstände, welche dem alten Nicholas anvertraut wurden, auch zu reparieren verstand. Die Eigentümlichkeiten seines Vaters machten ihm viel Spaß, obwohl er ihn sehr achtete, da er ihn als einen würdigen, ehrlichen Mann kannte. Gegen seine Mutter hegte er nicht das gleiche Gefühl, denn er ärgerte sich über die Art, wie sie seinen Vater behandelte. Doch besaß er ein eigentümliches Taktgefühl, durch welches es ihm gelang, ernstliche Wortwechsel zu vermeiden. Da er nie in Aufwallung geriet und mit ruhiger Festigkeit allen Zwang zurückwies, so sicherte er sich eine Herrschaft über sie, welche in ihrem Herzen – welcher Art auch ihre Gefühle früher gewesen sein mochten – einen entschiedenen Hass erzeugt hatten. Er war diesen Morgen abwesend gewesen, um auf der Schaluppe, zu welcher er gehörte, bei der Anbringung eines neuen großen Stags mitzuhelfen, und hörte beim Eintreten eben noch die letzten Worte seines Vaters.
„Was soll Gott wollen, Vater?“ begann er.
„Ei, die Mutter sagt, wir müssten verhungern oder unehrlich sein.“
„Dann wollen wir lieber mit einem guten Gewissen hungern; aber ich hoffe doch, dass die Sache noch nicht so schlecht steht, denn ich bringe grimmigen Appetit mit“, fuhr Newton fort, den Esstisch ins Auge fassend, welcher seinen Blicken nichts als das Tischtuch mit dem Salzbüchschen und der Schnupftabaksdose bot. „Nun, Mutter, gibt's denn vollkommene Windstille, oder habt Ihr alles wieder in den Schrank gestaut?“
Newton ging zum Speiseschrank, der jedoch verschlossen war.
Wie heftig Mrs. Forster auch gegen andere sein konnte, so benahm sie sich gegen Newton doch nur mürrisch. „Es ist nichts drinnen“, brummte die Dame.
„Warum schließt Ihr dann zu?“ versetzte Newton, welcher wohl wusste, dass die Wahrheitsliebe nicht auf die Liste von Mrs. Forsters Tugenden gehörte. „Na, Mutter, gebt den Schlüssel her – ich glaube, dass ich noch etwas finden werde.“
Mrs. Forster entgegnete, dass der Schrank ihr gehöre und sie die Herrin im Hause sei.
„Wie Ihr wollt, Mutter: aber ehe ich mich weiter bemühe, sagt mir, Vater, – ist etwas in dem Schrank?“
„Ei ja, Newton, es ist ein wenig Hammelfleisch drinnen. Wenigstens habe ich, wenn ich mich recht erinnere, nicht alles gegessen – ist es nicht so, meine Liebe?“
Mrs. Forster ließ sich zu keiner Antwort herab. Newton ging deshalb in den Laden und kehrte mit Hammer und Meißel zurück. Er holte einen Stuhl herbei, auf den er sich stellte, und begann ganz kaltblütig, das Schloss aufzubrechen.
„Es tut mir sehr leid, Mutter – aber ich muss etwas zu essen haben; da Ihr mir den Schlüssel nicht geben wollt, nun –“ bemerkte Newton, dem Meißels mit dem Hammer einen kräftigen Schlag versetzend.
„Da ist der Schlüssel“, rief Mrs. Forster entrüstet, indem sie ihn auf den Tisch schleuderte und dann zur Tür hinaus schoss. Bald hörte man sie draußen rufen: „Betty – he, Betty, du faule Schlampe, wo bist du?“ – als sei sie fest entschlossen, ihren Groll gegen jemand auszulassen.
„Habt Ihr schon gegessen, Vater?“ fragte Newton, der jetzt den Inhalt des Schrankes auf den Tisch brachte.
„Ich weiß es in der Tat nicht gewiss, aber ich fühle mich gewaltig hungrig“, versetzte der Optiker und legte sich zwei große Schnitten auf den Teller.
Und beide tafelten nun eifrig darauf los.
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