DANKSAGUNGEN

Es war einmal – in den frühen 90ern, um ein wenig genauer zu sein – da schrieb ich einen Horrorroman namens Depraved. Das Buch in Ihrer Hand ist nicht dieses Depraved. Im Laufe der Jahre haben tatsächlich einige Menschen diesen alten Roman gelesen. Diese Zeilen sind einzig und allein für die Mitglieder jener auserlesenen Gruppe bestimmt, um mögliche Verwirrungen zu lösen. Noch einmal: Dieses Buch ist nicht die Geschichte, die Sie damals gelesen haben. Dies ist eine vollkommen neue Geschichte, die einen alten Titel benutzt, der sich schlicht und einfach richtig anfühlte. Ich bin mir sicher, dass auch Sie ihn passend finden werden.

Wie stets möchte ich zuerst und ganz besonders meiner Frau Rachel danken. Danke, dass du dein Leben mit mir teilst. Außerdem danke ich meinen Brüdern Jeff und Eric, meiner Mutter Cherie Smith, Dorothy C. May, Jay und Helene Wise, Keith Ashley, Shannon Turbeville, Kent Gowran, Mark Hickerson, Tod Clark, Edward Lee, Brian Keene, Derek Tatum, David Wilbanks, Scott Bradley (dem James Caan der Horror-Listen-Ersteller), GAK, David G. Barnett, Brittany Crass und Alan Hudson, Don D’Auria und allen anderen beim Dorchester Verlag, Paul Goblirsch, Elizabeth Rowell, Paul Legerski, Nick Cato, Paul »noigeloverlord« Synuria, Mark »Dezm« Sylva, Fred und Stephania Grimm, Ben und Tracy Eller von worldofstrange.com, Joe Howe, John Horner Jacobs, Steven Shrewsbury, Maurice Broaddus, Eddie »EvylEd« Coulter, John Everson, Rhonda Wilson, der ganzen Hyperion-Gang, allen Stammgästen auf meinem Keenedom-Board und MySpace und Ihnen allen da draußen dafür, dass Sie noch immer meine Bücher kaufen. Ich kann euch und Ihnen wirklich nicht genug danken. Eure Unterstützung bedeutet mir sehr viel. Also, wer möchte mir jetzt ein Bier ausgeben?

Kapitel 9

Sie konnte nicht aufhören, an ihre Prada-Tasche zu denken. Sie war echt, nicht so ein billiger Abklatsch wie die, die sie sich vor Jahren bei einem Straßenhändler in Tijuana gekauft hatte. Das Imitat hatte zwar fast so gut ausgesehen, dass man es für echt hätte halten können, aber es hatte schon nach ein paar Monaten angefangen auseinanderzufallen. Zuerst riss ein Ende des Riemens ab, das sie mit Sekundenkleber wieder reparierte, wobei sie eine ziemliche Sauerei anrichtete. Nicht gerade der letzte Schrei. Sie hätte die Tasche natürlich auch durch eine billigere, hübschere ersetzen können, aber sie hielt mit einer starrköpfigen Hartnäckigkeit an ihrem Souvenir aus Tijuana fest, die ihr endlose, abfällige Kommentare von ihren Freunden einbrachte. Dann, vor nicht einmal einem Monat, hatte ihre Mutter sie an ihrem Geburtstag zum Essen ausgeführt. Irgendwann zwischen dem Hauptgang und dem Dessert hatte Jessica sich entschuldigt und war auf die Toilette verschwunden. Als sie zurückgekehrt war, hatte eine kleine, mit buntem Seidenpapier ausgestopfte Geschenktüte in der Mitte des Tischs gestanden.

Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung gehabt, was darin sein konnte. Eine Halskette vielleicht. Irgendetwas aus Silber. Cynthia Sloan wusste, dass ihre Tochter Silberschmuck Gold vorzog, und hatte sich in der Vergangenheit bereits bei diversen Geburtstagen für etwas Dementsprechendes entschieden. Deshalb war die teure, echte Prada-Tasche auch eine ziemliche Überraschung gewesen. Eigentlich sogar schon eher ein regelrechter Schock – ihr war förmlich die Luft weggeblieben. Jessica war nicht der Typ, der sich überschwänglich kreischend über Geschenke freute, auch nicht, wenn sie noch so schön waren, aber in diesem Fall hatte sie eine Ausnahme gemacht. In der Tüte befand sich eine Runway-Tasche aus Leder, aus der neuen Herbstkollektion. Der Preis? Keine Ahnung. Ganz sicher ein kleines Vermögen. Und dann war da noch die von Herzen kommende Karte ihrer Mutter, mit der sie ihrer Tochter sagte, wie sehr sie sie liebte und dass sie sich wünschte, sie hätte diese Liebe in den vergangenen Jahren besser ausdrücken können. Eigentlich hätte Jessica in jenem Moment schon wissen müssen, dass irgendetwas nicht stimmte, aber sie war einfach zu gebannt von dem Scheck gewesen, der mit der Karte im Umschlag gesteckt hatte. Ein Scheck über 5000 Dollar – 2000 davon hatte sie Hoke heute eigentlich für den Falcon bezahlen wollen. Ihre Mutter hatte ihr zu ihrem 18. Geburtstag zum letzten Mal Geld geschenkt, aber das waren 100 Dollar gewesen. Damals war das viel Geld für sie. Sie hätte diese übertriebene Großzügigkeit infrage stellen sollen, aber sie war einfach zu überwältigt gewesen, zu gerührt von der Zuneigung, die ihre Mutter in ihrer Karte zum Ausdruck gebracht hatte.

Eine Woche später, einen Tag, nachdem Jessica den Scheck schließlich auf ihr Konto einbezahlt hatte, hatte Cynthia Sloan ihre gesamte Familie in einen Schockzustand versetzt, indem sie sich mit einer Kombination aus Tabletten und tief aufgeschnittenen Pulsadern umgebracht hatte. Niemand wusste, warum sie das getan hatte. Sie hatte nicht unter irgendeiner unheilbaren Krankheit gelitten. Sie war in keine Affäre verwickelt. Ihr liebender Ehemann hatte sich ihr gegenüber in all ihren 30 Ehejahren stets zärtlich und fürsorglich verhalten. In den folgenden Wochen hatten die überlebenden Sloans endlos diskutiert und eine Theorie nach der anderen aufgestellt, von denen eine unwahrscheinlicher gewesen war als die andere, aber sie waren trotzdem zu keinem Ergebnis gekommen.

Sie war einfach nicht mehr da, das war alles.

Sie war fort, und sie würde nie wieder zurückkommen.

Tränen strömten über Jessicas Wangen, als die Erinnerung sie übermannte. Sie wäre beinahe über eine Kletterpflanze gestolpert, als sie die Tränen mit ihrem Handrücken wegwischte. Dann sah sie drei Meter zu ihrer Linken einen großen Stein und beschloss, eine Pause zu machen. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie zum letzten Mal etwas gehört hatte, das auch nur im Entferntesten nach einem Geräusch ihrer Verfolger klang. Sie konnte sich eine kleine Pause erlauben, wenigstens so lange, dass sie sich wieder ein wenig sammeln konnte. Sie nahm das Gewehr von ihrer Schulter, setzte sich auf den Stein und lehnte die Waffe gegen ihre Beine. Sie wischte weitere Tränen weg und versuchte, sich auf ihr aktuelles Problem zu konzentrieren.

Sie musste sich verdammt noch mal ihre Tasche zurückholen.

Aber nicht nur aus sentimentalen Gründen. In der Tasche befand sich ihr Geldbeutel, und mit ihm ihr Führerschein, ihre Sozialversicherungskarte und diverse Kreditkarten, die, bis auf eine, allerdings allesamt ausgereizt waren. Sie machte sich auch keine allzu großen Sorgen über einen möglichen Identitätsdiebstahl. Irgendwie bezweifelte sie, dass diese mutierten Hinterwäldler die entsprechenden Fähigkeiten besaßen, um auf diesem Gebiet allzu großen Schaden anzurichten. Scheiße, sie bezweifelte, dass sie überhaupt ihren Namen richtig schreiben konnten. Nein, in der Tasche befand sich nur eine Sache, die sie im Moment wirklich dringend brauchte.

Ihr verfluchtes Telefon.

Ihr Ticket raus aus diesem Albtraum, wenn sie es nur erst wieder in Händen hielt. Aber dafür musste sie zurück zum Auto. Zurück an den Ort, an dem sie die Männer, die der Jäger »die Kinchers« genannt hatte, zum ersten Mal gesehen hatte. Diese Monster. Allein der Gedanke daran ließ sie erschaudern. Absichtlich wieder in diese Richtung zurückzuwandern, war der blanke Wahnsinn. Sie dachte noch eine Weile über die Kinchers nach und fragte sich zum ersten Mal, was wohl aus Hoke geworden war. Im Gegensatz zu ihr hatte er unmöglich wegrennen können, nicht nachdem er stundenlang in dem überfüllten, dreckigen Kofferraum gelegen hatte. Sie hatten ihn also entweder getötet oder irgendwohin verschleppt. Aber wie dem auch sei, seine gegenwärtige Situation war sogar noch düsterer als ihre eigene. Beim Gedanken daran kroch ein kleines, zitterndes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie hoffte, dass die Kinchers es ihm genau in diesem Augenblick in bester Hinterwäldler-Manier einer nach dem anderen besorgten, ihm ihre enormen, mutierten Schwänze in den Arsch steckten und ihn wie ein Baby zum Schreien und Wimmern brachten, während ihr endloses Eindringen ihm sein Rektum aufriss. Aber dann musste sie unwillkürlich daran denken, was Hoke ihr selbst noch vor wenigen Stunden angetan hatte, und ihr Lächeln verschwand wieder.

Jessica blickte nach oben und kniff ihre Augen ein wenig zusammen, als das Sonnenlicht, das durch das Blätterdach der Bäume fiel, sie blendete. Ihr blieben mindestens noch zwei Stunden Tageslicht. Aber wenn sie wirklich noch eine Chance haben wollte, es vor Einbruch der Dunkelheit aus diesen Wäldern hinauszuschaffen, würde sie jetzt wieder aufbrechen müssen.

Sie erhob sich und schwang das Gewehr wieder über ihre Schulter. Sie drehte sich langsam im Kreis und stellte fest, dass sie sich nicht mehr sicher war, in welche Richtung sie vor ihrer kleinen Rast gerannt war. Wieder einmal machte sich Frustration in ihr breit. Sie war nicht unbedingt der Wildnis-Typ. Sie hatte auch keinerlei Survival-Kenntnisse, obwohl ihr Vater ihr in den vergangenen Jahren oft genug geraten hatte, sich für eine kommende globale Katastrophe zu wappnen. Sie liebte ihren Vater, aber für ihren Geschmack schenkte er als Berufssoldat der rechtskonservativen Propaganda oft viel zu begeistert Glauben. Er glaubte allen Ernstes, dass bereits irgendeine wie auch immer geartete Apokalypse vor der Tür stand. Das war natürlich völliger Unsinn, aber nun wünschte sie sich trotzdem, sie hätte eines seiner zahlreichen Angebote wahrgenommen, ihr die grundlegenden Survival-Kenntnisse beizubringen. Die wären im Moment verflucht nützlich für sie gewesen.

Drauf geschissen, dachte sie.

Sie hörte auf, sich im Kreis zu drehen, wählte eine Richtung und lief los. Sie wusste zwar noch immer nicht, wohin sie ging, aber sie hatte die vage Vermutung, dass sie sich in dieser Richtung nach wie vor von der Lichtung entfernte, von der sie geflohen war. Eine vage Vermutung war zwar keine allzu sichere Ausgangsposition, aber es war immer noch besser als gar nichts.

Sie lief etwa 15 Minuten weiter, bevor der dichte Wald allmählich ausdünnte. Zwischen den Bäumen klafften nun größere Lücken, das Unterholz war nicht mehr so üppig, und es wuchsen kaum noch Büsche. Ein paar Minuten später blieb ihr förmlich die Luft im Halse stecken, als sie die dunklen Umrisse eines kleinen Hauses sah, das direkt vor ihr hinter einer Baumreihe zu erkennen war. Sie ging noch ein paar Meter weiter und blieb hinter einem Baum am Rand einer weiteren Lichtung stehen, die ein gutes Stück größer war als die, auf der sie Hoke hatte hinrichten wollen. Ungefähr in der Mitte der Lichtung stand eine verfallene Hütte. Jessica hatte sich dem Haus von der Seite genähert, und von ihrem Blickwinkel aus konnte sie nun einen Mann sehen, der in einem Korbstuhl auf der durchhängenden Veranda der Hütte saß. Vor dem Haus parkte ein Pick-up, der aussah, als könnte er aus den 1950ern stammen. Aber auch wenn der Truck ziemlich antik aussah, machte er nicht den Anschein, als sei er nur ein Relikt, das seit Langem nicht benutzt worden war.

Bitte, lass ihn funktionieren.

Davon abgesehen befand sich niemand auf der Lichtung. Zumindest niemand, den sie sehen konnte. Es konnte natürlich jemand in der Hütte sein. Vielleicht eine Frau, die das Abendessen zubereitete. Oder es saß noch jemand in einem Stuhl am anderen Ende der langen Veranda. Aber auch von diesen Überlegungen ließ Jessica sich nicht abschrecken.

Dies war ihre Chance.

Vielleicht sogar die einzige, die sie noch bekommen würde.

Sie nahm das Gewehr von ihrer Schulter und schob einen Finger durch den Abzugsbügel. Hinter der Baumreihe bewegte sie sich einige Meter nach rechts, bis der Mann aus ihrem Blickfeld verschwand. Sie wollte nicht, dass er sie sah, bevor sie ihn ganz sicher im Visier hatte – bevor der Lauf ihres Gewehrs direkt in seinem verfluchten Gesicht steckte.

Dann hätte er keine andere Wahl mehr, als ihr die Schlüssel für den Truck zu geben. Allerdings würde sie sich dann auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob sie ihn töten oder nur ruhig stellen sollte, bis sie weit genug weg war, aber diese Entscheidung würde sie erst fällen, wenn es so weit war.

Sie atmete tief ein.

Umfasste das Gewehr noch ein wenig fester.

Und trat auf die Lichtung.

Kapitel 10

Megan Phillips tauchte hinter der Baumreihe auf, hüpfte über den flachen Graben und stellte sich, die Hände in den Hüften, in die Mitte der zweispurigen Straße.

Und was jetzt?, fragte sie sich.

In den folgenden Augenblicken, in denen sie über ihren nächsten Schritt nachdachte, verschwand die blanke, entsetzliche Angst, die sie in den Wald getrieben hatte. Es gelang ihr sogar für kurze Zeit, ihre verzweifelte Sorge um Pete beiseitezuschieben. Diese Gefühle konnte sie jedoch nicht einfach ablegen. Keine Chance. Sie waren nur … in der Warteschleife. Es war ein beinahe glückseliges Gefühl, auf eine sehr seltsame, bittersüße Art. Aber es war ein fragiles Gefühl, das, das wusste sie genau, schon beim geringsten Anlass zerbrechen würde. Darum wollte sie es genießen, solange sie konnte.

Sie starrte auf den verschlossenen Gemischtwarenladen auf der anderen Straßenseite. Vielleicht sollte sie ein Fenster einschlagen und in den Laden einbrechen. Sicher gab es dort drinnen irgendwo ein Telefon, mit dem sie das Büro des örtlichen Sheriffs anrufen oder den Notruf wählen konnte. Aber reichte das Notrufnetz überhaupt bis in dieses ultraländliche Drecksloch? Sie hatte die scheinbare Allgegenwärtigkeit des Notrufnetzes immer als selbstverständlich erachtet, aber sie hatte auch noch nie in einer Gegend gewohnt, in der in relativ kleinem Umkreis nicht noch Millionen anderer Menschen lebten. Auch die meisten Orte, an denen sie ihre Ferien verbracht hatte, waren besser erschlossen als diese … Stadt? Konnte man das hier wirklich eine Stadt nennen? Sie war sich da nicht so sicher. In welche Richtung sie auch blickte, sie sah nur noch mehr Wälder und kurvenreiche Streifen aus grauem Asphalt. Der Gemischtwarenladen war das einzige Gebäude weit und breit. Mal angenommen, es gelang ihr tatsächlich, in den Laden einzudringen und ein Telefon zu finden – wie lange würde es dann wohl dauern, bis die örtlichen Beamten ihre Hintern hier rausbewegten? Es lag durchaus im Bereich des Möglichen, dass einer oder mehrere der Männer, die Pete verschleppt hatten, zurückkehrten, bevor die Gesetzeshüter überhaupt eintrafen.

Und was dann?

Dann würden sie sie auch noch schnappen.

Damit wäre alles vorbei. Es wäre Petes und ihr eigenes Ende. Sie würden vergewaltigt und getötet werden. Und dann in irgendeine Grube geworfen und mit Dreck zugeschüttet werden. Oder sie würden sie eine Zeit lang als Sexsklaven halten. Vielleicht sogar mehrere Jahre. Weshalb auch nicht? Wer sollte sie auch jemals finden? Niemand, der sich etwas aus ihnen machte, wusste, wo sie sich befanden.

Okay, also zur Hölle mit der Einbruchsidee. Das Ganze war ohnehin von Anfang an ziemlich absurd gewesen. Die süße kleine Megan Phillips, einstige Cheerleaderin, heute Neo-Hippie, wirft einen Stein durch ein Schaufenster?

Als ob.

Megan wandte sich nach rechts und starrte die leere Straße hinunter. In dieser Richtung waren die Hinterwäldler verschwunden. Und mit ihnen Pete. Er war irgendwo da draußen, vielleicht noch immer ohne Bewusstsein, vielleicht bereits wieder erwacht, und Gott allein wusste, welche Erniedrigungen und Gewalttätigkeiten er über sich ergehen lassen musste. Dann begann das verzweifelte, nagende Entsetzen langsam wieder Besitz von ihr zu ergreifen, und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.

»Oh, Pete …«

Sie setzte sich in Bewegung. Natürlich hatte sie keine Ahnung, wohin sie ihn verschleppt hatten. Er konnte überall sein. Aber sie konnte nicht einfach dort stehen bleiben. Gehen war wenigstens etwas. Und vielleicht hatte sie ja Glück und fand irgendeinen Hinweis oder entdeckte ein potenzielles Versteck der Entführer. Sicher, es entbehrte jeglicher Logik. Sie war schließlich keine Detektivin. Geschweige denn eine Hellseherin. Sie konnte weder durch Wände sehen noch Gedanken lesen. Aber es war immer noch besser, als gar nichts zu tun, besser, als nur darauf zu warten, dass irgendetwas passierte.

Zuerst ging sie mitten auf der Straße, und ihre Schuhsohlen schlurften über die verblasste gelbe Mittellinie. Als ihr aufging, dass ihre Chancen dadurch ziemlich gut standen, von einem Auto überfahren zu werden, wenn der Fahrer um eine Kurve raste und sie nicht rechtzeitig sehen konnte, wechselte sie auf den Seitenstreifen. Wenn sie sich in einen platt gefahrenen Pfannkuchen verwandelte, nutzte das Pete verdammt wenig.

Sie ging einfach immer weiter. Zehn Minuten verstrichen. Dann 15. Noch immer nicht das geringste Anzeichen von Zivilisation. Nicht ein Auto oder Lastwagen war an ihr vorbeigefahren. Sie erinnerte sich wieder an das unheimliche Gefühl der Einsamkeit, das sie gespürt hatte, als sie vor dem Laden aus dem Jetta gestiegen war – so als sei sie die einzige Überlebende einer Apokalypse. Nun kehrte das Gefühl zurück, noch intensiver als zuvor. Sie sah sich um. Der Gemischtwarenladen war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Nun gab es nur noch sie und diesen grauen Asphaltstreifen, der sich durch die dichte Wildnis schlängelte.

Die Sommersonne brannte auf ihrer Haut. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen. Sie strich ihr Haar zurück und wickelte es zu einem losen Knoten zusammen. Sie war froh über den dünnen Stoff des knappen Neckholder-Tops, das sie trug, aber sie wünschte sich, sie hätte heute Morgen Shorts statt ihrer engen Jeans angezogen, in der sie sich jetzt ziemlich eingezwängt fühlte. Mit ihrem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und die Hand dann an der Jeans trocken. Sie wünschte sich, sie hätte ein Messer oder eine Schere dabei gehabt, dann hätte sie sich kurz hinter einen Baum hocken, ihre Hosenbeine abschneiden und die Jeans in Shorts verwandeln können. Das wäre wirklich eine Erleichterung gewesen. Dann dachte sie daran, was sie noch alles mit einem Messer oder einer Schere hätte anstellen können, und ihre Gedanken wurden finsterer. Sie stellte sich vor, wie sie die Kehle des fetten Mannes mit einem Messer aufschlitzte. Sah sich selbst, wie sie die Scherenklingen in seine Augen rammte. Sie konnte sein Blut beinahe schmecken, seine Schreie beinahe hören. Ihre Gewaltfantasien lösten eine reflexartige Abscheu aus, die jedoch nicht allzu lange anhielt. Sie beschwor die Bilder erneut herauf, und dieses Mal gaben sie ihrer Wut neue Nahrung und fachten ihre Entschlossenheit, Pete zu befreien, von Neuem an.

Sie marschierte weiter.

Nach einigen Minuten sah sie etwa 20 Meter entfernt irgendetwas in der Sonne glitzern. Sie konnte nicht sofort erkennen, was es war, aber ihre Neugier war geweckt. Sie beschleunigte ihren Schritt, ging darauf zu und hob es vom Boden auf.

Stirnrunzelnd drehte sie es in ihrer Hand hin und her. »Hm. Merkwürdig.«

Es war ein Damengeldbeutel aus lindgrünem Leder, mit einem herausnehmbaren Teil mit Fächern für Kreditkarten und einem durchsichtigen Führerscheinfach aus Plastik. Darin steckten eine Visakarte und der Führerschein einer Frau namens Michelle Runyon. Michelle war sehr hübsch, mit langem, glänzend schwarzem Haar, vollen Lippen und Wangenknochen, für die jedes Vogue-Model getötet hätte. Sie lebte in Philadelphia. Laut Führerschein war sie 1,70 Meter groß und 54 Kilo schwer. Sie hatte braune Augen, und ihr Geburtsdatum war der 11. Juli 1983.

Zwei Jahre älter als ich.

Megan starrte auf das Foto der hübschen jungen Frau und verspürte erneut ein Gefühl der Bedrohung, als sie sich fragte, was wohl mit Michelle passiert sein mochte. Sie blickte auf den Weg zurück, den sie gekommen war. Vielleicht hatte auch Michelle am Gemischtwarenladen von Hopkins Bend angehalten. Und vielleicht hatten diese schrecklichen Männer sich einfach nicht zurückhalten können. Wie oft kam hier schließlich jemand vorbei, der aussah wie Michelle? Vielleicht hatten sie sie ja auch verschleppt. Und vielleicht hatte sie ihren Geldbeutel aus dem Fenster des alten, dreckigen Lieferwagens geworfen, als die Männer sie an denselben Ort schafften, an den sie eben auch Pete gebracht hatten? Ein Akt der Verzweiflung. Vielleicht würde ihn ja irgendwann jemand finden, der ihr helfen konnte? Und selbst wenn ihr nicht mehr geholfen werden konnte, vielleicht würde man dann wenigstens ihre Leiche finden und ihr ein anständiges Begräbnis zuteilwerden lassen. Megan erschauderte bei diesem Gedanken. Sie hatte jedoch das Gefühl, ihre Theorie könnte grundsätzlich richtig sein. Sie war überzeugt davon, dass sie damit ganz nahe an dem lag, was tatsächlich geschehen war.

Megan inspizierte den Geldbeutel etwas genauer. Er war zwar voller Staub, schien den Elementen aber noch nicht allzu lange ausgeliefert gewesen zu sein. Sie fuhr mit ihrem Daumen an Michelles zartem Kinn entlang.

»Ich werde versuchen, dich zu finden, Michelle. Dich und Pete.«

Während sie auf das Bild der hübschen Frau starrte, flackerte am Rande ihres Bewusstseins irgendetwas auf, das sie verstörte. Sie runzelte die Stirn und versuchte, den Gedanken zu fassen zu bekommen. Und dann hatte sie ihn. Ihre Augen weiteten sich. Sie schaute auf Michelles Foto und dachte dann an ihren eigenen Führerschein.

Schon sehr bald würden die Männer, die Pete verschleppt hatten, ihre Handtasche im Jetta finden und ihr eigenes Führerscheinfoto sehen.

Dann würden sie wissen, dass Pete nicht allein unterwegs gewesen war.

Dann würden sie hierher zurückkommen.

Schon bald.

Und schnell.

Durch das Geräusch eines herannahenden Autos schreckte sie hoch. Sie schaute die Straße hinunter, sah jedoch nichts. Das Dröhnen wurde immer lauter, und dann wurde ihr bewusst, dass es von hinter ihr kam. Sie drehte sich um, und ihr Herz machte einen Satz, als sie den langsamer werdenden Streifenwagen sah.

Sie schniefte. »Oh, Gott sei Dank.«

Sie schob Michelles Führerschein und Geldbeutel in ihre Gesäßtasche, als der Wagen neben sie rollte. Laut des Emblems auf der Tür gehörte das Fahrzeug zum Hopkins Bend Sheriff‘s Department. Auf der anderen Seite des Autos öffnete sich eine Tür. Ein Mann in Uniform stieg aus und sah sie über das Wagendach hinweg an. Er war ziemlich untersetzt und vielleicht etwas über 1,80 Meter groß. Seine Augen lagen unter einer Sonnenbrille mit Spiegelgläsern verborgen. Auf seinem Kopf saß ein brauner Hut. Er hatte einen dichten, grau melierten Schnurrbart und in seinem Mundwinkel steckte ein Zahnstocher.

Er spuckte ihn aus und fragte: »Alles in Ordnung, Miss?«

Megan öffnete den Mund, um dem Mann zu erzählen, was mit Pete passiert war, aber mit einem Mal stieg ein Schwall der Gefühle in ihr auf, und sie erstickte beinahe an ihrem ersten Wort. Bis zu diesem Moment war ihr nicht wirklich klar gewesen, wie sehr sie all ihre Gefühle die ganze Zeit über unterdrückt hatte. Heiße Tränen strömten über ihre Wangen, als sie zu sprechen versuchte.

Der Mann ging um das Auto herum und nahm sie in die Arme. Sie lehnte sich an ihn und schluchzte in seine Jacke. Er tätschelte ihr den Rücken und sagte: »Na, na, na. Ist ja schon gut. Lassen Sie es einfach raus.«

Megan gewann die Kontrolle zumindest ein wenig zurück. Sie schimpfte sich innerlich aus. Pete brauchte ihre Hilfe, keine Tränen. Sie löste sich aus der Umarmung des Mannes und trat einen Schritt zurück. Dann wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Es geht mir gut.«

Er verschränkte seine Arme und sah sie durchdringend an. »Beginnen Sie einfach ganz vorne.« Er lächelte. »Wenn Sie so weit sind.«

Megan atmete tief ein, sprach sich selbst Mut zu und erzählte ihm alles, woran sie sich erinnern konnte. Der Mann hob eine Hand und strich sich damit über das Kinn, während sie sprach.

Als sie fertig war, nickte er und sagte: »Sie sprechen von den Preston-Jungs.«

Megan zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie sie heißen. Nur, was sie getan haben. Aber es klingt, als würden Sie sie kennen. Irgendeine Idee, wohin sie Pete gebracht haben könnten?«

Der Mann öffnete seine Arme wieder und grinste. »Nun, Ma’am, die Sache ist die: Die Preston-Jungs haben hier in der Gegend einen erstklassigen Ruf. Ich glaube keine Sekunde lang, dass sie wirklich getan haben, was Sie da behaupten.«

Megan starrte ihn mit offenem Mund an. »Wa-was?«

»Um ganz ehrlich zu sein, klingt das für mich vollkommen verrückt. Stehen Sie unter Drogeneinfluss?«

Megan stieß ein ungläubiges Stöhnen aus. »Oh … mein … Gott. Meinen Sie das ernst?«

Der Blick des Mannes verfinsterte sich. »Todernst.« Er legte eine Hand an den Griff seiner Pistole, die in ihrem Halfter steckte. »Ich muss Sie bitten, sich umzudrehen und Ihre Hände auf das Dach des Fahrzeugs zu legen, damit ich Sie durchsuchen kann.«

Instinktiv ging Megan einen Schritt zurück. »Sie können nicht …«

Der Mann zog seine Waffe, hielt sie mit beiden Händen fest und zielte mit entschlossener Haltung auf Megan. Seine Worte schlugen ihr förmlich entgegen. »ICH SAGE ES NUR NOCH EINMAL! DREHEN SIE SICH UM UND LEGEN SIE DIE HÄNDE AUF DAS WAGENDACH! SOFORT!«

Zitternd tat Megan, wie ihr befohlen wurde. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.

Was hätte sie auch sonst tun können?

Oh, Gott. Bitte hilf mir.

Der Mann trat hinter sie und ging in die Knie. Seine rauen Hände wanderten tätschelnd erst ihr eines, dann ihr anderes Bein entlang. Dann erhob er sich wieder und schob eine Hand zwischen ihre Beine. Seine Finger legten sich um sie und drückten sie ganz fest. Sie schluchzte. Weitere Tränen füllten ihre Augen. Er presste seinen Schritt gegen ihren ausgestreckten Hintern, und sie konnte seine wachsende Erektion spüren. Megan bebte am ganzen Körper. Sie konnte nicht glauben, dass das wirklich passierte. Dieser Mann war ein Gesetzeshüter. Er sollte ihr doch helfen. Aber stattdessen … belästigte er sie. Die Finger des Mannes drückten noch ein paarmal etwas fester gegen ihre Vagina, bevor sie sich von ihr entfernten und über ihren Bauch wanderten. Er umfasste ihre Brüste abwechselnd mit beiden Händen und zerquetschte sie förmlich.

Dann ließ er plötzlich abrupt von ihr ab.

Seine Finger zogen etwas aus ihrer Hosentasche.

Megan schluckte.

Der Geldbeutel.

Bevor sie sich ausmalen konnte, was er wohl daraus folgern würde, riss er ihre Hände auf ihren Rücken und legte ihr sehr unsanft Handschellen an.

Er lehnte sich erneut gegen sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Jetzt hab ich dich, du Schlampe. Jetzt hab ich dich. Diese Frau wird schon seit Wochen vermisst. Ich verhafte Sie wegen Verdachts auf Entführung und Mord.«

Megan öffnete den Mund, um zu protestieren, aber er stellte sie mit einem Schlag auf den Hinterkopf ruhig. Dann öffnete er die Hintertür des Streifenwagens und schob sie hinein. Nachdem er die Tür zugeknallt hatte, zündete er sich eine Zigarette an und ließ sich Zeit damit, sich wieder hinters Steuer zu setzen.

Als er wieder im Wagen saß, drehte er sich zu ihr um und grinste sie an. »Mach dir mal keine Sorgen, ob du auf Landes- oder Bundesebene angeklagt wirst, Kleines.« Er kicherte. »Hier draußen sind wir der Ansicht, dass die lokale Rechtsprechung immer noch die beste ist.«

Er lachte erneut und blies ihr durch das Sicherheitsgitter Zigarettenrauch ins Gesicht. Dann setzte er sich richtig hinter das Steuer, legte einen Gang ein und wendete mitten auf der Straße in drei Zügen.

Megan fiel zur Seite und spürte, wie sich das warme Leder gegen ihre Wange drückte, während immer neue Tränen über ihr Gesicht rannen.

Das Auto fuhr wieder in die Richtung zurück, aus der es gekommen war.

Möglicherweise zum Büro des Sheriffs.

Weg von Pete.

Megan schloss die Augen und fragte sich, ob dieser Albtraum je wieder enden würde.

Kapitel 11

Pete Miller hatte einen Albtraum. Irgendwelche Zombies jagten ihn nachts über einen Friedhof. Irgendjemand rannte vor ihm her. Ein Mädchen. Sie sah ein bisschen grufti- oder punkmäßig aus. Und sie war oben ohne. Die ganze Szene wirkte, als stamme sie direkt aus einem ganz billigen Horrorstreifen im Nachtprogramm eines Kabelsenders. Aber das Seltsame daran war, dass sie sich so real anfühlte. Er konnte den Gestank des verwesenden Fleisches der Untoten beinahe riechen, die versuchten, ihn einzuholen. Er kannte sogar den Namen des Mädchens. Melinda. Sie war verflucht heiß, aber eine eiskalte, durchgeknallte Schlampe. Dann veränderte sich die Stimmung des Traumes ein wenig. Ihm wurde bewusst, dass auch er einer der Zombies war. Melinda hatte ihn getötet. Und nun jagte er sie, getrieben von dem brennenden Urverlangen, ihr mit seinen Zähnen das Fleisch vom Körper zu reißen.

Der Lieferwagen holperte durch ein Schlagloch und Pete erwachte.

Die lebendigen Albtraumbilder blieben noch einige Augenblicke bei ihm und verhüllten vorübergehend die düstere Realität. Er hatte das Gefühl, wieder ganz leicht in diese Welt eintauchen zu können, wenn er sich nur ein wenig konzentrierte. Es war ein ziemlich merkwürdiges, beunruhigendes Gefühl. Dann nahm er das laute Dröhnen des Motors des alten Lieferwagens wahr. Irgendjemand saß auf seinem Rücken und presste ihn gegen den Boden. Es konnte allerdings nicht der fette Typ sein, sonst hätte er wohl keine Luft mehr gekriegt. Es musste einer der dürren Kartenspieler sein.

Seine Augen weiteten sich.

Es kam alles wieder, jeder einzelne entsetzliche Moment. Das Gewehr, das auf seinen Bauch zielte. Die Kartenspieler, die ihn auf den Boden zwangen. Der schwere Stiefel in seinem Rücken. Der schmerzhafte Schlag des Gewehrkolbens gegen seinen Hinterkopf. Und die schwarze Dunkelheit. Aufblitzende Bilder und Empfindungen, während er immer wieder das Bewusstsein verlor, meist nur ein paar Sekunden lang. Nicht im Verkaufsraum des Ladens, sondern in einem mit Kisten und Schachteln vollgestopften Hinterzimmer. Sein Körper über eine der Kisten gebeugt. Seine Hosen heruntergezogen. Der fette Typ auf ihm. Grunzend. Stoßend. Fluchend. Das Lachen der anderen Männer. Die Dunkelheit, die ihn erneut barmherzig mit sich nahm. Und jetzt hier, bei vollem Bewusstsein im Laderaum eines stinkenden alten Lieferwagens, in dem er Gott weiß wohin verschleppt wurde. Die nackte Wahrheit schlug ihm mit brutaler Wucht entgegen. Diese Männer würden ihn umbringen. Sie würden vorher vermutlich einige unsagbar schreckliche Dinge mit ihm tun, und dann würden sie ihn verdammt noch mal umbringen.

Mit einem Mal sehnte er sich nach einer Rückkehr in die Welt des Zombiealbtraums.

Oder nein. Nicht dorthin.

Wohin er sich wirklich sehnte, war zurück in seinen Jetta, in dem er mit Megan so schnell er konnte von diesem entsetzlichen Ort floh. Er wollte in der Zeit zurückreisen und sich dagegen entscheiden, die Abkürzung zu nehmen, die sie durch Hopkins Bend führen würde. Durch die Abkürzung hätten sie ohnehin höchstens eine Stunde gespart, und was sollte diese Eile überhaupt? Er verbrachte gern Zeit mit Megan. Er war gern allein mit ihr. Es war immer besser, wenn sie nur zu zweit waren, wenn niemand anders um sie herum war. Durch sie fühlte er sich gut in seiner Haut. Wenn sie in seiner Nähe war, schien die Welt einfach interessanter zu sein. Lebendiger und aufregender. Voller Möglichkeiten, so als läge das nächste Abenteuer oder die nächste wunderbare Offenbarung bereits hinter der nächsten Ecke. Die Welt war ein freudloserer Ort, wenn sie nicht da war. Ein düsterer Ort.

Oh, Megan.

Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sie vielleicht zum letzten Mal gesehen hatte. Ihre süße Stimme zum letzten Mal gehört hatte. Sie zum letzten Mal geküsst hatte. Die Vorstellung erfüllte ihn mit bodenloser Verzweiflung. Aber trotzdem hoffte ein pragmatischerer Teil von ihm, dass dem tatsächlich so war. Denn dieser Teil von ihm wusste, dass die einzige Möglichkeit für ihn, Megan wiederzusehen, war, dass diese Ungeheuer zurück zu dem Gemischtwarenladen fuhren und sie ebenfalls schnappten. Der Gedanke daran zerriss ihm fast das Herz und gab ihm das Gefühl, in seiner Seele habe sich ein tiefer Abgrund aufgetan.

Er konnte nicht verhindern, dass seiner Kehle ein Schluchzen entwich.

Der Mann, der auf seinem Rücken saß, verlagerte sein Gewicht und sagte: »Ich glaube, unser Junge wacht auf, Gil.«

Pete erkannte die Stimme nicht wieder. Musste wohl einer der Kartenspieler sein.

Er drehte den Kopf und sah zu dem Mann hinauf. »Wohin bringt ihr mich?«

Die dünnen, wurmartigen Lippen des Mannes zogen sich in die Länge und wieder zusammen und enthüllten seine Zähne, die durch jahrzehntelanges Rauchen dunkelgelb verfärbt und durch unbehandelte Karies teilweise ganz schwarz geworden waren. Der Mann hielt ein langes, rostiges Rohr in den Händen. Pete nahm an, dass er ihm damit auf den Hinterkopf schlagen würde, falls er Ärger machte. »Das hat dich nich’ zu interessiern.«

»Ich bitte euch doch nur ...«

Die Lippen des Mannes wurden noch schmaler, als er zu kichern begann. »Oh, du wirst uns noch um ganz andere Sachen bitten, Junge. So viel ist sicher.«

Noch jemand lachte. Der Klang des Lachens war Pete unheimlich, und er hatte das Gefühl, die Angst streife wie ein eiskalter Finger seine Wirbelsäule entlang.

Der fette Typ.

Gil, so hatte der andere ihn genannt.

Das Lachen kam aus dem vorderen Teil des Lieferwagens. Pete konnte das Arschloch zwar nicht sehen, aber er vermutete, dass dieses fette, beschissene Vergewaltigerschwein den Wagen fuhr. Aber wo war dann der dritte Mann?

Gil stieß erneut das verschleimte Räuspern aus, an das Pete sich noch aus dem Laden erinnerte. »Wir sind fast da.«

Der Lieferwagen wurde langsamer und bog nach links ab. Gil trat aufs Gaspedal, und der Wagen legte wieder an Geschwindigkeit zu, aber jetzt ruckelte und schaukelte das Fahrzeug merklich. Auch das Geräusch der Reifen hörte sich irgendwie anders an. Pete schloss daraus, dass sie sich nun auf einer unbefestigten Straße befanden. Spitze. Noch tiefer in die Pampa. Selbst wenn es Megan gelingen sollte, zu entkommen und die Behörden zu alarmieren, würde seine Leiche nie gefunden werden.

Dann kam der Lieferwagen mit einem Ruck zum Stehen.

Pete hörte, wie Gil mit dem Schalthebel hantierte und den Schlüssel im Zündschloss drehte. Der Motor erstarb, und einen Augenblick lang hörte er nichts als das Gezwitscher der Vögel durch die offenen Fenster des Lieferwagens. Auf seltsame Weise war es ein beinahe friedvoller Moment. Dann begann der Lieferwagen erneut zu schaukeln, als Gil die Tür öffnete und sein immenses Gewicht hinter dem Lenkrad hervorschob. Nur einen Augenblick später öffneten sich die Hecktüren des Wagens, und Pete musste heftig blinzeln, als das grelle Sonnenlicht ihn blendete.

Er drehte den Kopf erneut und sah Gil an. Der große Mann kam näher, und sein massiger Körper verdunkelte die Sonne dabei fast völlig. Er hielt auch die Pumpgun wieder in seinen Händen. »Lass uns den Wichser rausschaffen, Carl.«

Carl erhob sich, kniete sich dann neben Pete und packte ihn an seinem schweißgetränkten T-Shirt. »Beweg dich, du Schwuchtel.«

Schwuchtel.

Hm.

Eine irgendwie seltsame Beschimpfung, wenn man bedachte, was in dem Laden passiert war. »Fick dich.«

Das Rohr traf Pete immerhin so hart am Hinterkopf, dass er ein schmerzerfülltes Jaulen ausstieß. Aber noch während er aufschrie, wurde Pete bewusst, dass der Mann sich mit seinem Schlag zurückgehalten und ihn gerade fest genug getroffen hatte, um ihm wehzutun und ihn nach vorne zu schubsen, ohne ihn wieder auszuknocken. Pete machte sich nicht die Mühe, erneut etwas zu erwidern, da er wusste, dass dies nur weitere, wütendere Schläge zur Folge haben würde. Er rappelte sich schwankend auf und ließ sich unsanft von dem Mann aus dem Lieferwagen stoßen. Pete stellte sich blinzelnd ins Sonnenlicht und legte eine Hand an seine Stirn. Gil hielt das Gewehr weiter auf ihn gerichtet, als Carl ihn kurz losließ, um die Türen des Lieferwagens zu schließen. Dann spürte Pete das Ende des Rohrs in seinem Rücken.

»Da lang, Junge.«

Pete seufzte.

Und tat, wie ihm befohlen wurde.

Was hätte er auch sonst tun können?

Sie gingen um den Lieferwagen herum, und Pete sah ein riesiges, ranchartiges Haus vor sich. Es war von Wildnis umgeben und das einzige Haus weit und breit. So viel zu der Möglichkeit, um Hilfe zu rufen oder auf eine plötzliche Rettung dank der neugierigen Blicke eines Nachbarn zu hoffen. Das Rohr bohrte sich erneut in Petes Rücken, und dann bewegten sie sich zu dritt auf das Haus zu. Die Eingangstür öffnete sich, und eine alte Frau mit dem Warzengesicht einer Märchenhexe trat heraus. Sie trug eine schmutzige Schürze über abgeschnittenen Shorts und einem BH. Ihre Beine zeigten Spuren von Krampfadern, und ihre über und über tätowierte Haut sah aus wie Rohleder.

»Schau mal, Ma.« Carl schubste Pete erneut mit dem Rohr. »Wir ham noch ’nen Fremden für den Festtagsschmaus mitgebracht.«

Ma musterte Pete von oben bis unten, und ihr Blick blieb so lange an seinem Schritt hängen, dass er sich unwohl fühlte. Dann schnaubte sie und erwiderte: »Bringt es zu dem anderen nach hinten.«

Pete runzelte die Stirn.

Es?

Die alte Hexe verschwand wieder im Haus, jedoch nicht, bevor Pete einen Blick auf das Tattoo werfen konnte, das ihren Rücken bedeckte – das Bild einer vollbusigen, nackten Frau, die auf einer Harley Davidson saß.

Pete erschauderte.

Gott, das sind echt ein paar verdammt durchgeknallte, verflucht seltsame Leute.

Zum ersten Mal wünschte er sich, sie hätten ihn einfach gleich umgebracht.

Als er einen weiteren Stoß mit dem Rohr spürte, setzte er sich wieder in Bewegung. Sie gingen zur Rückseite des Hauses, und Pete sah eine Reihe miteinander verbundener Käfige aus Maschendraht. Die meisten dienten als Hundezwinger. Die Hunde begannen zu knurren, als sie sich ihnen näherten. Pete erkannte Dobermänner, einen Rottweiler, einen Pitbull, einen Deutschen-Schäferhund-Mischling und verschiedene andere Promenadenmischungen. Sie alle sahen ihn mit misstrauischen, drohenden Augen an. Das waren keine Haustiere. Das waren bösartige Killermaschinen, die ganz ohne Zweifel für Hundekämpfe gehalten und trainiert wurden. Pete hatte oft Geschichten über solche Viecher in der Zeitung gelesen.

Oh, mein Gott, dachte er. Die wollen mich diesen verdammten Bestien zum Fraß vorwerfen.

Pete erkannte aber schnell, dass dies mitnichten der Fall war, als sie den letzten Käfig erreichten. Ein anderes menschliches Wesen, nackt und dreckig, saß zusammengekauert in einer Ecke des Stalls. Eine Frau. Sie hatte ihre Arme um ihre Knie geschlungen und schaukelte wimmernd vor und zurück. Sie sah zu ihnen hoch, als sie sich ihr näherten, hielt Petes ängstlichen Blick einen Moment lang fest und schaute dann wieder weg.

Carl fischte einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, öffnete das Hängeschloss des Käfigs und grinste Pete an. »Rein mit dir, Junge.«

Pete starrte nur weiter auf die Frau.

Sie hatte einen schlanken Körper und sah aus, als könnte sie hübsch sein, was angesichts ihres vollkommen verfilzten Haars und der Tatsache, dass sie von oben bis unten mit Dreck bedeckt war, ziemlich schwer zu sagen war.

Pete zitterte am ganzen Körper. »Nein. Bitte. Nein. Nein.«

Er heulte jetzt. Aber es war zwecklos.

Pete hörte einen Luftzug, und dann donnerte Carl das Rohr gegen seine Kniekehle. Er schrie auf, wurde nach vorne geschleudert und fiel auf seine Hände und Knie. Gil machte einen Schritt auf ihn zu und versetzte ihm mit einem seiner schweren Stiefel einen heftigen Tritt in den Arsch.

Pete befand sich nun in dem Käfig.

Er sah zu der Frau hinauf.

Sie schaukelte noch schneller und presste das Gesicht zwischen ihre Knie.

Hinter ihm knallte das Tor zu. Er hörte das Schloss klicken.

Pete schloss die Augen und spürte den rauen Dreck auf seiner Wange.

Gil sagte: »Wir schaun später noch mal nach dir, Junge. Treib’s nich’ zu bunt, bis wir wieder da sind, hörst du?«

Carl kicherte, und dann waren sie verschwunden.

Pete dachte an Megan.

Renn weg.

Bitte.

Renn weg und sieh nicht zurück.

Kapitel 12

Der Blick des Mannes, als sie aus ihrem Versteck trat und mit dem Gewehrlauf direkt zwischen seine Augen zielte, war seltsam befriedigend. Sie hatte einen so großen Teil des Tages als Opfer verbracht, war davongerannt und hatte um ihr Leben gefürchtet. Die tödliche Begegnung mit dem Jäger und dem Kincher-Jungen war nur eine Anomalie gewesen – ein schneller, dreckiger Minitriumph inmitten eines weit größeren Kampfes –, die beinahe ebenso schnell wieder verflogen war, wie sie begonnen hatte. Nun war sie die Jägerin, die Schreckenverbreitende, und das fühlte sich verdammt noch mal verflucht gut an. Es gab ihr jedoch auch ein primitives Gefühl der Unzivilisiertheit, als sie sich an dem Schock und Schrecken weidete, die sie im Gesicht dieses menschlichen Wesens lesen konnte, und vielleicht würde sie sich später, falls sie überlebte, deswegen schlecht fühlen.

Aber im Moment?

Ganz sicher nicht, verdammt.

Jessica und der Mann auf dem Schaukelstuhl starrten einander an. Sein Kiefer hing schlaff herunter. Aus seinen weit aufgerissenen Augen sprach stummer Unglaube, und in ihren trüben Wölbungen spiegelten sich Verständnislosigkeit, aber auch erbärmliche Angst wider. In einem seiner Mundwinkel hing eine Maispfeife. Er hatte einen buschigen Bart und einen dichten Schopf aus dunklem Haar. Möglicherweise hätte sie über sein Aussehen gelacht, wenn die Umstände etwas weniger finster gewesen wären.

Gott, der sieht aus wie einer von diesen verdammten Amish!

»Du bist doch keiner von diesen scheiß Amish, oder?«

Der Ausdruck des Mannes veränderte sich kaum merklich. Er wirkte noch immer ängstlich und misstrauisch, aber ein Teil des entsetzlichen Schreckens war verschwunden. Er nahm die Maispfeife aus seinem Mund und hielt sie ganz vorsichtig mit seinem Daumen und Zeigefinger fest. »Nein, Ma’am. Hier in der Gegend gibt’s keine Amish.«

Jessica atmete erleichtert aus. »Gut. Ich möchte wirklich keinen friedliebenden Amish-Typen erschießen. Ich bin mir nicht sicher, dass ich damit leben könnte.«

Der Blick des Mannes wanderte von ihren Augen zu dem Gewehr und wieder zurück. »Ja, Ma’am. Ich kann nachvollziehen, dass das ein Problem sein könnte.«

Jessica knurrte: »Sei nicht so ein Klugscheißer. Ich ziele immer noch mit einer geladenen Waffe auf dein Gesicht, und du solltest nicht daran zweifeln, dass ich auch nur eine Sekunde zögern werde, ein großes, beschissenes Loch zwischen deine Augen zu pflanzen, wenn du irgendwas tust, was mich nervös macht.«

Der Mann zuckte zusammen. Nur ganz leicht und kaum erkennbar. Aber sie war froh, dass sie es gesehen hatte. Er sollte sich nicht zu wohl fühlen. Und sie durfte sich nicht dazu hinreißen lassen, zu glauben, sie wäre in Sicherheit. Sie war nicht in Sicherheit. Und dieser Typ war immer noch der Feind.

Er schluckte den Kloß hinunter, der in seiner Kehle steckte, und blieb ganz still sitzen, während er ihr wieder in die Augen sah. »Ja, Ma’am.«

Jessica warf einen kurzen Blick nach links und rechts. Soweit sie sehen konnte, waren sie noch immer allein. Trotzdem wäre es nicht gut, sich hier allzu lange aufzuhalten. Sie betrat die Veranda und achtete darauf, außerhalb der Sprungweite des Mannes im Schaukelstuhl zu bleiben. Rückwärts ging sie zum anderen Ende der Veranda und lauschte dem lauten Knarren der Holzbretter unter ihren Füßen. An einem Fenster blieb sie stehen und lugte hinein. Sie sah ein spärlich eingerichtetes Zimmer, das, so schätzte sie, etwa die Hälfte des Wohnraums der kleinen Hütte einnahm. Dort standen ein Sofa, ein Tisch und ein paar Stühle. In der Mitte des Tischs lag ein dickes, schwarz eingebundenes Buch mit rot gefärbten Seiten. Aller Wahrscheinlichkeit nach eine Bibel.

Es war niemand im Zimmer.

Jessica stieß erneut einen erleichterten Seufzer aus und bewegte sich wieder ein paar Schritte auf den Mann zu, hielt jedoch nach wie vor einen Sicherheitsabstand ein. Sie blickte auf die Lichtung hinaus, betrachtete das gesamte sichtbare Gelände eingängig und stellte fest, dass ihre ursprüngliche Vermutung tatsächlich korrekt gewesen war. Sie waren allein. Aber vermutlich nicht für lange.

Sie sah den Mann mit hartem Gesichtsausdruck an und sagte: »Ich will hier keine Zeit verschwenden. Ich werde dir ein paar kurze Fragen stellen und ich will, dass du mir schnelle Antworten gibst. Verarsch mich nicht. Verstanden?«

Der Mann nickte, erwiderte jedoch nichts.

»Wie heißt du?«

»Ben.«

»Ist hier sonst noch jemand, Ben?«

»Im Moment nicht. Meine Frau ist in der Stadt. Besorgungen machen. Schätze, sie wird noch ein paar Stunden weg sein.«

Jessica nickte. »Gut. Das ist wirklich gut zu hören, Ben. Ich möchte wirklich nicht mehr unschuldige Menschen umbringen als unbedingt nötig. Und wenn du kooperierst, werde ich sogar dich nicht umbringen müssen.«

Hatte sein Kiefer wirklich leicht gezittert, nachdem sie das gesagt hatte?

Es war ihr jedenfalls so vorgekommen.

Erneut verspürte sie diese seltsame, primitive Befriedigung. Vielleicht war sie tief in ihrem Inneren ja ein Monster. Wie Hoke.

Nein.

Nicht wie Hoke.

Nie und nimmer wie Hoke. Dieses Tier. Dieses verdammte Tier.

Jessica umfasste das Gewehr noch fester.

Bens Stimme klang angestrengt, als er sagte: »Ich … ich will ganz bestimmt nicht sterben.«

»Und ich will dich ganz bestimmt nicht töten müssen.« Ihre Stimme klang fremd für sie. Seltsam angestrengt, extrem angespannt und scharf. »Aber das werde ich, Hoke. Verdammt, das werde ich, wenn du mich wütend machst.«

Ben runzelte die Stirn. »Hoke?«

Scheiße.

Einen Augenblick lang schlitterte sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs entlang. Einen Augenblick lang, in dem aufgeben ihr wie eine gute Möglichkeit erschien. Eine Niederlage unausweichlich. Während ihrer verzweifelten Flucht hatte sie es die meiste Zeit über geschafft, sämtliche Gedanken an ihre Vergewaltigung beiseitezuschieben. Aber in diesem Augenblick kam alles wieder. In einer äußerst lebendigen Dolby-Surround-Sound-Erinnerung: Hokes ungewaschener Moschusgeruch. Das Gefühl seiner Haut auf ihrer, während er in sie eindrang. Die Schweißperlen auf seiner Stirn. Die Art, wie sein Mund sich verzog und sein hübsches Gesicht plötzlich ganz hässlich aussah.

Sie schüttelte heftig den Kopf und funkelte Ben an. »Vergiss es. Ich will die Schlüssel für den Truck, Ben. Sofort.«

Ben senkte die Schultern. »Ich gebe Ihnen die Schlüssel, Ma’am, aber die werden Ihnen nicht viel nützen.«

»Blödsinn.«

Ben hielt seine Hände in die Höhe, die Handflächen nach oben gerichtet. »Ich schwöre bei Gott. Der Truck läuft nicht mehr.«

Die Worte schnitten wie ein scharfes Messer mitten durch Jessicas Herz. Sie biss sich auf die Lippen, um ein Wimmern zu unterdrücken. Sie gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen. Es war noch nicht an der Zeit, aufzugeben. Möglicherweise bluffte er ja. »Das werden wir schon sehen, Ben. Wo sind die Schlüssel?«

Er nickte in Richtung der geschlossenen Hüttentür. »Drinnen, hängen an einem Haken in der Küche.«