Jacqueline Kelly

 

CALPURNIAS

faszinierende

FORSCHUNGEN

 

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

The Curious World of Calpurnia Tate

bei Henry Holt and Company, New York.

 

Alle Zitate entstammen dem Buch

Die Fahrt der Beagle von Charles Darwin,

übersetzt von Eike Schönfeld.

© 2006 mareverlag, Hamburg – mit freundlicher Genehmigung

 

Mit S/W-Vignetten von Maria Sibylla Merian.

 

 

ISBN 978-3-446-25030-7

© Jacqueline Kelly 2014

Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Maren von Stockhausen

Bildelemente Umschlag/Vignetten Inhalt: © akg/Science Photo Library // © Academy of Natural Sciences of Philadelphia/Corbis (3 Motive) // © Bettmann/Corbis // © Brooklyn Museum/Corbis // © Louis Agassi Fuertes/National Geographic Creative/Corbis // © GraphicaArtis/Corbis // © ullstein bild – Granger, NYC

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Wangen im Allgäu

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Für Gwen Erwin – in Liebe und Dankbarkeit

für dreißig Jahre Ermutigung, Unterstützung und Lachen.

Danke, Gweni.

 

 

 

 

Erstes Kapitel

 

ARMAND ODER DILLY

 

Eines Abends, als wir ungefähr zehn Meilen vor der Bucht von San Blas lagen, waren wir inmitten einer riesigen Menge Schmetterlinge, Scharen oder Schwärme unendlicher Myriaden, so weit das Auge reichte. Selbst mithilfe eines Teleskops vermochte man unmöglich einen von Schmetterlingen freien Raum zu sehen. Die Seeleute riefen: »Es schneit Schmetterlinge«, und so wirkte es tatsächlich auch.

 

 

Am Neujahrstag des Jahres 1900 erlebte ich etwas ganz Erstaunliches: Ich sah zum ersten Mal Schnee. Du denkst jetzt vielleicht, so spektakulär sei das nun auch wieder nicht, aber für das Landesinnere von Texas war Schnee etwas ganz Außergewöhnliches. Hinzu kam, dass ich mir nur wenige Stunden zuvor, am Silvesterabend, vorgenommen hatte, wenigstens einmal in meinem Leben Schnee zu sehen, ohne mir jedoch große Hoffnungen zu machen, dass mir das tatsächlich irgendwann gelingen würde. Doch innerhalb weniger Stunden wurde mir mein hochfliegender Wunsch erfüllt, und Schnee verwandelte unseren sonst völlig gewöhnlichen Ort in eine Landschaft von makelloser Schönheit. Nur im Morgenmantel und mit Pantoffeln an den Füßen war ich im Morgengrauen durch den stillen Wald gelaufen und hatte staunend die feine Schneedecke, den bleifarbenen Himmel und die silbrig umrissenen Äste der Bäume betrachtet, bevor die Kälte mich zurück ins Haus trieb. Und nachdem das neue Jahrhundert mit so viel Tamtam und Trara und Glanz und Gloria begonnen hatte, erwartete ich, dass ich am Beginn einer großartigen Zukunft stand und mein dreizehntes Lebensjahr einfach magisch werden musste.

Doch inzwischen war es Frühling geworden. Die Monate waren mir irgendwie zwischen den Fingern zerronnen und hatten nichts gebracht außer dem bekannten Stumpfsinn aus Schule, häuslichen Pflichten und Klavierstunden. Unterbrochen wurde diese Eintönigkeit nur dadurch, dass meine sechs Brüder (!) es abwechselnd schafften, mich, das einzige Mädchen (!), zur Weißglut zu treiben. Das neue Jahr hatte mich ganz offensichtlich zum Narren gehalten.

Mit vollem Namen heiße ich Calpurnia Virginia Tate, doch damals nannten mich die meisten nur Callie Vee, abgesehen von Mutter, wenn sie mich tadelte, und Großpapa, der Spitznamen grundsätzlich ablehnte.

Mein einziger Trost waren die naturwissenschaftlichen Studien mit meinem Großvater, Captain Walter Tate, den viele in Fentress, wo wir lebten, fälschlich für einen schrulligen, ungeselligen alten Spinner hielten. Sein Geld hatte er mit Baumwolle und Viehherden gemacht, und im Bürgerkrieg hatte er auf Seiten der Südstaaten gekämpft. Irgendwann hatte er dann beschlossen, den letzten Abschnitt seines Lebens den Wissenschaften und dem Studium der Natur zu widmen. Ich begleitete ihn dabei, wann immer ich mich zu Hause loseisen konnte, und ich lebte für diese wenigen kostbaren Stunden in seiner Gesellschaft. Dann folgte ich Großpapa, ausgerüstet mit einem Schmetterlingsnetz, einer Ledertasche, meinem wissenschaftlichen Notizbuch und einem stets griffbereiten, frisch gespitzten Bleistift, mit dem ich unsere Beobachtungen festhielt.

Bei unfreundlichem Wetter saßen wir im Laboratorium (im Grunde nichts weiter als ein alter Schuppen, der einst zu den Sklavenunterkünften gehört hatte) und untersuchten unsere Präparate, oder wir gingen in die Bibliothek, wo ich mich unter Großpapas Anleitung langsam durch Mr. Charles Darwins Buch Über die Entstehung der Arten durcharbeitete. Bei schönem Wetter zogen wir über die Felder zum San Marcos River oder bahnten uns einen Weg durchs Gestrüpp auf einem der zahlreichen Tierpfade. Dem ungeübten Beobachter mochte unsere Welt nicht besonders aufregend scheinen, doch in Wirklichkeit wimmelte sie nur so vor Leben, man musste nur wissen, wohin man schauen sollte. Und wie man schauen sollte. Das war etwas, was ich von Großpapa gelernt hatte. Zusammen hatten wir eine brandneue Spezies einer haarigen Wicke entdeckt, die der Welt inzwischen unter der Bezeichnung Vicia tateii bekannt war. (Ich gebe zu, mir wäre es lieber gewesen, wir hätten eine unbekannte Tierart entdeckt, das wäre wirklich spannender gewesen, aber andererseits – wie viele Leute in meinem Alter oder ganz gleich welchen Alters können schon von sich sagen, dass etwas Lebendiges für immer ihren Namen trägt? Das ist nicht so leicht zu übertreffen.)

Mein Traum war es, eines Tages in Großpapas Fußstapfen zu treten und Wissenschaftlerin zu werden, doch Mutter hatte andere Pläne für mich: Ich sollte alle häuslichen Fähigkeiten erwerben und mit achtzehn als Debütantin in die Gesellschaft eingeführt werden. Bis dahin wäre ich hoffentlich präsentabel genug, um die Blicke eines wohlhabenden jungen Mannes aus guter Familie auf mich zu ziehen. (Ob mir das gelingen würde, bezweifelte ich allerdings stark, und zwar aus vielen Gründen: Zum Beispiel waren mir Kochen und Nähen verhasst, und der Typ Mädchen, nach dem sich alle umguckten, war ich auch nicht gerade.)

So war es also Frühling geworden, normalerweise eine Zeit der Freude, in meiner Familie aber auch eine Zeit einer gewissen Sorge, und das hing mit dem weichen Herzen meines ein Jahr jüngeren Bruders Travis zusammen. Der Frühling ist bekanntlich die Zeit des aufblühenden Lebens, die Zeit der Vogelküken, der Waschbärjungen, der Fuchswelpen und der kleinen Eichhörnchen. Viele dieser Jungtiere werden zu Waisen, werden verlassen oder verletzt. Und je hoffnungsloser ein Fall, je düsterer die Überlebenschancen, je geringer die Hoffnungen für die Zukunft, desto größer die Chance, dass Travis sich des Tieres annahm und es nach Hause brachte, damit es bei uns lebte. Ich selbst fand diese Parade ungewöhnlicher Haustiere immer ganz unterhaltsam, meine Eltern hingegen sahen das ganz und gar nicht so. Meine Mutter redete Travis ernst ins Gewissen, mein Vater drohte ihm strenge Strafen an, doch alles war vergessen, sobald Travis irgendwo ein hilfsbedürftiges Tier entdeckte. Manche erholten sich, andere endeten kläglich, doch alle fanden sie einen Platz im empfindsamen Herzen meines Bruders.

An einem Morgen im März stand ich besonders früh auf und lief zu meiner Überraschung in der Eingangshalle unseres Hauses Travis über den Weg.

»Gehst du zum Fluss?«, fragte er. »Kann ich mitkommen?«

Normalerweise zog ich lieber alleine los, weil man so viel besser ahnungslosen Tieren nachspionieren konnte. Doch von all meinen Brüdern war Travis derjenige, der mein Interesse an der Natur am ehesten teilte. Ich ließ ihn also mitkommen, allerdings unter einer Bedingung: »Du musst ganz leise sein. Ich will nämlich Tiere beobachten.«

Während der Himmel sich im Osten langsam im Licht der aufgehenden Sonne erwärmte, führte ich Travis auf einem der Wildpfade zum Fluss hinunter. Entgegen meinen Anweisungen plapperte Travis ununterbrochen. »Sag mal, Callie, hast du schon gehört, dass Maisie, der Rattenterrier von Mrs. Holloway, Junge hat? Meinst du, Mutter und Vater würden mich eins davon haben lassen?«

»Ich glaube nicht. Mutter beklagt sich sowieso schon immer darüber, dass wir vier Hunde haben. Ihrer Meinung nach sind das drei zu viel.«

»Aber es gibt doch auf der ganzen Welt nichts Tolleres als so einen Hundewelpen! Als Erstes würde ich ihm beibringen, Stöckchen zu holen. Das ist nämlich das Dumme an Bunny – ich hab ihn so lieb, aber er will einfach keine Sachen apportieren.« Bunny war Travis’ flauschiges, preisgekröntes Riesenkaninchen. Mein Bruder liebte es abgöttisch, Tag für Tag fütterte er es, bürstete ihm das Fell und spielte mit ihm. Aber dass er es zu dressieren versuchte, war mir neu.

»Moment mal«, unterbrach ich ihn, »heißt das, du … du willst Bunny Apportieren beibringen?«

»Klar. Aber ich versuch’s schon so lange, und er macht’s einfach nicht. Ich hab es sogar mit einer Möhre probiert, aber er hat sie bloß aufgefressen.«

»Ähm – Travis?«

»Hm-m?«

»Noch nie, seit es die Welt gibt, hat ein Kaninchen Stöckchen geholt. Mach dir deswegen also keine Gedanken.«

»Aber Bunny ist unheimlich schlau.«

»Für ein Kaninchen vielleicht, aber das heißt nicht viel.«

»Wir müssen bestimmt nur mehr üben.«

»Bestimmt. Anschließend kannst du dann auch gleich dem Schwein Klavierspielen beibringen.«

»Vielleicht würde Bunny ja schneller Fortschritte machen, wenn du uns helfen würdest.«

»Dabei nicht, du Träumer. Schlag dir das aus dem Kopf.«

Wir debattierten immer weiter, bis wir fast am Fluss waren. Auf einmal entdeckten wir ein Tier, kaum größer als ein kleiner Laib Brot, das im welken Laub am Fuß eines hohlen Baums schnüffelte. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es ein junger Dasypus novemcinctus war, ein Neunbinden-Gürteltier oder auch Armadillo. Obwohl sie in Texas neuerdings häufiger vorkamen, hatte ich doch noch nie eins aus der Nähe gesehen. Anatomisch betrachtet, ähnelte es einer verunglückten Mischung aus einem Ameisenbär (die Schnauze), einem Muli (die Ohren) und einer Schildkröte (der Panzer). Mit seinem Aussehen war dieses Wesen ziemlich schlecht weggekommen, fand ich, aber Großpapa hatte mal gesagt, es sei nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch dumm, den menschlichen Schönheitsbegriff auf ein Tier anzuwenden, das es geschafft hatte, seit Millionen Jahren auf der Welt zu existieren.

Travis hockte sich hin und flüsterte: »Was macht es da?«

»Ich vermute, es sucht nach Frühstück«, sagte ich. »Laut Großpapa fressen sie Würmer und Larven und so was.«

»Der ist ja sooo süß, findest du nicht auch?«, sagte Travis.

»Nein, eigentlich nicht.«

Aber es war sinnlos, ihm das zu sagen. Das leichtsinnige Gürteltier tat genau das, was die todsichere Methode war, um sich einen Platz in unserem Haus zu sichern: Es kam langsam zu meinem Bruder herüber und schnüffelte an seinen Socken.

Oh, oh! Wir mussten hier weg, so schnell wie möglich, bevor Travis noch sagen konnte –

»Komm, wir nehmen ihn mit!«

Zu spät! »Lieber nicht, Travis. Das ist ein wildes Tier.«

Doch Travis beachtete mich gar nicht. »Ich glaube, ich nenne ihn Armand – Armand Armadillo. Oder Dilly, falls es ein Mädchen ist? Wie findest du das? Dilly Armadillo.«

Mist, jetzt war wirklich alles zu spät. Großpapa warnte mich immer davor, den Gegenständen meiner wissenschaftlichen Studien Namen zu geben. Dann könnte ich nie mehr objektiv sein und hätte auch große Probleme, das Tier zu sezieren, auszustopfen, ins Schlachthaus zu bringen oder freizulassen, je nachdem, was gerade anstand.

Travis redete munter weiter. »Was meinst du – ist es ein Junge oder ein Mädchen?«

»Keine Ahnung.« Ich zog mein wissenschaftliches Notizbuch aus der Tasche und schrieb. Frage: Wie unterscheidet man einen Armand von einer Dilly?

Travis hob das Gürteltier hoch und drückte es zärtlich an sich. Armand (so wollte ich ihn fürs Erste nennen) zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht, sondern machte sich gleich daran, mit seiner begierig zuckenden Schnauze Travis’ Hemdkragen zu untersuchen. Travis strahlte, ich seufzte ärgerlich. Während mein Bruder sanft auf seinen neuen Freund einredete, wühlte ich mit einem Stock in der Erde nach Nahrung. Ich förderte einen riesigen Tauwurm zutage und hielt ihn Armand zögerlich hin, der ihn mir jedoch sofort mit seinen eindrucksvollen Klauen aus der Hand schnappte und in null Komma nichts verschlang, wobei ihm ziemlich unappetitliche Wurmstückchen aus dem Maul flogen. Kein schöner Anblick, wirklich nicht. Das war mir neu, dass Gürteltiere die allerschlimmsten Tischmanieren weit und breit hatten. Oje, jetzt war es mir wieder passiert – ich hatte ein Tier nach menschlichen Empfindlichkeiten beurteilt, obwohl die hier völlig fehl am Platz sind.

Sogar Travis sah leicht schockiert aus. »Baaah!«, sagte er, und fast hätte ich es ihm nachgetan. Aber ich war schließlich im Feuer wissenschaftlichen Denkens gehärtet und wusste, dass Wissenschaftler so etwas niemals laut sagen (höchstens gelegentlich denken).

Armand leckte jetzt Wurmreste von Travis’ Hemd. »Er hat Hunger«, sagte mein Bruder, »das ist alles. Junge, Junge, besonders gut riechen tut er nicht gerade.«

Das stimmte. Als wäre abstoßendes Benehmen nicht genug, sonderte Armand auch noch einen unangenehmen, moschusartigen Geruch ab.

»Ich glaube, ihn mitzunehmen ist keine gute Idee«, sagte ich. »Was würde Mutter sagen?«

»Sie muss ja nichts davon wissen.«

»Sie weiß solche Sachen immer.« Wie sie das genau machte, war eine Frage, die all ihre sieben Kinder immer wieder beschäftigte, ohne dass die je dahintergekommen wären.

»Ich könnte ihn in der Scheune halten«, schlug Travis vor. »Da geht Mutter praktisch nie hin.«

Ich begriff, dass dieser Kampf so gut wie verloren und im Grunde auch nicht meiner war. Also steckten wir Armand in meine Schultertasche, die er auf dem Heimweg die ganze Zeit von innen mit den Klauen bearbeitete. Zu meinem großen Ärger entdeckte ich mehrere tiefe Kratzer im Leder, als wir ihn endlich in der hintersten Ecke der Scheune in einen alten Kaninchenstall neben Bunny gesetzt hatten. Doch zuvor wurde er von uns noch auf die Waage, die sonst für Geflügel und Kaninchen benutzt wurde, gelegt (fünf Pfund) und gemessen (elf Zoll, ohne den Schwanz). Wir waren uns erst nicht sicher, ob wir den Schwanz mitrechnen sollten, beschlossen dann aber, dass die reine Körperlänge eine genauere Vorstellung von den wahren Ausmaßen dieses Tiers vermittelte.

Armand schien nichts gegen unsere Zuwendung zu haben; besonders zu genießen schien er sie allerdings auch nicht. Er erkundete erst sein neues Zuhause, dann machte er sich daran, im Boden des Stalls zu scharren. Uns ignorierte er völlig.

Damals wussten wir es noch nicht, doch mehr sollte die Beziehung zu Armand nicht zu bieten haben: scharren und ignorieren, noch mehr scharren und noch mehr ignorieren. An jenem Tag sahen wir Armand so lange dabei zu, wie er im Boden scharrte und uns ignorierte, bis unser Dienstmädchen SanJuanna auf der Veranda die Glocke läutete, um alle zum Frühstück zu rufen. Travis und ich stürmten in die Küche, wo uns der köstliche Duft nach gebratenem Speck und frisch gebackenen Zimtbrötchen empfing.

»Waschen!«, befahl Viola, unsere Köchin, vom Herd aus.

Abwechselnd pumpten Travis und ich am Becken Wasser und schrubbten uns die Hände. Ein paar schleimige Reste von Armands Frühstück klebten noch an Travis’ Hemd. Ich machte ihm Zeichen und reichte ihm ein feuchtes Geschirrtuch, doch er verrieb das Zeug nur und machte damit alles noch schlimmer.

Viola blickte auf. »Was ist denn das für ein Geruch?«

»Deine Brötchen sehen wirklich lecker aus«, sagte ich schnell.

»Was für ein Geruch denn?«, fragte Travis.

»Der Geruch, den du an dir hast, junger Mann.«

»Der kommt bloß, äh, von einem meiner Kaninchen. Du kennst doch Bunny, oder? Das große weiße? Es muss dringend gebadet werden. Das ist alles.«

Ich war überrascht. Travis war ein notorisch schlechter Lügner, doch dieses Mal hatte er sich ganz geschickt angestellt. Neben meinen naturwissenschaftlichen Studien war ich dabei, meinen Wortschatz zu erweitern, und so kam mir der Ausdruck gewieft in den Kopf. Ich hatte ihn bis dahin noch nie benutzt, doch hier war er sicherlich passend: Travis, der gewiefte Schwindler.

»Hm«, machte Viola, »das höre ich zum ersten Mal, dass man Kaninchen baden soll.«

»Oh, du solltest es sehen«, fiel ich gleich ein. »Es starrt wirklich vor Dreck.«

»Hm«, machte sie wieder. »Das glaube ich auch so.«

Sie lud einen ganzen Stapel knuspriger Speckscheiben auf einen Teller und trug ihn durch die Schwingtür ins Esszimmer. Travis und ich gingen hinterher und nahmen unsere Plätze bei Tisch ein, zwischen meinen anderen Brüdern: Harry (dem ältesten, der auch mein Lieblingsbruder war), Sam Houston (dem stillsten), Lamar (einer schrecklichen Nervensäge), Sul Ross (dem zweitstillsten) und Jim Bowie (dem mit seinen fünf Jahren jüngsten und lautesten).

An dieser Stelle sollte ich vielleicht sagen, dass Harry dabei war, seinen Platz als mein Lieblingsbruder zu verspielen, seit er begonnen hatte, um Fern Spitty zu werben. Sicher, Harry war achtzehn, und ich hatte mich endlich damit abgefunden, dass er eines Tages heiraten würde, trotzdem hatte sein Werben um sie zur Folge, dass er immer weniger Zeit zu Hause verbrachte. Fern war hübsch, sanftmütig und außerdem ziemlich patent, das heißt, sie zuckte nur leicht zurück, wenn ich mit einem Weckglas durchs Haus lief, in dem ein schleimiges Etwas hin und her schwappte. Obwohl ich also grundsätzlich nichts gegen Fern einzuwenden hatte, führte doch kein Weg an der traurigen Wahrheit vorbei, dass ihretwegen eines Tages unsere Familie auseinanderbrechen würde.

Vater und Großpapa traten ein und nahmen ihre Plätze ein, dabei nickten sie allen zu und sagten förmlich: »Guten Morgen!«

Großpapa nickte mir noch einmal gesondert zu, und ich lächelte ihn an, in dem warmen Gefühl, sein Liebling unter den Enkelkindern zu sein.

»Eure Mutter hat wieder eine ihrer schlimmen Kopfschmerzattacken«, sagte Vater. »Sie wird heute nicht mit uns frühstücken.«

Ich war erleichtert, denn Mutter hätte Wurmreste auf einem Hemd auf dreißig Schritt Abstand entdeckt. Und hätte nicht Viola, sondern Mutter Travis befragt, so wäre er höchstwahrscheinlich eingeknickt und hätte alles gestanden. Ich selbst hatte mir dagegen die Taktik des sturen Leugnens angeeignet. Darin war ich so gut geworden, so gewieft – selbst angesichts lückenloser Beweise –, dass Mutter sich oft schon gar nicht mehr die Mühe machte, mich zu verhören. (Du siehst, als unzuverlässig zu gelten kann auch seine Vorteile haben, auch wenn ich es nicht allgemein empfehlen möchte.)

Vater sprach das Tischgebet, dem wir mit gesenktem Kopf folgten, dann reichte SanJuanna die Teller mit den verschiedenen Speisen herum. Ohne Mutters Anwesenheit entfiel die lästige Pflicht der gepflegten leichten Konversation, die sie stets bei den Mahlzeiten von uns verlangte, und so widmeten wir uns hingebungsvoll unserem Frühstück. Minutenlang war nichts zu hören bis auf das Quietschen von Messern und Gabeln auf unseren Tellern, gedämpfte Begeisterungslaute und die gelegentliche Bitte, den Sirup weiterzureichen.

 

Nach der Schule rannten Travis und ich gleich wieder zur Scheune, um nach Armand zu sehen, und fanden ihn zusammengekauert in einer Ecke seines Käfigs, wo er von Zeit zu Zeit halbherzig am Draht kratzte. Er sah irgendwie – wie soll ich sagen? – bedrückt aus, andererseits, wer will das bei einem Gürteltier mit Sicherheit sagen?

»Was hat er bloß?«, wollte Travis von mir wissen. »Besonders glücklich kommt er mir nicht vor.«

»Das kommt daher, dass er ein wildes Tier ist und eigentlich nicht in einen Käfig gehört. Vielleicht sollten wir ihn freilassen.«

Doch so schnell war Travis nicht bereit, auf sein neuestes Haustier zu verzichten. »Ich wette, er hat Hunger. Hast du irgendwelche Würmer?«

»Die sind mir gerade ausgegangen.« So ganz entsprach das nicht der Wahrheit, in meinem Zimmer hatte ich einen Riesenwurm, den größten, den ich je gesehen hatte, doch den wollte ich mir aufheben, um ihn zu sezieren. Es sollte das erste Mal sein, und Großpapa hatte vorgeschlagen, mit einem Anneliden, also einem Ringelwurm, zu beginnen und mich langsam durch die verschiedenen Stämme oder Phyla vorzuarbeiten. Ich vermutete, dass es umso einfacher sein dürfte, so einen Wurms zu sezieren, je größer das Exemplar war, denn dann müssten doch die Organe am besten zu erkennen sein.

Aber wie auch immer – Armand hatte ein Problem, und jemand musste sich darum kümmern. Er war ein Bodenbewohner und ein Omnivore, ein Allesfresser, er ernährte sich also von pflanzlicher wie von tierischer Kost. Ich war aber gerade nicht in der Stimmung, nach Würmern zu graben, und genug Ameisen für eine ordentliche Gürteltiermahlzeit einzufangen würde ewig dauern, also sagte ich: »Komm mit, wir sehen nach, was es so in der Vorratskammer gibt.«

Wir liefen zur hinteren Veranda und von dort direkt in die Küche, wo Viola bei einer Tasse Kaffee saß und sich zwischen der einen und der nächsten Mahlzeit etwas Ruhe gönnte. Idabelle, die Hauskatze, lag in ihrem Körbchen nahe beim Ofen und leistete ihr Gesellschaft. Viola blätterte in einer von Mutters Zeitschriften. Lesen oder schreiben konnte sie zwar nicht, doch es machte ihr Spaß, die Hüte zu betrachten, die gerade neueste Mode waren. Auf einem dieser Hüte schien so etwas wie ein ausgestopfter Paradiesvogel in einem Nest aus Tüll zu sitzen, wobei ein Flügel kunstvoll die Stirn der Trägerin beschattete. Der Hut schien mir absolut lächerlich, ganz abgesehen davon, dass so etwas eine schreckliche Vergeudung eines seltenen und wundervollen Exemplars war.

»Was wollt ihr?«, fragte Viola, ohne aufzublicken.

»Ach, wir haben bloß ein bisschen Hunger«, sagte ich, »und wollten nachsehen, was es so in der Vorratskammer gibt.«

»Meinetwegen. Aber lasst die Finger von den Pasteten, die sind fürs Abendessen, verstanden?«

»Verstanden.«

Wir schnappten uns das Erstbeste, ein hart gekochtes Ei, und rannten zurück zur Scheune.

Armand schnüffelte am Ei, rollte es mit den Pfoten umher, brach es auf und fraß es unter lautem Grunzen, mit großer Begeisterung und ohne irgendeinen Sinn für Manieren. Als er fertig war, zog er sich wieder in die hinterste Ecke des Stalls zurück, wo er sich wie zuvor zusammenkauerte und einen jämmerlichen Eindruck machte. Ich betrachtete ihn nachdenklich und dachte über seine natürliche Umgebung nach. Gürteltiere lebten in Erdbauten und waren nachtaktiv. Das hieß, dass Armand gern den ganzen Tag über in seiner Höhle lag und schlief. Hier hingegen hatte er keine Höhle, die ihm vor dem hellen Tageslicht Schutz bot. Kein Wunder, dass er unglücklich aussah.

»Ich glaube, er braucht ein Erdloch«, sagte ich. »Eine Höhle, in der er schlafen kann.«

»Wir haben aber keine.«

»Wenn du ihn freilässt«, sagte ich hoffnungsvoll, »kann er sich eine graben.«

»Ich kann ihn nicht freilassen. Er ist doch mein Armand. Wir müssen eben eine Höhle für ihn machen.«

Ich seufzte. Wir sahen uns nach geeignetem Material um und fanden einige alte Zeitungen sowie ein Stück von einer alten Decke, das benutzt wurde, um die Pferde nach der Arbeit trocken zu reiben. Beides legten wir Armand in den Stall. Erst schnüffelte er daran, so wie er das mit allem machte, doch dann begann er eifrig, das Papier zu zerreißen. Schließlich schleppte er alles zusammen in seine Stallecke, und in Minutenschnelle hatte er sich eine Art Nest gebaut. Er zog sich die Decke über den Kopf und warf sich ein paarmal hin und her. Dann lag er auf einmal ganz still, und aus dem Hügel drang leises Schnarchen.

»Da hast du’s«, sagte Travis. »Siehst du, wie glücklich er ist? Du bist so schlau, Callie. Du weißt alles.«

Das ging mir natürlich runter wie Öl. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, Armand (oder Dilly) zu behalten.

 

An jenem Abend stellten wir uns in Reih und Glied auf, um uns wie jede Woche von Vater unser Taschengeld auszahlen zu lassen. Nach dem Alter geordnet, standen wir vor seiner Tür, und Vater rief uns einzeln zu sich herein. Die älteren Jungs bekamen jeder ein Zehn-Cent-Stück, wir übrigen jeweils eine Fünf-Cent-Münze. Ich verstand schon, was Vater sich dabei dachte – mehr oder weniger jedenfalls –, trotzdem freute ich mich schon auf den Tag, an dem ich alt genug sein würde, um auch zehn Cent zu bekommen.

Am Ende der kleinen Zeremonie ermahnte Vater uns jedes Mal, nicht alles auf einmal auszugeben, was die meisten von uns trotzdem taten, und zwar im Fentress General Store, dem Gemischtwarenladen in unserer Stadt, wo wir uns Fruchtgummis, Karamellbonbons oder Schokolade kauften. Vaters Absicht war es, uns die Bedeutung des Sparens nahezubringen, doch in Wirklichkeit lernten wir, komplizierte Rechnungen durchzuführen. Dabei ging es darum, welche der Süßigkeiten den höchsten Genuss über die längste Zeit versprach, ob es also lohnender war, einen Cent für fünf knallrote Zimtbonbons auszugeben oder lieber zwei Cent für drei Karamellbonbons, oder darum, welcher Bruder am ehesten bereit wäre, Lakritze gegen Fruchtgummis zu tauschen, und wie hoch der jeweilige Tauschwert wäre. Zweifellos hochkomplizierte Berechnungen.

Trotzdem war es mir gelungen, die Summe von zweiundzwanzig Cent zusammenzusparen, die ich in einer Zigarrenschachtel unter meinem Bett verwahrte. Eine Maus, der diese Schachtel offenbar gefiel, hatte die Ecken angeknabbert, weswegen es Zeit wurde, Großpapa um eine neue zu bitten. Ich klopfte an die Tür seiner Bibliothek, und er antwortete: »Herein, wenn’s sein muss.« Als ich eintrat, schaute er gerade aufmerksam durch ein Vergrößerungsglas. Im matten Licht der Lampe schien sein langer silberner Bart wie von einem blassen Zitronengelb.

»Calpurnia, sei so lieb und bring noch eine Lampe her, ja? Das hier kommt mir vor wie ein Erythrodiplax berenice, aus der Ordnung der Libellen. Das ist die einzige echte Salzwasserlibelle, von der wir wissen. Aber was macht sie hier bei uns?«

»Ich weiß nicht, Großpapa.«

»Ach so – natürlich nicht. Das war ja auch eine sogenannte rhetorische Frage – eine Frage, auf die man keine Antwort erwartet.«

»Warum stellt man sie dann?«, hätte ich fast gefragt, doch eine so freche Antwort würde ich mir meinem Großvater gegenüber nie herausnehmen.

»Seltsam«, sagte er, »so weit entfernt von den Salzmarschen findet man sie normalerweise nicht.«

Ich brachte ihm eine zweite Lampe und lehnte mich über seine Schulter. Ich war unheimlich gerne mit ihm in diesem Raum, in dem es so viele faszinierende Dinge gab: das Mikroskop und das Teleskop, getrocknete Insekten, Tiere in Glasgefäßen, verdorrte Eidechsen, den alten Globus, ein Straußenei, einen Kamelsattel, so groß wie ein Kissen, oder ein schwarzes Bärenfell mit einem klaffenden Maul, das gerade groß genug war, um den Fuß einer zu Besuch weilenden Enkelin einzufangen. Und nicht zu vergessen die hohen Stapel von Büchern, hochkomplizierte wissenschaftliche Abhandlungen mit Goldprägung auf einem Einband aus inzwischen abgewetztem Ziegenleder. Einen Ehrenplatz auf einem eigenen Bord nahm ein großes Glasgefäß ein, in dem sich die Sepia officinalis befand, ein Tintenfisch, den ihm vor Jahren ein bedeutender Mann, den Großpapa sehr verehrte, persönlich geschickt hatte – Mr. Charles Darwin. Die Tinte auf dem angehängten Pappschildchen war verblasst, doch die Aufschrift war immer noch lesbar. Für meinen Großvater war dieses Glas sein wertvollster Besitz.

Jetzt hob er den Kopf, schnupperte kurz und fragte dann: »Wieso riechst du nach Gürteltier?«

Es war einfach unmöglich, irgendetwas vor Großpapa geheim zu halten, zumindest wenn es auf irgendeine Weise mit der Natur zu tun hatte.

»Ähm«, sagte ich, »es ist vielleicht besser, wenn du nichts davon weißt.«

Meine Antwort schien ihn zu amüsieren. »Der spanische Name des Gürteltiers, Armadillo, bedeutet so viel wie kleines gepanzertes Tier. Die ersten deutschen Siedler nannten es dann auch Panzerschwein. Das Fleisch dieser Tiere ist hell und ähnelt in Geschmack und Beschaffenheit dem der Schweine, wenn es richtig zubereitet wird. Meine Truppen und ich waren im Krieg dankbar, wenn wir eins fanden und uns eine Mahlzeit daraus machen konnten. Im Krieg waren sie noch nicht so verbreitet hier, sie waren nämlich erst kurz zuvor von Südamerika aus eingewandert. Darwin war ganz vernarrt in sie, nette kleine Tiere nannte er sie, aber er hat auch nie versucht, eins aufzuziehen. Es kommt zwar selten vor, dass sie beißen, trotzdem sind sie extrem ungeeignet als Haustier. Die erwachsenen Tiere leben allein, ohne Neigung, sich anderen ihrer Art anzuschließen. Das erklärt vielleicht, weshalb sie nicht den geringsten Wert auf menschliche Gesellschaft legen.«

Es geschah eher selten, dass Großpapa den Bürgerkrieg erwähnte, den langen Krieg zwischen den Nord- und den Südstaaten. Das war vielleicht auch besser so, denn einige Veteranen der Konföderierten Truppen des Südens lebten noch in unserer Stadt, und der Krieg oder wenigstens sein Ergebnis machte ihnen noch immer schwer zu schaffen. Ebenso schien es mir vernünftig, Travis nichts davon zu erzählen, dass sein Großvater Armands Vorfahren mit Genuss verspeist hatte. »Großpapa«, sagte ich, »ich hätte gern eine neue Zigarrenschachtel, falls du eine übrig hast, und ich würde mir gern ein Buch ausleihen, in dem ich alles nachlesen kann über das Gürteltier, das wir nicht haben.«

Schmunzelnd holte Großpapa ein Kistchen hervor, dann zeigte er auf ein Buch mit dem Titel Godwins Atlas der texanischen Säugetiere. »Es gibt Tiere«, begann Großpapa, »die sich anscheinend nicht als Haustiere eignen, aus Gründen, über die wir wenig sagen können. Das gilt nicht nur für das Gürteltier. Denk an den Biber, das Zebra oder das Nilpferd, um nur ein paar zu nennen. Viele haben versucht, sie zu domestizieren, und alle sind kläglich gescheitert, nicht selten auf spektakuläre und manchmal sogar tödliche Weise.«

Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, was Mutter für ein Gesicht machen würde, wenn Travis mit einem Nilpferdbaby an der Leine nach Hause käme, und ich dankte Gott, dass wir in einem nilpferdfreien Land lebten. Ich schlug das Nachschlagewerk auf, und in zufriedenem Schweigen widmeten Großpapa und ich uns beide unserer Arbeit.

Kurz vor dem Schlafengehen schauten Travis und ich noch einmal schnell nach Armand. (Wir hatten uns darauf geeinigt, ihn so zu nennen, auch wenn wir nicht ausschließen konnten, dass es doch eine Dilly war.) Er wühlte und scharrte im Boden und ignorierte uns, also überließen wir ihn sich selbst.

Am nächsten Morgen gab Travis ihm noch einmal ein hart gekochtes Ei. Armand fraß es, ignorierte uns und zog sich in seinen Bau zurück.

»Ich wünschte, er wäre mein Freund«, sagte Travis. »Ich wette, wenn ich ihm weiter sein Fressen bringe, sind wir bald Freunde.«

»Ein schöner Freund wäre das! Willst du wirklich einen, der sich nur freut, dich zu sehen, weil du ihm Essen bringst?«

Ich erzählte ihm, was ich von Großpapa über die Gattung der Gürteltiere erfahren hatte, doch Travis zuckte nur mit den Schultern. Vermutlich würde er es selbst herausfinden müssen. Manche Lektion lernt man eben nur durch Erfahrung, auch wenn die schmerzhaft sein kann.

 

 

 

 

Zweites Kapitel

 

DIE GÜRTELTIERKRISE

 

In der Pampasablagerung bei Bajada fand ich den Knochenpanzer eines riesigen gürteltierähnlichen Tiers, dessen Inneres, nachdem die Erde entfernt war, einem großen Kessel glich.

 

 

Einige Tage später erschien Travis mit dunklen Augenringen zum Frühstück. Außerdem stank er fürchterlich.

»Fühlst du dich nicht gut?«, fragte Mutter erschrocken. »Was ist das für ein schrecklicher Geruch?«

»Mir geht’s gut«, murmelte er. »Der Geruch kommt von den Kaninchen. Ich hab sie heute früher als sonst gefüttert.«

»Hm, hm«, machte Mutter, »vielleicht solltest du einen Löffel Leber–«

»Nein, ich bin kerngesund!«, brüllte Travis. »Und jetzt muss ich los zur Schule!« Damit stürmte er aus dem Zimmer.

Nur um Haaresbreite war er einer Dosis Lebertran entkommen, Mutters Allheilmittel für sämtliche Leiden und zugleich das Ekligste, was es auf dieser Welt gibt. Wenn man nicht schon krank war, bevor man das Zeug schlucken musste, war man es mit Sicherheit hinterher. Allein die Drohung mit einem kleinen Löffel Lebertran reichte aus, um noch das kränkste Kind dazu zu bewegen, vom Sterbebett wieder aufzuerstehen und bei bester Gesundheit zur Schule zu flitzen oder zur Kirche oder zu irgendwelchen lästigen Arbeiten im Haus, die es erwarteten.

Auf unserem Weg zur Schule fragte ich Travis, was los sei.

»Ich habe Armand gestern Abend reingeholt«, sagte er.

»Was soll das heißen?«

»Er hat bei mir im Zimmer geschlafen.«

Ich sah ihn groß an. »Machst du Witze? Du hast seinen Stall ins Haus geschleppt?«

»Nein. Bloß Armand.«

Ich starrte ihn immer noch an. »Du meinst … er konnte in deinem Zimmer frei rumlaufen?«

»Ja! Du hättest mal hören sollen, was für einen Krach er gemacht hat.«

Mir drehte sich der Kopf. Travis erzählte munter weiter. »Er wollte und wollte nicht schlafen, also hab ich mich runter in die Vorratskammer geschlichen und ihm ein Ei geholt, aber er hat immer noch keine Ruhe gegeben. Er hat in allen Zimmerecken gescharrt und seinen Panzer an den Bettpfosten gerieben. Ein grässliches Geräusch war das, und das ging die ganze Nacht so.«

»Ich fasse es nicht«, sagte ich. »Was war denn mit den anderen?« Travis teilte sich ein Zimmer mit den beiden Kleinen, Sul Ross und Jim Bowie.

»Die haben tief und fest geschlafen«, antwortete Travis verbittert. »Die haben nichts mitgekriegt.«

»Du weißt, dass es keine gute Idee ist, Armand zu behalten«, sagte ich und wollte ihm schon aus Sicht der großen Schwester einen Vortrag darüber halten, was alles gegen Armand sprach, doch in dem Moment stieß Lula Gates zu uns, meine Freundin und Klassenkameradin, die manchmal mit uns zusammen zur Schule lief. Von meinen Brüdern waren gleich mehrere – einschließlich Travis – in Lula verliebt. An diesem Tag trug sie in ihren langen silberblonden Haaren eine neue Seidenschleife, die ihre Augen besonders grün leuchten ließ. Meerjungfrauenaugen sagte Travis dazu. Sobald er Lula erblickte, fiel alle Müdigkeit von ihm ab. (Ich sollte vielleicht erwähnen, dass Travis eine besondere Begabung für das Glück hatte. Er war einer der seltenen Menschen, deren ganzes Gesicht strahlt wie die Sonne, wenn sie lächeln, und die ganz und gar erfüllt sind von ansteckendem Glück, sodass die Welt gar nicht anders kann, als zurückzulächeln.)

»Hey, Lula«, sagte er, »rate mal, was ich habe. Ein neues Haustier – ein Gürteltier.«

»Wirklich?«

»Du solltest es dir mal anschauen. Es frisst dir aus der Hand. Wenn du willst, kannst du es füttern. Möchtest du?«

»Na, klar möchte ich, unbedingt. Du hast wirklich immer die spannendsten Haustiere.«

So kam es, dass – vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit – ein Neunbindengürteltier dabei half, einem Mädchen den Hof zu machen, und somit ein Instrument des Liebeswerbens wurde.

Zu Travis’ großer Freude kam Lula gleich am nächsten Nachmittag. Es war nicht zu übersehen, dass er in Lulas Gunst klar an meinen Brüdern vorbeizog. Er hob sein neues Haustier aus dem Stall und fütterte es mit einem Ei. Armand stürzte sich mit der üblichen Begeisterung darauf. Lula sah ihm fasziniert zu, doch da sie recht zart besaitet war, verzichtete sie darauf, ihn auf den Arm zu nehmen. (Damals ahnten wir es nicht, doch es sollte sich als ihr Glück erweisen.)

An jedem Wochenende verbrachte Travis Stunden in der Scheune und bemühte sich, aus Armand ein richtiges Haustier zu machen, doch ohne Erfolg. Er knuddelte ihn, fütterte ihn und polierte Armands Panzer mit einem weichen Tuch, aber Armand ließ das alles kalt.

An einem Abend überraschte mich Travis, indem er Großpapa direkt ansprach, was selten vorkam – genau genommen nie. Er begann so: »Sir?«

Keine Antwort.

»Sir? Großvater?«

Großpapa schreckte aus seinen Tagträumen hoch und schaute sich am Tisch um, wer da wohl gesprochen hatte. Schließlich blieb sein Blick an Travis hängen.

»Ja – ähm, junger Mann?«

Unter dem direkten, forschenden Blick verlor Travis fast den Mut. »Ich … Ich wüsste nur gern, Sir … Wie alt werden Gürteltiere, Sir?«, stammelte er.

Großpapa strich sich über den Bart und sagte: »Im Allgemeinen um die fünf Jahre, würde ich sagen, wenn sie in Freiheit leben. In Gefangenschaft soll es jedoch schon Exemplare gegeben haben, die fünfzehn Jahre alt wurden.«

Travis und ich sahen einander erschrocken an, was Großpapa bemerkte. Er schien amüsiert, sagte aber nichts weiter.

 

Wir fütterten Armand zweimal am Tag, und er nahm auch gut zu, was zweifellos daran lag, dass er nicht mehr in der Natur herumstreifen musste, um etwas zum Abendessen zu finden. Er ließ es sogar kurz zu, dass Travis ihn auf den Arm nahm, aber das war auch schon alles. Obwohl wir ihm täglich seine harten Eier brachten, zeigte er nie so etwas wie Freude über unser Kommen. Stattdessen kratzte er unablässig an einer der Ecken seines Stalls, und zwar so heftig, dass wir eine Wand mit Holzscheiten verstärken mussten. Doch auf unerklärliche Weise liebte Travis Armand, so wie er alle Tiere liebte, und war nicht bereit, auf ihn zu verzichten.

Eines Morgens machte ich wieder einen kurzen Abstecher in die Vorratskammer, konnte aber keine harten Eier entdecken. Viola saß am Küchentisch und war dabei, eine riesige Menge Kartoffeln zu schälen. Meine Brüder, alle noch im Wachstumsalter, schafften es Tag für Tag, sich durch einen ganzen Berg dieser Knollen hindurchzupflügen. »Wieso gibt’s keine Eier?«, fragte ich.

»Aha, du warst das also«, antwortete Viola. »Ich hab mich schon gefragt, ob die Eier neuerdings Beine bekommen haben. Was machst du nur damit?«

»Nichts«, sagte ich beherzt.

»Du isst die alle selber?«

»Ja.«

»Kann ich kaum glauben, Fräuleinchen. Bringst du die irgend so einem Landstreicher unten am Fluss? Das würde deiner Momma gar nicht gefallen.«

»Dann solltest du ihr vielleicht nichts davon sagen«, erwiderte ich eine Spur schnippischer als beabsichtigt.

»Nicht in diesem Ton, Fräulein.«

»Tut mir leid«, sagte ich und setzte mich zu ihr, um beim Schälen zu helfen. Ich staunte, wie schnell und geschickt ihre Finger waren. In derselben Zeit, in der ich eine einzige Kartoffel voller Augen zustande brachte, hatte sie zwei vollkommene Exemplare fertig. Stumm arbeiteten wir eine Weile, dann sagte ich: »Es ist kein Landstreicher. Es ist was anderes. Wenn du versprichst, es niemandem zu verraten, sag ich’s dir.«

Mit niemand war natürlich Mutter gemeint.

»Komm mir nicht auf die Tour. Das solltest du langsam wissen.«

Ich seufzte. »Du hast recht. Tut mir leid.«

»Aber sicher doch.«

»Ha ha, sehr witzig. Aber wenn du’s unbedingt wissen willst – es handelt sich um eine Art Experiment.«

»Sei still, ich will nichts davon wissen.«

»Komisch, das sagen oft Leute zu mir.«

»Ach ja.«

Mir fiel auf, dass Idabelle, die Hauskatze, nicht in ihrem Korb beim Ofen lag. Bestimmt war Viola auch deswegen so gereizt. Sie machte sich immer Sorgen, wenn das Tier, das ihr normalerweise Gesellschaft leistete, die Küche verließ, um auf Mäusejagd zu gehen oder sich oben ein sonniges Plätzchen zu suchen. Idabelles Aufgabe war es, gegen Ungeziefer in unserer Vorratskammer vorzugehen, und das machte sie wirklich sehr gut, auch wenn man es nicht glauben mochte, wenn sie so dick und träge dalag. Im Winter war sie zudem ein wunderbarer Bettwärmer. Außer Idabelle gab es noch die »Draußen-Katzen«, die für die Veranden und die Nebengebäude zuständig waren. Die gingen manchmal in die Scheune und starrten Armand an, der sie aber – was auch sonst? – ignorierte.

Endlich waren wir mit den Kartoffeln fertig. Bevor ich hinausging, gab ich Viola einen Kuss auf eine Wange, und sie scheuchte mich mit einem Klaps hinaus.

Am späten Nachmittag, als es schon dämmerte, rief Großpapa mich in die Bibliothek und gab mir mit einem Fingerzeig zu verstehen, ich solle mich auf den Kamelsattel setzen, meinen üblichen Platz in diesem Raum. Dann hielt er eine Zeitschrift hoch. »Calpurnia, ich habe hier die neueste Ausgabe des Journal of Southwestern Biology. Darin findet sich der Bericht eines Naturforschers aus Louisiana, der sich anscheinend die Hansen-Krankheit zugezogen hat, nachdem er mit einem Gürteltier Kontakt hatte. Diese Tiere gelten als Überträger der Krankheit.«

»Ach, wirklich?«

»Deshalb schlage ich vor: Solltest du zufällig ein Gürteltier in deinem Besitz haben – womit ich nicht unterstellen will, dass dem so ist –, lass es bei der erstbesten Gelegenheit frei.«

»Ähm … gut. Was ist eigentlich diese Hansen-Krankheit?«

»Eine merkwürdige, schreckliche Krankheit, für die es keine Heilung gibt. Gemeinhin ist sie unter der Bezeichnung Lepra bekannt.«

Ich schoss von meinem Sitz hoch wie ein aufgeschreckter Fasan aus einem Gebüsch und stürmte aus der Bibliothek. Die Gedanken rasten nur so durch meinen Kopf, mein Herz klopfte den Rhythmus dazu: Nein – nein – nicht Travis! Nicht diese schrecklichen Geschwüre, die Gesicht und Hände entstellen und dazu führen, dass die Opfer ihr Leben in Leprasiedlungen hinter Stacheldraht fristen müssen, hilflos und von ihren Mitmenschen gemieden! Undenkbar, dass der weichherzige Travis verbannt werden sollte in das Land der Verdammten!

Ich rannte so schnell in die Scheune, dass die Pferde im Stall laut wieherten und die Scheunenkatzen erschrocken davonstoben.

Neben dem Stall stand Travis und hatte Armand auf dem Arm. »Lass ihn los!«, brüllte ich noch im Laufen. »Lass ihn los!«

Travis fuhr zusammen und sah mich verwundert an. »Was?«

»Lass ihn los! Er ist gefährlich!«

Travis starrte mich verständnislos an.

Ich streckte beide Hände nach dem Gürteltier aus, tat aber gleich wieder einen Schritt zurück. Ich brachte es nicht über mich, das Tier anzufassen.

»Lass ihn los!«, wiederholte ich schwer atmend. »Diese Tiere können Krankheiten übertragen, sagt Großpapa.« Ich packte den Rock meiner Schürze, und mit dieser Schutzhülle für meine Hände packte ich das Tier und warf es auf den Boden.

»He!«, protestierte Travis. »Du tust ihm weh! Was für Krankheiten überhaupt? Guck ihn dir doch an, Callie, er ist kerngesund.«

Er bückte sich, um Armand wieder hochzuheben.

»Lepra!«, keuchte ich.

Travis erstarrte. »Was?«

»Großpapa sagt, sie können Lepra übertragen. Wenn du das bekommst, musst du in einer Leprakolonie leben und siehst deine Familie nie wieder.«

Travis wurde ganz bleich und wich zurück.

Armand schnüffelte beiläufig an einem losen Heubüschel, während wir dastanden und ihn anstarrten wie eine Granate, die jeden Moment explodieren konnte. Ich atmete tief durch und tätschelte Travis’ Arm. »Bestimmt ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Er ist bestimmt eins von den gesunden Tieren.«

Ein Schauder ging durch Travis. Armand schnüffelte noch kurz, dann wanderte er ein bisschen in der Scheune umher.

»Vielleicht solltest du dir die Hände waschen.«

Travis starrte mich aus untertassengroßen Augen an und krächzte: »Du meinst, das hilft?«

Ich hatte nicht die geringste Ahnung und log einfach: »Natürlich tut es das.«

Wir rannten zur Pferdetränke, wo ich mit aller Kraft mit dem Schwengel Wasser pumpte, während Travis sich wie wild die Hände schrubbte und dazu mit den Zähnen klapperte.

Als wir uns umsahen, bekamen wir gerade noch mit, wie Armand sich aus dem Staub machte, in Richtung der Büsche am Rand unseres Grundstücks. Ich fragte mich, wie ein Tier, das so wenig Notiz von seiner Umwelt nahm, überhaupt in der Wildnis überleben konnte. Ajax hingegen, Vaters preisgekrönter Hühnerhund, war von steter Neugier getrieben, überwachte unablässig sein Revier, registrierte jede kleine Veränderung und nahm noch den schwächsten Geruch auf. Seine ausgeprägte Wachsamkeit war ein perfektionierter Überlebensmechanismus. Armand ging so etwas offenbar völlig ab.

Frage fürs Notizbuch: Hatte Armands unbekümmerte Art mit seinem Panzer zu tun? Vielleicht scherte man sich ja wenig um seine Umgebung, wenn man so einen Schutz bei sich trug, in den man sich ruckzuck zurückziehen konnte. War das der Grund dafür, dass Armand taub und blind für alles um ihn herum schien? Oder konnte es sein, dass er an seine eigene Welt perfekt angepasst war, in der wir Menschen aber schlicht und einfach keine Rolle spielten?

Wir sahen ihm nach, wie er in der zunehmenden Dunkelheit verschwand.

Travis winkte ihm traurig nach. »Tschüss, Armand. Oder Dilly. Du warst mein allerliebstes Gürteltier. Werd mir bloß nicht krank!«

Armand (oder Dilly) blieb sich treu und ignorierte Travis.

In der folgenden Woche schrubbte Travis sich so oft und heftig die Hände, bis sie fast wund waren. Mutter bemerkte es und lobte ihn für seine Reinlichkeit. »Wie schön, dass wenigstens einer meiner Söhne endlich begreift, wie wichtig saubere Hände sind. Was hat dich dazu gebracht?«

»Na ja, ich hatte doch dieses Gür–«

»Nein, nein«, sprudelte es aus mir heraus, »Miss Harbottle hat uns in der Schule einen Vortrag darüber gehalten. Wirklich, ha ha. Seitdem waschen wir uns alle dauernd die Hände. Hi hi!«

Mutter kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.

Ach, Travis, Travis, du flaumiges Küken unter all meinen Brüdern. Wie du es schafftest, einen Tag nach dem anderen zu überleben, ohne unter die Räder des Lebens zu kommen, war mir ein Rätsel. Später warnte ich ihn: »Hör zu, wenn Mutter je von Armand erfährt, wirst du nie wieder irgendein Tier adoptieren dürfen. Ganz gleich, was es ist. Nie wieder. Willst du das?«

»Ich glaub nicht.«

»Das dachte ich mir.«

»Es juckt mich überall. Und schlecht ist mir auch und schwindlig. Ach ja, und die Haare tun mir weh. Glaubst du, das ist Lepra?«

Ich wusste es nicht, also schlug ich in einem Buch aus Großpapas Bibliothek über ansteckende und tropische Krankheiten nach. Die Bilder in diesem Buch waren so gruselig, dass man sie lieber nicht so genau anschaute (am besten gar nicht), wegen all der Darstellungen von Körperteilen, die von Hakenwürmern befallen waren oder langsam abstarben.

Ich fand heraus, dass zu den frühen Symptomen der Lepra der Verlust der Augenbrauen zählt sowie Taubheit der kühleren Hautstellen, wie zum Beispiel an den Knien. Travis kontrollierte bestimmt hundert Mal am Tag seine Augenbrauen, und mindestens einmal am Tag musste ich ihn ganz fest in die Knie kneifen. Jedes Mal sagte er »Au!« und seufzte erleichtert. (Damals trug er noch kurze Hosen, und die blauen Flecken an seinen Knien waren unübersehbar. Ich weiß nicht, ob Mutter etwas bemerkt hat; gesagt hat sie jedenfalls nichts.)