KAPITEL 1

Am Tag, als man ihm in den Kopf schoss, lief alles erstaunlich gut für Joe Kurtz. Tatsächlich war schon seit Wochen alles erstaunlich gut gelaufen. Im Nachhinein schalt er sich, er hätte wissen müssen, dass das Universum früher oder später das Gleichgewicht des Leidens auf seine Kosten wiederherstellen würde.

Erst recht auf Kosten der Frau, die neben ihm stand, als die Schüsse fielen.

Er hatte um 14 Uhr einen Termin bei seiner Bewährungshelferin und traf pünktlich im Civic Center ein. Weil es zu dieser Tageszeit nahezu unmöglich war, in der Nähe des Gerichtsgebäudes einen Parkplatz an der Straße zu finden, benutzte Kurtz die Tiefgarage unter dem Komplex, der Verwaltungsgebäude, Justizpalast und Familiengericht vereint. Was er an seiner Bewährungshelferin am meisten schätzte, war ihre Macht, Parkgebühren auf Staatskosten zu erstatten.

Doch das war nicht ihre einzige positive Seite, wie Kurtz ehrlicherweise eingestehen musste. Officer Margaret ›Peg‹ O’Toole, ehemals beim Drogen- und Sittendezernat des Buffalo Police Department tätig, hatte ihn immer anständig behandelt, kannte und mochte seine Sekretärin – Arlene Demarco – und half Kurtz aus der Patsche, als ein übereifriger Kriminalbeamter versuchte, ihn mit einer untergeschobenen Waffe zurück in den Knast zu bringen.

Joe Kurtz hatte sich in den elfeinhalb Jahren, die er wegen Totschlags in Attica saß, mehr als nur ein paar Feinde gemacht, und die Chancen standen schlecht, dass er einen weiteren Gefängnisaufenthalt überlebte, nicht einmal im Bezirksknast. Neben der Erstattung seiner Parkscheine hatte Peg O’Toole ihm also wahrscheinlich auch das Leben gerettet.

Sie wartete bereits auf ihn, als er anklopfte und ihr Büro im ersten Stock betrat. Dabei fiel ihm auf, dass O’Toole ihn grundsätzlich nie warten ließ. Und während die meisten Bewährungshelfer mit einem Platz im Großraumbüro vorliebnehmen mussten, hatte O’Toole sich ein eigenes Zimmer mit Blick auf das Erie County Holding Center an der Church Street erarbeitet. Wahrscheinlich konnte sie an wolkenlosen Tagen dabei zusehen, wie die Obdachlosen in die Ausnüchterungszellen geschleppt wurden.

»Mr. Kurtz.« Sie winkte in die Richtung seines üblichen Platzes.

»Agent O’Toole.« Er setzte sich.

»Wir stehen kurz vor einem bedeutenden Termin, Mr. Kurtz«, kündigte O’Toole feierlich an und warf erst einen Blick auf ihn und dann auf seine Akte.

Kurtz nickte. In wenigen Wochen war es exakt ein Jahr her, seit man ihn aus Attica entlassen und er zum ersten Mal bei seiner Bewährungshelferin vorgesprochen hatte. Da es bisher nicht zu ernsthaften Problemen gekommen war – zumindest keinen, von denen sie oder die Cops wussten –, würde er bald nur noch monatlich statt wöchentlich zu einem kleinen Plausch bei ihr vorbeischauen. Heute stellte sie ihre üblichen Fragen und Kurtz gab seine üblichen Antworten.

Peg O’Toole war eine attraktive Frau Ende 30 – leicht übergewichtig nach heutigem Magersuchtstandard, in Kurtz’ Augen dadurch aber umso anziehender. Sie trug ihre kastanienbraunen Haare lang und offen, hatte durchdringende grüne Augen, eine Vorliebe für teure, aber konservative Kleidung und trug eine Sig Pro 9-Millimeter-Halbautomatik in ihrer Handtasche mit sich herum. Kurtz kannte das Fabrikat, weil er die Waffe schon einmal gesehen hatte.

Er mochte O’Toole – und das nicht nur, weil sie ihm vor knapp einem Jahr aus der Patsche geholfen hatte, sondern auch, weil sie so hilfsbereit und entgegenkommend war, wie es ein Bewährungshelfer gegenüber seinem Klienten nur sein konnte. Er hatte noch nie einen erotischen Gedanken an sie verschwendet, doch das war nicht ihre Schuld – die Vorstellung einer nackten Expolizistin entfaltete bei Kurtz eine ähnliche Wirkung wie eine Literdosis Anti-Viagra.

»Betreiben Sie immer noch mit Mrs. Demarco zusammen diese Website? Sweetheart Search?«, erkundigte sich O’Toole. Als verurteilter Verbrecher bekam Kurtz vom Bundesstaat New York keine Lizenz mehr für seinen früheren Job als Privatdetektiv, aber er konnte sich mit dem Suchdienst für ehemalige High-School-Liebschaften halbwegs über Wasser halten. Zuerst erledigte Arlene die Vorrecherche übers Internet, dann leistete er ein bisschen elementare Ermittlungsarbeit auf der Straße.

»Heute Morgen habe ich den ehemaligen Mannschaftskapitän eines High-School-Footballteams im Norden von Tonawanda aufgespürt«, berichtete Kurtz, »um ihm einen handgeschriebenen Brief von seiner früheren Cheerleader-Freundin auszuhändigen.«

O’Toole blickte von ihren Notizen auf und nahm die Hornbrille ab. »Sah der Footballheld denn noch wie ein Footballheld aus?«, hakte sie mit der winzigsten Andeutung eines Lächelns nach.

»Sie gehörten beide zum Abschlussjahrgang 1961 an der Kenmore West. Der Kerl ist fett, kahl und lebt in einem Wohnwagen, der schon bessere Zeiten erlebt hat. An der Seite flattert eine Südstaatenflagge, daneben parkt ein klappriger 72er Camaro.«

O’Toole verzog das Gesicht. »Und die Cheerleaderin?«

Kurtz zuckte die Schultern. »Wenn es ein Foto gab, dann befand es sich in dem versiegelten Brief. Aber ich kann sie mir lebhaft vorstellen.«

»Ersparen Sie mir besser die Details«, unkte O’Toole. Sie setzte ihre Brille wieder auf und schielte auf ihre Akte. »Wie läuft es mit Wedding Bells?«

»Geht langsam in die heiße Phase. Arlene hat die Vorarbeit für die Website erledigt, Kontakte zu Schneidern, Druckereien, Konditoreien, Musikern, Kirchen und Festsälen hergestellt und die Verträge aufgesetzt – allmählich kommt Geld herein, wenn ich auch nicht genau weiß, wie viel. Mit diesem Teil der Firma habe ich nicht viel zu tun.«

»Aber Sie sind Investor und Mitbesitzer?« In der Stimme der Bewährungshelferin schwang nicht eine Spur von Sarkasmus mit.

»Sozusagen.« Kurtz wusste, dass O’Toole sich im Juni beim Besuch in ihrem neuen Büro den Gesellschaftervertrag angesehen hatte. »Ich stecke einen Teil meines Einkommens aus Sweetheart Search in Wedding Bells und kassiere dafür einen Anteil am Gewinn.«

Kurtz verstummte. Er überlegte, wie die Schwerverbrecher und Messerstecher oder die Jungs von der Arischen Bruderschaft im Gefängnis von Attica reagieren würden, wenn sie ihn so reden hörten. Gut denkbar, dass die D-Block-Mosque das Kopfgeld, das sie auf ihn ausgesetzt hatte, aus reiner Verachtung von 15.000 auf 10.000 Dollar absenkte.

O’Toole fingerte nervös an ihrem Brillengestell herum. »Ich spiele mit dem Gedanken, Mrs. Demarcos Dienste in Anspruch zu nehmen.«

Kurtz blinzelte. »Wedding Bells? Für die Planung einer Hochzeit?«

»Ja.«

»Zehn Prozent Rabatt für persönliche Bekannte. Ich meine, Sie haben Arlene schließlich kennengelernt.«

»Ich weiß, was Sie meinen, Mr. Kurtz.« O’Toole rutschte auf dem Stuhl herum. »Haben Sie noch Ihr Zimmer im ... wie hieß das Hotel? Harbor Inn?«

»Ja.« Kurtz’ alte Absteige, das Royal Delaware Arms in der Nähe der Innenstadt, war im Juli von der Bauaufsicht geschlossen worden. Nur die Bar in dem riesigen alten Gebäude hatte noch geöffnet und angeblich bestand die einzige Kundschaft aus den Ratten, die sich im maroden Mauerwerk herumtrieben. Kurtz brauchte eine feste Adresse für seine Bewährungsakte und dafür diente ihm das Harbor Inn. Er war noch nicht dazu gekommen, O’Toole zu gestehen, dass das kleine Hotel im Süden der Stadt schon vor Jahren Konkurs angemeldet hatte. Die Miete für das verfallene Haus kostete weniger, als er damals für sein Zimmer im Delaware Arms hinblättern musste.

»An der Kreuzung Ohio und Chicago Street?«

»Richtig.«

»Ich würde nächste Woche gern vorbeikommen und es mir ansehen«, kündigte die Bewährungshelferin an. »Nur damit alles seine Richtigkeit hat.«

Verdammt, dachte er. »Sicher.«

O’Toole lehnte sich zurück, und Kurtz nahm an, dass sich ihr Plauderstündchen damit dem Ende näherte. Ihre Treffen waren in den letzten Monaten zur reinen Formsache geworden. Er fragte sich, ob Officer O’Toole allgemein entspannter und lockerer wurde, jetzt wo der drückend heiße Sommer vorbei und das angenehme Herbstklima im Anmarsch war. Die Blätter am einzigen Baum vor dem Fenster ihres Büros leuchteten orange und waren bereit, sich vom Wind abreißen zu lassen.

»Sie scheinen sich vollständig von Ihrem Autounfall letzten Winter erholt zu haben«, bemerkte die Bewährungshelferin. »Bei Ihren letzten Besuchen fiel mir kaum noch auf, dass Sie hinken.«

»Ja, ich bin fast wieder ganz der Alte.« Kurtz’ Autounfall im Februar hatte darin bestanden, abgestochen und aus einem Fenster im zweiten Stock geschleudert zu werden und anschließend durch das morsche Betonvordach des alten Buffaloer Bahnhofs zu krachen. Er hielt es nicht für zwingend notwendig, die Bewährungskommission über sämtliche Einzelheiten seines Lebens als Zivilist in Kenntnis zu setzen.

Die Lügengeschichte zog eine für Kurtz sehr schmerzliche Konsequenz nach sich, denn er hatte seinen perfekt erhaltenen, zwölf Jahre alten Volvo verkaufen müssen – er konnte schlecht in einem Wagen durch die Stadt fahren, den er angeblich auf einer einsamen vereisten Straße in seine Einzelteile zerlegt hatte. Jetzt fuhr er einen deutlich älteren roten Pinto. Der Volvo fehlte ihm.

»Sie sind in der Gegend von Buffalo aufgewachsen, nicht wahr, Mr. Kurtz?«

Er reagierte nicht sofort, doch er spürte, wie sich seine Gesichtshaut anspannte. O’Toole kannte seinen Lebenslauf aus der Akte, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag, und hatte sich noch nie in seine Vergangenheit in der Zeit vor Attica vorgewagt. Was habe ich angestellt?

Er nickte.

»Ich frage nicht aus beruflichen Gründen. Es gibt da nur ein kleines Rätsel – ein winziges –, das ich gerne lösen würde, und ich glaube, dazu brauche ich jemanden, der in dieser Gegend aufgewachsen ist.«

»Stammen Sie denn nicht von hier?« Die meisten Menschen, die in Buffalo lebten, waren hier auch groß geworden.

»Ich wurde in Buffalo geboren, aber wir zogen weg, als ich drei war«, verriet sie. Dann zog sie die untere rechte Schublade ihres Schreibtischs auf und kramte darin herum. »Ich bin vor elf Jahren zurückgekommen, als ich beim Buffalo Police Department anfing.« Sie fand den weißen Umschlag, den sie gesucht hatte. »Jetzt brauche ich den Rat eines Einheimischen und eines Privatdetektivs.«

Kurtz starrte sie ausdruckslos an. »Ich bin kein Privatdetektiv«, konstatierte er, die Stimme noch ausdrucksloser als der Blick.

»Kein lizenzierter«, stimmte O’Toole zu, die sich ganz offensichtlich nicht einschüchtern ließ. »Nicht, nachdem Sie wegen Totschlags eingesessen haben. Aber nach allem, was ich gelesen oder gehört habe, waren Sie mal einer der Besten ihrer Zunft.«

Darauf hätte Kurtz beinahe reagiert. Worauf zur Hölle will sie hinaus?

Sie zog drei Fotos aus dem Umschlag und schob sie über den Tisch. »Können Sie mir sagen, wo das hier ist – oder was?«

Kurtz sah sich die Aufnahmen genauer an. Es waren Farbabzüge in Standardgröße. Kein Rand, kein Datumsdruck auf der Rückseite, also konnten sie irgendwann in den letzten Jahrzehnten aufgenommen worden sein.

Auf dem ersten Bild war ein altes, ramponiertes Riesenrad zu sehen, bei dem einige Gondeln fehlten. Es überragte kahle Bäume auf einem bewaldeten Hügel. Dahinter konnte man in der Ferne ein Tal und die Andeutung eines Flussbetts erkennen. Der Himmel hing tief und war grau.

Die zweite Aufnahme zeigte einen heruntergekommenen Autoscooter-Parcours auf einer verwilderten Wiese. Das Dach war teilweise eingestürzt und auf der Bahn und davor, zwischen dem spröden Winter- oder Spätherbstunkraut, sammelten sich umgestürzte und verrostete Wagen. Einer der Wagen – auf seiner Seite war in verwitterter Goldschrift die Nummer 7 zu erkennen – lag kopfüber in einer vereisten Pfütze.

Das letzte Motiv entpuppte sich als Nahaufnahme vom Kopf eines Karussellpferds mit an zahlreichen Stellen abgeplatzter Lackierung. Nüstern und Maul waren teilweise abgeschlagen und ließen morsches Holz erkennen.

Kurtz nahm sich die Fotos ein weiteres Mal vor und ließ dann bedauernd die Schultern sinken. »Tut mir leid. Damit kann ich nichts anfangen.«

O’Toole nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet. »Sind Sie mit Ihren Eltern nie auf dem Jahrmarkt oder im Vergnügungspark gewesen, als Sie noch klein waren?«

Kurtz musste unwillkürlich lächeln. Besuche auf dem Rummelplatz wollten so gar nicht in seine Kindheit hineinpassen.

O’Toole lief tatsächlich rot an. »Ich meine – in welche Freizeitparks sind die Leute im westlichen New York früher gegangen, Mr. Kurtz? Ich weiß, dass es Six Flags in Darien Lake damals noch nicht gab.«

»Woher wollen Sie wissen, dass das ein alter Park ist?«, hielt Kurtz dagegen. »Vielleicht wurde er erst vor einem Jahr aufgegeben. Vandalen kennen heutzutage keine Gnade.«

O’Toole nickte. »Aber der Rost und ... er wirkt so antiquiert. Ich würde auf 70er-Jahre tippen. Vielleicht sogar die Wilden 60er.«

Kurtz zog eine Augenbraue hoch und gab ihr die Fotos zurück. »Die Leute gingen früher nach Crystal Beach, auf der kanadischen Seite.«

O’Toole nickte erneut. »Aber das war direkt am See, richtig? Keine Hügel, keine Wälder?«

»Stimmt«, musste Kurtz gestehen. »Und der Park wurde nicht dem Verfall preisgegeben wie dieser hier. Als seine Zeit gekommen war, rissen sie ihn ab und verkauften die Fahrgeschäfte und Konzessionen.«

Die Bewährungshelferin stand auf. »Vielen Dank, Mr. Kurtz. Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Beim ersten Mal hatte sie Kurtz damit überrascht. Seitdem leitete es den Abschluss ihrer wöchentlichen Gespräche ein. Sie besaß einen angenehmen, festen Handschlag. Anschließend erstattete sie ihm seine Parkgebühren. Das war der zweite Teil ihres eingeschliffenen Rituals.

Er öffnete die Tür, um zu gehen, als sie sagte: »Vielleicht rufe ich Mrs. Demarco wirklich in den nächsten Tagen wegen der anderen Angelegenheit an.«

Kurtz nahm an, dass sie ihre Hochzeit meinte. »Gerne«, erwiderte er. »Sie haben ja unsere Nummer und Internetadresse.«

Wenn er sich nicht damit aufgehalten hätte, auf der Toilette im Erdgeschoss pinkeln zu gehen, wäre alles anders gekommen, vermutete er später. Aber zur Hölle damit – er musste pinkeln, also tat er es auch. Man musste nicht Marc Aurel lesen, um zu wissen, dass sich alles, was man tat, auf das weitere Leben auswirkte. Wenn man zu lange darüber nachdachte, machte es einen nur verrückt.

Er ging die Treppe hinunter in den Gang zur Tiefgarage und stolperte dort beinahe über Peg O’Toole – mit grünem Kleid, High Heels, Handtasche und allen Schikanen –, die gerade aus dem Aufzug getreten war und die schwere Tür zum Parkdeck aufstieß. Sie hielt inne, als sie Kurtz bemerkte. Er blieb stehen. Es schien unpassend, dass eine Bewährungshelferin zusammen mit einem ihrer Klienten in einer Tiefgarage verschwand und auch Kurtz war von der Idee nicht sonderlich angetan. Aber es gab keinen Ausweg, es sei denn, er ging die Treppe zurück nach oben oder – noch absurder – benutzte den Aufzug. Verdammt.

O’Toole bereitete der peinlichen Situation ein Ende, indem sie lächelte und ihm die Tür aufhielt.

Kurtz schenkte ihr ein höfliches Nicken und schob sich an ihr vorbei in das kühle Halbdunkel. Sie konnte ihn ein Dutzend Schritte vorlassen, wenn sie wollte. Er würde sich nicht umsehen. Hölle noch mal, er hatte wegen Totschlags gesessen, nicht wegen Vergewaltigung.

Sie wartete nicht so lange. Er hörte das Klacken ihrer Schuhe ein paar Meter hinter sich. Offenbar parkte sie im rechten Abschnitt.

»Warten Sie!«, rief Kurtz, drehte sich zu ihr um und hob die rechte Hand.

O’Toole erstarrte, wirkte überrascht und umklammerte ihre Handtasche, in der sie, wie er wusste, normalerweise ihre Sig Pro aufbewahrte.

Die gottverdammten Lampen waren kaputt. Als er vor weniger als einer halben Stunde angekommen war, hatten etwa alle zehn Meter Neonröhren geleuchtet, doch die Hälfte davon funktionierte jetzt nicht mehr. Die dunklen Abschnitte rissen große finstere Lücken.

»Zurück!«, brüllte Kurtz und zeigte auf die Tür, durch die sie gerade gekommen waren.

Peg O’Toole sah ihn an, als habe er den Verstand verloren, ließ aber keine Angst erkennen, als sie in die Handtasche griff, um die Sig Pro herauszuziehen.

Die Schießerei nahm ihren Lauf.

KAPITEL 10

Es war keine besonders lange Fahrt. Kurtz angelte sich das kleine, in braunes Papier eingeschlagene Bündel Kleidung und seine Schuhe vom Rücksitz, überprüfte den Inhalt seiner Brieftasche – alles war noch da – und lehnte sich zurück, spürte dabei die 38er in seinem Kreuz.

»Weißt du, Joe«, sagte Rigby King, »wenn ich dich jetzt durchsuche und eine Waffe finde, würdest du sofort wegen Verletzung von Bewährungsauflagen zurück in den Bau wandern.«

Darauf wusste Kurtz nichts zu erwidern.

Rigbys Wagen glich jedem anderen zivilen Polizeifahrzeug auf dieser Welt – hässliche Lackierung, ein polternder Motor, das Funkgerät halb hinterm Armaturenbrett versteckt, auf dem Boden lag ein Blaulicht mit Magnethalterung für das Wagendach bereit. Die von der Stadt angeschafften Schwarzwandreifen würde kein normaler Mensch freiwillig aufziehen. Jedes Blag im Kindergartenalter erkannte so einen Wagen in einer verregneten Nacht aus fünf Blocks Entfernung als Bullenbüchse.

»Aber ich werde dich nicht durchsuchen, Joe. Du würdest in Attica keine Woche überstehen.«

»Ich habe dort mehr als elf Jahre überstanden.«

»Wie du das geschafft hast, ist mir immer noch ein Rätsel. Zwischen der Arischen Bruderschaft und den ganzen Black-Power-Typen hält es ein Einzelgänger normalerweise keinen Monat aus. Du warst noch nie besonders gesellig, Joe.«

Als sie vor einer roten Ampel hielten, sah Kurtz den Fußgängern beim Überqueren der Straße zu. Sie waren nur noch wenige Blocks vom Civic Center entfernt. Er hätte aussteigen und die restliche Strecke zu Fuß gehen können, wäre er nicht so verdammt benommen gewesen. Der Patzer, die brisante Mappe in Kennedys Büro liegen zu lassen, verriet ihm, wie dringend er Schlaf brauchte. Und vielleicht ein paar Schmerzmittel. Die Fußgänger und die Straße schienen in der Hitze zu flimmern, obwohl es draußen kaum mehr als 15 Grad waren.

»Als mein Mann mich verließ«, plauderte Rigby unvermittelt drauflos, »bin ich zurück nach Buffalo gezogen und habe mich zum Polizeidienst gemeldet. Das war vor ungefähr vier Jahren.«

»Ich habe gehört, du hast einen kleinen Sohn«, antwortete Kurtz.

»Ich schätze, da hast du dich verhört«, fauchte Rigby wütend.

Kurtz hob abwehrend die Hände. »Sorry. Ich habe mich verhört.«

»Ich habe meinen Vater nie getroffen, und du?«

»Du weißt, dass ich ihn nicht kannte.«

»Aber du hast mir mal erzählt, dass er sein Geld laut deiner Mutter als Profidieb oder so verdiente.«

Kurtz zuckte die Schultern. »Meine Mutter war eine Hure. Ich habe sie nicht oft zu Gesicht bekommen, auch nicht in der Zeit vor dem Waisenhaus. Einmal, als sie betrunken war, erzählte sie mir, dass sie glaubte, mein alter Herr sei ein Langfinger gewesen, so ein Typ mit nur einem Namen, und das war nicht mal sein eigener. Kein kleiner Ganove, sondern ein richtig schwerer Junge, der mit anderen Profis größere Dinger drehte und eines Tages für immer die Stadt verließ. Sie sagte, sie sei mit ihm nur eine Woche lang zusammen gewesen, Ende der 60er.«

»Hat sich wahrscheinlich auf einen Raubüberfall vorbereitet«, meinte Rigby.

Kurtz grinste. »Sie sagte, dass er immer nur kurz nach einem erfolgreichen Job mit ihr schlafen wollte.«

»Dein alter Herr mag ein professioneller Dieb gewesen sein, aber du hast nie etwas geklaut, Joe. Zumindest früher nicht. Alle anderen Kids bei Pater Baker, mich eingeschlossen, rissen sich unter den Nagel, was sie kriegen konnten, aber du hast nicht mal irgendwo einen Kaugummi mitgehen lassen.«

Kurtz sagte dazu nichts. Als er Rigby damals kennenlernte und sie auf dem Chorboden der Basilika Unserer Lieben Frau vom Siege wilden Sex hatten, war er 14 gewesen, sie 17. Beide lebten sie in Pater Bakers Waisenhaus. Sie kannten ihre Väter nicht und dieser Umstand schien sie nicht sonderlich zu stören.

»Du hast also deinen alten Herrn auch nie kennengelernt«, setzte er die Konversation fort.

»Damals nicht«, erwiderte Rigby und bog in die Einfahrt der Tiefgarage ab. »Nach der Zeit in Thailand habe ich ihn ausfindig gemacht. Da lebte er schon nicht mehr. Herzinfarkt. Aber ich glaube, er war ganz in Ordnung. Er hat wahrscheinlich gar nicht gewusst, dass es mich gab. Meine Mutter war ein Junkie.«

Kurtz, der Diplomatie nicht für eine seiner Stärken hielt, vermutete, dass es einfühlsame und angemessene Antworten auf diese Enthüllung gab, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, nach einer zu suchen. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er stattdessen. »Hast du auch meine Autoschlüssel?«

Rigby nickte und zog sie aus der Tasche ihrer Jeans. Aber sie ließ sie nicht los. »Denkst du manchmal an damals, Joe?«

»Wann damals?«

»Die Zeit bei Pater Baker. Die Katakomben? Unsere erste Nacht auf dem Chorboden? Das Blue Franklin? Oder die zehn Monate in Thailand?«

»Nicht oft«, gestand Kurtz.

Sie drückte ihm die Schlüssel in die Hand. »Als ich nach Buffalo zurückkam, habe ich versucht, dich zu finden. An meinem zweiten Arbeitstag fand ich heraus, dass du in Attica einsitzt.«

»Eine überaus moderne Haftanstalt. Sie haben dort Besuchszeiten, Post und lauter so neumodischen Kram.«

»Am gleichen Tag«, fuhr Rigby ungerührt fort, »fand ich auch heraus, dass du diesen Kerl umgebracht hast. Aus der fünften Etage auf das Dach eines Streifenwagens geworfen –, den Kerl, der deine Partnerin und Freundin Samantha Sowieso auf dem Gewissen hat.«

»Fielding«, sagte Kurtz und stieg aus dem Wagen.

Das Beifahrerfenster war halb heruntergekurbelt und so beugte sich Rigby zu ihm und bat: »Wir müssen noch einmal über die Schießerei reden. Kemper wollte dich heute erneut vernehmen, aber ich habe gesagt, er soll das arme Schwein erst ein bisschen Schlaf nachholen lassen.«

»Kemper hat es auf mich abgesehen, oder? Es wäre kein Problem gewesen, mir die Handschellen viel früher abzunehmen. Ihr wusstet beide, dass ich Officer O’Toole nicht niedergestreckt habe.«

»Kemper ist ein guter Cop.«

Kurtz ließ das so stehen. Er kam sich blöd vor, als er dastand und sein kleines braunes Päckchen umklammerte wie ein Sträfling, den man zurück in die Gesellschaft schickte.

Aber Rigby war noch nicht fertig. »Er ist ein guter Cop und er glaubt – er weiß –, dass du im Moment auf der falschen Seite des Gesetzes stehst, Joe.«

Kurtz hätte einfach gehen sollen, doch er drehte sich noch einmal zu ihr um. »Weißt du das denn, Rigby?«

»Ich weiß gar nichts, Joe.« Sie legte den Gang ein und ließ ihn mit seinem braunen Päckchen am Straßenrand stehen.

KAPITEL 11

Arlene fuhr pünktlich auf die Sekunde um 21:30 Uhr vor. Kurtz wartete vor dem Harbor Inn auf sie. Der Wind, der über den See nach Westen blies, war kalt und roch nach Oktober. Gestrüpp, Zeitungspapier und Abfall flogen über die Brachflächen und wirbelten um Kurtz’ Füße.

Als er in den blauen Buick einstieg, meinte Arlene: »Wie ich sehe, hast du den Pinto wieder.« Er parkte auf seinem üblichen Platz hinter dem alten Hotel.

»Ja«, bestätigte Kurtz. In den ersten Wochen nach seinem Einzug hatte es ein paar Probleme mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft gegeben, bis er den Größten aus der Autoknackerbande verprügelt und dem Intelligentesten 100 Dollar die Woche geboten hatte, damit sie den Wagen für ihn bewachten. Seitdem waren keine Probleme mehr aufgetreten, nur dass er ihnen mittlerweile ein Mehrfaches dessen in den Rachen gestopft hatte, was der Pinto noch wert war.

Arlene wendete und hielt auf die Lichter des Stadtzentrums zu, dann legte sie einen braunen Umschlag auf die Mittelkonsole. »Der geföhnte Mafiatyp ist aufgetaucht und hat das angekündigte Päckchen vorbeigebracht.«

»Hast du es nicht aufgemacht?«

»Was denkst du von mir?« Arlene zündete sich eine Marlboro an und bedachte ihn mit einem finsteren Blick.

Er öffnete das Kuvert. Eine Liste von fünf Namen mit Datum und Adresse. Ein Mann und zwei seiner Familienangehörigen. Eine Frau. Noch ein Mann.

»Angelina Farino Ferrara hat mich beauftragt, herauszufinden, wer einige von ihren Heroindealern und guten Drogenkunden umgelegt hat«, sagte Kurtz. »Heute Nachmittag ist mir Toma Gonzaga über den Weg gelaufen und hat mir exakt den gleichen Job angeboten, mit dem einzigen Unterschied, dass es um die Kundschaft seines Mafia-Clans geht.«

»Jemand bringt Gonzaga- und Farino-Dealer um?« Arlene klang überrascht.

»Offensichtlich.«

»Ich habe davon nichts in den Channel Seven Action News gehört.« Kurtz wusste, dass Arlene alt genug war, um sich an Irv Weinstein und dessen blutrünstige Nachrichtensendung aus den 70ern zu erinnern. Alle Blutbäder und Leichen des Tages zusammengefasst in einem flott geschnittenen 45-Sekunden-Beitrag. Kurtz vermisste das Format im Einheitsbrei der heutigen Networks.

»Sie haben es vertuscht«, verriet Kurtz.

»Die Familien haben es vertuscht?«

»Ja.«

»Wie zur Hölle können sie fünf Morde vertuschen?«

»Es ist noch viel schlimmer. 22 Morde, wenn man Gonzagas Dealer und Junkies mitzählt.«

»22 Morde? In welcher Zeit? Zehn Jahre? 15?«

»Alle in den letzten Monaten, soweit ich weiß.« Kurtz klopfte auf den Umschlag. »Ich habe die Werbebroschüre noch nicht komplett durchgelesen.«

»Mein Gott«, japste Arlene und entsorgte ihre Asche aus dem Fenster.

»Jepp.«

»Und du hast dich tatsächlich bereit erklärt, für sie Nachforschungen anzustellen? Als ob du keine anderen Sorgen hättest.«

»Sie haben mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte«, umschiffte Kurtz die unangenehme Wahrheit. »Sowohl Gonzaga als auch die Tochter des Don bieten mir Geld und andere Anreize.«

Arlene blinzelte ihn durch den Zigarettenrauch an. Sie wusste, dass Joe so gut wie nie Anspielungen auf irgendwelche Filme machte, schon gar nicht auf den Paten. »Joe«, meinte sie leise, »ich will mich ja nicht einmischen, aber ich glaube nicht, dass Angelina Farino jemals dein Bestes im Sinn hatte.«

Darüber musste Kurtz grinsen. »Da ist die Tiefgarage des Civic Center. Hast du eine Idee, wie wir reinkommen?«

»Hast du heute Nachmittag etwas geschlafen?« Sie fuhr an den Bordstein und hielt.

»Ein bisschen.« Es war ihm gelungen, etwa eine Stunde zu dösen, bevor ihn seine Kopfschmerzen wieder geweckt hatten.

»Ich habe dir ein paar Percocet mitgebracht.« Sie rappelte mit dem Pillenfläschchen.

Kurtz fragte nicht, warum sie das Zeug dabeihatte und wollte es auch gar nicht wissen. »Ich habe ein paar Aspirin geschluckt«, lehnte er dankend ab. »Wichtiger ist mir jetzt sowieso, einen Zugang zum Gebäude aufzutreiben. Der Laden ist bei Nacht vollständig verrammelt. Sogar in der Tiefgarage gibt es ein Metallgitter, das man nur von innen hochfahren kann.«

Arlene hielt ihre Handtasche, die so groß war wie ein Aktenkoffer, in die Höhe, als wäre damit alles geklärt. »Wir gehen ganz brav durch den Vordereingang rein. Ach ja, wegen der Einlasskontrollen solltest du deine Waffe besser im Wagen lassen.«

»Kann ich Ihnen helfen?«, knurrte der Wachmann, der zum Dienst am Metalldetektor eingeteilt war. Eine der Vordertüren war unverschlossen, aber sie führte nur in das große Foyer.

Arlene trat näher, kramte einen Ausweis und ein offiziell wirkendes Schreiben auf städtischem Briefpapier heraus und reichte beides dem Wachmann. Kurtz hielt sich etwas abseits der Deckenlampen, das Gesicht im Schatten und die bandagierte Seite seines Kopfes zur Seite gedreht.

»Büro des Bezirksstaatsanwalts?«, staunte der Wachmann, nachdem er das Dokument gelesen hatte, wobei seine Lippen sich nur leicht bewegt hatten. »Was wollen Sie um diese Zeit hier? Es ist niemand mehr hier. Alle sind längst nach Hause gegangen.«

»Steht doch da«, erklärte Arlene ungeduldig. »Der Bezirksstaatsanwalt höchstpersönlich hat morgen früh um neun eine Anhörung bei Richter Garman, ausgerechnet, und der meiste Papierkram zu diesem Bewährungsfall ist nicht rechtzeitig vorbeigeschickt worden.«

»Nun, Miss ... äh ... Johnson ... ich darf wirklich nicht ...«

»Es muss schnell gehen, Officer Jefferson. Der Bezirksstaatsanwalt hat die Nase voll von der geballten Inkompetenz hier. Wenn er sich in ein paar Stunden blamiert, nur weil er diese Akten heute Abend nicht mehr bekommt ...« Arlene hatte ihr Mobiltelefon herausgeholt und aufgeklappt.

»Okay, okay«, gab Officer Jefferson nach. »Geben Sie mir Ihre Tasche und gehen Sie durch den Detektor.«

Kurtz trat als Erster hindurch und stahl sich hinter der Lichtschranke sofort wieder in den Schatten. Jefferson beäugte misstrauisch ein kleines Metallkästchen, von dem einige Stecker baumelten, und sah Arlene unsicher an.

»Das ist eine externe Festplatte«, erläuterte Arlene und unterdrückte mühsam ein Seufzen und Augenrollen. »Sie glauben doch nicht etwa, dass wir diese Akten von Hand kopieren werden, oder?«

Jefferson schüttelte den Kopf, verstaute die Festplatte wieder und zog ein weiteres schwarzes Gehäuse aus der Handtasche, das etwa 30 Zentimeter lang war und neben zahlreichen Anschlüssen ein Kabel mitbrachte.

»Das ist ein Mini-Scanner für die Akten, die tatsächlich nicht in elektronischer Form vorliegen«, belehrte ihn Arlene und warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Armbanduhr. »Der Bezirksstaatsanwalt braucht die Akten spätestens um halb elf, Mr. Jefferson. Er hasst es, spät ins Bett zu kommen.«

Jefferson zog den Reißverschluss ihrer riesigen Handtasche zu und gab sie ihr zurück. »Mich hat niemand deswegen angerufen, Miss Johnson.«

Arlene lächelte. »Officer, wir reden hier vom Büro des Bezirksstaatsanwalts. Hatten Sie schon einmal mit ihm zu tun? Er ist ein wunderbarer Mann, aber man kann heilfroh sein, wenn er morgens nicht vergisst, den Hosenstall zuzumachen.«

»Miss Feldman ist diese Woche wegen eines Trauerfalls beurlaubt«, gab der Wachmann zu bedenken.

»Das wissen wir«, nickte Arlene. »Aber mein Chef braucht diese Akten trotzdem.«

Jefferson lächelte. »Ja.« Er warf einen Seitenblick auf Kurtz. »Ich sollte Ihnen den Weg zu Miss Feldmans Büro zeigen, aber da müssen Sie ein paar Minuten warten. Leroy ist noch auf seinem Rundgang.«

Arlene hielt einen silbernen Schlüssel hoch. »Carols Schwester hat uns ihren Schlüssel gegeben. Es wird nur ein paar Minuten dauern.« Sie reichte Kurtz die schwere Handtasche. »Wären Sie so nett, mir die abzunehmen, Thomas?«

Kurtz folgte ihr pflichtbewusst, als sie durch die Halle klackerte und den Aufzugknopf drückte. Jefferson salutierte ihnen halbherzig hinterher.

»Das können die hinterher alles auf den Überwachungsbändern nachverfolgen«, gab Kurtz zu bedenken, als sich die Türen des Lifts zischend schlossen.

Arlene brachte das nicht aus der Ruhe. »Wenn es kein Verbrechen gibt, besteht auch kein Grund, die Bänder zu kontrollieren.«

»Ich vermute, Feldmans Büro ist nicht weit von O’Tooles entfernt.«

»Nur ein paar Türen weiter.«

»Eines Tages wird der Bezirksstaatsanwalt diese Geschichte bis zur früheren Chefsekretärin seines Vorgängers zurückverfolgen«, unkte Kurtz.

»Nicht in diesem Leben«, entgegnete Arlene gelassen.

In einem versteckten Seitenfach von Arlenes wundersamer Handtasche steckte das Einbruchswerkzeug, das Kurtz in seiner Zeit als Privatdetektiv immer benutzt hatte. Er entriegelte zuerst Feldmans Tür, knipste das Licht im Raum an und zog sie wieder hinter sich zu. Drei Streifen gelbes Absperrband waren von der Polizei quer über O’Tooles Türrahmen geklebt worden, doch sie schwang nach kurzer Manipulation mit dem Dietrich bereitwillig nach innen auf und sie konnten hindurchsteigen. Kurtz benötigte lediglich eine routinierte Viertelminute, um das vergleichsweise simple Schloss auszutricksen.

Sie ließen die Rollläden herunter und knipsten mit einer Infrarot-Digitalkamera ohne Blitz vier Fotos, damit sie hinterher alles exakt im selben Zustand zurücklassen konnten, wie sie es vorgefunden hatten. Dann schalteten sie die mitgebrachten Halogen-Stiftlampen ein. Sie trugen beide Handschuhe. Peg O’Tooles Computer stand auf dem Schreibtisch. Arlene suchte sich eine Steckdose für das Back-up-Laufwerk, steckte ein USB-Kabel in die Anschlussleiste von O’Tooles PC, bootete den Rechner und flüsterte, dass alles bereit sei.

»Wie lange wird es dauern?«, wisperte Kurtz zurück.

»Hängt davon ab, wie viele Dateien auf der Festplatte abgelegt sind«, erwiderte Arlene und stach mit ihren behandschuhten Fingern auf O’Tooles Tastatur ein. »Ich habe 48 Minuten gebraucht, um eine Sicherheitskopie der Wedding-Bells-Dateien anzulegen.«

»Wir haben keine 48 Minuten!«, zischte Kurtz.

»Stimmt. Aber bei unserer Website liegen 3380 Files im Dokumente-Order, bei O’Toole sind es lediglich … 106.« An der externen Festplatte leuchtete ein grünes Licht auf und der Datenträger begann zu surren. »In knapp acht Minuten sind wir hier raus.«

»Was ist, wenn sie verschlüsselt oder passwortgeschützt sind?«

»Das glaube ich nicht. Aber darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn wir wieder im Büro sind. Jetzt fang an mit deinen Kopien.« Sie drückte ihm den Miniaturscanner in die Hand.

Die Aktenschränke waren verschlossen. Er bekam sie nach 20 Sekunden auf. Mit der Stiftlampe überflog er die breiten Ordnerrücken der Bewährungsakten aus mehreren Jahren. Was er brauchte, war eine aktuelle Liste ... da war sie. Peg O’Toole betreute gegenwärtig 39 aktive Klienten, darunter einen gewissen Joe Kurtz.

Er schaffte sich etwas Platz, schloss den Scanner an und begann, die Dokumente mit dem kleinen Gerät zu digitalisieren. Es gab noch winzigere Ausführungen mit Abmessungen kaum größer als ein Kugelschreiber, doch dieses Modell arbeitete sehr zuverlässig und zog die Seiten automatisch ein, sodass man nicht mühsam mit einem Scannerstift über die einzelnen Textzeilen fahren musste. Kurtz nahm sich die Listen der aktuellen Klienten mit Adressen und Telefonnummern vor.

Arlene entdeckte im Büro noch ein Diktiergerät und einen Ständer mit Kassetten. »Sie zeichnet vermutlich ihre persönlichen Notizen damit auf, Joe«, flüsterte sie, »und tippt sie anschließend in den Rechner. Die Bänder der letzten drei Wochen fehlen allerdings.«

»Die Cops.« Kurtz scannte O’Tooles Terminplaner ein, wofür er den langsameren Lesestift benutzte und damit die handschriftlichen Einträge einen nach dem anderen abgraste. »Wir können nur hoffen, dass sie Zeit fand, ihre letzten Notizen bereits abzuschreiben.« Er hatte die ersten drei Seiten von jeder der 39 Bewährungsakten kopiert, seine eigene eingeschlossen, stellte die Originale wieder in den Aktenschrank zurück, verschloss ihn sorgfältig und kam zum Schreibtisch herüber.

Das externe Laufwerk verkündete mit einem aufmunternden grünen Blinken, dass der Kopiervorgang beendet war. Arlene ließ es angeschlossen und legte eine CD in O’Tooles Computer ein. »Ich will ihre E-Mails«, flüsterte sie.

Kurtz schüttelte den Kopf. »Die werden ganz sicher passwortgeschützt sein.«

Arlene nickte. »Das Programm, das ich gerade lade ... ah ... da haben wir’s ... ist ein sogenannter Trojaner. Er wird sich auf ihrem Rechner einnisten. Sobald sich jemand einloggt und diesen Computer benutzt, wird er uns unbemerkt alle Tastatureingaben per Mail übermitteln.«

»So etwas ist möglich?«, flüsterte Kurtz. Der Gedanke entsetzte ihn und verschlimmerte seine Kopfschmerzen.

»Ich habe es gerade getan.« Arlene holte die CD aus dem Laufwerk und steckte sie in ihre Handtasche.

»Also ist jetzt der ganze Festplattenkram auf der CD?«

»Nein. Officer O’Toole hat keinen Brenner auf diesem ollen Teil. Ich habe die Daten ganz klassisch auf das externe Laufwerk kopiert.«

»Werden die Cops nicht dein … Tastenschnüffelteil finden, wenn sie sich den PC noch einmal vornehmen?«

Arlene lächelte geduldig. »Es würde sich vorher selbst zerstören. Gott, ich wünschte, ich könnte hier drin rauchen.«

»Denk nicht einmal dran«, raunte Kurtz. »Jetzt geh zur Seite, ich muss an den Schreibtisch.«

»Er ist abgeschlossen.«

»M-hm«, machte Kurtz. Er nahm zwei gebogene Metalldrähte zur Hilfe und war fertig, noch bevor Arlene ihren reizenden Hintern vollständig aus dem Weg geschoben hatte. In der mittleren linken Schublade fand sich der übliche Krempel – Kugelschreiber, Büroklammern, ein Lineal, Bleistifte. Briefpapier und Briefmarken warteten in der oberen rechten Abteilung auf ihn, alte Terminkalender in der Mitte rechts.

O’Toole hatte die Fotos des Freizeitparks gestern aus dem unteren Einschub geholt.

Darin lagen ein paar private Besitztümer – Tampons, die verschämt ganz nach hinten geschoben worden waren, Zahnpasta, eine Reisezahnbürste, ein paar Schminkutensilien und ein Kosmetikspiegel. Keine Fotos. Kein Kuvert. Kurtz überprüfte alles noch einmal, um sicherzugehen, dass er nichts übersehen hatte, dann schloss er die Lade wieder. Auch zwischen den aufgestapelten Blättern und Aktenmappen auf dem Schreibtisch wurde er nicht fündig.

»Polizei?«, flüsterte Arlene. Sie wusste, wonach er suchte.

Kurtz zuckte die Schultern. Vielleicht waren die Fotos in ihrer Handtasche gewesen, als auf sie geschossen wurde. »Sind wir fertig hier drinnen?«

Arlene nickte und er schloss alles wieder ab und vergewisserte sich anhand der Infrarotaufnahmen auf dem Display der Digitalkamera, dass alles genauso aussah wie bei ihrer Ankunft. Joe korrigierte noch schnell die Lage eines Bleistifts auf der Arbeitsfläche, dann öffneten sie die Bürotür einen Spaltbreit, vergewisserten sich, dass niemand im Flur war, und huschten hinaus.

Sieben Minuten und zwölf Sekunden.

Kurtz schloss Miss Feldmans Büro auf und schaltete das Licht aus. Ließ die Tür wieder zuschnappen. Sie wären fast über den anderen Wachmann, Leroy, gestolpert, als er gerade aus dem Aufzug trat. »Phil hat mir gesagt, dass Sie hier sind. Schon fertig?«

Arlene hielt den dicken Stapel Sweetheart-Search-Akten, den sie aus ihrer Handtasche gezogen hatte, hoch. »Wir haben die Unterlagen, die der Bezirksstaatsanwalt braucht«, verkündete sie feierlich.

Leroy nickte und ging den Flur entlang, um die Türen zu kontrollieren.

Sobald sie im Freien waren, konnte sich Arlene nicht länger bremsen. Sie gab Kurtz die Handtasche und zündete sich hastig eine Marlboro an. Als sie in den Wagen stiegen, fragte Kurtz: »Hat dir das Spaß gemacht?«

»Worauf du einen lassen kannst. Es ist mehr als zwölf Jahre her, seit ich das letzte Mal im Außendienst eingesetzt war.«

Kurtz dachte darüber nach. Vielleicht sollte er sie künftig häufiger mal für Sonderaufgaben einspannen.

»Sam«, ergänzte Arlene. Kurtz war überrascht, dass Samantha Arlene mit in den Einsatz genommen hatte, ohne ihm etwas davon zu sagen. Offensichtlich hatte sich so einiges in der Detektei abgespielt, wovon er nichts mitbekommen hatte.

»Zurück ins Büro?«, fragte Arlene.

»Zurück ins Büro«, nickte Kurtz. »Aber halt unterwegs an einem Burger King oder einer Frittenbude an.« Es war inzwischen mehr als 30 Stunden her, seit er etwas gegessen hatte.