Psychoanalytische Sozialarbeit
Praxis
Grundlagen
Methoden
Mit einem Beitrag von
Sylvia Künstler,
Martin Feuling,
Horst Nonnenmann,
Olaf Schmidt
und
Joachim Staigle
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Klett-Cotta
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Cover: Philippa Walz, Stuttgart
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94543-0
E-Book: ISBN 978-3-608-10454-7
Das E-Book basiert auf der 1. Auflage 2010 der Printausgabe.
Einleitung
Kapitel 1 Soziale Arbeit und Psychoanalytische Sozialarbeit
Kapitel 2 Zur Geschichte der Psychoanalytischen Sozialarbeit und Sozialen Arbeit
Kapitel 3 Psychoanalytische Theorien, Methoden und Konzepte
Kapitel 4 Praxisfelder der psychoanalytischen Sozialarbeit
Kapitel 5 Psychoanalytische Sozialarbeit im Umfeld sozialer und therapeutischer Hilfen: Berührungspunkte und Differenzen
Kapitel 6 Psychoanalytische Sozialarbeit und Mediation
Kapitel 7 Psychoanalytische Sozialarbeit in Kinderkrippe, Früherziehung und Frühförderung
Kapitel 8 Soziale Arbeit im Realraum und die Arbeit an inneren Prozessen und Strukturen
Kapitel 9 Setting und Anpassung des Rahmens an die Erfordernisse der Patienten
Kapitel 10 Übertragung – Gegenübertragung – Szene
Kapitel 11 Kooperationsbeziehungen in der psychoanalytischen Sozialarbeit
Kapitel 12 Kooperationen mit Kostenträgern
Kapitel 13 Supervision
Kapitel 14 Qualität und Qualifikationen
Kapitel 15 Die Praxis Psychoanalytischer Sozialarbeit im Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg/Tübingen Lernen und Lehren aus Erfahrung
Kurzdefinitionen
Adressen
Literatur
Informationen zu den Autoren
Ernst Federn, dem verstorbenen
Pionier der Psychoanalytischen Sozialarbeit,
Freund und Lehrer gewidmet
Mit diesem Buch werden erstmals Theorie und Praxis der Psychoanalytischen Sozialarbeit systematisch dargestellt. Dem Studierenden der Sozialen Arbeit, der sich für die Psychoanalytische Sozialarbeit interessiert, bietet es einen breit gefächerten Überblick über die Praxisfelder der Psychoanalytischen Sozialarbeit und verknüpft dies mit einer Darstellung der Geschichte, der Bezüge zu anderen Bereichen der Sozialen Arbeit und der relevanten psychoanalytischen Theorien. Wir sind überzeugt davon, dass dieses Buch daher sowohl im Studium als auch in der Weiterbildung von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen einen wichtigen Beitrag liefert und eine Lücke schließt. Auch für diejenigen, die als Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, als Psychiater, Psychotherapeuten, in Beratungs- und Frühförderstellen oder in der Sozialpädiatrie tätig sind, bietet es umfassenden Einblick in eine spezielle Form der Sozialen Arbeit. Wir haben großen Wert darauf gelegt, die inhaltliche Darstellung so klar und nachvollziehbar wie möglich auch für diejenigen zu machen, die mit psychoanalytischer Begrifflichkeit nicht vertraut sind. Daher haben wir ein Kapitel eingefügt, das für die Sozialarbeit relevante psychoanalytische Theorien kurz skizziert. Wir haben außerdem am Ende des Buches ca. 20 Definitionen wichtiger psychoanalytischer Begriffe zusammengestellt, auf die im Text durch ein Symbol (→) verwiesen wird. In diesen Definitionen wird deren Relevanz für die Praxis der Sozialen Arbeit besonders beachtet. Das Buch wird abgerundet durch einen Beitrag von Kollegen des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit in Tübingen/Rottenburg, die an Hand von Fallbeispielen die Praxis der Psychoanalytischen Sozialarbeit lebendig werden lassen. Auch wenn in der Psychoanalytischen Sozialarbeit jede einzelne Betreuung entlang der spezifischen psychischen und sozialen Problemlage des Klienten in gewisser Weise neu erfunden werden muss und die Beziehungen zwischen dem psychoanalytischen Sozialarbeiter und dem Klienten immer eine sehr individuelle, unverwechselbare Färbung haben, hoffen wir, mit diesem Buch auch dem praktisch tätigen Sozialarbeiter Hilfestellung für seine Arbeit an die Hand zu geben.
Ganz herzlicher Dank gebührt Herrn Dr. Beyer, der mit uns gemeinsam das Konzept dieses Buches entwickelte und sein Entstehen stets hilfreich unterstützte und begleitete. Ich (M. G.) danke auch Frau Diana Holzer für ihre zuverlässige Hilfe beim Schreiben des Manuskriptes.
Tübingen/Bremen, im März 2010
Michael Günter
Georg Bruns
Der Begriff »Psychoanalytische Sozialarbeit« enthält zwei fachliche Bezugspunkte, die einander zu widersprechen scheinen. »Psychoanalytisch« heißt ein methodisch reflektiertes Vorgehen der Aufdeckung unbewusster Antriebe, Zusammenhänge und Bedeutungen, das sich aktiver und gestaltender Eingriffe in das Leben eines Analysanden enthält. Es beschränkt sich vielmehr darauf, Analysanden zum Erkennen und Verstehen der unbewussten Momente ihres Seelenlebens und ihrer sozialen Interaktionen zu verhelfen, was sie in die Lage versetzt, reifere, unabhängigere, weniger aus dem Unbewussten heraus vorgeprägte Entscheidungen zu treffen und Handlungen zu vollziehen. Die Psychoanalyse beschäftigt sich mit der unbewussten inneren Welt der Menschen sowie mit der Konfrontation dieser inneren Welt mit der äußeren Realität.
»Sozialarbeit« dagegen ist im üblichen Verständnis gerade ein regulatorisch helfendes Handeln in der äußeren Welt, das äußere Realitäten beeinflussen will, zumindest die beeinträchtigende äußere, vor allem materielle Lebenssituation einzelner in Not geratener Menschen zu verbessern sucht. Als solches hat Sozialarbeit eine lange und vielgestaltige Tradition.
Die Kombination von Psychoanalyse und Sozialarbeit findet sich in Deutschland nur selten. Zwar gibt es vermutlich viele von psychoanalytischen Ideen angeregte Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, aber eine psychoanalytische Prinzipien berücksichtigende Organisation der sozialen Arbeit existiert nur an wenigen Stellen. Wohl am stärksten ausgeprägt ist das beim Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit e.V. in Rottenburg und Tübingen der Fall, dessen Arbeit in Kapitel 15 dieses Buches ausführlich dargestellt wird.
Vor einer Untersuchung der Frage, was Psychoanalytische Sozialarbeit ist, erscheint uns eine kurze Darstellung des Spektrums der Sozialen Arbeit sinnvoll.
Der Begriff der Sozialarbeit besitzt eine relativ hohe Unschärfe und wird nicht einheitlich definiert. Deshalb werden wir einige Bemerkungen zu den Konzepten und zur Entwicklung des Begriffes voranstellen, der in jüngster Zeit mit einer kleinen Veränderung zum Begriff der Sozialen Arbeit weiterentwickelt worden ist, dem Praxisfeld einer postulierten Sozialarbeitswissenschaft (s. Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit 2005). Soziale Arbeit meint zwei Hauptbereiche, nämlich Sozialarbeit, wie sie sich aus einer »Geschichte der Erwachsenenfürsorge« (Schilling 2005, S. 17 ff.) entwickelt hat, und Sozialpädagogik, die in ihrer heutigen Form aus einer »Geschichte der Jugendfürsorge« (Schilling 2005, S. 59 ff.) hervorgegangen ist.
In der fachlichen Diskussion bewegt die Soziale Arbeit aktuell die Tatsache, dass Jahrzehnte ständig wachsender gewaltiger Ressourcenverschiebungen in den sozialen Sektor hinein offensichtlich beendet sind (z. B. Butterwegge 2005, Krüger und Zimmermann 2005, Sorg 2005) und damit auch ein erstaunliches personelles Wachstum des Sozialbereiches ein Ende erreicht haben dürfte. Die Zahl von 24 800 Wohlfahrtspflegern in der Bundesrepublik im Jahr 1950 verzehnfachte sich bis 2003 auf 235 000 Sozialarbeiter und Sozialpädagogen (Amthor 2005, S. 45). Nolens volens werden in der heutigen Situation knapper Kassen Vorschläge entwickelt, um aus der Begrenzung das Beste zu machen. Spatschek (2005) etwa spricht von einer »professionellen Modernisierung«, die darin zu bestehen habe, den Klienten aktivierende Elemente an die Hand zu geben, etwa entsprechend dem skandinavischen Weg von der »welfare« zur »workfare«. Aktuelle Sozialarbeit habe sich mit den Folgen der Modernisierung zu beschäftigen und weise Charakteristika der Postmoderne auf. Daher sei sie widersprüchlich durch die Ambivalenzen von Hilfe vs. Nichthilfe, Lebensweltorientierung vs. Ökonomisierung, individueller Eigenverantwortung vs. gesellschaftlicher Verwobenheit. Als ein Ausweg wird das Systemische Case Management gesehen (Kleve 2005). Einen etwas anderen Akzent setzt die Propagierung von sozialer Netzwerkarbeit, die die in sozialen Netzwerken schlummernden Ressourcen mobilisieren will (Kruse 2005). Ein Beispiel dafür liefert die aus Eco-Mapping oder Genogrammarbeit gewonnene Aufspürung verschütteter, aber aktivierbarer sozialer und verwandtschaftlicher Beziehungen (Budde & Früchtel 2005). Einzelfallarbeit und Netzwerkorientierung sollen verknüpft werden (Klawe 2005).
Eine zweite wichtige Frage ist die nach dem wissenschaftlichen Status der Sozialarbeitswissenschaft. Zwar wird mit der europaweiten Umstellung möglichst aller Studiengänge auf das Bachelor- und Mastermodell die Anerkennung als akademische Volldisziplin erhofft, so dass die damit erreichte höhere soziale Anerkennung der Sozialarbeit endlich den Wünschen der Professionellen entspräche, die ihre Arbeit bisher meist unter Wert eingestuft sehen. Es herrscht jedoch eine Unsicherheit hinsichtlich des wissenschaftstheoretischen Zustands vor – Praxiswissenschaft? Handlungswissenschaft? Hermeneutische oder normative Wissenschaft? Alles scheint vorstellbar (Birgmeier 2005, Schlittmaier 2005).
Die Forschungsaktivitäten einer Disziplin geben Aufschluss über ihre aktuellen Tätigkeitsfelder und Hinweise auf ihre zukünftigen Arbeitsfelder. Auf dem Kongress 2006 der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGS) wurden in 27 Workshops 68 Forschungsprojekte vorgestellt (Engelke et al. 2007). 14 Workshops, also mehr als die Hälfte, beschäftigten sich mit Themen, die in der Regel eine längerfristige Beziehungsaufnahme und -gestaltung mit den Klienten und nicht einmalige oder punktuelle technische Hilfeleistungen erfordern. Die Themen dieser Workshops reichten von »Leben älterer Frauen« über »Gewalt und Prävention«, »Kinder in Kindertagesstätten«, »Pflegefamilien und Heimerziehung«, »Schulsozialarbeit« bis zu sozialmedizinischen (Schwerkranke, Sozialpsychiatrie, Sucht) und psychosozialen Themen (»Bewältigung schwieriger Biografien«). Dieses Überwiegen beziehungsbasierter Tätigkeitsfelder gibt auch Hinweise darauf, welche Qualifikationen in den Berufen der Sozialen Arbeit erforderlich sind, nämlich solche, die zu einer langfristigen Beziehungsarbeit befähigen.
Die Frage »Gibt es eine Theorie bzw. Wissenschaft der Sozialen Arbeit?« (Erler 2007, S. 115 ff.) beschäftigt das Fach bis heute. Sie ist Teil einer Professionalisierungsdebatte, die mit der Zerfaserung der Praxisfelder, der jungen Professionsgeschichte, den unterschiedlichen historischen Herkünften, den vielfältigen theoretischen Ansätzen und einem Schwanken zwischen systemkritischer und systemkonformer Einstellung zusammenhängt (z. B. Bielefelder Arbeitsgruppe 8, S. 147 ff., Kap. 4 »Profession und Professionstheorie«; May 2008, S. 69 ff.; Heite 2008). Hilfreich in dieser Debatte ist die Besinnung auf die Praxisfelder der Sozialen Arbeit und ihre Methoden. Bei Chassé und von Wensierski (2004) werden als die großen Felder die Kinder- und Jugendhilfe mit einem breiten Spektrum zwischen Früherziehung, Kindergarten, Kulturarbeit, Schulsozialarbeit und Jugendgerichtsarbeit, die Erziehungs- und Familienhilfen, die Altenhilfe, Frauen und Frauenbewegung, die Frage von Benachteiligung und Armut im Sozialstaat beschrieben und einige spezifische Bereiche benannt: Sexualberatung, Soziale Arbeit im Gesundheitswesen, Sozialpsychiatrie, Sucht- und Drogenhilfe, Migration. Galuske (1998) beschreibt 19 Methoden der Sozialen Arbeit, darunter sozialpädagogische Beratung, multiperspektivische Fallarbeit, Case Management, Mediation, Rekonstruktive Sozialpädagogik, Familientherapie, themenzentrierte Interaktion, Empowerment, Streetwork, Sozialraumorientierung, Supervision und Jugendhilfeplanung. Darunter sind sehr unterschiedliche und kontrastreiche Methoden.
Hinsichtlich der Arbeit mit Klienten scheint es zwei vorherrschende Tendenzen zu geben: die zu einer indirekten Arbeit mit ihnen, indem sie als Teil eines Netzwerkes betrachtet werden, das die Aufgabe einer Problemlösung erhält, und die zu einer möglichst kurzen Betreuung, die den Professionellen lediglich als Impulsgeber für eigene Aktivitäten des Klienten und seines Netzes betrachtet. Beides verbindet sich auch leicht mit einem in den letzten zehn Jahren verbreiteten systemischen Denken in der Sozialen Arbeit. Eine Verbindung der beiden Ansätze sucht die Sozialraumorientierung (Früchtel et al. 2007), die mit ihrem SONI-Schema (Sozialstruktur, Organisation, Netzwerk, Individuum) vier strategische Ansatzpunkte sozialarbeiterischer Interventionen benennt. Innerhalb dieses Ansatzes geht es nicht um technische Hilfen, etwa einen Hilfeplan, der sich »am Ideal des guten Bürgers« (S. 18) orientiert, nicht um eine »psychosoziale Diagnose« (ebd.), sondern es geht darum, Gelegenheiten und Situationen zu nutzen. Veränderungswirkungen erhofft man sich aus der »Situationsanalyse«, die das »Situationspotential« aufspüren und zu einer »situativen Wirksamkeit« bringen soll (S. 21). Ein Element der Sozialraumorientierung soll das Auffinden und ggf. Herstellen von Kontexten und Kontaktstrukturen sein (S. 25), aus denen sich neue Situationen und Gelegenheiten ergeben. Als Beispiel wird ein Wachhund angeführt, der nicht bellt und der damit seine Aufgabe verfehlt. Sein Situationspotential könne ausgenutzt werden mit einem Warnschild: »Vorsicht vor dem lautlosen Hund!« (S. 22). Paradoxe Intentionen wie diese setzen jedoch noch einigermaßen funktionierende Systeme voraus, um überhaupt systemische Interventionen zur Wirkung gelangen zu lassen. In nicht wenigen Fällen gibt es aber kein funktionierendes System für Klienten mehr, weder ein familiäres noch ein freundschaftliches noch ein behördlich-professionelles. Ein Beispiel dafür ist der Fall des kleinen Kevin aus Bremen (Mäurer 2006), der zwar zusammen mit seinem drogenabhängigen Stiefvater den Sozialbehörden gut bekannt war, aber weder von dort noch aus dem Bekannten- oder Familienkreis eine Hilfe erhielt, die ihn vor den tödlichen Mißhandlungen durch den Stiefvater gerettet hätte.
Diese nicht seltene Tatsache des Fehlens jeglicher Ressourcen, aber auch, wie Galuske (2007, S. 132) schreibt, die Methodenkritik in der Sozialarbeit in den 70er Jahren und, wie wir meinen, die Erweiterung der Praxisfelder der Sozialen Arbeit seit den 70er Jahren, als es in der Medizin mit einer neuen Approbationsordnung zu einer psychosozialen Wende kam, als für einen alternativen Strafvollzug sozialtherapeutische Anstalten geplant wurden und als sich in der Psychiatrie sozialpsychiatrische Gedanken und Strukturen durchsetzten, haben dazu geführt, dass in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik zunehmend therapeutische Methoden und Verfahren adaptiert worden sind. Mit einer Therapeutisierung aber gerät Soziale Arbeit in die Gefahr, den Bezug zur Alltags- und Lebenswelt ihrer Klienten zu verlieren; denn Therapie erfolgt immer in einem Sonderraum außerhalb der Alltagswelt. Das klassische Praxisfeld der Sozialen Arbeit liegt aber in der Hilfeleistung für Menschen, die durch äußere Umstände in Not geraten sind. Der Gegenstand für Therapien sind dagegen die inneren Nöte von Menschen, ihr Leiden an sich selbst und an ihren seelischen Störungen.
Galuske hebt daher mit einem gewissen Recht die Differenzen zwischen Sozialer Arbeit und Therapie hervor (S. 136 ff.): Die Alltags- und Lebensweltorientierung mit ihrer hohen Komplexität der Sozialen Arbeit gegenüber der Zentrierung von Therapie auf spezielle Bereiche wie Wahrnehmung, Kommunikation, Emotion und Selbstkontrolle, das sozialpädagogische oder sozialarbeiterische Handeln im Alltag des Klienten gegenüber dem therapeutischen Handeln in einer alltagsfernen, abgesetzten Situation, alltagsnahe, auf aktuell erlebbare und sichtbare Probleme zielende Interventionen in der Sozialen Arbeit gegenüber alltagsfernen, an ein spezifisches Setting gebundenen Interventionen in der Therapie, Klienten mit Alltagsproblemen und sozialen Versorgungsinteressen und tendenziell einer Unterschichtzugehörigkeit in der Sozialen Arbeit gegenüber Patienten mit psychischen Problemen und tendenziell einer Mittelschichtzugehörigkeit in Therapien. Wenn wir auch dieser letzten Kontrastierung, die einen therapeutischen Zugang eher für Mittelschichten reservieren will, nicht zustimmen, weil in der Praxis viele Patienten, die zugleich Klienten sozialer Hilfesysteme sind, sehr von einer Therapie profitieren, ist eine Differenzierung zwischen Sozialer Arbeit und Therapie doch richtig und sinnvoll, auch wenn vor allem in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen pädagogische, entwicklungsfördernde und therapeutische Interventionen in der Regel nicht scharf voneinander abzugrenzen sind (vgl. Kapitel 5). Die von Galuske genannten Unterschiede sind zu ergänzen um einen entscheidenden weiteren, nämlich die psychische Krankheit mit dem Leiden an ihr als Voraussetzung einer Therapie gegenüber dem Leiden an einer äußeren Not als Voraussetzung der Sozialen Arbeit.
Zwar kann – sicherlich nicht selten – beides zusammenfallen, was eine Bemühung beider Hilfesysteme erfordert, aber kaum jemals wird materielle Not allein eine psychische Krankheit hervorrufen, außer im Fall traumatischer Einwirkungen. Andererseits kann psychische Krankheit ernsthafte materielle Not nach sich ziehen. Auch dann ist beides nötig, sozialarbeiterische und therapeutische Hilfe. Nach unserem Eindruck engt eine Sicht wie die von Galuske vertretene Sozialarbeit zu sehr auf die materiellen Lebensverhältnisse ein. Es gibt eine seit langem bekannte Verbindung zwischen Pauperismus und psychischer Krankheit. Psychisches Leiden erscheint uns als eines der wichtigen Felder der Sozialen Arbeit.
Wie bereits bei der Sichtung der Forschungsinteressen erwähnt, treten in der Sozialen Arbeit solche Methoden und Praxisfelder immer mehr hervor, für die eine Arbeit an der und mit der Beziehung zu den Klienten unerlässlich ist. Das schlägt sich in entsprechenden Veröffentlichungen nieder. Schaub (2007) beschreibt Theorien, Methoden und Arbeitsfelder der Klinischen Sozialarbeit, Denner (2008) die Soziale Arbeit mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen, Kuhles (2007) sozialpädagogische »Wege aus der Isolation« für autistische Kinder und Jugendliche, auch Ortmann und Röh (2008) geben eine Textsammlung über Klinische Sozialarbeit heraus, Lützenkirchen (2008) schreibt über Soziale Arbeit bei Depression im Alter, Speck (2007) über Schulsozialarbeit.
Während in den genannten Veröffentlichungen Beziehungsarbeit ein wesentlicher Bestandteil des jeweiligen Ansatzes ist, zum Teil wie bei Schaub durchaus mit psychoanalytischen Konzepten durchsetzt, gibt es inzwischen auch einige Veröffentlichungen, die sich explizit mit dem Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Sozialer Arbeit beschäftigen. May (2008) hat ein Kapitel seines Buches über aktuelle Theoriediskurse der Sozialen Arbeit der Psychoanalytischen Sozialarbeit gewidmet (S. 205 ff.). Allerdings erwähnt er darin keine der zahlreichen Veröffentlichungen aus dem Umfeld des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit in Tübingen, ebenso wenig wie das Buch von Stemmer-Lück (2004) über »Beziehungsräume in der Sozialen Arbeit«, das sich ausschließlich dem Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Sozialer Arbeit und der Möglichkeit, psychoanalytische Theorien in der Sozialen Arbeit zu nutzen, widmet. Ein Themenheft »Psychoanalytische Sozialarbeit« der Zeitschrift Kinderanalyse (Heft 1/2006) umreißt in mehreren Beiträgen (Bruns 2006, Feuling 2006, Günter 2006 a, Thomas Aichhorn 2006, August Aichhorn 2006) den Gegenstand Psychoanalytische Sozialarbeit. All diese Veröffentlichungen verstehen wir als Hinweis darauf, dass es in der Sozialen Arbeit einen zunehmenden Bedarf an einem verstehenden und die Beziehung zum Klienten nutzenden Zugang zu den auftauchenden Problemlagen gibt, wie ihn die Psychoanalyse schaffen kann.
Psychoanalytische Sozialarbeit ist eine Anwendung der Psychoanalyse im sozialen Bereich, der neben dem klinischen und dem kulturellen Bereich eines der drei großen Anwendungsgebiete der Psychoanalyse ist. Sie ist angebracht, wenn neben der Situation der äußeren Not oder Hilfsbedürftigkeit auch eine ernsthafte seelische oder interaktionelle Störung besteht, also eine Konstellation der Problemdoppelung von äußerer und innerer Not vorliegt, die mit technischinstrumentellen Hilfeleistungen allein nicht überwunden werden kann. Sie kann von allen Berufen im psychosozialen Feld ausgeübt werden – Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Psychologen, Ärzten, Lehrern, Krankenschwestern und anderen mehr. Psychoanalytische Sozialarbeit verbindet die instrumentelle Hilfe mit einer Nutzung der Beziehung zum Klienten. Nutzung der Beziehung heißt, auch latente und unbewusste Beziehungselemente wahrzunehmen, sie als eine averbale Aussage über den Klienten und die intersubjektive Konstellation aufzufassen und sie in der Gestaltung des Hilfeangebotes zu berücksichtigen. Beziehung heißt auf der sichtbaren Ebene Verbindlichkeit eines Kontaktes, Kommunikation und Verstehen. Auf einer latenten, zum Teil unbewussten Ebene heißt Beziehung, den Anderen eine Bedeutung gewinnen, ihn zu einem signifikanten Anderen werden zu lassen.
Sich solcherart auf eine Beziehung einzulassen ist nicht immer leicht. Denn wir spüren oft intuitiv sehr früh in einem Kontakt, ob die Beziehung mit einem Menschen einigermaßen leicht oder ob sie kompliziert, belastend und anstrengend verlaufen wird. Gegen eine Beziehung, die kompliziert und belastend werden könnte, richtet sich oft eine spontane Abwehrreaktion dergestalt, dass wir vermeiden, diese Beziehung einzugehen. Besonders leicht geschieht das gegenüber Patienten oder Klienten, die an narzisstischen Erkrankungen leiden, die fast immer auch eine pathologische Gestaltung von Beziehungen aufweisen. Manche Therapiekonzepte im psychosozialen Bereich wie die therapeutische Kette in der Sozialpsychiatrie haben sich aus dem unbewussten Wunsch heraus entwickelt, sich vor anstrengenden Beziehungen zu schützen (Bruns 1998). In der Therapeutischen Kette werden Patienten immer dann, wenn sie nach einer gewissen Zeit eine Beziehung hergestellt haben und es ihnen besser geht, in die nächste Station der Kette verlegt, ohne dass die schwierigen und belastenden Aspekte einer Beziehung in eine Bearbeitung gelangen können. Diese Praxis, wie manche andere, stellt eine Form der institutionalisierten Abwehr von Beziehung dar.
Die Herstellung und Nutzung einer Beziehung in der Arbeit mit Klienten verweist darauf, dass psychoanalytische Sozialarbeit kaum dann erfolgen wird, wenn lediglich kurze einmalige Kontakte mit Klienten stattfinden, sondern dann, wenn Hilfen oder Betreuungen von mittlerer bis langer Dauer erfolgen. Dazu zwei Beispiele.
1. Die Langzeitbetreuung eines Jugendlichen
Bob ist Mitglied einer Wohngruppe des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit in Rottenburg und Tübingen (s. Nonnenmann 2003, S. 136 ff.) und kommt als Schüler in die Wohngruppe. Er ist auf den Philippinen in angeblich sehr verwahrloste Verhältnisse hineingeboren worden. Er soll sich schon als kleines Kind von Funden im Müll ernährt haben, weil anderes nicht zur Verfügung stand. Mit zweieinhalb Jahren ist er von einer deutschen Familie adoptiert worden, in der es noch zwei weitere, ältere Adoptivkinder gibt. Nach einer anfänglich sehr rasanten Entwicklung mit Aufholen vieler Entwicklungsdefizite kommt es in der Schule zu Leistungshemmungen bei ihm. Er wechselt über zu einer Waldorfschule mit Internat. Irgendwann beginnt er Drogen zu nehmen, raucht regelmäßig Haschisch. Es entstehen Ängste, Schlafstörungen, Suizidideen und die Überzeugung bei ihm, die anderen wollten ihn von der Schule entfernen. Er wird in eine kinder- und jugendpsychiatrische Klinik eingewiesen, spricht selbst von einer Kifferpsychose. Nach der Klinikentlassung kommt er in die Wohngruppe.
Dort zeigt er eine hohe Sensibilität dafür, welche Schwächen und Verletzlichkeiten Mitarbeiter und Mitbewohner aufweisen. Das nutzt er aus, um sie zu quälen oder nach seinen Interessen tätig werden zu lassen. Gleichzeitig ist er sehr bedürftig nach Nähe und Kontakt, sucht ihn bei den Mitarbeitern, aber wird unvermittelt und überraschend verletzend und entwertend, wenn er etwas Gutes bekommen hat. Die Situationen mit ihm spitzen sich zu, seine Verletzungen und Inszenierungen werden zunehmend unerträglich. Schließlich wird ihm mitgeteilt, dass die Grenze des Erträglichen mit ihm erreicht sei. Er reagiert mit der Einnahme einer Überdosis Psychopharmaka, was zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik führt. Nach Besserung seines Zustandes kehrt er in die Wohngruppe zurück, kann sich aber im Verlauf von Monaten wieder nicht in ein auskömmliches Miteinander einfinden. Der Versuch, ihn allein in einer Pension wohnen zu lassen, scheitert. Er entwickelt eine paranoide Psychose, die eine Behandlung auf einer psychiatrischen Akutstation notwendig macht. Nach längerer Zeit dort kehrt er in die Wohngruppe zurück. Jetzt beginnt er erstmals, ernsthaft darüber nachzudenken, ob er eigentlich in der Wohngruppe bleiben will.
Es gibt aus empirischen Untersuchungen sowie klinischen Beobachtungen und Erfahrungen viele Hinweise darauf, dass eine grundlegende, existenzbedrohende Ablehnung oder Vernachlässigung eines Kindes in seinem ersten Lebensjahr einer der großen Risikofaktoren für die Entwicklung einer Psychose im späteren Leben ist. Auf der Grundlage dieser Erfahrung ist es berechtigt, die anscheinend fast totale Vernachlässigung von Bob in seiner frühen Kindheit durch die Eltern als ursächlich für seine psychotischen Episoden zu betrachten. Er hat in seinen frühen Objektbeziehungen wirkliche zerstörerische Feindschaft erfahren, wenn wir davon ausgehen, dass für ein kleines abhängiges Kind auch Vernachlässigung eine Form der Misshandlung ist. Aber die Erfahrung von Bob mit seinen frühen Objekten war nicht nur, dass sie ihn vernachlässigten, sondern auch, dass sie keine Beziehung mit ihm aufrecht hielten. Dabei dürfte nicht erst die Freigabe zur Adoption ein Hinweis auf eine geringe oder fehlende Objektkonstanz sein, sondern die Annahme ist berechtigt, dass es auch im Vorfeld bereits belastende, vielleicht traumatische Erfahrungen der Freisetzung aus Bindungen für ihn gegeben hat. Die Freigabe zur Adoption dürfte der klarste Ausdruck für eine vorbestehende unzuverlässige Bindung mit desolaten Folgen für seine Entwicklung gewesen sein. Dieses existentielle frühe Beziehungstrauma von Desinteresse, Vernachlässigung und Weggabe reinszeniert er in seinem Leben permanent mit der Überforderung seiner jeweiligen Umgebung: In der Adoptivfamilie und in der Wohngruppe macht er sich jeweils zum unerträglichen Kind, wie um zu prüfen, ob man ihn wirklich will oder ob man ihn, wenn es anstrengend wird, doch weggibt und so beweist, dass man ihn nicht genug liebt. Seine Adoptiveltern und die Mitarbeiter der Wohngruppe sind in diesem inszenierten narzisstischen Konflikt auch Ersatzfiguren für die realen Eltern, denen er Desinteresse und Vernachlässigung unbewusst vergilt, wenn er die Ersatzeltern überfordert und quält.
Die Erfahrung, trotz der desymbolisierten Äußerungen von Aggression und Hass in der Psychose wieder in die Wohngruppe zurückkehren zu können, scheint schließlich zum Beginn einer veränderten Selbstwahrnehmung geführt zu haben, die sein Selbstkonzept, ablehnenswert zu sein, in Frage stellt, so dass er beginnt, über seinen Wunsch nachzudenken, in der Wohngruppe zu bleiben. Er delegiert diese Frage nicht mehr nur an andere und projiziert nicht mehr nur Hass und Ablehnung in seine Umgebung hinein, was zu seinen paranoiden Symptomen geführt hatte, sondern er macht die Frage zu seiner eigenen. Für verschiedene Affekte wie Hass und Wut, aber auch Liebe betrachtet er sich zunehmend als Akteur, er sieht sich nicht mehr nur als Objekt dieser Gefühle von anderen – ein enormer Schritt von der projektiven Abwehr zur beginnenden Aneignung und damit Anerkennung als zu ihm gehörig.
Bob gehört zu der für die psychoanalytische Sozialarbeit wichtigen Klientengruppe psychisch kranker Jugendlicher, die aus ihren sozialen Beziehungen herausgefallen sind. Bei der Art der Störungen, die diese Jugendlichen aufweisen, bei der Schwere dieser Störungen, die dazu geführt haben, dass sie in keiner der üblichen Einrichtungen der Jugendhilfe mehr tragbar waren, und bei dem vorangegangenen Versagen der üblichen Methoden der Jugendhilfe kann psychoanalytische Sozialarbeit sich weder auf den anstoßenden Impuls des systemischen Ansatzes beschränken, der prinzipiell eine weitgehende Freiheit von schweren Dauerstörungen der sozialen Beziehungsfähigkeit voraussetzt, noch kann sie sich auf die Netzwerkaktivierung verlegen, weil in der Regel ein funktionierendes Netzwerk nicht vorhanden ist, noch kann sie die Auffüllung defizitärer materieller Ressourcen im Sinne der klassischen Fürsorge in den Vordergrund stellen, weil der materielle Mangel nicht die Ursache der ernsten psychischen und sozialen Devianz ist. Psychoanalytische Sozialarbeit muss vielmehr die ernsten Beeinträchtigungen der sozialen Kompetenzen der Klienten, d. h. vor allem der Beziehungsfähigkeit, der Fähigkeit zur sozialen Integration und der Fähigkeit zur Selbstverwirklichung in sozialen Zusammenhängen überwinden helfen. Das bedeutet in der Regel auch, oft sogar vorrangig, die Überwindung schwerwiegender psychischer Beeinträchtigungen.
Im Falle von Bob und anderen Jugendlichen ist psychoanalytische Sozialarbeit langfristig auf mehrere Jahre angelegt. Sie besteht aus einem Zusammenleben mit dem oder den Betreuten während der Arbeitszeit, sie erfordert es, sich auf die spezifische intersubjektive Beziehungsgestaltung jedes Klienten einzulassen und sie ruht auf zwei zentralen Elementen: der instrumentellen Arbeit (materiell-technische Hilfe bei der Organisation des Lebens) und der emotionalen Arbeit des psychoanalytischen Sozialarbeiters. Mit dieser Charakterisierung weist sie große Ähnlichkeiten mit einem anderen sozialen Beruf auf, dem der Erzieherin im Kindergarten. Zwei wesentliche Unterschiede sind jedoch hervorzuheben: Die Erzieherin hat es mit wesentlich jüngeren, leichter beeinflussbaren Kindern zu tun, und sie arbeitet in der Regel mit einigermaßen gesunden Kindern. In der psychoanalytischen Sozialarbeit dagegen weisen die Jugendlichen bereits persönlichkeitsstrukturelle Verfestigungen ihrer ernsten psychischen Erkrankungen mit entsprechenden Beziehungspathologien auf. Dennoch erscheint uns erwähnenswert, dass die psychoanalytische Sozialarbeit mit Jugendlichen durchaus in einer Traditionslinie der Sozialarbeit steht, beispielsweise der des Rauhen Hauses in Hamburg, wie es Ernst Wichern für ein langfristiges Zusammenleben von Klienten und Betreuern konzipiert hatte (Amthor 2005; Schilling 2005, S. 68).
2. Die Hilfe von mittlerer Dauer für eine ältere Frau
Frau F. ist 71 Jahre alt. Sie ist seit einem Jahr verwitwet. Seit einigen Monaten ist sie in der Nachbarschaft durch nächtliche Unruhe und einen zunehmend gereizten Umgang mit Nachbarn aufgefallen, in welchem anfangs misstrauische, dann offenbar wahnhaft-paranoide Ideen eine Rolle spielen. Sie behauptet, es werde schlecht über sie geredet, sie werde in verschiedener Hinsicht schikaniert und ein etwas weiter entfernt wohnender Mann ihres Bekanntenkreises rufe sie mit erotischen Absichten an, lege aber den Hörer sofort auf, wenn sie auf ihrer Seite das Telefongespräch annehmen wolle. Sie hat diesem Mann inzwischen vorwurfsvolle Briefe geschrieben mit der Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen. Dessen Frau ist irritiert und weiß nicht, was sie von der Angelegenheit halten soll. Im Bekanntenkreis sind inzwischen auch Irritationen und Spannungen entstanden. Nach einer Information des zuständigen sozialpsychiatrischen Dienstes hat ein Mitarbeiter sie besucht und ihr den Besuch der sozialpsychiatrischen Beratungsstelle empfohlen. Im Gespräch dort mit dem Arzt ist deutlich zu spüren, dass sie sich trotz ihrer fortbestehenden sozialen Kontakte seit dem Verlust des Ehemannes immer einsamer und verlassener fühlt. Ihr fehlen ein vertrauter Gesprächspartner und das Gefühl einer exklusiven verständnisvollen, auch erotischen Verbundenheit mit einem Menschen, wie sie es mit dem Ehemann hatte. Der Arzt versteht, dass sie solche Wünsche auf den Mann aus ihrem Bekanntenkreis gerichtet hat, den sie erotischer Anrufe bezichtigt. In der Abwehr dieser Wünsche hat sie die Anrufe, von denen vorerst offen bleibt, ob sie stattgefunden haben oder Schöpfungen einer Sinnestäuschung sind, in Belästigungen umgewertet. Gleichzeitig hat sie ihre moralische Selbstverurteilung für diese Wünsche nach außen in die Nachbarschaft verlagert. Das von ihr vermutete Gerede über sie und die als Schikanen umgedeuteten Alltagshandlungen der Nachbarn sind die von ihren Moralvorstellungen unbewusst erzwungenen Strafen.
Mit diesem Verständnis der Symptome führt der Arzt für eine gewisse Zeit regelmäßige Gespräche mit ihr, in denen sie über ihren Verlust, über die Vergangenheit mit dem Ehemann und über ihre jetzige Verlassenheit sprechen kann. Sie berichtet bereits nach zwei Wochen, dass die Anrufe des Mannes nicht mehr stattfänden. Offenbar hat sie sehr schnell eine Beziehung zum Arzt der Beratungsstelle aufgenommen, der jetzt für sie zu einem bedeutungsvollen Objekt geworden ist, mit dem sie über ihre Nöte und Wünsche sprechen kann. Dadurch kann sie von dem konflikthaft als Partner imaginierten Mann aus dem Bekanntenkreis ablassen. Ihre Fantasien, er suche einen erotischen Kontakt mit ihr, kann sie aufgeben. Nach einigen weiteren Wochen berichtet sie, dass auch Gerede und Schikanen in der Nachbarschaft nicht mehr vorhanden seien.
Parallel zu den Gesprächen mit dem Arzt informiert der Mitarbeiter, der sie zuerst in ihrer Wohnung aufgesucht hat, die Nachbarn davon, dass eine Betreuung durch den sozialpsychiatrischen Dienst erfolgt. In der Beratungsstelle tritt sie in eine Gesprächsgruppe für ältere Frauen und Männer ein, die von einer Sozialarbeiterin geleitet wird. Sie wird dort zu einer regelmäßigen und lebhaften Teilnehmerin.
Im Falle dieser Frau wird ein paranoides Syndrom im Alter nicht technisch-instrumentell mit einem neuroleptischen Psychopharmakon behandelt, sondern es wird als Ausdruck eines Prozesses der Vereinsamung nach dem Verlust eines bedeutungsvollen Objektes aufgefasst. Dementsprechend erhält die Frau das Angebot einer hilfreichen Beziehung, in der sie ihre Wünsche nach Beziehung, Austausch und Verständnis anbringen und partiell verwirklichen kann. Gleichzeitig erfolgen im Realraum der Patientin korrigierende Interventionen, nämlich die Information ihrer Nachbarschaft und die Erweiterung ihrer sozialen Kontakte mit Hilfe der Gesprächsgruppe.
Das Besondere und Spezifische der Psychoanalytischen Sozialarbeit ist die langfristige Arbeit mit der Beziehung und den Emotionen sowohl der Klienten wie der Betreuer. Damit scheint sie der heutigen Auffassung von Psychoanalyse nahe zu kommen, nach der Psychoanalyse als Aktualisierung früherer wichtiger Beziehungen des Patienten in der Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung →, dem Verbindungselement zwischen dem Bewussten und Unbewussten, mit einer neuen Beziehungserfahrung als dem verändernden Element betrachtet wird. Ist dann Psychoanalytische Sozialarbeit eine Form der psychoanalytischen Behandlung?
Wie gegenüber der allgemeinen Sozialarbeit gibt es auch gegenüber der eigentlichen psychoanalytischen Behandlung Unterschiede und Abgrenzungen. Anders als die psychoanalytische Behandlung hat die Psychoanalytische Sozialarbeit kein formalisiertes Setting; sie findet nicht in einem örtlichen und zeitlichen Sonderraum statt, sondern bildet für eine längere oder kürzere Zeit ein zentrales Element der Alltagswelt der Klienten; ihr Arbeitsmittel sind nicht nur Wort und Deutung, sondern ein breites Arsenal alltagsweltlicher Interaktionsformen, die vom Blick über das Wort, die Handreichung und gemeinsame Unternehmung bis zur körperlichen Berührung reichen; von den zwei Hauptzielen der psychoanalytischen Behandlung hinsichtlich der pathologischen Prozesse eines Patienten, nämlich Unbewusstes bewusst und sprachlich formulierbar zu machen und eine partielle strukturelle Umorganisation zu erreichen, wird nur das zweite auch in der Psychoanalytischen Sozialarbeit gezielt und explizit angestrebt. Bei Jugendlichen besteht die Besonderheit, dass sie sich in der Regel noch in einem Stadium lebhafter Entwicklung befinden, die in eine günstigere Richtung als zuvor gelenkt werden soll. Natürlich ist es wünschenswert, dass sie wie alle Klienten der Psychoanalytischen Sozialarbeit auch einen höheren Grad an Bewusstheit für ihre Handlungen, Impulse und Inszenierungen erreichen, aber diese Bewusstheit systematisch durch Deutungen zu entwickeln wie in der psychoanalytischen Behandlung ist nicht Teil der alltäglichen Betreuung; dies kann in der eventuell zur Gesamtbetreuung gehörenden zusätzlichen Psychotherapie, die außerhalb der Wohngruppe in einem deutlich abgesetzten Rahmen durchgeführt wird, angestrebt werden.
Viele jugendliche Klienten der Psychoanalytischen Sozialarbeit verfügen nur eingeschränkt über kommunikativ bedeutsame Ich-Funktionen wie Impulskontrolle, Abstraktionsfähigkeit und Sublimierung. Auch höhere Symbolisierungsleistungen wie Sprache, Schrift, Spiel und die Einhaltung sozialer Regeln sind oft unvollkommen vorhanden, weil basale psychische Funktionen der Symbolisierung und Mentalisierung unvollständig ausgebildet sind. Sie bei ihnen auf einen reiferen Stand zu bringen wird damit zur zentralen Entwicklungsaufgabe der psychoanalytischen Sozialarbeit. Auch bei Erwachsenen können diese psychischen Funktionen durch eine bei psychischen Erkrankungen regelmäßig vorhandene, oft schwer wiegende seelische Regression vorübergehend eingeschränkt sein.
Regressive Zustände oder Entwicklungsrückstände zu überwinden ist oft nicht ohne fachliche Psychotherapie möglich. Ebenso wichtig ist, dass die Klienten in ihrem Alltag die zwar offene und spontane, aber dennoch nicht naive Antwort auf ihre affektiven und impulsiven Äußerungen erleben. Naiv meint hier unreflektiert und eindimensional, also ohne Berücksichtigung des Kontextes, der eigenen Verfassung und der unausgesprochenen Bedeutung der Äußerung. Psychoanalytische Sozialarbeiter benötigen eine reflexive Verarbeitungsfähigkeit für die inneren Nöte ihrer Klienten und die damit verbundenen Affekte.
Die reflektierte Antwort ist nur bei einem Mindestmaß an Selbstreflexion möglich. Gerade in affektiv aufgeladenen Situationen geht die Selbstreflexion am ehesten verloren, aber sie kann nachgehend wieder hergestellt werden. Eine wesentliche Hilfe dabei liefert Supervision, also das Gespräch mit einem unbeteiligten Dritten über die Abläufe und Prozesse mit den Klienten. Supervision ist nicht nur eine Veranstaltung zur Aufdeckung nicht wahrgenommener interpersoneller und institutioneller Prozesse, sondern eben auch eine Methode zur Herstellung einer reflexiven Distanz zum eigenen Tun.
Die Auswirkungen dieser reflexiven Distanz auf die Klienten liegen vermutlich auf zwei Ebenen: Zum einen kann der psychoanalytische Sozialarbeiter situativ ein trianguläres Element einführen, indem er mit dem Klienten interagiert und gleichzeitig diese Interaktion beobachtet. Es ist eine Form der therapeutischen Ich-Spaltung (Sterba 1934). Sie ermöglicht ihm, heftige Affektäußerungen aufzunehmen und in einer verarbeiteten Form zu beantworten. Zum anderen kann sich der Klient mit dieser reflektierten Haltung und umwandelnden Antwort, der Alpha-Funktion in der Sprache Bions, identifizieren. Im günstigen Fall führt so nicht nur die eigentliche Therapie, sondern auch die entwicklungsfördernde Betreuung zur differenzierenden Ausgestaltung der inneren Objektwelt des Klienten durch neue Identifizierungen, die ihm eine bessere Integration seiner Affekte und Impulse ermöglichen.
Psychoanalytische Sozialarbeit ist eine anspruchsvolle und voraussetzungsvolle Form der Sozialen Arbeit. Sie kann in der Regel nicht in der Einzelbetreuung, sondern besser in einer organisierten Form in Kleininstitutionen durchgeführt werden. Kleine Institutionen erlauben eine institutionelle Flexibilität, die größere und große Institutionen nicht mehr zulassen; in diesen setzt sich immer eine institutionelle Eigendynamik durch, die die empfindsame und irritierbare psychoanalytische Atmosphäre stört oder gar zerstört.
Zur psychoanalytischen Atmosphäre gehören Offenheit, Geduld, Verstehen, Akzeptieren. Offenheit ist nötig für die eigenständige Entwicklung der Klienten, sie bedeutet Verzicht auf vorangestellte Pläne, die zu erfüllen sind, stattdessen die Bereitschaft, unerwartete Entwicklungen zuzulassen. Oft ist viel Geduld erforderlich für die Erringung von Klarheit und Sicherheit bei Entscheidungen, d. h. die Überwindung von Ambivalenz braucht viel Zeit, die den Klienten der psychoanalytischen Sozialarbeit zugestanden werden muss. Zeit benötigen sie auch, um defizitäre psychische Funktionen wie die der Symbolisierung und Mentalisierung zu entwickeln. Sie brauchen ein Verstehen ihrer Konflikte, Ängste, Defizite und Symptome, um über das Verstehen des psychoanalytischen Sozialarbeiters sich selbst verstehen zu können; verstanden werden müssen aber auch die oft anstrengenden und verwickelten Interaktionen, die nicht selten unbewusst gerade zur Verschleierung von Zusammenhängen so kompliziert angelegt sind. Das Verstehen kann häufig erst nach langer Zeit erreicht werden, wobei zunächst ein unverstandenes Verhalten über längere Zeit akzeptiert worden sein muss. Dies wird von den Klienten wie ein Akzeptieren ihrer selbst erlebt, eine Erfahrung, die sie vielfach nur in Ansätzen haben machen können, die aber für ihr Selbstwertgefühl von großer Bedeutung ist.
Psychoanalytische Sozialarbeit braucht ferner eine systematische Reflexion der Arbeit. Sie erfolgt insbesondere in der Supervision (Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit 1994, Hechler 2005, vgl. auch Kapitel 13). Supervision beabsichtigt in der Arbeit mit Klienten, die so ernste Störungen wie die hier zur Diskussion stehenden aufweisen, nicht nur die fachliche Beratung und Korrektur, sondern vorrangig die Durchleuchtung verwickelter Interaktionen, zu denen auch die psychoanalytischen Sozialarbeiter beitragen. Sie reagieren auf die kommunikativen Angebote der Klienten sehr persönlich und individuell. Die Supervision wird so auch ein Ort, diese persönlichen Berührungen zu thematisieren und vielleicht zum Ausgangspunkt einer weitergehenden Selbsterforschung zu machen. Wegen der Dichte der interpersonellen Prozesse im alltäglichen Zusammenleben wird jeder psychoanalytische Sozialarbeiter in Grenzbereiche seiner Kommunikationsmöglichkeiten gelangen. Ohne Zweifel ist unter diesen Umständen eine persönliche Analyse ausgesprochen hilfreich. Supervision dient schließlich der Stabilisierung des Teams der Mitarbeiter, da die Klienten mit der Art ihrer Störungen zu Externalisierungen neigen, ihre inneren Probleme und Konflikte also im Umfeld ausagieren. Wenn das nicht erkannt wird, übernehmen Teammitglieder verschiedene Rollen innerer Objekte der Klienten und tragen deren Konflikte jetzt im äußeren Feld aus. Die Teamspaltungen in psychiatrischen Institutionen sind bekannt, sie belegen die unbewussten Identifikationen mit inneren Objekten der Patienten (vgl. Becker 1995).
Die persönliche Analyse, obwohl in der psychoanalytischen Sozialarbeit empfehlenswert, ist dennoch Angelegenheit jedes Einzelnen. Die organisierte Supervision mit der Möglichkeit zur Reflexion dagegen ist Angelegenheit der Institution. Sie muss diese Möglichkeit zum festen Bestandteil der Arbeit machen. Die regelmäßige Supervision in der Institution ist eine Entsprechung zur systematischen Analyse der Gegenübertragung in der psychoanalytischen Einzelbehandlung, die ja im Übrigen auch oft im Rahmen einer Supervision oder Intervision erbracht wird. Die Supervision verhindert auch die institutionelle Gegenübertragungsreaktion, die etwa einen ›Störenfried‹ aus der Einrichtung ausschließen oder zum Sündenbock für fehllaufende Prozesse erklären will.
Die heutigen Formen der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik haben Vorläufer. Es sind Regelungen der Existenzsicherung durch eine politische oder soziale Gemeinschaft, die diese Aufgabe übernahm, als die primären Gruppen wie Familien, Clans oder Stämme, in denen die Menschen ursprünglich zusammenlebten, sie durch einen Wandel der Lebensformen nicht mehr erfüllen konnten. Es entstand ein – wenn auch lange sehr unvollkommenes – öffentliches System einer existenzsichernden Fürsorge, die allerdings über einen langen Zeitraum kaum anderes als das Überleben sichern sollte. Die Psychoanalytische Sozialarbeit ist darin eine historisch junge Erscheinung, die sich erst nach dem Entstehen der Psychoanalyse um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickeln konnte. Als ihr Geburtsjahr kann das Jahr 1925 mit zwei Veröffentlichungen bezeichnet werden: Den Büchern »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« von Siegfried Bernfeld (1925) und »Verwahrloste Jugend« von August Aichhorn (1925).
Die Anfänge einer Erwachsenenfürsorge finden sich in der Armenfürsorge des Mittelalters, die Anfänge einer Jugendfürsorge in der mittelalterlichen Fürsorge für Findel- und Waisenkinder (Schilling 2005, Erler 2007). Die Armenfürsorge war in starkem Maße religiös begründet. In der christlichen Lehre des Mittelalters wurde Armut positiv bewertet. Thomas von Aquin gab im Mittelalter mit seiner Almosenlehre eine theologische Begründung für den Wert und die Notwendigkeit der Armut. Sie ermöglichte nach seiner Auffassung reichen Sündern, durch ein Almosen für die Armen Buße zu tun und so eine Genugtuung für ihre Sünden zu erreichen.
Am Beginn der Neuzeit, im 14. bis 16. Jahrhundert, erfuhren Armut und Bettelei eine Umwertung. Mit einer sich herausbildenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung und einer ihr entsprechenden protestantischen Ethik (Weber 1904) galt jetzt Arbeit und der mit ihr erworbene Reichtum als Gott gewollt. Arme wurden jetzt versorgt, wenn sie sich den Unterhalt durch Arbeit verdienten. Es entwickelten sich neue Einrichtungen in den Städten, die Zucht- und Arbeitshäuser, die ganz unterschiedliche Gruppen von gesellschaftlichen Außenseitern aufnahmen. Mit fortschreitenden wirtschaftlichen Veränderungen, insbesondere im Gefolge der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert, verbunden mit einem gewaltigen Wachstum der Bevölkerung und einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, wuchs die Zahl der Armen und Hilfsbedürftigen insbesondere in den Städten, so dass dort ein System der Armenfürsorge entwickelt werden musste. Ging es anfangs noch darum, Arme für ihre zum Teil erzwungene Arbeit zu unterstützen, entwickelte der preußische Staat unter der Führung Bismarcks im 19. Jahrhundert die Grundlagen für eine Sozialgesetzgebung.