Ken Follett, geboren 1949 in Cardiff Wales, arbeitete nach dem Studium zunächst als Zeitungsreporter. Mit dem Spionagethriller Die Nadel (1979) schaffte er den Durchbruch als Schriftsteller. Seinen größten Erfolg feierte er mit dem Weltbestseller Die Säulen der Erde (1990), das bei der Wahl der Lieblingsbücher der Deutschen 2001 im ZDF den dritten Platz belegte. Neben seinem Interesse für Geschichte engagiert sich Ken Follett auch politisch; seine Frau Barbara gehörte als Labour-Abgeordnete dem britischen Unterhaus an. Außerdem spielt er zum Vergnügen Bassgitarre in einer Bluesband und setzt sich im Rahmen einer Stiftung für die Leseförderung ein.
DIE SPUR
DER
FÜCHSE
Aus dem Englischen von
Wolfgang Neuhaus
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischen Originalausgabe: Paper Money
© für die deutschsprachige Ausgabe 1996 by
Bastei Lübbe AG. Köln
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel, punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von shutterstock/iofoto; shutterstock/r.nagy; shutterstock/Ulza; shutterstock/Bartosz Zakrzewski
Datenkonvertierung E-Book: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-2253-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Dieser Roman wurde 1976 geschrieben, kurz vor meinem Thriller Die Nadel, und ich halte Die Spur der Füchse für den besten meiner nicht so bekannten Romane. Wie auch Der Modigliani-Skandal, wurde er unter dem Pseudonym »Zachary Stone« veröffentlicht, denn die Romane ähneln sich: In beiden gibt es keine Hauptfigur; stattdessen werden verschiedene Gruppen von Protagonisten vorgestellt, deren Einzelgeschichten ineinander verwoben sind und die einen gemeinsamen romanhaften Höhepunkt erleben.
In Die Spur der Füchse sind diese Verbindungen weniger zufällig als in Der Modigliani-Skandal, denn der Roman soll zeigen, auf welch korrupte Weise das Verbrechen, die Hochfinanz und der Journalismus miteinander verknüpft sind. Außerdem fällt der Schluss dieses Romans im Vergleich zu Der Modigliani-Skandal ziemlich düster aus; man könnte ihn beinahe schon als Tragödie bezeichnen.
Doch am aufschlussreichsten sind die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Die Spur der Füchse und Die Nadel. (Leser, die sofort den Kuchen möchten, nicht erst das Rezept, sollten diese Vorbemerkung übergehen und sich sofort Kapitel 1 zuwenden.) Der Plot von Die Spur der Füchse ist der raffinierteste, den ich mir jemals ausgedacht habe, doch die Verkaufszahlen dieses Romans haben mich davon überzeugt, dass raffinierte Plots den Autoren größere Befriedigung verschaffen als den Lesern. Die Handlung von Die Nadel ist vergleichsweise unkompliziert; im Grunde kann man sie in drei Absätzen niederschreiben – wie ich es tatsächlich getan habe, als ich zum ersten Mal über diesen Roman nachdachte. In Die Nadel gibt es nur drei oder vier wichtige Figuren, in Die Spur der Füchse hingegen ungefähr ein Dutzend. Doch trotz seines komplexen Handlungsgefüges und der Vielzahl der Personen ist Die Spur der Füchse nur halb so umfangreich wie Die Nadel. Als Schriftsteller musste ich stets gegen die Neigung ankämpfen, mich allzu knapp zu fassen, und in Die Spur der Füchse habe ich diesen Kampf verloren. Demzufolge sind die vielen Protagonisten in raschen, flüchtigen Pinselstrichen gezeichnet, und es mangelt ein wenig an der starken inneren Beziehung des Verfassers zu Leben und Schicksal seiner Figuren, wie Leser es bei einem Bestseller erwarten.
Eine der Stärken des Romans ist seine Form. Die Handlung beschränkt sich auf einen einzigen Tag im Leben einer Londoner Abendzeitung (1973/74 habe ich selbst für eine solche Zeitung gearbeitet). In jedem Kapitel wird eine Stunde dieses Tages in drei oder vier Abschnitten geschildert; in diesen Abschnitten wiederum wird beschrieben, was sich sowohl in der Redaktion als auch außerhalb ereignet. Mit anderen Worten: Ich erzähle die Geschichten, über die von der Zeitung berichtet wird (sofern die Zeitung sie mitbekommt), wie auch die Geschichten, die sich in der Zeitungsredaktion abspielen.
In Die Nadel ist der inhaltliche Aufbau sogar noch strenger, was meines Wissens noch niemandem aufgefallen ist: Der Roman besteht aus sechs Teilen mit jeweils sechs Kapiteln (bis auf den letzten Teil, der sieben Kapitel aufweist). Der erste Teil eines jeden Kapitels beschäftigt sich mit dem Spion, der zweite mit seinen Jägern; so geht es weiter bis zum jeweils sechsten Kapitel, in dem stets von den internationalen militärischen Konsequenzen der zuvor geschilderten Ereignisse erzählt wird. Den Lesern fällt so etwas kaum auf – und warum auch? Ich bin der Meinung, dass diese Regelmäßigkeit, ja Symmetrie der Form, zu einem Ergebnis führt, das der Leser – auch ohne sich bestimmter Muster bewusst zu sein – als gut erzähl« Geschichte aufnimmt.
Das zweite gemeinsame Merkmal von Die Spur der Füchse und Die Nadel ist die Vielzahl der Nebenfiguren – Huren, Diebe, geistig zurückgebliebene Kinder, Arbeiterfrauen und einsame alte Männer. In späteren Romanen bin ich anders verfahren, denn ein solches Konzept lenkt von den Hauptfiguren und deren Geschichten ab. Dennoch frage ich mich häufig, ob ich dabei nicht zu schlau sein möchte.
Was die Verbindungen von Verbrechen, Hochfinanz und Journalismus angeht, bin ich mir heute nicht mehr so sicher wie 1976. Aber ich glaube, der vorliegende Roman ist auf eine andere Weise lebensnah: Er zeigt ein detailliertes Bild Londons, wie ich es aus den Siebzigerjahren kenne, mit seinen Polizisten und Ganoven, Bankern und Callgirls; mit seinen Läden und seinen Slums, seinen Straßen und seinem Fluss. Ich habe dieses London geliebt, und ich hoffe, auch Sie werden es lieben.
06.00 UHR
Es war die glücklichste Nacht in Tim Fitzpetersons Leben.
Dies war auch sein erster Gedanke, als er die Augen aufschlug und das Mädchen sah, das neben ihm im Bett lag und schlief. Aus Angst, sie zu wecken, bewegte Tim sich nicht, schaute sie aber im kalten, klaren Licht der Morgendämmerung über London beinahe verstohlen an. Sie lag auf dem Rücken, so vollkommen entspannt wie ein kleines Kind. Tim wurde an seine Tochter Adrienne erinnert, als sie noch ein Baby gewesen war, und rasch verdrängte er diesen unwillkommenen Gedanken.
Das Mädchen neben ihm hatte kurzes rotes Haar, das wie eine Mütze auf ihrem kleinen Kopf saß und ihre winzigen Ohren frei ließ. Alles in ihrem Gesicht war klein: Nase, Kinn Wangenknochen, die ebenmäßigen Zähne. Einmal, in der Nacht, hatte Tim mit seinen breiten, plumpen Händen ihr Gesicht betastet und seine Finger behutsam auf ihre Wangen gedrückt, hatte ihr übers Haar gestreichelt und ihre Lippen sanft mit den Daumen geöffnet, als könnte seine Haut ihre Schönheit spüren wie die Hitze eines Feuers.
Tims linker Arm ragte schlaff unter der Bettdecke hervor die so weit heruntergezogen war, dass die schmalen Schultern und eine Brust des Mädchens zu sehen waren; jetzt, im Schlaf war die Brustwarze weich und flach.
Tim und das Mädchen lagen dicht nebeneinander, ohne sich zu berühren, doch er konnte die Hitze ihres Oberschenkels an dem seinen spüren. Er nahm den Blick von ihr und starrte an die Decke, und für einen Augenblick genoss er den wohligen Schauder verbotener Lüste, als er an den ehebrecherischen Beischlaf letzte Nacht dachte.
Dann stand er auf.
Er verharrte neben dem Bett und schaute auf das Mädchen. Sie schlief noch immer friedlich. Selbst im klaren Licht des frühen Morgens sah sie hübsch aus, trotz ihres zerwühlten Haares und der verwischten Überbleibsel eines einstmals kunstvollen Make-ups im niedlichen Gesicht.
Tim wusste, dass das Morgenlicht mit ihm selbst nicht so rücksichtsvoll umging. Deshalb hatte er versucht, das Mädchen nicht zu wecken: Er wollte erst einen Blick in den Spiegel werfen, bevor sie ihn zu Gesicht bekam.
Nackt schlurfte Tim über den stumpfgrünen Wohnzimmerteppich ins Bad. Für einen flüchtigen Moment sah er die Wohnung mit den Augen eines Fremden, der sie zum ersten Mal betritt, und er fand sie hoffnungslos trist: Da waren das Sofa – von einem noch stumpferen Grün als der Teppich –, auf dem verblassende, geblümte Kissen lagen; der schmucklose Schreibtisch aus Holz, wie man ihn in Millionen Büros zu sehen bekam; der Schwarz-Weiß-Fernseher älteren Modells; der Aktenschrank und das Bücherregal, auf dem juristische und wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher sowie mehrere Bände der amtlichen britischen Parlamentsprotokolle standen. Tim hatte sich diese kleine Zweitwohnung in London vor längerer Zeit zugelegt, doch erst letzte Nacht hatte sie sich endlich bezahlt gemacht.
Das Badezimmer besaß einen mannshohen Spiegel. Nicht Tim hatte ihn gekauft, sondern seine Frau Julia – damals, in den alten Zeiten, bevor Julia sich völlig aus dem Großstadtleben zurückgezogen hatte. Tim drehte den Warmwasserhahn auf und blickte in den Spiegel, während er darauf wartete, dass die Wanne volllief. Er fragte sich, was an dem Körper mittleren Alters dran sein mochte, den er nun im Spiegel sah. Wie konnte ein solcher Körper ein bildschönes Mädchen von – hm, fünfundzwanzig Jahren? – in eine so rauschhafte Lust versetzen? Tim war gesund, aber nicht fit – jedenfalls nicht in dem Sinne, wie dieser Begriff zumeist benutzt wird: um einen schlanken, durchtrainierten Mann zu bezeichnen, der Sport trieb und Fitnessstudios besucht. Tim war klein, und sein von Natur aus untersetzter Körper wirkte der überflüssigen Fettpolster wegen – besonders an Brust, Hüften und Gesäß – noch gedrungener. Für einen Mann von einundvierzig Jahren war seine Konstitution zwar in Ordnung, doch was den Sex betraf, war er, wie er wusste, weiß Gott keine Offenbarung.
Der Spiegel beschlug vom Wasserdampf, und Tim stieg in die Wanne. Er aalte sich im heißen Wasser, bettete den Kopf an die Wandung und schloss die Augen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er weniger als zwei Stunden geschlafen hatte; dennoch fühlte er sich einigermaßen ausgeruht. In seinem konservativen Elternhaus hatte man ihn gelehrt, dass Schmerz und Unbehagen, wenn nicht sogar Krankheiten, Folgeerscheinungen von langen Nächten, Tanzen, Ehebruch und starken Drinks seien. Und alle diese Sünden auf einen Streich zu begehen, wie in Tim Fitzpetersons Fall, hätte eigentlich den Zorn Gottes auf den Frevler herabbeschwören müssen.
Doch weit gefehlt: Für Tim war der Lohn der Sünden ungetrübte Freude. Träge seifte er sich ein und dachte an den gestrigen Abend zurück. Die ganze Geschichte hatte bei einem dieser grässlichen Dinner begonnen: Grapefruit-Cocktails und übergare Steaks und Überraschungseisbombe ohne Überraschung für dreihundert Mitglieder einer überflüssigen Organisation. Tims Rede war nur einer von vielen Erklärungsversuchen zur derzeitigen Regierungspolitik gewesen, deren Sinn und Zweck ohnehin niemand nachvollziehen konnte, wenngleich Tim seine Rede emotional befrachtet hatte, um sich des besonderen Wohlwollens der Zuhörerschaft zu versichern. Nach Ende der Veranstaltung hatte er sich einverstanden erklärt, mit einem seiner Kollegen – einem begabten jungen Wirtschaftswissenschaftler im Regierungsdienst – und zwei halbwegs interessanten Leuten aus der Zuhörerschaft auf einen Drink in ein nettes Lokal zu gehen.
Das nette Lokal erwies sich als Nachtclub, der für Tims Geschmack normalerweise zu teuer gewesen wäre, aber jemand hatte bereits das Eintrittsgeld bezahlt. Und als Tim erst mal drinnen war, hatte er sich herrlich amüsiert – so herrlich, dass er mit seiner Kreditkarte eine Flasche Champagner bestellte. Weitere Personen hatten sich zu ihrer kleinen Partyrunde gesellt: der leitende Angestellte einer Filmgesellschaft, von dem Tim flüchtig gehört hatte; ein Stückeschreiber, von dem er noch nie gehört hatte; ein politisch links orientierter Wirtschaftsfachmann, der mit trockenem Lächeln Hände schüttelte und sorgsam vermied, über die Arbeit zu reden. Und schließlich waren da die Mädchen gewesen.
Der Champagner und die Bühnenshow brachten Tim ziemlich auf Touren. In den alten Zeiten hätte er sich irgendwann seine Julia geschnappt, wäre mit ihr nach Hause gefahren und hätte mit ihr geschlafen – wild und hastig und lustbetont. Hin und wieder gefiel Julia diese Art von Sex. Aber jetzt kam sie ja nicht mehr nach London, und Tim besuchte für gewöhnlich keine Nachtclubs.
Die jungen Damen in der Bar waren den Herren nicht vorgestellt worden. Tim fing ein Gespräch mit dem Mädchen an, das ihm am nächsten saß, einer schlanken, flachbrüstigen Rothaarigen in einem langen Kleid von blasser Farbe. Sie sah wie ein Model aus, behauptete aber, Schauspielerin zu sein. Tim hatte damit gerechnet, dass dieses Mädchen ihn langweilte und dass sie entsprechend gelangweilt auf ihn reagierte. Doch bald schon spürte er, dass diese Nacht etwas Besonderes werden würde: Das Mädchen schien von ihm fasziniert zu sein.
Das innige Gespräch zwischen Tim und der Rothaarigen isolierte die beiden nach und nach von den anderen Teilnehmern der Party, bis jemand den Vorschlag machte, in einen anderen Club weiterzuziehen – worauf Tim sofort erklärte, dass er nach Hause wolle. Doch die Rothaarige packte seinen Arm und bat ihn, mit ihr zu gehen. Tim, der seit zwanzig Jahren keiner hübschen jungen Frau mehr den Hof gemacht hatte, war auf der Stelle einverstanden.
Als er nun aus der Badewanne stieg, fragte er sich, worüber er sich eigentlich so lange mit dem Mädchen unterhalten hatte. Die Arbeit eines Staatssekretärs im Energieministerium konnte man schwerlich als geeignetes Thema für eine lockere Cocktailpartykonversation bezeichnen, und sofern es sich nicht um technische Dinge handelte, war es ohnehin eine streng vertrauliche Angelegenheit. Wahrscheinlich, ging es Tim durch den Kopf, haben wir ganz allgemein über Politik geredet.
Hatte er pikante Anekdoten über hochrangige Politiker erzählt in dem trockenen Tonfall, der für ihn die einzige Möglichkeit war, sich humorvoll zu geben? Tim konnte sich nicht mehr erinnern. Er wusste nur noch, wie das Mädchen dagesessen hatte. Fast jeder Körperteil war hingebungsvoll ihm zugewandt: Kopf, Schultern, Knie, Füße – eine Körperhaltung, die gleichermaßen komisch, veralbernd und intim aussah.
Tim wischte den Wasserdampf vom Rasierspiegel und rieb sich prüfend übers Kinn. Er hatte sehr dunkles Haar, und sein Bart, falls er ihn sprießen ließe, wäre dicht und struppig. Der Rest seines Gesichts war – milde ausgedrückt – durchschnittlich. Das Kinn war zu kurz, die Nase spitz, und zu beiden Seiten des Nasenrückens befanden sich zwei weiße Punkte, wo seit fünfunddreißig Jahren das Gestell einer Brille ruhte. Der Mund war zwar nicht klein, aber ein bisschen verkniffen, die Ohren waren zu groß, und die Stirn war intellektuell hoch.
Ein Gesicht, in dem nichts zu lesen war, weil es nichts zu lesen gab. Ein Gesicht, das darauf trainiert war, Gedanken zu verbergen, statt Gefühle zu zeigen.
Tim schaltete den Elektrorasierer an, zog eine Grimasse, um die gesamte linke Wange ins Blickfeld zu bekommen, und begann mit der Rasur.
Hässlich war er nicht gerade. Manche Mädchen fuhren auf hässliche Männer ab, hatte er sich sagen lassen – ob derartige Verallgemeinerungen über Frauen zutrafen, konnte er aus Mangel an Erfahrung nicht beurteilen –, doch Tim Fitzpeterson passte nicht einmal in diese zweifelhaft beneidenswerte Kategorie von Männern. Vielleicht war es an der Zeit, sich einmal wieder Gedanken darüber zu machen, zu welcher Kategorie er denn zählte.
Der zweite Club, den sie am vergangenen Abend besucht hatten, gehörte zu jenen Etablissements, die Tim niemals freiwillig aufsuchen würde. Er war kein Musikliebhaber, und falls er einer gewesen wäre – eine Schallplatte mit diesem ohrenbetäubenden, rhythmisch stampfenden Lärm, der jede Unterhaltung wie ein Schwarzes Loch verschluckte, hätte er niemals in seine Plattensammlung aufgenommen. Dennoch hatte er zu der Musik getanzt – dieses ruckende, zuckende, exhibitionistische Gehüpfe, das in diesem Schuppen gang und gäbe zu sein schien. Es hatte Tim sogar Spaß gemacht, und vermutlich hatte er sich ganz wacker geschlagen; denn ihm waren keine mitleidigen oder erheiterten Blicke seitens der anderen Gäste aufgefallen, wie er befürchtet hatte. Vielleicht war es ihm erspart geblieben, weil viele Gäste in seinem Alter gewesen waren.
Der Discjockey, ein bärtiger junger Mann in einem T-Shirt, auf das – ein für Tim unfassbarer Fauxpas – die Worte »Harvard Business School« aufgedruckt waren, legte irgendwann eine sehr langsame Ballade auf, die offenbar von einem Amerikaner mit schleppendem Südstaatenakzent gesungen worden war, der sich eine schwere Erkältung zugezogen hatte. Tim und das Mädchen waren gerade auf der kleinen Tanzfläche gewesen, als die Musik einsetzte. Das Mädchen hatte sich an ihn geschmiegt und ihm die Arme um den Hals gelegt. Da hatte Tim gewusst, dass sie mit ihm ins Bett gehen wollte und dass er sich nun entscheiden musste, ob auch er Lust hatte, mit ihr zu schlafen. Als er ihren kleinen, heißen Körper spürte, der wie ein nasses Handtuch an ihm hing, traf Tim diese Entscheidung sehr, sehr schnell. Er senkte den Kopf – das Mädchen war ein bisschen kleiner als er – und murmelte ihr ins Ohr: »Komm mit zu mir, ja? Wir trinken noch ’nen Schluck in meiner Wohnung.«
Im Taxi hatte er sie dann geküsst – so etwas herrlich Verderbtes hatte er seit vielen Jahren nicht mehr getan. Der Kuss war lüstern und gierig gewesen, wie der Kuss in einem schwülen Traum, und Tim hatte dabei die Brüste des Mädchens betatscht, die so wundervoll klein und fest unter dem dünnen Stoff ihres Kleides waren, und sie hatte an seinem Hosengürtel genestelt – und schließlich hatten beide sich kaum noch beherrschen können, bis sie in Tims Wohnung waren.
Zu dem versprochenen Drink war es gar nicht erst gekommen. Wir müssen in weniger als einer Minute ausgezogen und im Bett gewesen sein, dachte Tim selbstgefällig, als er nun die Rasur beendete und nach dem Rasierwasser Ausschau hielt. Im Wandschrank stand noch eine alte Flasche, und er rieb sich die Wangen ein.
Dann ging er zurück ins Schlafzimmer. Das Mädchen schlummerte immer noch friedlich. Tim nahm die Zigarettenschachtel aus seiner Anzugjacke und setzte sich in einen Stuhl am Fenster. Ich war richtig klasse im Bett, dachte er, musste sich dann aber widerwillig eingestehen, dass er sich selbst etwas vormachte: Das Mädchen war die Aktive gewesen, die Kreative. Nur ihrer Initiative war es zu verdanken gewesen, dass Tim im Bett Dinge getan hatte, die er sich mit Julia – selbst nach fünfzehn Ehejahren – nicht einmal hätte vorstellen können.
Julia. Tim starrte blicklos aus dem Fenster der Wohnung im ersten Stock, schaute über die schmale Straße hinweg auf die roten Ziegelsteinmauern des Viktorianischen Schulgebäudes und seinem kläglichen Hof mit den verblassenden gelben Linien eines Korbballfeldes. Was Julia betraf, hatten Tims Gefühle sich nicht geändert: Falls er sie gestern geliebt hatte, liebte er sie heute noch immer. Das mit dem Mädchen war schließlich eine ganz andere Sache. Aber redeten Dummköpfe sich nicht genau das ein, bevor sie sich in eine Affäre stürzten?
Nur nichts übereilen, ermahnte er sich. Für das Mädchen war die vergangene Nacht vielleicht nur ein einmaliges Gastspiel gewesen. Und Tim konnte sich nicht vorstellen, als Liebhaber einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben. Dennoch wollte er das Mädchen fragen, ob es mit ihnen beiden weitergehen könne, und welche Möglichkeiten es da gab. In diesem Fall musste er sich allerdings zuvor darüber klar werden, was seine Ziele und Wünsche waren. Aber das war kein allzu großes Problem. Die Arbeit im Dienste der Regierung hatte Tim gelehrt, sich vor jedem wichtigen Gespräch gewissermaßen selbst einzuweisen.
Wenn er sich mit komplizierten Sachverhalten auseinandersetzen musste, hatte Tim eine bestimmte Standardverfahrensweise entwickelt, und die wandte er jetzt an. Frage eins: Was habe ich zu verlieren?
Julia. Schon wieder. Die pummelige, kluge, stets zufriedene Julia, deren geistiger Horizont jedoch mit jedem Jahr ihrer Mutterschaft unaufhaltsam geschrumpft war. Es hatte eine Zeit gegeben, da Tim seine Frau auf Händen trug: Er hatte ihr jedes Kleid gekauft, das ihr gefiel; er hatte Romane gelesen, weil Julia sich für Romane interessierte, und er hatte sich umso mehr über seine politischen Erfolge gefreut, wenn auch Julia sich darüber gefreut hatte.
Doch nach und nach hatte der Schwerpunkt seines Lebens sich verlagert. Bald beherrschte Julia nur noch die unbedeutenden Dinge. Sie wollte in Hampshire wohnen, und weil es Tim im Grunde egal war, wohnten sie jetzt dort. Sie wollte, dass er karierte Jacken trug, doch der Westminster-Schick verlangte nüchtern-elegante Anzüge; deshalb trug Tim nun dunkle, kleinkarierte Anzüge in Grau und Tiefblau.
Je länger er seine Gefühle analysierte, desto deutlicher erkannte er, dass nicht mehr allzu viele Bindungen zu Julia bestanden. Ein bisschen nostalgische Rührseligkeit vielleicht, und ein verblassendes Bild von ihr waren geblieben: Julia mit ihrem Pferdeschwanz, wie sie in einem engen Kleid den Swing tanzte. War das Liebe? Tim hatte seine Zweifel.
Und seine Töchter Katie, Penny und Adrienne? Quatsch, das war eine ganz andere Sache. Nur Katie war alt genug, um Begriffe wie Liebe und Ehe begreifen zu können. Und die Kinder bekamen ihren Vater ohnehin nicht allzu oft zu sehen, denn Tim war der Meinung, dass auch ein bisschen Vaterliebe eine große Hilfe sein konnte. Auf jeden Fall war es besser, als gar keinen Vater zu haben. In dieser Hinsicht gab es keine Diskussionen. Tims Meinung stand fest.
Und dann war da noch seine Karriere. Eine Scheidung mochte einem Staatssekretär keinen großen Schaden zufügen, doch einen Mann in höherem Amt konnte eine Scheidung ins Verderben stürzen. Einen geschiedenen Premierminister hatte es noch nie gegeben, und genau auf diesen Job hatte Tim Fitzpeterson es abgesehen.
Insofern hatte er sehr viel zu verlieren – im Grunde genommen alles, was ihm lieb und teuer war. Tim wandte den Blick vom Fenster ab und schaute zum Bett hinüber. Das Mädchen hatte sich auf die Seite gedreht, das Gesicht von Tim abgewandt. Der Kurzhaarschnitt stand ihr gut; dadurch kamen ihr schlanker Hals und die schön geformten Schultern besser zur Geltung. Ihre Haut war leicht gebräunt, der Rücken gerade, die Taille schlank – und was darunter war, wurde zurzeit vom zerwühlten Bettlaken verborgen.
Es gibt noch so viel Unentdecktes, dachte Tim. Vergnügen war ein Wort, für das er in seinem bisherigen Leben wenig Verwendung gehabt hatte; jetzt aber drängte es sich machtvoll in seine Gedanken. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so richtig vergnügt hatte, falls überhaupt. Vergnügen? Nein. Zufriedenheit? Ja. Wenn er einen fundierten Bericht verfasst hatte, zum Beispiel; oder wenn er in einer der ungezählten Schlachten in Parlamentsausschüssen oder im Unterhaus einen Sieg davongetragen hatte. Selbst ein gutes Buch oder ein edler Wein konnten ihm Zufriedenheit verschaffen. Aber das rein körperliche, lustvolle Vergnügen, das dieses Mädchen ihm beschert hatte, war etwas Neues für ihn.
Tja, das waren also die Für und Wider. Tims Standardverfahrensweise verlangte nun, sie gegeneinander abzuwägen, um festzustellen, welches das größere Gewicht besaß. Diesmal aber wollte es mit seiner bewährten Methode nicht so recht klappen. Einige von Tims Bekannten behaupteten, dass sie sowieso nichts taugte. Wahrscheinlich hatten sie recht. Vielleicht war es ein Fehler, davon auszugehen, dass Argumente gezählt werden konnten wie Banknoten. Seltsamerweise fiel Tim das Thema einer Philosophievorlesung ein: »Die Irreführung des menschlichen Verstandes durch sprachliche Mittel«. Was ist länger: ein Flugzeug oder ein Einakter? Was ist mir lieber: Zufriedenheit oder Vergnügen?
Bald schwirrte Tim der Kopf. Er stieß ein lautes, zorniges Schnauben aus; dann warf er einen hastigen Blick aufs Bett, um festzustellen, ob er das Mädchen geweckt hatte. Sie schlief noch. Gut.
Draußen auf der Straße, knapp hundert Meter entfernt, hielt ein grauer Rolls-Royce am Bordstein. Niemand stieg aus. Tim schaute sich die Sache genauer an und sah, wie der Fahrer eine Zeitung aufschlug. War der Mann ein Chauffeur, der jemanden abholen sollte? Jetzt, um halb sieben in der Frühe? Oder war er ein Geschäftsmann, der die Nacht durchgefahren und zu früh ans Ziel gelangt war? Tim konnte das Nummernschild nicht lesen, aber er konnte erkennen, dass der Fahrer ein großer Mann war, groß genug, um das Innere des Rolls-Royce so winzig wie das eines Mini-Cooper erscheinen zu lassen.
Tim wandte sich wieder seinem Dilemma zu. Wie machen wir es in der Politik, fragte er sich, wenn wir uns mit zwei machtvollen, aber gegensätzlichen Forderungen konfrontiert sehen? Die Antwort kam sofort: Wir überlegen uns eine Vorgehensweise, die beide Forderungen erfüllen kann – sei es nun tatsächlich oder nur zum Schein. Die Parallelen seines privaten Dilemmas mit dem politischen Alltag waren offensichtlich. Er würde mit Julia verheiratet bleiben und eine Affäre mit dem Mädchen haben. In Tims Augen war dies eine sehr politische Lösung seines Problems, und das gefiel ihm.
Er zündete sich eine Zigarette an und dachte über die Zukunft nach. Es war ein angenehmer Zeitvertreib. Ja, sagte sich Tim, ich werde mit dem Mädchen noch viele weitere Nächte in dieser Wohnung verbringen, und gelegentliche Wochenendurlaube in einem Hotel auf dem Lande; vielleicht ist sogar ein zweiwöchiger Urlaub in südlichen Gefilden drin, an irgendeinem kleinen, verschwiegenen Strand in Nordafrika oder der Karibik. Im Bikini muss das Mädchen umwerfend aussehen.
Angesichts dieser Hoffnungen verblassten andere. Tim war fast geneigt zu glauben, sein ganzes bisheriges Leben verschwendet zu haben; aber er wusste, dass dieser Gedanke dann doch ein bisschen übertrieben war. Verschwendet hatte er sein Leben nicht, doch es kam ihm jetzt so vor, als hätte er seine ganze Jugend damit verbracht, vierteilige Divisionen zu addieren, ohne die Differenzialrechnung entdeckt zu haben.
Er beschloss, mit dem Mädchen über das Problem und dessen Lösung zu reden. Falls sie bezweifelte, dass es eine Lösung gab, würde er ihr Mut machen und sie darauf hinweisen, dass es seine Spezialität war, Kompromisse zu finden.
Aber wie sollte er anfangen? »Schatz, ich möchte noch einmal die Nacht mit dir verbringen. So viele Nächte wie möglich.« Hörte sich ganz gut an. Was würde sie antworten? »Ich auch.« Oder: »Ruf mich unter dieser Nummer an.« Oder: »Tut mir leid, Timmy, ich bin ein Mädchen für eine Nacht.«
Nein, Letzteres bestimmt nicht. Vergangene Nacht hatte es auch dem Mädchen viel zu viel Spaß gemacht – warum, mochte der Teufel wissen. Jedenfalls war er etwas Besonderes für sie. Das hatte sie schließlich gesagt.
Tim erhob sich und drückte die Zigarette aus. Ich gehe jetzt zum Bett, sagte er sich, und dann ziehe ich ganz langsam die Decke von ihr herunter und guck mir ein Weilchen ihren nackten Körper an. Dann lege ich mich neben sie und küsse sie auf den Bauch, und auf die Oberschenkel, und auf die Brüste, bis sie aufwacht. Und dann vernasche ich sie noch einmal.
Er nahm den Blick von dem Mädchen, schaute aus dem Fenster und schwelgte in freudiger Erwartung. Der Rolls-Royce stand immer noch an der Straße; er sah wie ein großer grauer Felsblock aus, der in den Rinnstein gerollt war. Aus unerfindlichen Gründen fühlte Tim sich durch den Wagen gestört. Ach Quatsch, denk nicht mehr daran, sagte er sich und ging zum Bett.
Felix Laski hatte nicht viel Geld, obwohl er ein sehr reicher Mann war. Sein Vermögen steckte in Aktien, Beteiligungen, Immobilien und diversen nebulösen Investitionen, beispielsweise einem zur Hälfte fertiggestellten Drehbuch für einen Spielfilm oder dem Drittelanteil an der Erfindung eines Geräts zur Herstellung von Instantkartoffelchips. Die Zeitungen berichteten gern und oft darüber, dass Laskis Besitztümer – in Bargeld umgewandelt – Abermillionen Pfund ausmachten, und Laski wies ebenso gern und oft darauf hin, dass es praktisch unmöglich sei, seine Reichtümer in Bargeld zu verwandeln.
Felix Laski ging mit flotten Schritten vom Waterloo-Bahnhof in Richtung Innenstadt, denn er vertrat die Ansicht, dass körperliche Trägheit bei Männern seines Alters die Gefahr von Herzattacken heraufbeschwor. Die Sorge um das körperliche Wohlbefinden war in Laskis Fall geradezu lächerlich, denn er war so fit und gesund wie der gesündeste Mann Anfang der fünfzig im Umkreis von einer Meile. Fast einsneunzig groß, mit einer Brust wie der Bug eines Schlachtschiffes, war Laski ungefähr so herzanfallgefährdet wie ein junger Bulle.
Er machte eine ausgezeichnete Figur, als er im kalten, klaren Sonnenlicht des frühen Morgens über die Blackfriars Bridge schritt. Seine Kleidung – vom blauen Seidenhemd bis hin zu den handgefertigten Schuhen – war teuer; gemessen an den Maßstäben der »City«, des Londoner Banken- und Börsenviertels, war Laski ein Dandy. Seine Vorliebe für exklusive Kleidung war darauf zurückzuführen, dass die Männer in dem Dorf, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte, meist Latzhosen aus Baumwolle und Schlägermützen getragen hatten, sodass sein elegantes Outfit Laski immer wieder ein Hochgefühl vermittelte, weil es ihn daran erinnerte, wie weit er es gebracht hatte.
Außerdem gehörte die Kleidung zu seinem Image – dem eines Freibeuters des Londoner Big Business. Laskis Geschäfte waren für gewöhnlich mit Risiken verbunden, oder mit Opportunismus, oder mit beidem, und Laski sorgte zusätzlich dafür, dass seine Geschäfte nach außen hin noch gewagter erschienen, als sie es ohnehin schon waren. Er stand in dem Ruf, den »richtigen Riecher« zu haben; und das war mehr wert als eine eigene Handelsbank.
Von diesem Image hatte Peters sich blenden lassen. Als Laski nun mit forschen Schritten an der St. Paul’s Cathedral vorbei zu ihrem allmorgendlichen Treffpunkt ging, musste er an Peters denken: ein kleiner, beschränkter Bursche, aber ein Fachmann, was das Bewegen von Geldern betraf – nicht auf Konten, sondern handfestes, richtiges Geld: Banknoten und Münzen. Peters arbeitete für die Bank von England, der ultimativen Quelle aller gesetzlichen Zahlungsmittel Großbritanniens. Peters’ Aufgabe bestand darin, sowohl für die Beseitigung als auch für den Druck und das Prägen von Papiergeld und Münzen zu sorgen. Natürlich traf Peters nicht die Entscheidung, was die Summen betraf, die vernichtet oder produziert wurden – das wurde auf einer viel höheren Ebene beschlossen, vermutlich im Kabinett. Aber Peters besaß Insiderwissen. Zum Beispiel wusste er, wie viele Fünfpfundnoten die Barclays Bank benötigte, bevor seine Bosse es wussten.
Laski hatte Peters auf einer Cocktailparty kennengelernt, die anlässlich der Eröffnung eines Verwaltungsgebäudes gegeben worden war, das eine Discountladenkette errichtet hatte. Laski besuchte derartige Veranstaltungen aus einem einzigen Grund: um Leute wie Peters kennenzulernen, die sich eines Tages als nützlich erweisen konnten.
Fünf Jahre nach der Cocktailparty war Peters nützlich geworden. Laski hatte ihn in der Bank angerufen und ihn gebeten, ihm einen Numismatiker zu empfehlen, der ihn beim fingierten Ankauf einiger alter Münzen beraten sollte. Peters erklärte, er selbst wäre Sammler, wenn auch nur in kleinem Maßstab; aber er wäre gern bereit, sich die Münzen anzusehen, falls Laski einverstanden sei. Großartig, erwiderte Laski und sauste los, um die Münzen zu holen. Peters riet ihm, sie zu kaufen. Plötzlich waren sie Freunde.
(Die Münzen wurden zum Grundstock einer Sammlung, deren Wert inzwischen das Doppelte des Kaufpreises betrug, den Laski bezahlt hatte. Dieser Gewinn war zwar nebensächlich, was Laskis eigentliche Absichten betraf; aber nichtsdestoweniger war er stolz darauf.)
Es stellte sich heraus, dass Peters Frühaufsteher war, was zum einen daran lag, dass er ein Morgenmensch war, zum anderen daran, dass Geldbewegungen – die Umlagerung und der Transport von Bargeld – größtenteils morgens stattfanden, sodass Peters den Hauptteil seiner Arbeit bis gegen neun Uhr früh erledigen musste. Laski stellte fest, dass Peters jeden Tag um halb sieben frühstückte, und zwar in einem ganz bestimmten Café, worauf Laski es sich zur Gewohnheit machte, Peters Gesellschaft zu leisten – zuerst gelegentlich, dann regelmäßig. Laski gab vor, selbst ein Frühaufsteher zu sein, und er stimmte in Peters’ Lobeshymnen ein, was die stillen Straßen und die frische Luft am frühen Morgen betraf. In Wahrheit war Laski ein Langschläfer. Doch er war bereit, Opfer auf sich zu nehmen, falls auch nur die vage Möglichkeit bestand, seinen großangelegten Plan in die Tat umzusetzen.
Schwer atmend betrat er das Café. In seinem Alter hatte ein Mann schließlich das Recht auf ein bisschen Erschöpfung, mochte er sich in noch so guter körperlicher Verfassung befinden. Im Innern des Lokals roch es nach Kaffee und frischem Gebäck. Die Wände waren mit Plastiktomaten behangen und wurden von Aquarellen verschönt, welche die italienische Heimatstadt des Cafébesitzers zeigten. Hinter dem Tresen standen eine junge Frau in einem weißen Kittel und ein langhaariger Jugendlicher. Sie häuften Berge von Sandwiches auf, um sich für den Ansturm der Hundertschaften von Büroangestellten zu wappnen, die sich mittags einen Happen mit an den Schreibtisch nahmen. Irgendwo spielte leise ein Radio. Laski schaute sich um und sah, dass Peters bereits an einem Tisch am Fenster saß.
Laski ließ sich eine Tasse Kaffee und ein Leberwurstsandwich geben und setzte sich zu Peters an den Tisch. Peters aß Krapfen; offenbar gehörte er zu den Menschen, die keine Gewichtsprobleme kannten. »Wird ein schöner Tag heute«, sagte Laski. Seine Stimme war tief und wohlklingend, wie die eines Schauspielers, und sein osteuropäischer Akzent war kaum herauszuhören.
Peters sagte: »Ein wunderschöner Tag. Wahrscheinlich kann ich schon um halb fünf in meinem Garten sein.«
Laski nahm einen Schluck Kaffee und betrachtete sein Gegenüber. Peters hatte sehr kurzes Haar und einen kleinen Schnauzer, und sein Gesicht sah verhärmt aus. Er hatte noch gar nicht mit der Arbeit angefangen und dachte jetzt schon an den Feierabend. Was für ein armseliges Leben, dachte Laski und verspürte eine kurze Aufwallung von Mitleid für Peters und all die anderen kleinen, unbedeutenden Männer, für die Arbeit das Mittel war, und nicht der Zweck.
»Aber mir macht die Arbeit Spaß«, sagte Peters, als hätte er Laskis Gedanken gelesen.
Laski ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken. »Aber Ihr Garten macht Ihnen mehr Spaß.«
»Bei einem solchen Wetter, ja. Haben Sie auch einen Garten, Felix?«
»Meine Haushälterin kümmert sich um die Blumenkästen. Ich bin nicht der Typ, der irgendwelchen Hobbys frönt«, erwiderte Laski und fragte sich, warum Peters gezögert hatte, ihn mit dem Vornamen anzureden. Wahrscheinlich ist der Mann dir gegenüber ein bisschen ehrfurchtsvoll, sagte er sich. Gut.
»Sie haben keine Zeit, nicht wahr?«, sagte Peters. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sehr hart arbeiten.«
»Das sagt man mir nach, ja. Aber ich tu’s gern. Wissen Sie, ich ziehe es vor, zwischen sechs Uhr morgens und Mitternacht fünfzigtausend Pfund zu verdienen, als mir im Fernsehen Schauspieler anzusehen, die nur so tun, als würden sie sich gegenseitig umbringen.«
Peters lachte. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass der einfallsreichste Kopf der Londoner Geschäftswelt keine Fantasie hat.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Sie lesen keine Romane, und Sie gehen auch nicht ins Kino, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Sehen Sie? Das ist Ihr schwacher Punkt – Sie können sich nicht in Fiktionen hineinversetzen. Aber das gilt für die meisten unternehmerisch tätigen Menschen. Diese Fantasielosigkeit scheint mit dem gesteigerten geschäftlichen Scharfsinn erfolgreicher Unternehmer einherzugehen, genauso, wie ein Blinder ein gesteigertes Hörvermögen entwickelt.«
Laski verzog das Gesicht. Von Peters analysiert zu werden, brachte ihn in eine nachteilige Position, und das behagte ihm ganz und gar nicht. »Kann schon sein«, murmelte er.
Peters schien Laskis Unbehagen zu spüren. »Die Karrieren großer Unternehmer haben mich immer schon fasziniert«, sagte er versöhnlich.
»Mich auch«, erwiderte Laski. »Aber noch mehr ihr Geld.«
»Was war eigentlich Ihr erster Coup, Felix?«
Laski entspannte sich. Endlich konnte er sich wieder auf gewohntem Boden bewegen. »Woolwich Chemicals, würde ich sagen«, antwortete er. »Ein kleines pharmazeutisches Unternehmen. Nach dem Krieg hatte die Firma eine kleine Ladenkette eröffnet, Apotheken und Drogerien, mit dem Ziel, sich einen Markt für die eigenen Produkte zu sichern. Das Problem bestand allerdings darin, dass diese Leute zwar alles über Pharmazie wussten, aber vom Einzelhandelsgeschäft nicht die leiseste Ahnung hatten – mit dem Ergebnis, dass die Ladenkette den größten Teil der Gewinne des Mutterunternehmens auffraß.
Damals habe ich für einen Börsenmakler gearbeitet. Ich hatte mir ein bisschen Geld auf die Seite gelegt, mit dem ich spekulieren konnte. Tja, da bin ich zu meinem Boss gegangen und habe ihm die Hälfte des Gewinnanteils angeboten, falls er den Deal finanziert. Wir haben das Unternehmen samt Ladenkette gekauft. Die Chemiefabrik haben wir sofort an die ICI weiterverscherbelt und dabei fast den gleichen Preis erhielt, den wir für das gesamte Aktienpaket bezahlt hatten. Dann haben wir die Läden dichtgemacht und sie einen nach dem anderen verkauft – sie befanden sich allesamt in erstklassigen Lagen.«
»Solche Transaktionen werde ich nie begreifen«, sagte Peters. »Wieso waren die Aktien denn so billig, wo die Firma und die Ladenkette doch so viel wert gewesen sind?«
»Weil das Unternehmen rote Zahlen geschrieben hat. Die Woolwich Chemicals hatte seit zwei Jahren keine Dividende mehr ausgeschüttet. Und die Geschäftsleitung hatte nicht den Mumm, den Krempel hinzuschmeißen. Tja, da haben mein Boss und ich es halt getan. Mut ist der entscheidende Punkt – in allen Bereichen des Geschäftslebens.« Laski biss herzhaft in sein Sandwich.
»Das ist wirklich faszinierend«, sagte Peters und blickte auf die Uhr. »Tja, ich muss jetzt gehen.«
»Ein großer Tag heute?«, fragte Laski beiläufig.
»Heute ist einer der Tage – und das bedeutet immer eine Menge Kopfschmerzen.«
»Haben Sie das Problem gelöst?«
»Welches?«
»Die Fahrtroute.« Laski senkte leicht die Stimme. »Die Sicherheitsleute der Bank von England lassen den Transport doch jedes Mal eine andere Strecke nehmen, nicht wahr?«
»Ah … nein.« Peters war verlegen: Es war eine Indiskretion gewesen, Laski von seinen Problemen zu erzählen. »In Wirklichkeit gibt es nur eine vernünftige Fahrtroute. Jedenfalls …« Er verstummte und stand auf.
Laski lächelte und sagte im Plauderton: »Demnach wird der Geldtransport heute die gute, alte, direkte Verbindung nehmen.«
Peters legte einen Finger auf die Lippen. »Die Sicherheitsvorschriften«, sagte er.
»Verstehe.«
Peters nahm seinen Regenmantel vom Wandhaken. »Auf Wiedersehen.«
»Bis morgen«, sagte Laski und lächelte breit.
Arthur Cole stieg die Treppe von der U-Bahn-Haltestelle zur Straße hinauf. Sein Atem ging rasselnd, beängstigend tief in der Brust. Aus den Eingeweiden der U-Bahn stieg ein Schwall warmer Luft empor, umhüllte Cole wie ein feuchtes, übel riechendes Tuch und verflüchtigte sich. Cole schauderte leicht, als er aus dem Schacht auf die Straße trat.
Verdutzt blinzelte er ins Sonnenlicht – als er in die U-Bahn gestiegen war, hatte die Morgendämmerung gerade erst eingesetzt. Noch war die Luft klar und frisch und rein. Im Laufe des Tages würden die Auspuffgase sie dermaßen verpesten, dass es einen Polizisten umhauen konnte, der an einer Hauptkreuzung den Verkehr regeln musste. So was war tatsächlich schon passiert: Cole konnte sich daran erinnern, als zum ersten Mal ein Bulle aus den Latschen gekippt war. Die Story war in der Evening Post als Exklusivbericht gebracht worden.
Cole ging mit gemächlichen Schritten über den Gehsteig, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Er war der Meinung, dass die zwanzig Jahre Arbeit bei der Zeitung seine Gesundheit ruiniert hatten. In Wahrheit hätte jede andere Beschäftigung bei Cole die gleichen Auswirkungen gehabt; denn er hatte die Neigung, Ärger in sich hineinzufressen, und einen Hang zur Flasche, und außerdem war er sowieso schwach auf der Brust. Aber es gab ihm Trost, seinem Beruf die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Immerhin hatte er das Rauchen aufgegeben. Er war jetzt seit – Cole blickte auf die Uhr – einhundertachtundzwanzig Minuten Nichtraucher, sofern er die Nacht nicht mitzählte, dann waren es sogar acht Stunden. Er hatte bereits mehrere kritische Augenblicke hinter sich gebracht: unmittelbar nach dem der Wecker um halb fünf geklingelt hatte (normalerweise rauchte Cole die erste Zigarette auf dem Klo); dann bei der Wegfahrt von zu Hause, als er das Autoradio eingeschaltet hatte, um die Fünf-Uhr-Nachrichten zu hören; dann auf der A 12, als er seinen großen Ford das einzige, kurze verkehrsarme Straßenstück hinuntergejagt hatte und der Wagen so richtig in Fahrt gekommen war; und schließlich an der kalten, zugigen U-Bahn-Haltestelle in Ostlondon, als er auf die erste Bahn des Tages gewartet hatte.
Die Fünf-Uhr-Nachrichten der BBC hatten Cole auch nicht gerade aufgemuntert. Er hatte ihnen beim Autofahren voller Aufmerksamkeit gelauscht; denn er kannte die Strecke so gut dass er die Kurven und Kreisverkehre und Kreuzungen praktisch blind fahren konnte, aus dem Gedächtnis.
Die wichtigste Meldung war aus Westminster gekommen: Das Parlament hatte das neueste Gesetz zur betrieblichen Arbeitnehmermitbestimmung verabschiedet, wenn auch nur mit knapper Mehrheit. Cole hatte diese Meldung bereits in den gestrigen Fernsehspätnachrichten verfolgt. Dies bedeutete, dass die Morgenzeitungen mit Sicherheit schon darüber berichteten, und das wiederum bedeutete, dass die Evening Post nichts mehr damit anfangen konnte, es sei denn, im Laufe des Tages gab es irgendwelche neuen Entwicklungen.
Dann war ein Bericht über den Einzelhandelsindex gebracht worden. Die Quelle war mit Sicherheit eine offizielle Statistik der Regierung, die vermutlich bis Mitternacht nicht in der Zeitung veröffentlicht werden durfte; das bedeutete, dass wiederum die Morgenzeitungen sich in ihren nächsten Ausgaben damit herumschlagen konnten.
Dass der Streik in der Automobilindustrie weitergeführt wurde, überraschte Cole nicht; es war kaum damit zu rechnen, dass er im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht beigelegt wurde.
Das Problem des Sportredakteurs wurde durch ein Cricketländerspiel Australien gegen England gelöst, aber die Niederlage Englands war nicht sensationell hoch genug ausgefallen, um auf der ersten Seite zu landen.
So langsam machte Cole sich Sorgen.
Er betrat das Gebäude der Evening Post und fuhr mit dem Aufzug in die Redaktion, die die gesamte erste Etage einnahm. Sie war ein riesiges, I-förmiges Großraumbüro, das Cole durch den Fuß des »I« betrat. Zu seiner Linken befanden sich die Schreibmaschinen und Telefone der Nachrichtendirektannahme; hier saßen Mitarbeiter, die Berichte über Telefon erhielten, die sie dann gleich in die Maschine tippten. Zur Rechten standen die Aktenschränke und Bücherregale der Fachjournalisten für Politik, Wirtschaft, Verbrechen, Verteidigung und anderes.
Cole ging den Stamm des »I« hinunter, an Reihen um Reihen von Schreibtischen vorüber, an denen die gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesen-Reporter saßen; schließlich gelangte er zu dem langen Redaktionstisch, der das Büro in zwei Hälften teilte. Gleich hinter dem Tisch befand sich der U-förmige Tisch der Redakteure, und noch ein Stück dahinter, am oberen Querbalken des »I«, war die Sportredaktion, ein quasi unabhängiges Königreich mit einem eigenen Chefredakteur, eigenen Reportern, eigenen Sekretärinnen und so fort.
Hin und wieder führte Cole neugierige Verwandte oder Bekannte durch die Redaktion, und stets sagte er zu ihnen: »Eigentlich sollte es hier wie an einem Fließband zugehen, aber in der Regel geht’s hier eher wie bei einer Tortenschlacht zu.« Das war zwar eine Übertreibung, doch der Lacherfolg war Cole stets sicher.
Der riesige Büroraum war hell erleuchtet und menschenleer. Cole war stellvertretender Chef der Nachrichtenredaktion, deshalb befand sich sein Arbeitsplatz direkt an dem großen Tisch in der Mitte des Büros. Cole zog eine Schublade auf und nahm eine Münze heraus; dann ging er zum Verkaufsautomaten in der Sportredaktion und drückte auf den Knopf für Instant-Tee mit Milch und Zucker. Ein Fernschreiber erwachte ratternd zum Leben und durchbrach die Stille.
Als Cole, den Pappbecher in der Hand, zurück zum Redaktionstisch ging, flog die Tür am gegenüberliegenden Ende des Büroraums auf. Eine kleine, grauhaarige Gestalt in einem ausgebeulten Parka und mit Fahrradklammern an der Hose kam herein. Cole winkte und rief: »Morgen, George.«
»Hallo, Arthur. Kalt genug für dich?« George zog den Parka aus. Der Körper, der darin steckte, war klein und dünn. Trotz seines Alters hatte George es nur bis zum Chef der Büroboten gebracht. Er wohnte in Potters Bar und kam mit dem Fahrrad zur Arbeit, was Cole als erstaunliche Leistung betrachtete.
Er stellte den Becher Tee ab, schlüpfte aus seinem Regenmantel, schaltete das Radio ein und setzte sich. Das Radio begann zu murmeln und zu krächzen. Cole nippte am Tee und ließ den Blick über das gewohnte Durcheinander in der Redaktion der Evening Post schweifen: Stühle standen in wirrer Unordnung herum; die Schreibtische waren mit Zeitungen und Bergen von Papier bedeckt, und eine Renovierung war letztes Jahr im Zuge der Einsparungsmaßnahmen aufgeschoben worden. Doch Cole war dieser Anblick viel zu vertraut, als dass er ihn wahrgenommen hätte. In Gedanken beschäftigte er sich mit der ersten Auflage, die bereits in drei Stunden im Handel sein musste.
Die heutige Zeitung umfasste sechzehn Seiten. Vierzehn Seiten der ersten Auflage existierten bereits – als halbzylindrische Metallplatten unten in der Druckerei. Diese Seiten enthielten Anzeigen, Features, Fernsehprogramme und Nachrichten; Letztere waren in einem Stil verfasst, dass dem Leser – so hoffte man jedenfalls – nicht auffallen würde, wie alt diese »Neuigkeiten« in Wirklichkeit waren. Somit blieben noch zwei Seiten: die letzte Seite für die Sportredaktion und die Titelseite für Arthur Cole.
Das Mitbestimmungsgesetz, der Streik, die Inflation – das alles waren alte Kamellen, mit denen sich nicht mehr viel anfangen ließ. Gewiss, es gab die Möglichkeit, das alles aufzumotzen und mit entsprechend reißerischem Aufmacher als »aktuell« zu verkaufen, zum Beispiel: »Dramatischer Kampf um Mitbestimmung«, Unterzeile: »Regierungskrise in letzter Minute vermieden«. Für jede Situation gab es eine derartige Standardformulierung. Eine Katastrophe von gestern zum Beispiel wurde zur Neuigkeit von heute, wenn man ihr die Überschrift gab: »Erst in den heutigen Morgenstunden wurde das gesamte Ausmaß des Schreckens deutlich …« Oder für den Mord von gestern: »Vergangene Nacht hat die Polizei fieberhaft nach dem gefährlichen Killer gesucht, der …« Bei der Lösung des Problems, den Schnee von gestern als frisch gefallen zu verkaufen, hatte Arthur Hunderte solcher Klischees hervorgebracht. In einer zivilisierten Gesellschaft, ging es ihm durch den Kopf, würde es keine Zeitungen geben, wenn es keine Neuigkeiten gäbe. Aber das war eine alte Weisheit, und Arthur – unruhig und ungeduldig – verscheuchte diesen Gedanken.
Jeder Mitarbeiter nahm es als gegeben hin, dass die erste Auflage der Post