Jack Finney wurde 1911 in Milwaukee, Wisconsin, geboren. Er arbeitete lange Jahre in der New Yorker Werbebranche, ehe er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Neben »Von Zeit zu Zeit« und »Im Strom der Zeit« ist sein bekanntester Roman »Die Körperfresser kommen«, der insgesamt viermal verfilmt wurde, unter anderem von Don Siegel als Die Dämonischen. Finney starb 1995 in Kalifornien.
Wie gewöhnlich arbeitete ich in Hemdsärmeln; ich saß an der Zeichnung eines Stücks Seife, das auf dem oberen Rand meines Zeichenbretts lag. Die Goldfolie, in die es gewickelt war, hatte ich sorgfältig zurückgeschlagen, sodass der größte Teil des Markennamens, der darauf stand, noch zu lesen war. Ich hatte die Folien von einem halben Dutzend Seifen zerreißen müssen, um schließlich diesen Effekt zu erzielen. Zugrunde lag die neue Idee, das Produkt einem, wie es das Begleitblatt verhieß, ›duftenden, schaumgebadeten, liebenswerteren du‹ so verführerisch wie möglich zu präsentieren, und mir war die Aufgabe zugefallen, es in eine Reihe unterschiedlicher Layouts einzufügen, wobei das Seifenstück jeweils in einem leicht veränderten Winkel gezeigt werden sollte.
Es war genauso langweilig, wie es sich anhört, und so unterbrach ich die Arbeit und blickte aus dem Fenster. Vom zwölften Stockwerk aus sah ich die Köpfe der Menschen in größter Eile auf den Gehwegen der 54th Street hin und her laufen. Es war ein sonniger, ganz klarer Tag Mitte November, und ich wäre auch gerne draußen bei ihnen gewesen, dabei lag noch der ganze Nachmittag vor mir und ich hatte nichts zu tun; jedenfalls nichts wirklich Wichtiges, so wie es aussah.
Drüben am Schneidetisch stand Vince Mandel, unser Mann für die Schriften, ein dünner Schwarzer. Wahrscheinlich fühlte er sich an diesem Tag genauso eingesperrt wie ich. Er arbeitete mit dem Airbrush; Mund und Nase waren mit einer baumwollenen Schutzmaske bedeckt, und er sprühte gerade einen fleischfarbenen Film auf das Life-Magazine-Foto eines Mädchens im Badeanzug. Wenn er fertig war, würde von dem Badeanzug nichts mehr zu erkennen sein, doch das Mädchen würde aussehen, als sei sie ganz nackt – mit Ausnahme des Bandes, das sich von der Schulter bis zur Hüfte zog und auf dem Miss Büromaschinen zu lesen war. Diese Retuschen waren, wie er selbst zugab, Vinces liebste Beschäftigung während seiner Arbeitszeit. Das retuschierte Bild fügte er dann einer Sammlung ähnlicher Bilder hinzu, die sich am Informationsbrett des Art Department befanden und die sich Maureen, unsere neunzehnjährige Praktikantin und Botin, hartnäckig weigerte anzuschauen, so oft sie auch dazu gedrängt wurde.
Frank Dapp, unser Art Director, ein kleines rundes Energiebündel, nährte sich gerade in schnellem Lauf seinem abgeteilten Büro in der hinteren Ecke der Grafikabteilung. Als er an dem großen metallenen Materialschrank vorbeikam, der am Eingang des Raumes stand, hämmerte er gewaltig mit den Fäusten gegen die Tür und jodelte aus Leibeskräften – eine Angewohnheit, die zur Freisetzung überschüssiger Energie diente, ähnlich dem Dampfstoß einer Lokomotive, eine Art Urschrei. Aber weder Vince noch Karl Jonas, die an dem Brett vor mir standen, noch ich selbst sahen hoch. Auch niemand von den Schreibkräften draußen, wie ich vermutete, obwohl wir wussten, dass es Fremde, die im Empfangsraum des Art Department im hinteren Teil des Ganges warteten, bei diesem Geräusch regelmäßig aus den Sesseln riss.
Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, ein Freitag; noch zwanzig Minuten bis zum Mittagessen, fünf Stunden bis zum Büroschluss und Wochenende, zehn Monate bis zum Urlaub, siebenunddreißig Jahre bis zur Pensionierung. Dann klingelte das Telefon.
»Si, für dich ist ein Mann hier.« Es war Vera aus der Telefonzentrale. »Er hat keinen Termin.«
»Ist in Ordnung. Das ist mein Mann. Ich brauch ’nen Schuss.«
»Du brauchtest etwas ganz anderes.« Sie legte auf. Ich stand auf und fragte mich, wer es wohl sein könnte; ein Grafiker einer Werbeagentur bekommt normalerweise nicht allzu viele Besuche. Der Hauptempfangsraum lag ein Stockwerk tiefer. Ich nahm extra den längeren Weg über die Abteilungen für Buchhaltung und Medien, aber umsonst, es waren keine neuen Mädchen eingestellt worden.
Frank Dapp bezeichnete den Hauptempfangsraum als Off Broadway. Er war mit echten orientalischen Teppichen ausgelegt, einigen Schaukästen mit antiken Silbermünzen, die aus der Sammlung der Ehefrau eines der drei Firmenpartner stammten, und einer Gesellschaftsdame, deren Haar ebenfalls antik silbern war und die die Anfragen der Besucher an Vera weiterleitete. Als ich auf meinen Besucher zuging, betrachtete er gerade eines der Werbeposter an der Wand. Etwas, das ich nicht gerne zugebe und gut zu verbergen gelernt habe, ist meine Schüchternheit im Umgang mit Leuten; und nun, während er sich bei dem Geräusch meiner Schritte zu mir umdrehte, spürte ich das wohlbekannte Gefühl der Beklemmung und momentanen Verwirrung in mir aufsteigen. Er war nicht sehr groß und kahlköpfig und ging mir nur bis zu den Augen; ich bin fast ein Meter achtzig. Er war ungefähr fünfunddreißig und besaß einen beachtlichen Brustumfang; dabei wog er sicherlich mehr als ich, ohne dick zu sein; und er trug einen olivgrünen Gabardineanzug, der nicht so recht zu seiner rötlichen Gesichtsfarbe passen wollte. Ich hoffe, er ist kein Vertreter, dachte ich; dann lächelte er, ein offenes Lächeln, und ich mochte ihn sofort und atmete unwillkürlich auf. Nein, sagte ich mir, er verkauft nichts, und damit hätte ich nicht falscher liegen können.
»Mr. Morley?« Ich nickte und lächelte zurück. »Mr. Simon Morley?«, sagte er, als ob es hier in der Agentur mehrere von uns Morleys gebe und er auf Nummer sicher gehen wolle.
»Ja.«
Das schien ihm noch immer nicht zu genügen. »Nur so zum Spaß, erinnern Sie sich noch an Ihre Dienstnummer bei der Army?« Er fasste mich am Ellenbogen und führte mich hinaus in den Korridor, wo sich die Aufzüge befanden, fort von den Ohren der Empfangsdame.
Ich ratterte die Nummer herunter; ich war noch nicht einmal auf die Idee gekommen, mich zu fragen, was diesem Fremden überhaupt einfiel; es geschah ganz automatisch.
»Richtig!«, sagte er zustimmend. Ich fühlte mich geschmeichelt. Wir befanden uns jetzt ganz allein im Korridor.
»Sind Sie von der Army? Wenn ja, ich habe heute dafür keinen Bedarf.«
Er lächelte, beantwortete aber meine Frage nicht. Er sagte nur: »Ich bin Rube Prien«, und zögerte einen Moment, als ob mir der Name etwas sagen müsste, dann fuhr er fort. »Ich hätte anrufen und einen Termin ausmachen sollen, aber ich bin in Eile, und deshalb habe ich mein Glück einfach einmal so probiert.«
»Das ist schon in Ordnung, ich war sowieso mit nichts anderem beschäftigt, als mit meiner Arbeit. Was kann ich für Sie tun?«
Er verzog ein wenig das Gesicht angesichts dessen, was er mir sagen wollte. Es schien schwierig zu sein. »Ich würde gerne eine Stunde Ihrer Zeit beanspruchen. Jetzt gleich, wenn es Ihnen passt.« Er sah besorgt aus. »Es tut mir leid, aber … wenn Sie mir einfach ein wenig Glauben schenken könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
Und schon hatte er mich an der Angel; ich war natürlich sehr gespannt. »Einverstanden. Es ist zehn vor zwölf; wollen wir etwas zusammen essen? Ich kann etwas früher hier Schluss machen.«
»Schön, aber lassen Sie uns nicht hier drinnen miteinander reden. Wir können unterwegs ein paar Sandwiches kaufen und sie im Park essen. Okay? Es ist nicht allzu kühl.«
»Ich hole meinen Mantel und bin gleich wieder zurück«, sagte ich und nickte ihm zu. »Irgendetwas an Ihnen irritiert mich jedoch.« Ich zögerte, besah mir eingehend diesen liebenswürdigen und gleichzeitig entschlossen aussehenden, kahlköpfigen kleinen Mann, dann musste ich es einfach loswerden. »Und Sie wissen sicher genau, was es ist. Tatsächlich haben Sie das hier bereits einige Male routinemäßig durchgespielt. Alles, einschließlich des besorgten Blicks.«
Er grinste und schnippte leicht mit den Fingern. »Und ich dachte, ich sei perfekt. Nun, dann muss ich wieder vor dem Spiegel üben. Holen Sie Ihren Mantel; wir verlieren nur Zeit.«
Wir gingen in nördlicher Richtung die Fifth Avenue hinauf, vorbei an unglaublichen Gebäuden aus Glas und Stahl, Glas und emailliertem Metall, Glas und Marmor, und an älteren Häusern aus mehr Stein als Glas. Eine erstaunliche Straße, einfach unbegreiflich; ich werde mich nie an sie gewöhnen können und frage mich, ob das überhaupt jemals jemand kann. Gibt es irgendwo sonst noch einen Ort auf der Welt, wo sich riesige Wolkenansammlungen vollständig in den Fenstern der Hauswand eines einzigen Gebäudes spiegeln können, die dann immer noch mehr fassen könnten? Heute genoss ich es besonders, draußen auf der Fifth zu sein; die Temperatur lag etwas über zehn Grad, eine angenehme spätherbstliche Kühle erfüllte die Luft. Es war fast Mittag, hübsche Mädchen kamen aus den Bürogebäuden gesprungen, an denen wir vorbeigingen, und ich bedauerte, dass ich die meisten von ihnen niemals kennenlernen, ja, dass ich mich nicht einmal mit ihnen unterhalten würde. Der kleine kahlköpfige Mann neben mir sagte: »Ich werde Ihnen jetzt erzählen, weshalb ich hier bin; dann können Sie von mir aus Fragen stellen. Vielleicht werde ich sogar einige von ihnen beantworten. Aber alles, was ich Ihnen wirklich erzählen kann, wird gesagt sein, noch bevor wir die 56th Street erreicht haben. Ich habe es bereits über dreißigmal getan, doch leider bislang noch immer nicht recht herausgefunden, was ich tun kann, damit es nicht verrückt klingt. Also.
Es gibt da ein Projekt. Wir sollten es einfach ein Projekt der US-Regierung nennen. Geheim, natürlich; wie alles, was die Regierung heutzutage betrifft. Nicht nur meiner Meinung nach, sondern auch der einer Handvoll anderer Leute ist es wichtiger als alle Nuklear-, Weltraum-, Satelliten- und Raketenprogramme zusammen, obwohl es sehr viel kleiner ist. Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich nicht einmal andeuten kann, worum es bei diesem Projekt geht. Und Sie würden es ganz gewiss nicht erraten können. Ich kann Ihnen versichern, dass nichts, was die Menschen in ihrer gesamten verrückten Entwicklungsgeschichte jemals unternommen haben, dem an Faszination auch nur annähernd gleicht. Als ich zum ersten Mal von diesem Projekt erfuhr, konnte ich zwei Nächte lang nicht schlafen, und ich meine das nicht im übertragenen Sinn; ich meine, ich konnte tatsächlich nicht schlafen. Und bevor ich in der dritten Nacht dann schließlich einschlafen konnte, brauchte ich einen Schuss in den Arm, obwohl ich angeblich zu den ewig phantasielosen Menschen gehöre. Habe ich Ihre Aufmerksamkeit gewonnen?«
»Ja. Wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie etwas gefunden, das interessanter als Sex ist.«
»Sie werden möglicherweise dahinterkommen, dass ich nicht übertreibe. Ich glaube, eine Fahrt zum Mond ist verglichen mit dem, wozu sich Ihnen vielleicht die Möglichkeit bieten wird, beinahe langweilig. Es ist wahrscheinlich das größte Abenteuer überhaupt. Ich würde alles, was ich besitze oder jemals besitzen werde, dafür geben, an Ihrer Stelle sein zu dürfen. Das war’s, Freund Morley. Ich kann Ihnen noch mehr erzählen und werde das auch tun, aber das ist es eigentlich, was ich Ihnen sagen wollte. Noch eines vielleicht: ohne dass Sie etwas dafür getan oder geleistet haben, lediglich durch reines, dummes Glück sind Sie dazu eingeladen, an diesem Projekt teilzunehmen. Sich ihm hinzugeben. Blindlings. Sie kaufen die Katze im Sack, na gut, aber, mein Gott, was für eine Katze. In der 57th Street gibt es einen ziemlich guten Delikatessenladen; was für Sandwiches essen Sie gerne?«
»Roast Pork, was sonst.«
Wir kauften unsere Sandwiches und ein paar Äpfel und machten uns auf den Weg zum Central Park. Prien wartete auf meine Antwort. Einen halben Häuserblock legten wir schweigend zurück; dann zuckte ich mit den Schultern. Ich wollte höflich sein, wusste aber nicht, was ich antworten sollte. »Was wollen Sie von mir hören?«
»Das ist mir gleich. Fragen Sie einfach.«
»Gut; warum ich?«
»Nun, ich bin froh, dass Sie diese Frage stellen, wie die Politiker sagen. Wir brauchen jemanden ganz Besonderen, der über eine bestimmte Anzahl von Eigenschaften verfügt. Es ist eigentlich eine ziemlich lange Liste von ziemlich außergewöhnlichen Merkmalen, um die es sich dabei handelt. Darüber hinaus müssen die Kriterien in einem sehr ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Anfangs wussten wir das nicht. Wir dachten, jede junge, intelligente, aufgeschlossene Person würde dafür infrage kommen. Inzwischen wissen wir aber, oder glauben zu wissen, dass sie körperlich, psychisch und auch von ihrem Temperament her bestimmten Kriterien entsprechen muss. Sie muss auf bestimmte Art und Weise die Dinge betrachten können. Sie muss über die Eigenschaft verfügen, und das scheint relativ selten zu sein, Dinge so zu sehen, wie sie sind, gleichzeitig aber auch, wie sie vielleicht gewesen sind. Wenn Sie verstehen, was ich meine. Wahrscheinlich können Sie das ja, da das, was wir meinen, wohl des Auges eines Künstlers bedarf. Das sind nur einige der Eigenschaften, über die die betreffende Person verfügen muss. Es gibt noch andere, über die ich zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nichts sagen will. Das Problem ist, dass dies auf die eine oder andere Weise den größten Teil der Bevölkerung ausschließt. Die einzige Methode, die wir gefunden haben, um mögliche Kandidaten ausfindig zu machen, ist das Durchforsten der Tauglichkeitstests, denen die Rekruten bei der Army unterzogen werden. Sie erinnern sich doch sicher daran?«
»Vage.«
»Ich weiß nicht, wie viele dieser Tests insgesamt analysiert wurden; das fällt nicht in meinen Aufgabenbereich. Wahrscheinlich Millionen. Wir benutzen Computer für die erste Sichtung und schließen dann all diejenigen aus, die zu weit von unserem Anforderungsprofil entfernt sind. Übrigens die Mehrzahl davon. Dann übernehmen Menschen die weitere Auswahl; wir wollen keinen einzigen Kandidaten übersehen. Weil wir so verdammt wenige finden. Wir haben unzählige Dienstaufzeichnungen durchgesehen, auch diejenigen von Frauen. Aus irgendwelchen Gründen scheinen Frauen häufiger darunter zu sein als Männer; dabei hätten wir gerne mehr von Letzteren. Jedenfalls scheint ein gewisser Simon L. Morley mit seiner schönen, wohlklingenden Dienstnummer ein Kandidat zu sein. Wie kam es, dass Sie es nur bis zum Dienstgrad eines PFC gebracht haben?«
»Mangelndes Talent für Idiotien wie stumpfsinnigen Drill.«
»Ich glaube eher, der Fachterminus dafür lautet zwei linke Füße. Von weniger als hundert möglichen Kandidaten, die wir bislang gefunden haben, haben sich etwa fünfzig das angehört, was Sie nun zu hören bekommen, und haben abgelehnt. Etwa fünfzig haben sich freiwillig gemeldet, über vierzig davon haben die anschließenden Tests nicht bestanden. Jedenfalls haben wir nach verdammt viel Arbeit fünf Männer und zwei Frauen, die für uns infrage kommen könnten. Die meisten, vermutlich eher alle, werden den eigentlichen Test nicht bestehen; wir haben nicht einmal einen Einzigen, von dem wir restlos überzeugt sind. Wir hätten gerne etwa fünfundzwanzig Kandidaten, wenn irgend möglich. Ursprünglich gingen wir von hundert aus, glauben aber inzwischen nicht mehr, dass es so viele gibt. Zumindest wissen wir nicht, wie wir sie finden sollen. Aber Sie könnten einer von ihnen sein.«
»Na großartig.«
An der 59th Street warteten wir an der Ampel, ich betrachtete Rubes Profil und sagte: »Rube Prien; ach ja. Sie haben Football gespielt. Wann war das? Vor etwa zehn Jahren?«
Grinsend wandte er sich mir zu. »Sie erinnern sich tatsächlich! Sie sind ein guter Junge; ich wollte, ich hätte eine dicke Cremeschnitte für Sie zur Belohnung, eine von der Sorte, die ich heute nicht mehr essen darf. Aber es ist bereits fünfzehn Jahre her; ich bin in Wirklichkeit nicht mehr der gut aussehende junge Mann, als der ich gerne gelten würde.«
»Wo haben Sie damals gespielt? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
Die Ampel schaltete auf Grün, und wir traten vom Gehweg auf die Straße. »West Point.«
»Ich wusste es! Sie sind in der Army!«
»Ja.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nun, es tut mir leid, aber da müssen schon ganz andere als Sie kommen. Ich schätze, Sie bräuchten fünf durchtrainierte MPs, um mich wieder dorthin zurückzuschleppen. Ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Was immer Sie mir auch verkaufen wollen, wie faszinierend es auch sein mag, ich will es nicht. Die Aussicht auf schlaflose Nächte bei der Army ist nicht verlockend genug, Prien; das kenne ich nur zu gut.«
Auf der anderen Straßenseite überquerten wir den Fußweg und wandten uns einem Kiesweg des Central Park zu, den wir auf der Suche nach einer freien Bank hinunterschlenderten. »Was stört Sie denn an der Army?«, fragte Rube mit gespielter Unschuld.
»Sie sagten vorhin, das hier dauere eine Stunde, aber ich bräuchte allein für die Kapitelüberschriften eine Woche.«
»Okay, Sie müssen ja nicht zur Army! Melden Sie sich bei der Marine; wir machen aus Ihnen alles, was Sie wollen, vom Bootsmaat bis zum Kapitänleutnant. Oder Sie treten dem Innenministerium bei; Sie könnten mit einem eigenen Smokey-the-Bear-Hut Förster werden.« Prien fand Gefallen an seinen Scherzen. »Melden Sie sich bei der Post, wenn Sie wollen; wir machen Sie zu einem Inspektor und verpassen Ihnen ein Abzeichen und die Befugnis, andere wegen irgendwelcher Postdelikte zu verhaften. Ich meine das ernst. Suchen Sie sich irgendeinen Zweig innerhalb des Staatsapparates heraus, den Sie mögen, außer im Außenministerium oder dem diplomatischen Korps. Und wählen Sie sich einen Titel, der Ihnen zusagt, solange es kein gewähltes Amt ist, mit einem Jahresgehalt von bis zu zwölftausend. Denn, Si – sind Sie damit einverstanden, dass ich Sie Si nenne?«, fragte er mit plötzlicher Ungeduld.
»Natürlich.«
»Nennen Sie mich Rube, wenn Sie mögen. Si, es spielt keine Rolle, wer Sie bezahlt. Wenn ich sage, es ist geheim, dann stimmt das auch. Unser Budget ist auf viele Büros und Abteilungen verteilt, unsere Leute werden überall auf allen möglichen Dienstplänen geführt – nur nicht bei uns. Offiziell existieren wir nicht, und, um Ihre Frage endlich zu beantworten, ja, ich bin noch immer Mitglied der U.S. Army, doch nähere ich mich der Pensionierung. Ich mag die Army, so exzentrisch sich das auch anhören mag. Doch meine Uniform ist längst weggepackt, ich muss nicht mehr salutieren, und der Mann, von dem ich die meisten Befehle entgegennehme, ist ein freigestellter Historiker von der Columbia University. Es wird ein wenig kühl sein auf den Bänken hier im Schatten; lassen Sie uns einen Platz in der Sonne suchen.«
Wir ließen uns etwa zehn Schritt vom Weg entfernt an einem großen schwarzen Felsen nieder. Dort setzten wir uns an die Sonnenseite, lehnten uns an den warmen Felsen und öffneten unsere Sandwichpakete. Im Süden, Osten und Westen ragten die Hochhäuser von New York hoch in den Himmel, beugten sich drohend über den Park wie eine Streitmacht, bereit, über den Rasen herzufallen, um ihn mit Beton zuzupflastern.
»Sie müssen damals in der Grundschule gewesen sein, als Sie von Flying Rube Prien, dem wieselflinken Quarterback, hörten.«
»Vermutlich; ich bin jetzt achtundzwanzig.« Ich biss in mein Sandwich. Es schmeckte sehr gut; das Fleisch war dünn geschnitten und hatte wenig Fett, und das Brot war dick damit belegt.
Rube sagte: »Achtundzwanzig am elften März.«
»Das wissen Sie also auch?«
»Es steht in Ihren Unterlagen bei der Army. Aber wir wissen auch Dinge, die dort nicht stehen; wir wissen, dass Sie vor zwei Jahren geschieden wurden und auch warum.«
»Macht es Ihnen etwas aus, es mir zu erzählen? Ich habe den Grund nämlich niemals herausgefunden.«
»Sie würden es nicht verstehen. Wir wissen auch, dass Sie in den letzten fünf Monaten mit neun Frauen aus waren, aber nur mit vier mehr als einmal. Dass sich dies in den letzten sechs Wochen mehr und mehr auf eine konzentriert hat. Allerdings glauben wir nicht, dass Sie schon wieder für eine neue Ehe bereit wären. Sie glauben vielleicht, dass Sie das sind, wir meinen aber, dass Sie eigentlich Angst davor haben. Sie haben zwei Freunde, mit denen Sie gelegentlich essen gehen; Ihre Eltern sind tot, Sie haben keine Brüder oder Schwest…«
Mein Gesicht war rot geworden; ich spürte es und gab mir Mühe meine Stimme nicht zu erheben. Ich fiel ihm ins Wort und sagte: »Rube, eigentlich mag ich Sie ganz gern. Aber zum Donnerwetter: Wer gab Ihnen oder irgendjemand anderem das Recht, seine Nase in meine persönlichen Angelegenheiten zu stecken?«
»Regen Sie sich nicht auf, Si. Das ist es nicht wert. So viel haben wir gar nicht herumgeschnüffelt – nichts Kompromittierendes, nichts Illegales. Wir sind nicht so wie manch andere Regierungsstelle, die ich Ihnen nennen könnte. Wir glauben nicht an eine Allmacht unserer Befugnisse. Es gab keine Wanzen, keine illegalen Durchsuchungen; wir haben ganz im Sinne der Verfassung gehandelt. Aber bevor wir uns trennen, hätte ich gerne von Ihnen die Erlaubnis, Ihr Apartment zu durchsuchen, bevor Sie heute Abend zurückkommen.«
Ich spürte förmlich, wie sich meine Lippen aufeinanderpressten, und schüttelte den Kopf.
Rube lächelte und fasste mich am Arm. »Ich necke Sie nur ein wenig. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Ich biete Ihnen die Möglichkeit, die aufregendste Erfahrung zu machen, die ein Mensch jemals gemacht hat.«
»Und Sie können mir wirklich nicht mehr darüber erzählen? Dann überrascht es mich, dass Sie tatsächlich sieben Leute gefunden haben. Oder auch nur einen Einzigen.«
Rube betrachtete nachdenklich den Rasen vor sich, schien sich zu überlegen, was er sagen könnte, dann schaute er wieder zu mir hoch. »Wir würden gerne mehr über Sie wissen«, sagte er langsam. »Wir würden Sie gerne verschiedenen Tests unterziehen. Andererseits wissen wir bereits unglaublich gut darüber Bescheid, wie Sie sind, wie Sie denken. Wir besitzen zum Beispiel zwei originale Simon-Morley-Bilder von der Art Director’s Show im letzten Frühling, sowie ein Aquarell und einige Zeichnungen, alles ordnungsgemäß gekauft und bezahlt. Wir wissen einiges über Ihren Charakter, und einiges Neue habe ich heute erfahren. Und deshalb glaube ich, Ihnen Folgendes sagen zu können: Ich kann Ihnen versichern, ich denke, ich kann Ihnen wirklich versichern – natürlich angenommen, Sie glauben mir und stellen sich für zwei Jahre zur Verfügung, und angenommen, Sie bestehen die weiteren Tests –, dass Sie mir danken werden. Sie werden mir sagen, dass Ihnen allein der Gedanke, Sie hätten das hier verpasst, Schauer des Entsetzens über den Rücken jagt. Wie viele Menschen haben jemals gelebt, Si? Fünf oder sechs Milliarden vielleicht? Nun, wenn Sie bei uns mitmachen, werden Sie unter all diesen Milliarden zu der winzigen Anzahl Auserwählter gehören, die das größte Abenteuer aller Zeiten erleben. Vielleicht werden Sie aber auch der Einzige sein.«
Ich war beeindruckt. Ich saß da, aß einen Apfel, starrte vor mich hin und dachte nach. Doch dann sah ich ihm fest in die Augen. »Sie haben verdammt noch mal nicht mehr gesagt als am Anfang auch!«
»Sie haben es bemerkt! Einigen ist es überhaupt nicht aufgefallen. Das ist aber wirklich alles, was ich sagen kann, Si!«
»Sie sind viel zu bescheiden. Sie haben Ihre Verkaufsstrategie hervorragend ausgearbeitet. Akzeptieren Sie eine Anzahlung auf die Brooklyn Bridge? Mein Gott, Rube, was soll ich denn jetzt sagen? ›Sicher, ich mache mit; wo muss ich unterschreiben?‹«
Er nickte. »Ich weiß, es ist nicht einfach. Es gibt aber keine andere Möglichkeit, es durchzuziehen. So ist es eben.« Dann sagte er leise: »Aber es ist für Sie leichter als für die meisten anderen. Sie sind unverheiratet, haben keine Kinder. Und Ihr Job langweilt Sie zu Tode, das wissen wir. Und warum? Es kommt nichts dabei heraus, die Arbeit ist es nicht wert, getan zu werden. Sie langweilen sich dabei und sind mit sich selbst unzufrieden, und die Zeit läuft Ihnen davon. In zwei Jahren sind Sie dreißig, und Sie wissen noch immer nicht, was Sie mit Ihrem Leben anfangen sollen.« Rube lehnte sich wieder an den warmen Felsen und starrte auf den Weg und die Leute, die in der sonnigen Herbstmittagsstunde spazieren gingen. Er gab mir die Möglichkeit über das nachzudenken, was er gesagt hatte. Er hatte natürlich recht.
Als ich mich ihm wieder zuwandte, wusste Rube bereits Bescheid. Er sagte: »Also tun Sie es. Ergreifen Sie die Chance. Atmen Sie tief durch, schließen Sie die Augen, halten Sie sich die Nase zu und springen Sie. Oder wollen Sie weiterhin Seife, Kaugummi und Büstenhalter verkaufen oder was auch immer Sie aus Ihrem Bauchladen feilbieten? Sie sind, Herrgott noch mal, ein junger Mann!« Rube rieb die Hände aneinander, strich sich die Krümel ab und stopfte einige zusammengeknüllte Wachspapierbälle in seine Essenstüte. Dann stand er schnell und behände auf, der Exfootballer. »Sie wissen, wovon ich rede, Si. Die einzige Möglichkeit, es zu tun, ist einfach darauf loszugehen und es anzupacken.«
Ich stand ebenfalls auf, wir gingen zu einem Abfallbehälter aus Drahtgitter, der an einem Baum befestigt war, und warfen unsere Abfälle hinein. Als ich mit Rube zu dem Weg zurückkehrte, fühlte ich genau, dass sich mein Puls beschleunigt hatte; ich fürchtete mich ein wenig. Mit einer Gereiztheit, die mich selbst überraschte, sagte ich: »Sie verlangen, dass ich verdammt noch mal dem Gerede eines mir völlig Fremden glaube! Was, wenn ich an diesem großen Geheimnis teilnehme und feststelle, dass das alles überhaupt nicht so faszinierend ist?«
»Unmöglich.«
»Und wenn es doch so ist?«
»Sind wir erst einmal davon überzeugt, dass Sie ein Kandidat sind, und haben wir Sie darüber aufgeklärt, was wir vorhaben, müssen wir uns auf Sie verlassen können. Wir brauchen Ihre Zusage vorher.«
»Werde ich von hier wegziehen müssen?«
»Über kurz oder lang, ja. Wir werden uns für Ihre Freunde eine Geschichte ausdenken. Wir können es uns nicht leisten, dass sich jeder wundert, warum Si Morley verschwunden ist.«
»Ist es gefährlich?«
»Nein, das glauben wir nicht. Aber es entspräche nicht der Wahrheit, wenn wir behaupteten, es genau zu wissen.«
Als wir im Park in Richtung Ecke Fifth Avenue und 59th Street gingen, dachte ich über das Leben nach, das ich seit meiner Ankunft in New York City vor zwei Jahren geführt hatte. Ich war als Fremder mit einer Mappe voller Zeichnungen unter dem Arm aus Buffalo angekommen und hatte einen Job als Grafiker gesucht und gefunden. Hin und wieder ging ich mit Lennie Hindesmith, einer Grafikerin, zum Abendessen, mit der ich bei meinem ersten New Yorker Job zusammengearbeitet hatte. Nach dem Essen gingen wir gewöhnlich ins Kino oder manchmal auch zum Bowling. Mit Matt Flax, einem jungen Buchhalter meiner Agentur, spielte ich oft Tennis, im Sommer auf öffentlichen Plätzen, im Winter im Armory. Er war es auch, der mich in das Bridgespiel am Montagabend eingeführt hatte, und wir waren wahrscheinlich gerade dabei, gute Freunde zu werden. Pearl Moschetti war Angestellte in einer Parfümerie in dem Gebäude, in dem ich zuerst gearbeitet hatte; seitdem sah ich sie hin und wieder, manchmal auch ein ganzes Wochenende lang, obwohl unser letztes Treffen bereits einige Zeit zurücklag. Ich dachte an Grace Ann Wunderlich aus Seattle, die ich zufällig in der Longchamps-Bar an der 49th und Madison kennengelernt hatte, als sie aus einem überwältigenden Einsamkeitsgefühl heraus angefangen hatte zu weinen. Sie saß ganz allein an einem Tisch und hatte einen Drink vor sich, den sie nicht mochte, während jeder andere in dem Laden sich zu amüsieren schien. Jedes Mal, wenn ich sie später wieder traf, meist in einer Bar im Village, tranken wir zu viel, und alles verlief genau nach dem Muster unseres ersten Zusammentreffens. Manchmal ging ich auch alleine dorthin, da ich die Barkeeper nun kannte und auch einige der Stammgäste und sie mich an eine wahrhaft herrliche Bar erinnerte, in der ich einige Male während eines Urlaubs in Sausalito, Kalifornien, war, die No-Name-Bar hieß. Am häufigsten jedoch musste ich an Katherine Mancuso denken, ein Mädchen, das ich immer öfter traf, das Mädchen, das ich vielleicht fragen wollte, ob sie mich heiraten wolle.
Die erste Zeit meines Lebens in New York war einsam gewesen; damals wäre ich sofort dem Ruf gefolgt und gegangen. Jetzt verbrachte ich zwar immer noch zwei oder drei oder auch mehr Nächte in der Woche alleine – ich las, sah einen Film, den Katie nicht sehen wollte, saß zu Hause vor dem Fernsehapparat oder ging manchmal auch nur in der City spazieren –, aber nun machte es mir etwas aus. Ich hatte Freunde, ich hatte Katherine, und mir gefiel es, etwas Zeit für mich selbst zu haben.
Und dann dachte ich über meine Arbeit nach. Sie wurde in der Agentur geschätzt, die Leute dort mochten mich, und ich bekam ein gutes Gehalt. Die Arbeit war nicht exakt das, was ich mir, als ich in Buffalo zur Art School ging, vorgestellt hatte. Aber was das genau gewesen war, konnte ich auch nicht mehr sagen. Wer weiß, ob ich mir überhaupt etwas konkret vorgestellt hatte.
Alles in allem lief in meinem Leben nichts richtig verkehrt. Außer dass sich, wie bei vielen anderen, die ich kannte, langsam ein Abgrund vor mir auftat, eine unermessliche Leere, von der ich nicht wusste, wie ich sie ausfüllen sollte, oder gar, womit. Trotzdem sagte ich zu Rube: »Meinen Job aufgeben. Meine Freunde aufgeben. Verschwinden. Woher weiß ich, dass Sie nicht ein weißer Sklavenhändler sind?«
»Schauen Sie in den Spiegel.«
Wir verließen den Park und blieben an der Ecke stehen. Dann sagte ich: »Gut, Rube, heute haben wir Freitag. Kann ich darüber nachdenken? Das Wochenende über? Ich glaube nicht, dass ich interessiert an der Sache bin, aber ich werde es Sie wissen lassen. Mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen.«
»Wie sieht es mit Ihrer Einwilligung aus? Ich würde gerne anrufen und Bescheid geben. Von der nächsten Telefonzelle aus, im Plaza« – er zeigte auf das alte Hotel gegenüber an der 59th Street – »um einen Mann hinzuschicken, der heute Nachmittag noch Ihr Apartment durchsucht.«
Wieder spürte ich, dass ich errötete. »Ich werde alles wieder so vorfinden, wie es vorher war?«
Er nickte. »Wenn Briefe herumliegen, wird er sie lesen. Wenn etwas versteckt ist, wird er es finden.«
»In Ordnung, verdammt noch mal! Tun Sie es! Etwas Interessantes wird er sowieso nicht finden!«
»Ich weiß.« Rube lachte. »Weil er gar nicht suchen wird und weil ich niemanden anrufen werde. Niemand wird Ihr kleines unordentliches Apartment durchsuchen. Oder hat es durchsucht.«
»Was, zum Teufel, sollte das dann?«
»Begreifen Sie denn nicht?« Er sah mich einen Moment lang an und grinste dann. »Sie wissen es noch nicht, und Sie würden es mir auch nicht glauben; aber es bedeutet, dass Sie sich bereits entschieden haben.«