Eines späten Dienstagnachmittags klopfte Joe Kurtz an Eddie Falcos Wohnungstür.
»Wer ist da?«, rief Eddie von der anderen Seite der Tür.
Kurtz trat zurück und brabbelte hektisch, aber völlig unverständlich vor sich hin.
»Was?«, rief Eddie. »Ich frag noch mal: Wer zum Henker ist da?«
Kurtz wiederholte sein aufgeregt klingendes Genuschel.
»Scheiße.« Eddie löste den Sicherheitsriegel mit einer Pistole in der rechten Hand, öffnete die Tür einen Spaltbreit, ließ die Kette aber eingehakt.
Kurtz trat die Tür ein, fetzte die Kette aus dem Holz, stürmte ins Zimmer und drängte Eddie Falco in den hinteren Teil des Zimmers zurück. Eddie war einen Kopf größer und locker 15 Kilo schwerer als Kurtz, aber der hatte den Schwung auf seiner Seite.
Eddie versuchte, die Neun-Millimeter-Browning in Anschlag zu bringen. Kurtz schob den größeren Mann quer durch die Wohnung und stieß ihn in die Holzjalousie vor dem Fenster. Mit dem Arm vor Eddies Brust hielt er ihn auf Abstand, die Rechte quetschte seinem Gegenüber den oberen Bizeps ab, während er mit der Linken versuchte, ihn zu entwaffnen.
Eddie drückte den Abzug der Browning durch. Genau, wie es Kurtz geplant hatte, traf der Hahn auf die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger von Kurtz’ Hand.
Kurtz nahm Eddie das Schießeisen ab und schleuderte es mit einem Rückhandschlag gegen die Wand.
»Verfluchter Scheißkerl!«, brüllte Eddie und rieb sich Blut aus dem Gesicht. »Du hast mir die beschissene Nase gebrochen ...« Eddie hechtete nach der Pistole.
Kurtz ließ die Browning aus dem offenen Fenster des sechsten Stocks fliegen, hielt Eddie mit dem linken Arm auf Distanz und trat ihm die Beine weg. Eddies Kopf knallte deutlich hörbar aufs Parkett. Kurtz kniete sich auf seine Brust.
»Erzähl mir von Sam.«
»Wer zum Teufel ist ...?«, keuchte Eddie Falco.
»Samantha Fielding. Die Rothaarige, die du umgebracht hast.«
»Eine Rothaarige?« Eddie spuckte Blut. »Ich wusste nicht mal, wie die Schlampe heißt. Ich habe bloß ...«
Kurtz verlagerte sein gesamtes Gewicht auf ein Knie und Eddie traten die Augen aus den Höhlen. Dann streckte Kurtz die linke Handfläche nach außen, stieß heftig zu und drückte Eddies gebrochene Nase platt gegen die Wange des kreischenden Mannes. »Pass gut auf, was du sagst. Sie war meine Partnerin.«
Eddies Gesicht war kalkweiß und dunkelrot mit Blut besprenkelt. »Ich kriege keine Luft«, keuchte er. »Geh runter von mir ... bitte!«
Kurtz stand auf.
Eddie keuchte noch etwas, spuckte eine blassrote Pfütze auf den Boden, stemmte sich langsam auf einem Knie nach oben und hechtete dann durch die Küchentür.
Kurtz folgte ihm in die winzige Kammer.
Eddie wirbelte herum, ein Schlachtermesser in der Hand. Er ging in Angriffsstellung, täuschte an, sprang, und schien in der Luft zurückzuschweben, als Kurtz ihm gezielt in die Eier trat. Eddie prallte hart gegen eine Arbeitsplatte voll mit dreckigem Geschirr. Er keuchte und würgte, als er versuchte, sich abzurollen und dabei unter sich das schmutzige Geschirr zerbrach.
Kurtz nahm das Messer und warf es an die gegenüberliegende Wand, in der es vibrierend wie eine Stimmgabel stecken blieb.
»Sam. Erzähl mir, was in der Nacht passiert ist, als du sie getötet hast.«
Eddie hob den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Fick dich!« Er griff nach einem anderen, kürzeren Messer, das auf der Anrichte lag.
Kurtz seufzte, rammte dem Schläger den Unterarm in den Hals, drückte ihn nach hinten über die Spüle und stieß Eddies rechte Hand tief in den Abfallzerkleinerer hinein. Eddie Falco brüllte schon, bevor Kurtz sich vorbeugte und auf den Schalter drückte.
Kurtz wartete 30 Sekunden, dann schaltete er die Maschine wieder ab, riss die Vorderseite von Eddies blutigem Unterhemd auf und wickelte den Lumpen um die verstümmelten Finger. Eddies Gesicht war jetzt unter den Blutspritzern schneeweiß. Sein Mund stand offen und er starrte mit Stielaugen an, was von seiner Hand übrig geblieben war. In der Wohnung nebenan hämmerte jemand gegen die Wand.
»Hilfe! Mörder!«, brüllte Eddie. »Ruft die Polizei! Hilfe!«
Kurtz ließ ihn ein paar Sekunden schreien, dann zerrte er ihn zurück ins Wohnzimmer und ließ ihn auf einen Stuhl neben dem Tisch plumpsen. Das Hämmern gegen die Wand hatte aufgehört, aber Kurtz hörte weiterhin die Rufe der Nachbarn.
»Die Polizei ist unterwegs«, keuchte Eddie. »Die Bullen kommen jeden Moment hier rein.«
»Erzähl mir von Sam«, sagte Kurtz sanft.
Eddie umklammerte den blutigen Stofffetzen um seine Hand, sah zum offenen Fenster hinüber, als warte er auf die Sirenen, und leckte sich die Lippen. Er murmelte etwas.
Kurtz schüttelte ihm kräftig die Hand. Diesmal war das Schreien so laut, dass sogar die Nachbarn verstummten.
»Sam«, sagte Kurtz.
»Sie fand das mit dem Koksdeal raus, als sie nach dieser abgehauenen Göre suchte.« Eddie würgte die Worte tonlos hervor. »Ich habe nicht mal ihren beschissenen Namen gekannt.« Er sah Kurtz an. »Hör zu, ich war das nicht. Levine steckt dahinter.«
»Levine behauptet, du wärst es gewesen.«
Eddies Augen zuckten hin und her. »Er lügt. Hol ihn her und frag ihn. Er hat sie umgebracht. Ich habe nur im Wagen auf ihn gewartet.«
»Levine ist dauerhaft verhindert.« Kurtz äußerte es wie beiläufig. »Hast du sie vergewaltigt, bevor du ihr die Kehle durchgeschnitten hast?«
»Ich sag doch, ich war’s nicht. Es war dieser beschissene Le...« Eddie begann wieder zu schreien.
Kurtz ließ den formlosen Klumpen los, der einmal Eddie Falcos Nase gewesen war. »Hast du sie vorher vergewaltigt?«
»Ja.« Etwas wie Trotz flackerte in Eddies Augen auf. »Die Scheißschnalle hat sich gewehrt, hat probiert ...«
»Okay«, sagte Kurtz und klopfte Eddie auf die blutige Schulter. »Wir sind so ziemlich fertig.«
»Was soll das heißen?« Sein Trotz verwandelte sich in Panik.
»Das heißt, dass die Cops in einer Minute hier sein werden. Ist da sonst noch was, das du mir sagen willst?«
Sirenen heulten. Eddie sprang auf die Füße und stolperte zum Fenster; es sah aus, als wollte er den Polizisten zurufen, sie sollten sich beeilen. Kurtz schleuderte ihn gegen die Wand, presste seinen Unterarm gegen Eddies Brust und fixierte ihn an Ort und Stelle. Eddie wand sich und schlug mit der linken Hand und den Überresten seiner rechten Faust nach ihm. Kurtz beachtete ihn kaum.
»Ich schwöre, ich habe nicht ...«
»Schnauze«, erklärte Kurtz. Er packte den größeren Mann bei dem, was von seiner Hemdbrust übrig geblieben war, und zerrte ihn näher ans Fenster.
»Du wirst mich nicht umbringen«, tönte Eddie.
»Nein?«
»Nein.« Eddie deutete mit dem Kopf in Richtung des Fensters, das nur noch wenige Zentimeter entfernt war. Fünf Stockwerke tiefer waren zwei Streifenwagen mit quietschenden Reifen zum Stehen gekommen. Nachbarn strömten aus dem Gebäude und zeigten nach oben. Einer der Officer zog seine Waffe, als er Kurtz und Eddie hinter der Scheibe entdeckte. »Die schicken dich für alle Ewigkeit in den Knast!« Eddies Atem traf Kurtz heiß und schal im Gesicht.
»Ich bin noch gar nicht so alt«, entgegnete Kurtz. »Die paar Jahre kann ich problemlos verkraften.«
Eddie riss sich von ihm los, zerfetzte die Überreste seines malträtierten Hemds, winkte in gespielter Panik und brüllte zu den Polizisten hinunter: »Beeilt euch! Um Himmels willen beeilt euch!«
»Du hast es eilig?«, fragte Kurtz. »Wie du willst.« Er packte Eddie Falco an Haaren und Hosenboden und schleuderte ihn aus dem offenen Fenster.
Die Nachbarn und die Polizisten stoben auseinander. Eddie kreischte die ganze Zeit, bis er auf das Dach des am nächsten stehenden Streifenwagens knallte. Chrom, Plastiksplitter und Plexiglasscherben vom Signalbalken des Streifenwagens flogen in alle Richtungen, als Eddie unsanft landete.
Drei Cops rannten mit gezückten Waffen ins Haus.
Kurtz blieb einen Moment ganz ruhig stehen, dann ging er und öffnete die Tür ein Stück weiter. Als die Polizisten einen Augenblick später hereinstürmten, erwartete er sie kniend mitten im Raum, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Das Erie County Medical Center war ein riesiger Gebäudekomplex, nahe genug am Kensington Expressway, dass die Patienten das Rauschen des Verkehrs hören konnten, wenn sie es denn darauf anlegten. Die wenigsten taten das. In der Regel waren die Patienten viel zu sehr mit Dahinvegetieren und Sterben und dem Versuch, trotz Schmerzen einzuschlafen, beschäftigt. Deshalb nahmen sie den fernen Klang der Autos über dem lauten Sirren der Klimaanlage, den Gongs und Ansagen und dem Geplauder in den Fluren und Zimmern nicht wahr. Offiziell endete die Besuchszeit abends um 21:00 Uhr, aber die letzten Besucher bequemten sich in der Regel erst um kurz nach zehn nach Hause.
Um 22:15 Uhr an diesem Oktoberabend stieg ein hochgewachsener dünner Mann in schlichtem braunem Regenmantel und Tirolerhut mit roter Feder aus dem Fahrstuhl vor der Intensivstation des Westflügels. Der Mann hatte einen kleinen Blumenstrauß dabei. Er schien Mitte 50 zu sein, mit traurigen Augen, einem etwas entrückten Blick und der Andeutung eines Lächelns unter dem sauber gestutzten, ingwerfarbenen Schnurrbart. Er trug teure schwarze Handschuhe.
»Es tut mir leid, Sir, aber die Besuchszeit ist vorbei.« Die Stationsschwester hielt ihn mit ihrem Blick auf, bevor er sich auch nur drei Schritte vom Fahrstuhl entfernt hatte.
Der große Mann blieb stehen und wirkte noch verlorener. »Ja ... es tut mir leid.« Sein Englisch besaß einen europäischen Akzent. »Ich bin gerade erst aus Stuttgart eingetroffen. Meine Mutter ...«
»Sie können sie morgen früh besuchen, Sir. Die Besuchszeit beginnt um 10:00 Uhr.«
Der Mann nickte, wandte sich zum Gehen, drehte sich dann wieder um und streckte die Blumen wie eine Waffe in ihre Richtung aus. »Mrs. Haupt. Sie haben Sie doch auf Ihrer Liste, oder? Ich bin gerade aus Stuttgart eingetroffen und mein Bruder meint, Mama befindet sich in einem sehr kritischen Zustand.«
Bei Erwähnung des Namens schielte die Schwester kurz auf ihren Computermonitor. Was sie zu Gesicht bekam, brachte sie dazu, sich auf die Lippe zu beißen. »Mrs. Haupt ist Ihre Mutter?«
»Ja.« Der große Mann im Regenmantel trat nervös von einem Fuß auf den anderen und starrte den Blumenstrauß an. »Es sind schon zu viele Jahre vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ich hätte früher kommen sollen, aber die Arbeit ... und jetzt muss ich morgen auch schon wieder zurückfliegen.«
Die Stationsleiterin zögerte. Schwestern und Pfleger hasteten hin und her und brachten den Patienten vor dem Einschlafen die letzten Medikamente. »Sie müssen wissen, Mr. ... Haupt?«
»Ja.«
»Es ist so, Mr. Haupt: Ihre Mutter liegt jetzt schon seit mehreren Wochen im Koma. Es macht keinen Unterschied, ob Sie ihr einen Besuch abstatten oder nicht.«
Der Mann mit den traurigen Augen nickte. »Aber für mich macht es einen Unterschied, ob ich sie sehe oder unverrichteter Dinge wieder nach Deutschland zurückfliege.«
Die Schwester bekam tatsächlich feuchte Augen. »Hier den Flur hinunter, Sir. Mrs. Haupt liegt in einem der Privatzimmer. 1108. Ich schicke Ihnen in ein paar Minuten eine Schwester, falls Sie etwas brauchen.«
»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte der Mann im Regenmantel und schlurfte mitten durch den Wirbel zweckgerichteter Bewegung und das damit einhergehende Chaos.
Mrs. Haupt lag im Koma. Diverse Schläuche führten in ihren Körper hinein und aus ihm heraus. Auf dem Nachtschrank neben dem Bett grinste ihn ihr Gebiss aus einem Wasserglas an. Der Mann mit dem Regenmantel und dem Tirolerhut wickelte das Papier um die Stängel der Blumen ab und stellte sie in das Glas mit den Zähnen der alten Frau. Dann spähte er auf den Korridor hinaus, sah niemanden und machte sich lautlos auf den Weg zu Zimmer 1123.
Es gab keine Wachen. Carl dämmerte in seinem schmerzmittelinduzierten Schlaf, als der Mann den Raum betrat. Sein Kopf war bandagiert, das Gesicht eine Ansammlung von Blutergüssen, die zu einem Brillenhämatom zusammenliefen. Durch seinen Kiefer zogen sich mehrere stabilisierende Drähte. Beide Beine lagen in Gips und wurden durch ein kompliziertes Konstrukt aus Spanndrähten, Gegengewichten und Metallrahmen fixiert. Carls rechter Arm war mit einem Klettband befestigt, seine Linke sogar auf ein Brett geklebt, damit die Infusion ungehindert fließen konnte. Eine Menge Schläuche komplettierten das Bild.
Der große Mann entfernte vorsichtig den Rufknopf für die Schwestern aus Carls Reichweite. Dann zog er eine mit Kappe versehene Spritze aus der Tasche seines Regenmantels und führte sie mit der rechten Hand, während er mit der anderen Carls verdrahteten Kiefer zusammenquetschte.
»Carl? Carl?« Die Stimme des Mannes klang sanft und beruhigend.
Carl grunzte und stöhnte, versuchte sich umzudrehen, wurde aber von der Batterie an Fixierungen und Schnüren daran gehindert, und öffnete ein Auge. Es war offensichtlich, dass er den Mann im Regenmantel nicht erkannte.
Der Fremde entfernte mit den Zähnen die Schutzkappe der Spritze und zog den Zylinder zurück, wodurch sich die Spritze mit Luft füllte. Mit einer nahtlosen Bewegung spuckte er die Kappe wieder aus und fing sie mit der Hand auf, in der er die Spritze hielt. »Bist du wach, Carl?«
Im noch funktionierenden Auge von Carl zeichnete sich benommene Verwirrung ab. Sie wich jähem Entsetzen, als er beobachtete, wie sein nächtlicher Besucher die Zuführung von der Infusionsflasche löste, den Alarm deaktivierte und die Spitze der Spritze in den Schlauch einführte. Carl versuchte, sich auf den Rufknopf zuzurollen. Der Fremde packte seinen Arm mit der Kanüle und hielt ihn fest.
»Die Farinos möchten dir für deine loyalen Dienste danken, Carl, und haben mich gebeten, dir zu sagen, dass es ihnen leidtut, dass du so ein Idiot warst.« Die Stimme des Mannes klang sanft. Er drückte die Nadel der Spritze tiefer in den Infusionskanal hinein.
Carl gab schreckliche Laute durch seinen verdrahteten Kiefer von sich und zappelte auf dem Bett hin und her wie ein riesiger Fisch.
»Sccchhhhh«, flüsterte der Mann besänftigend und drückte den Stempel bis zum Anschlag durch. Die Luftblase war in dem transparenten Schlauch gut zu erkennen, als sie sich auf Carls Unterarm zubewegte.
Mit einem geübten Handgriff setzte der Mann die Schutzkappe wieder auf die Spritze und ließ sie in seiner Manteltasche verschwinden. Wie er mit der Linken Carls Handgelenk festhielt und die Armbanduhr an seinem eigenen rechten Handgelenk beobachtete, musste jeder zufällig Vorbeikommende annehmen, dass hier ein Arzt noch eine späte Visite machte und den Puls des Patienten fühlte.
Carls gebrochener Kiefer knirschte hörbar und einer der Drähte riss tatsächlich. Die Geräusche, die er von sich gab, waren nicht mehr als menschliche Laute zu identifizieren.
»Noch vier oder fünf Sekunden«, sagte der Mann in dem Regenmantel sanft. »Da, jetzt ist es so weit.«
Die Luftblase traf auf Carls Herz und ließ es förmlich explodieren. Carl verkrampfte sich so heftig, dass zwei der stählernen Halteseile summten wie Hochspannungsleitungen bei starkem Wind. Die Augen des Bodyguards traten aus den Höhlen, bis sie zu platzen drohten, wurden dann aber von einer Sekunde zur nächsten blicklos und trüb. Blut strömte aus beiden Nasenlöchern.
Der Mann ließ Carls Handgelenk los, verließ den Raum, entfernte sich durch den kurzen Flur in entgegengesetzter Richtung vom Schwesternzimmer und verließ die Klinik über das hintere Treppenhaus durch den Keller und dann über die Einfahrt für die Krankenwagen.
Sophia Farino wartete draußen in ihrem schwarzen Porsche Boxster auf ihn. Das Verdeck war hochgeklappt, weil es immer noch regnete. Der große Mann glitt neben ihr auf den Beifahrersitz. Sie fragte nicht, wie es gelaufen war.
»Zum Flughafen?«
»Ja, bitte«, sagte der Mann im gleichen sanften, beruhigenden Tonfall, in dem er auch mit Carl gesprochen hatte.
Sie fuhren mehrere Minuten über die Kensington in östlicher Richtung. »Das Wetter in Buffalo macht mir immer wieder Spaß«, sagte der Mann und brach das Schweigen. »Es erinnert mich an Kopenhagen.«
Sophia lächelte und sagte: »Ach, das hätte ich beinahe vergessen.« Sie öffnete das kleine Handschuhfach und entnahm ihm einen dicken weißen Umschlag.
Der Mann ließ die Andeutung eines Lächelns aufblitzen und stopfte den Umschlag in die Tasche seines Regenmantels, ohne das Geld nachzuzählen. »Bitte richten Sie Ihrem Vater meine besten Grüße aus.«
»Das werde ich machen.«
»Und wenn es da noch etwas geben sollte, was ich für Ihre Familie tun kann ...«
Sophia blickte weg vom Klack-Klack der Scheibenwischer. Es waren nur noch wenige Meilen bis zum Flughafen. »Nun, es gäbe da tatsächlich eine Sache ...«
Kurtz saß in dem winzigen Büro bei der Stadtverwaltung, sah über den chaotischen Schreibtisch seine Bewährungshelferin an und dachte, dass sie ein wirklich schnuckeliger Käfer war.
Seine Bewährungshelferin hieß Peg O’Toole. Eigentlich gehörten Formulierungen wie ›schnuckeliger Käfer‹ nicht zu seinem üblichen Wortschatz, aber genau das war Miss O’Toole. Vermutlich Anfang 30, aber ihr sommersprossiges Gesicht ließ sie jünger erscheinen. Sie hatte rotes Haar – nicht das verblüffende leuchtende Rot wie Sam, sondern einen dunkleren Kastanienton –, das ihr in Naturlocken bis auf die Schultern fiel. Nach heutigen Standards ein bisschen mollig, aber gerade das gefiel Kurtz an ihr. Der Schriftsteller Tom Wolfe hatte es auf den Punkt gebracht, als er New Yorks magersüchtige Partymäuschen als »gesellschaftliche Abziehbilder« beschrieb. Kurtz fragte sich beiläufig, wie Parole Officer Peg O’Toole wohl darauf reagieren würde, wenn er ihr erzählte, dass er Tom Wolfe las. Dann fragte sich Kurtz, ob mit ihm etwas nicht stimmte, weil er sich über einen solchen Quatsch Gedanken machte.
»Und wo wohnen Sie, Mr. Kurtz?«
»Hier und da.« Kurtz gefiel es, dass sie nicht wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen ungefragt zum Duzen überging.
»Sie werden eine feste Adresse brauchen.« Ihr Tonfall war weder leutselig noch kalt, einfach nur geschäftsmäßig. »Ich muss Ihre Wohnung im Laufe des nächsten Monats inspizieren, um mich zu vergewissern, dass sie Ihren Bewährungsauflagen entspricht.«
Kurtz nickte. »Ich habe mich in einem Motel 6 einquartiert, bin aber auf der Suche nach einer dauerhaften Bleibe.« Er hielt es nicht für sinnvoll, ihr von dem leer stehenden Kühlhaus und dem geliehenen Schlafsack zu erzählen, die er aktuell als Wohnsitz einstufte.
Miss O’Toole machte sich eine Notiz. »Sind Sie auf der Suche nach einer Arbeitsstelle?«
»Ich habe bereits einen Job.«
Sie hob leicht die Augenbrauen. Kurtz bemerkte, dass sie sehr dicht waren und die gleiche Farbe wie ihr Haar besaßen.
»Ich bin selbstständig tätig«, erklärte er.
»Das reicht nicht. Wir müssen das genauer wissen.«
Kurtz nickte. »Ich habe eine Agentur für Nachforschungen eröffnet.«
Die Bewährungshelferin tippte sich mit ihrem Kugelschreiber gegen die Unterlippe. »Ihnen ist schon bewusst, Mr. Kurtz, dass Sie im Bundesstaat New York keine Zulassung als Privatdetektiv mehr bekommen und es Ihnen strikt untersagt ist, eine Feuerwaffe bei sich zu tragen oder sich in der Gegenwart von Kriminellen aufzuhalten?«
»Ja«, sagte Kurtz. Als O’Toole darauf nicht reagierte, fuhr er fort: »Es ist ein offiziell angemeldetes Gewerbe – Sweetheart Search.«
Miss O’Toole lächelte nicht wirklich. »Sweetheart Search? Ist das eine Art Partnervermittlung?«
»In gewisser Weise. Es ist eine internetbasierte Personensuche. Meine Sekretärin und ich erledigen 99 Prozent der Arbeit am Computer.«
Die Bewährungshelferin tippte sich mit dem zusammengesteckten Stift gegen die Zähne. »Es gibt Hunderte solcher Angebote im Netz.«
»Das hat Arlene, meine Sekretärin, auch gesagt.«
»Und warum glauben Sie, dass Ihr Projekt Geld abwerfen wird?«
»Zunächst glaube ich, dass es da draußen so an die hundert Millionen Babyboomer gibt, die so langsam aufs Rentenalter zusteuern und am liebsten ihren jetzigen Partner los wären. Die meisten von ihnen trauern wahrscheinlich immer noch ihren alten Liebschaften aus High-School-Tagen hinterher. Sie wissen schon, die Erinnerung an den ersten Sex auf dem Rücksitz eines 66er Mustangs und solche Sachen.«
Miss O’Toole lächelte. »Da ist nicht viel mit Rücksitz in einem 66er Mustang«, sagte sie. Sie war nicht anzüglich, dachte Kurtz, sie hatte nur eine gute Beobachtungsgabe.
»Sie mögen alte Mustangs?«
»Wir sitzen hier nicht, um über meine Vorliebe für aufgemotzte alte Protzschlitten zu diskutieren. Warum sollten sich diese alternden Babyboomer ausgerechnet an Ihre Firma wenden? Schließlich gibt es all die anderen billigen Schulfreund-Suchmaschinen im Web.«
»Ja, aber ich und Arlene, wir zeigen da etwas mehr Initiative.« Er zögerte. »Sagte ich ›Initiative‹? Gott, wie ich das Wort hasse. Arlene und ich, wir arbeiten mit mehr ... Fantasie.«
Miss O’Toole wirkte bereits zum zweiten Mal leicht überrascht.
»Na ja, jedenfalls durchforschen wir alte High-School-Jahrbücher, finden jemanden, der wahrscheinlich damals – wir fangen in den 60ern an – in seiner oder ihrer Klasse sehr beliebt gewesen ist. Und dann schicken wir die Informationen an ehemalige Schulfreunde. Sie wissen schon: ›Haben Sie sich je gefragt, was aus Billy Benderbix geworden ist? Finden Sie es über Sweetheart Search heraus‹ – so in etwa.«
»Das Wort Datenschutz ist Ihnen schon ein Begriff? «
»Ja. Es gibt nicht genug davon im Netz. Aber wir suchen lediglich die früheren Klassenkameraden über frei zugängliche Suchmaschinen heraus und schicken ihnen dann die Infos per Massen-Mail.«
»Und das funktioniert?«
Kurtz zuckte die Achseln. »Wir sind zwar erst seit ein paar Tagen im Geschäft, aber es gab schon mehrere Hundert Zugriffe.« Er zögerte. Er wusste, die Bewährungshelferin legte so wenig Wert auf Small Talk wie er selbst, aber er wollte die Geschichte mit jemandem teilen und es gab einfach sonst niemanden in seinem Leben. »Wollen Sie von unserem ersten Versuch hören?«
»Sicher.«
»Nun, Arlene hat die letzten Tage Jahrbücher zusammengetragen. Mehrere Kartons aus allen Ecken des Landes. Weitere sind noch per Post unterwegs ins Büro, aber wir wollen uns erst mal auf den Großraum Buffalo konzentrieren, bis wir eine richtige Datenbank zur Verfügung haben.«
»Das ergibt Sinn.«
»Gestern waren wir dann endlich startklar. Ich sage zu ihr: ›Picken wir uns zufällig jemanden raus, der unser erster Mister oder Miss Unwiderstehlich wird ...‹ Jedenfalls schnappt sich Arlene dann dieses Jahrbuch vom Stapel – Kenmore West, 1966 – und klappt es auf. Ich fahre mit meinem Finger die Spalte entlang und wähle zufällig jemanden aus. Er hat einen merkwürdigen Namen, aber ich denke mir, was soll’s. Und dann fängt Arlene an zu lachen ...«
O’Tooles Gesichtsausdruck wirkte unbeteiligt, aber sie hörte aufmerksam zu.
»Wolf Blitzer«, sagte Kurtz. »›Ich glaube, seine Klassenkameraden wissen, was aus dem geworden ist‹, meint Arlene. ›Wieso?‹, frag ich. Und Arlene lacht und lacht ...«
»Sie kennen Wolf Blitzer also nicht?«, fragte O’Toole.
Kurtz zuckte wieder mit den Schultern. »Ich schätze, er ist berühmt geworden, als mein Verfahren noch lief, und seitdem habe ich nicht mehr viel ferngesehen.«
O’Toole lächelte.
Kurtz fuhr fort. »Na ja, jedenfalls ... Arlene hört auf zu lachen, erklärt mir, dass Wolf Blitzer als Journalist für CNN arbeitet und darum wohl keine gute Wahl für uns wäre. Dann zieht sie ein Jahrbuch von der West Seneca raus, tippt mit dem Finger auf das erstbeste Foto. Wieder ein Junge. Tim Russert.«
O’Toole lachte leise. »NBC«, kommentierte sie.
»Ja. Von ihm hatte ich auch noch nie gehört. Aber Arlene hat sich schlapp gelacht.«
»Ein erstaunlicher Zufall.«
Kurtz schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Zufälle. Arlene hat sich einen Spaß mit mir erlaubt. Sie besitzt einen ziemlich merkwürdigen Sinn für Humor. Jedenfalls haben wir schließlich doch noch jemanden aus einer High School in der Gegend von Buffalo aufgetrieben, der kein bekannter Fernsehmoderator ist, und ...«
Das Telefon klingelte. Als O’Toole abnahm, war Kurtz ganz froh über die Unterbrechung. Er hatte nur noch vor sich hingeplappert.
»Ja ... ja ... gut«, sagte O’Toole. »Ich verstehe. In Ordnung. Gut.« Als sie auflegte, schien es Kurtz, als sei ihr Blick kälter geworden.
Die Tür flog auf. Ein Polizist von der Mordkommission namens Jimmy Hathaway und ein jüngerer Cop, den Kurtz noch nie gesehen hatte, kamen mit gezogenen Glocks in den Raum, die Marken deutlich sichtbar am Gürtel befestigt. Kurtz drehte sich wieder um und sah, dass Peg O’Toole eine Sig Pro aus ihrer Handtasche gefischt hatte und sie direkt auf Kurtz’ Gesicht gerichtet hielt.
»Hände hinter den Kopf, Arschloch«, brüllte Hathaway.
Sie legten ihm Handschellen an, durchsuchten ihn – er war natürlich sauber, weil es keine gute Idee gewesen wäre, zu einem ersten Treffen mit seiner Bewährungshelferin eine Knarre mitzubringen – und dann stießen sie ihn mit dem Gesicht gegen die Wand, während der jüngere Beamte seine Taschen ausleerte: Wechselgeld, Autoschlüssel, eine Tüte Fisherman’s Friend.
»Sie werden diesen verschissenen Loser nicht wiedersehen«, sagte Hathaway zu O’Toole, als er Kurtz durch die Tür stieß. »Der geht zurück nach Attica und kommt diesmal nicht wieder raus.«
Kurtz sah noch einmal zu Peg O’Toole zurück, bevor ein weiterer Schubs ihn in den Flur hinauskatapultierte. Sie hatte ihre Waffe weggelegt. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich.
Kurtz wusste, dass es kein angenehmes Verhör würde, als Hathaway, der Kerl von der Mordkommission, die Jalousie vor den Einwegspiegel an einer Wand zog und dann das Kabel des Aufnahmemikrofons aus der Buchse im Fußboden riss. Ein zweites schlechtes Vorzeichen war, dass er Kurtz mit Handschellen hinter dem Rücken an einen Metallstuhl mit gerader Lehne fesselte, der fest mit dem Fußboden verschraubt war. Den dritten Hinweis lieferten einige dunkle Flecken auf dem mitgenommenen Holztisch und ähnliche Flecken auf dem Linoleum rund um den festgeschraubten Stuhl, obwohl Kurtz sich einredete, dass es sich um verschütteten Kaffee handeln könnte. Noch eindeutiger wurde die Sache, als Hathaway sich ein Paar Latexhandschuhe überstreifte, die Rettungssanitäter benutzten, um sich nicht mit Aids anzustecken.
»Willkommen zurück, Kurtz, du Arschgesicht«, begrüßte ihn Hathaway, kaum dass die Jalousie blickdicht war. Er trat schnell drei Schritte vor und schlug Kurtz mit dem Handrücken ins Gesicht.
Kurtz’ Kopf rappelte und er spuckte Blut auf den Linoleumboden. Die gute Nachricht war, dass Hathaway den schweren Goldring an der linken Hand ausgezogen hatte, wahrscheinlich, um die Latexhandschuhe nicht zu beschädigen. Kurtz’ Wange zierte immer noch eine schwache Narbe vom Ohr bis zum Mundwinkel aus einer ähnlichen Plauderei mit Hathaway, die zwölf Jahre zurücklag.
»Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Lieutenant«, sagte Kurtz.
»Das heißt Detective«, betonte Hathaway.
Kurtz zuckte mit den Schultern, soweit seine stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit das zuließ. »Es sind mehr als elf Jahre vergangen«, erinnerte er und spuckte wieder Blut. »Ich hatte mir ausgerechnet, dass Sie in all der Zeit endlich mal die Prüfung zum Lieutenant bestanden haben müssten. Oder wenigstens die zum Sergeant.«
Hathaway trat vor und schlug Kurtz erneut ins Gesicht, diesmal mit geballter Faust.
Kurtz verlor einen Moment das Bewusstsein und kam wieder zu sich, als der jüngere Polizist sagte: »... um Himmels willen, Jimmy.«
»Halt den Mund«, brüllte Detective Hathaway. Er marschierte um den Tisch herum und sah auf seine Uhr. Kurtz schloss daraus, dass dem Detective bei diesem Verhör nur eine begrenzte Zeit für sein Privatvergnügen blieb. Das ist gut, dachte er. In seinen Ohren hörte er immer noch ein Klingeln.
»Wo warst du gestern Morgen, Kurtz?«, bellte Hathaway.
Kurtz schüttelte den Kopf. Das war ein Fehler. Der Raum schwankte und drehte sich um ihn. Nur die Handschellen hielten ihn aufrecht auf dem Stuhl.
»Ich sagte, wo warst du gestern?« Hathaway kam näher.
»Anwalt«, stöhnte Kurtz. Er hatte immer noch Blut im Mund, aber alle Zähne schienen noch fest im Kiefer zu sitzen.
»Was?«
»Ich will einen Anwalt.«
»Dein Anwalt ist tot, du Scheißhaufen. Dieser schwuchtelige Winkeladvokat von Murrell hatte vor vier Jahren einen Herzinfarkt.«
Kurtz wusste das. »Anwalt«, forderte er erneut.
Hathaways Antwort bestand darin, seine Glock Neun-Millimeter aus seinem Schulterholster und eine winzige .32 Smith & Wesson aus der Jackentasche zu ziehen. Er warf die 32er auf den Tisch vor Kurtz. Die klassische Falle, indem man dem Verdächtigen eine Waffe zuspielte.
»Jimmy, um Gottes willen!«, rief der andere, kleinere Cop. Kurtz konnte nicht sagen, ob es Teil ihrer üblichen Masche war oder der jüngere Mann wirklich beunruhigt war. Falls es sich nur um das gängige Guter Bulle, böser Bulle-Spielchen handelte, hätte der Junge einen Oscar verdient.
»Vielleicht haben wir dich nicht genau genug durchsucht, als du eingeliefert wurdest«, ätzte Hathaway und starrte Kurtz aus seinen blassblauen Augen an. Kurtz war schon immer der Meinung gewesen, dass Hathaway nicht alle Tassen im Schrank hatte. In den letzten zehn Jahren schien er noch viel weiter abgedreht zu sein.
Hathaway lud eine Patrone in die Kammer seiner Glock. »Wo warst du gestern Morgen, kleiner Joe?«
Kurtz fand das allmählich langweilig. Im Laufe des letzten Jahrzehnts hatte er sich mit vielen anderen Sträflingen über das Oberste Gebot ›Töte niemals einen Bullen‹ unterhalten. Kurtz’ Einstellung, mit der er immer wieder aneckte, war ein schlichtes ›Wieso nicht?‹. Dabei hatte er häufig an Hathaway gedacht.
Kurtz wandte seinen Blick vom rot angelaufenen Gesicht des Bullen ab und versuchte, an etwas anderes zu denken.
»Du erbärmliches Arschloch«, fluchte Hathaway. Er steckte die Glock wieder in den Halfter, ließ die 32er mit einer kurzen Handbewegung verschwinden und schlug Kurtz mit einem Totschläger gegen das Schulterblatt. Er sah dem Modell, das Kurtz gegen Carl eingesetzt hatte, verdammt ähnlich. Sofort wurden seine Schulter und der komplette linke Arm taub, dann raste der Schmerz hindurch.
Der andere Polizist stöpselte das Mikrofon wieder ein und öffnete die Jalousie. Hathaway hatte sich die Latexhandschuhe abgestreift. Die untergeschobene Waffe und der Totschläger waren außer Sicht. Die Glock steckte im Holster.
Na, dachte Kurtz, das ist doch prima gelaufen.
»Joe Kurtz, Sie bestätigen, dass Sie über Ihre Rechte aufgeklärt worden sind?«, fragte Detective Hathaway.
Kurtz stöhnte. Vermutlich war das Schulterblatt nicht gebrochen, aber es würde Stunden dauern, bis er seinen linken Arm wieder benutzen konnte.
»Wo waren Sie gestern Vormittag zwischen 09:00 und 11:00 Uhr?«
»Ich will einen Anwalt«, sagte Kurtz und sprach so deutlich, wie es ihm möglich war.
»Ein Pflichtverteidiger wird soeben benachrichtigt«, sprach Hathaway in das Mikrofon. »Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Befragung mit Zustimmung und auf Bitte von Mr. Kurtz stattfindet.«
Kurtz beugte sich näher zum Mikrofon. »Ihre Mutter hat an der South Delaware Street Schwänze gelutscht, Detective Hathaway. Ich war Stammkunde bei ihr.«
Hathaway vergaß, dass er keine Handschuhe mehr trug, und versetzte Kurtz einen Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht, sodass das Blut aus seiner Nase gegen die zwei Meter entfernte Wand spritzte. Das war echt clever von mir, dachte er. Die frisieren diese Bänder doch sowieso. Er schüttelte den Kopf, den er schnell genug zurückgezogen hatte, um einer gebrochenen Nase zu entgehen.
»Erkennen Sie diese Frau?«, fragte der andere Polizist und schob einen weißen Aktenordner über den Tisch. Er schlug ihn auf.
»Bluten Sie bloß nicht auf die Fotos!«, warnte ihn Hathaway.
Kurtz versuchte sich daran zu halten, obwohl auf den Schwarz-Weiß-Bildern so viel Blut zu sehen war, dass ein bisschen von der echten Sorte auch keinen Unterschied mehr machte.
»Erkennen Sie die Frau?«, wiederholte der Polizist seine Frage.
Kurtz schwieg. Anhand der Fotos ließ sich gerade noch erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Trotzdem wusste Kurtz natürlich, wen er vor sich hatte. Er erkannte die unbequemen Stühle mit den senkrechten Lehnen rund um den Frank-Lloyd-Wright-Tisch sofort wieder.
»Leugnen Sie, dass Sie gestern Morgen im Haus dieser Frau waren?«, drängte der jüngere Polizist. Und dann fügte er in Richtung des Mikrofons hinzu: »Fürs Protokoll: Mr. Kurtz weigert sich, die Fotografie von Mary Anne Richardson zu identifizieren, mit der er sich gestern traf.«
Gestern hatte sie noch eine Nase, Augen, Brüste und die Haut am Körper. Kurtz war versucht, es laut auszusprechen. Er sah sich die Bilder genau an, die auf der Tischfläche vor ihm ausgebreitet lagen. Der Mörder war ein Messerfetischist, kräftig, ein perverses Schwein, aber geschickt mit der Klinge. Auch wenn die Häutung nach Schlachthaus aussah, zeugte sie von großem Können. Kurtz bezweifelte, dass Mrs. Richardson den Unterschied zu schätzen gewusst hatte. Jedenfalls wirkte es, als habe sie der Messerheld während der Prozedur möglichst lange am Leben halten wollen. Kurtz sah sich den Hintergrund des Tatortfotos an und versuchte, die Zeit des Mordes anhand der Stellung des Mobiliars einzuschätzen. Er konnte keine Veränderung gegenüber seinem Besuch feststellen. Es schien, als hätte es keinen wirklichen Kampf gegeben – oder der Mann mit dem Messer war so stark gewesen, dass sich die Auseinandersetzung auf den kleinen Teil blutdurchtränkten Teppichs direkt vor dem Esszimmer beschränkte. Vielleicht waren noch Helfer im Spiel gewesen – einer, der sie festhielt, und einer, der an ihr herumschnippelte.
»Ist das da Sperma auf ihrem Kleid?«, fragte Kurtz.
»Schnauze!«, knurrte Detective Hathaway. Er trat näher heran, legte eine Hand auf das Mikro und ergriff Kurtz’ Schulter mit der anderen. Sein Stöhnen war von kurzer Dauer, aber der Polizist hielt weiter mit der Hand das Mikro abgedeckt. »Dafür haben wir dich an den Klöten, Kurtz. Dein Name steht in ihrem Terminkalender. Außerdem gibt es einen Anrufer, der dich am Tatort identifiziert hat.«
Kurtz seufzte. »Du weißt, dass ich das nicht gewesen bin, Hathaway. Das ist nicht mein Stil. Wenn ich Hausfrauen massakriere, benutzte ich dafür immer eine Mac10.«
Hathaway zeigte seine imposanten Zähne und drückte fester zu. Dieses Mal hatte Kurtz damit gerechnet und ihm entfuhr kein lautes Stöhnen, auch wenn es ihm vorkam, als würden seine Schulterknochen gegeneinanderklappern wie Kastagnetten.
»Schafft mir diesen Dreck hier raus«, sagte Hathaway.
Auf sein Kommando hin betraten zwei große uniformierte Beamte den Raum, schlossen seine Handschellen auf und fesselten ihn erneut mit den Händen auf dem Rücken. Sie führten ihn aus dem Raum. Einer der Uniformierten hatte Kleenex mitgebracht, um das Blut abzuwischen, das von Kurtz’ Wange und Lippen tropfte.
Kurtz sah auf sein blaues Hemd hinunter – sein einziges Hemd. Scheiße.
Die Uniformierten schleiften ihn den Gang entlang, durch verschiedene grüne Flure, durch Sicherheitsschleusen nach unten in den Keller, wo man ihm die Fingerabdrücke abnahm, ihn noch einmal durchsuchte und unvorteilhafte Digitalfotos von ihm machte. Kurtz schüttelte den Kopf – Hathaway konnte nicht ernsthaft vorhaben, ihm einen Mord anzuhängen. Bei der Anhörung konnte Kurtz, was auch immer man ihm vorwerfen würde, eine Kaution stellen und war dann bis zur Anklageerhebung auf freiem Fuß.
»Was grinst du so, Scheißkerl?«, fragte der Polizist, der sich vergeblich abmühte, den großen Klumpen blutiger Küchentücher loszuwerden, ohne mit dem Blut in Berührung zu kommen.
Kurtz schaltete wieder auf seinen normalen Gesichtsausdruck um. Der Gedanke an eine Kaution amüsierte ihn. Alles, was er auf der Welt besaß, befand sich in seiner Brieftasche – inzwischen etwas weniger als 20 Dollar. Arlene war auch chronisch knapp bei Kasse. Nein, er musste das hier aussitzen – zuerst in den Arrestzellen im Gerichtsgebäude und dann unten im Bezirksgefängnis von Erie County –, bis irgendwann jemandem im Büro des Bezirksstaatsanwaltes auffiel, dass es hier gar keinen Fall gab und Hathaway nur viel Lärm um nichts veranstaltet hatte.
Na ja, dachte Kurtz, mit Rumsitzen und Warten kannte er sich mittlerweile bestens aus.
Hast du das kapiert, Kumpel?«, fragte Malcolm Kibunte Doo-Rag nun schon zum vierten Mal. »Er wird irgendwann morgen im Laufe des Tages dem Haftrichter vorgeführt, dann wird man ihn entweder direkt oder einen Tag später in den normalen Vollzug verlegen.«
»Hab ich kapiert«, sagte Doo-Rag und nickte fast unmerklich. Sein starrer Blick unter den schweren Lidern flatterte ein wenig, aber seine Aufmerksamkeitsspanne reichte für Malcolms Zwecke gerade noch aus.
»Gut«, sagte Malcolm und klopfte dem Gangmitglied auf den Rücken.
»Was ich aber echt nicht kapiere und was du mir echt noch erklären musst«, sagte Doo-Rag und grinste ihn schief an, »is, wieso du auf deine alten Tage so beschissen großzügig wirst, Malcolm. Weißt du, was ich meine? Wie kommt es, dass du mir und meinen Jungs die ganzen zehn Riesen von der D-Mosque überlässt, wenn wir das hier für dich erledigen; du weißt schon, wenn wir diesen fiesen weißen Teigklumpen für dich durchkneten und wegbrutzeln? Ich kapier das nicht!«
Malcolm streckte ihm die offenen Handflächen entgegen. »Du tust das ja nicht für mich, Doo. Es sind die Block-D-Mosque-Brüder, die ihn abgemurkst sehen wollen. Ich bin eh raus aus der Nummer. Ich komme da nicht rein und deswegen auch nicht an ihn ran. Also sage ich doch lieber euch Bescheid, Kumpel. Wenn ihr mir einen Teil der Belohnung abgebt, das wär zwar echt cool, aber ich selbst komm nicht an den Scheißkerl dran, klar? Also wenn deine Jungs das auf die Reihe kriegen ...« Malcolm versuchte, möglichst leidenschaftslos zu wirken. »Dann ist der Arsch tot, die Mosques sind glücklich und alles ist cool.«