Danksagung

Für diese Ausgabe von Eine Versammlung von Krähen geht mein Dank an alle bei Deadite Press. An Alan Clark, Mark Sylva und Tod Clark. An Tim und Brindi Anderson, die mich durchgefüttert haben, während ich die zweite Hälfte dieses Buchs schrieb. Danke auch an Princess Alethea Kontis, die mich ihren Eimer mit Schlangen benutzen ließ, und an Bob Freeman, der mir mit einer Luminol-Lampe aushalf, als ich sie dringend brauchte. Außerdem danke ich Stephen Poerink, Miss Muffintop und den Jungs aus dem Lager, Mary SanGiovanni sowie meinen Söhnen.

Neun

Die Dunkelheit nahm zu, das Mondlicht verblasste. Dichte, träge Wolken krochen über den Himmel und verdeckten die schwach leuchtenden Sterne. Die Schüsse und Schreie waren verstummt. Auch die durch Gärten, über brachliegende Felder oder entlang der Straßen flüchtenden Menschen ließen sich nicht mehr blicken. In ganz Brinkley Springs kauerte die schwindende Zahl der Überlebenden in ihren Häusern und Kellern, Werkzeugschuppen und Rübenspeichern, Geschäften und Scheunen, Autos und Lastern, betete um Hilfe und wartete auf das Unvermeidliche.

Und das Unvermeidliche fand sie, einen nach dem anderen. Die Schatten trafen ein … und mit ihnen ein unvorstellbarer Hunger.

Stu Roseman wurde brüllend und wild um sich tretend unter seinem extrabreiten Bett hervorgezerrt, bevor man ihn ausweidete. Mara Dobbs riss man brutal aus ihrem Schrank, wo sie sich unter einem Stapel aus Decken und Handtüchern versteckt hatte, und ertränkte sie in ihrer eigenen Toilette. Don und Jamie Mahan kauerten in ihrem Ford Explorer und versuchten verzweifelt alle paar Minuten, den Motor zu starten, bis man sie in Stücke riss. Jerrod Hintz und Scott Balzer wurden in ihrem Versteck im Kühlraum der Fleischerei aufgefunden und mit halb gefrorenen Fleischstücken erschlagen.

Candy Winters’ Leben endete damit, dass man ihren Kopf in ihre Vagina stopfte. Toby Paulson erstickte an seinem abgetrennten Penis. Bob Parker wurde mit seinen eigenen Eingeweiden erwürgt. Rocky Quesadas und Joy Olivas Köpfe schlug der Gegner so oft gegeneinander, bis sie zu Brei zermatschten. Aaron Milano wurde auf einem Fahnenmast aufgespießt, seine zwei Katzen über ihm gepfählt. Jeremy Garner, Peggy Stanfield und Michelle Broadhurst entdeckte man in einem abgelegenen Winkel von Herb Swaffords Heuboden – erstochen, zerschnitten, zerhackt und durchbohrt mit einer Auswahl von landwirtschaftlichem Gerät. Mistgabeln, Äxte, Schaufeln und Rechen als Todesboten. Herbs Kopf und Eingeweide lagen vor der Scheune im Schlamm. Wahrscheinlich hätten seine Schweine die Überreste aufgefressen, hätte man sie nicht ebenfalls getötet. Genauso wie seine Kühe, seine Schafe und sein einziges Pferd.

Ganz gleich, wo sich die Menschen verkrochen, niemand blieb unentdeckt. Ganz gleich, wie verzweifelt sie zu fliehen versuchten oder wie beherzt sie kämpften, um ihre Existenz zu retten, das Endergebnis blieb stets dasselbe. Jeder kam früher oder später an die Reihe. Jeder krepierte. Die Schattengestalten gingen dabei so methodisch und präzise vor, wie sie unersättlich und grausam waren. Menschliche Lebenskerzen wurden in der Nacht ausgelöscht, auf dass sie nie wieder brennen würden, und nachdem die Schatten ihre Seelen verschlungen hatten, zogen sie weiter und ließen Leichen zurück.

Einige wenige Bürger von Brinkley Springs erlagen natürlichen Todesursachen. Keith David, Rebecca Copeland und Bobbi Russo machte ein durch Angst und Stress ausgelöster Herzinfarkt den Garaus. Tim Draper und Perry Wayne erlitten schwere Schlaganfälle, die sie gelähmt und bewusstlos zurückließen, bis irgendwann ihre Atmung aussetzte. Don Hammerton stolperte, als er die Straße entlangrannte, und brach sich am Bordstein das Genick. Robin Clark suchte ein epileptischer Anfall heim, bei dem er sich die Zunge abbiss und daran verblutete. In jedem dieser Fälle stiegen die Seelen langsam himmelwärts und loderten kurz auf, als sie von der unsichtbaren Barriere aufgesaugt wurden.

Unabhängig davon, wie sie gestorben waren – ob durch Mord oder natürliche Ursachen –, blieben die Leichname nicht lange erhalten. Es gab keine langsam fortschreitende Verwesung. Bereits kurz nach ihrem Tod verwandelten sich die Menschen von Brinkley Springs in die Asche und den Staub zurück, aus denen sie ursprünglich hervorgegangen waren.

Und schließlich verschwand sogar der Staub.

Donny stand unter dem Baum in Esthers Vorgarten, scannte die dunkle Straße in beiden Richtungen ab und versuchte, herauszufinden, wohin Levi gegangen sein mochte. Weit und breit rührte sich nichts. Sogar der Wind war abgeflaut. Er lauschte auf Schritte oder sonstige Geräusche, die Levis Gegenwart verrieten, doch da war nichts. Die unheimliche Stille sorgte dafür, dass sich seine Nackenhaare aufrichteten. Im Irak war er viele Male panisch und nervös gewesen. Scheiße, er hatte jeden Tag Todesängste ausgestanden. Aber diese Ängste waren nichts im Vergleich zu dem, was er in dieser Nacht durchmachte.

Und nicht alles davon hatte unmittelbar mit den Vorgängen in der Stadt zu tun.

Er schaute zur Frühstückspension zurück und hoffte, Marsha würde am Fenster auftauchen, aber die Vorhänge blieben geschlossen. Ihm rutschte das Herz in die Hose, doch was hatte er erwartet? Er wünschte sich, ihr sagen zu können, was er fühlte, wünschte sich inständig, er könnte die richtigen Worte finden, um ihr zu erklären, wie sehr ihn Brinkley Springs abstieß und dass er sich weigerte, länger hierzubleiben, als er musste – auch wenn das bedeutete, dass er sie niemals wiedersah. Aber jedes Mal, wenn er einen Anlauf unternahm, löste er neue Missverständnisse aus und verletzte ihre Gefühle. Es war vermutlich besser für sie, wenn er sich wortlos aus dem Staub machte. Sie war eine starke Frau. Es würde sie nicht noch einmal so schwer treffen wie beim letzten Mal. Sie war älter geworden, außerdem hatte sie Randy und ihre …

Nein, ihre Eltern gab es nicht mehr. Nach dieser Nacht blieben nur noch ihr kleiner Bruder … und er.

Etwas krümmte sich in Donnys Eingeweiden. Er verspürte einen heißen Anflug von Zorn und Verärgerung darüber, dass sich seine Entscheidung, wegzuziehen, noch komplizierter gestaltete. Wie konnte er sie nach allem, was geschehen war, zurücklassen? Er hasste sich dafür, dass er so empfand, und hätte es nie offen zugegeben, trotzdem steckten diese Emotionen in ihm. Was stimmte nicht mit ihm? Hatten ihm die vergangenen Jahre so schlimm zugesetzt? War er ein beschissener Egozentriker geworden, der nach der Ermordung der Eltern seiner Freundin ernsthaft darüber nachdachte, wie ungelegen ihm das kam?

Er verspürte den Drang, zurückzulaufen, Marsha in die Arme zu nehmen und sich bei ihr zu entschuldigen. Was tat er überhaupt hier draußen?

»Das wollte ich Sie auch gerade fragen.«

Donny japste, schrie aber nicht. Dafür war er zu erschrocken. Jäh wirbelte er herum, nahm die Hände schützend vor den Bauch und trat mit dem Fuß aus. Der Tritt sauste an Levi vorbei und brachte den Mann nicht im geringsten aus der Fassung.

»Gottverdammte Scheiße noch mal! Sie haben mir einen höllischen Schrecken eingejagt, Mann! Wissen Sie denn nicht, dass man sich nicht einfach so an jemanden anschleicht?«

»Hüten Sie Ihre Zunge. Ich habe nichts gegen Fluchen, aber ich billige es nicht, wenn der Name des Herrn missbraucht wird.«

»Tut mir leid. Sie haben mich nur wahnsinnig erschreckt.« Donny richtete sich wieder zu voller Größe auf. »Also … können Sie auch Gedanken lesen? Wie haben Sie das gemacht?«

»Ich habe Mittel und Wege.«

»Tja, Sie dürfen sich nicht derart an mich anschleichen. Ich meine, verdammt … ich hätte Sie umbringen können, Levi.«

»Nein, hätten Sie nicht.«

»Sie sind ein eingebildeter Mistkerl, Levi.«

»Ich bin nicht eingebildet. Ich bin selbstsicher. Hochmut ist eine Sünde, vorbereitet zu sein ist keine. Was haben Sie hier draußen zu suchen? Ich sagte doch, Sie sollen im Haus bleiben.«

Donny grinste. »Und ich sagte, dass ich keine Befehle mehr entgegennehme.«

Levi trat näher, bis sich seine Stirn nur noch Zentimeter von Donnys Kinn entfernt befand. Als er in die Augen des jüngeren Mannes starrte, erkannte Donny die Verärgerung in dessen Miene – und noch etwas anderes. Angst. Donny begriff, dass Levi sich fürchtete, was Donnys eigenes Unbehagen verstärkte.

»Halten Sie das für ein Spiel? Das hier ist kein Comic oder Fantasyfilm, bei dem wir die Bösen ohne Konsequenzen in einer Schlacht besiegen. Ich meinte ernst, was ich sagte, Donny. Hier draußen kann ich Sie nicht beschützen. Sie müssen zurück hinein. Um meinetwillen ebenso wie um Ihretwillen.«

»Ich kann mich meiner Haut erwehren, Levi, das können Sie mir ruhig glauben.«

»Ich weiß, dass Sie das können. Ich zweifle nicht an Ihren Fähigkeiten, und ich bin sicher, in einer brenzligen Lage wäre es toll, Sie an der Seite zu haben. Aber davon rede ich nicht.«

»Wovon reden Sie dann? Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, um Ihretwillen ebenso wie um meinetwillen?«

Levis Tonfall wurde sanfter. »An … an meinen Händen klebt bereits genug Blut. Mir folgen schon genug Gespenster im Leben. Weitere kann ich nicht brauchen.«

»Ich auch nicht, Levi. Denken Sie, ich wüsste nicht, was Schuldgefühle sind? Denken Sie, ich wüsste nicht, wie es sich anfühlt, jemanden zu töten – ich meine, wie es sich wirklich anfühlt? Dieses krampfartige Ziehen im Bauch, das einen tagein, tagaus verfolgt. Oder wie einem zumute ist, wenn man einen guten Freund verliert – dabei zusehen zu müssen, wie er unter den eigenen Augen wegstirbt, während man selbst weiterlebt? Ich weiß besser, wie sich so etwas anfühlt, als Sie glauben.«

Levi starrte ihn einen Moment lang an. Seine Miene veränderte sich, und kurz dachte Donny, der ältere Mann würde zu weinen anfangen. Dann jedoch bekam er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle.

»Na schön«, sagte Levi. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich Ihre Beweggründe begreife, vor allem, weil da drin eine anständige Frau auf Sie wartet, die Sie liebt. Aber um ganz ehrlich zu sein, weiß ich Ihre Gesellschaft zu schätzen. Es kommt nicht oft vor, dass mich auf diesem schwierigen Weg jemand begleitet. Trotzdem müssen Sie auch mich verstehen, Donny. Ihr Schicksal lastet allein auf Ihren Schultern. Außerhalb des Hauses kann ich Sie nicht beschützen. Ich kann unsere Gegenwart ein wenig verschleiern, damit wir uns ungehindert bewegen können, allerdings werden wir uns ihrer Aufmerksamkeit nicht lange entziehen können. Ich muss mich ihnen stellen. Das ist die einzige Möglichkeit, um an die Informationen zu gelangen, die ich benötige, um dem Treiben ein Ende zu bereiten.«

»Tja, dann packen wir’s an. Wir können aufbrechen und nach diesen Mördern suchen, oder wir können die ganze Nacht hier rumstehen und diskutieren. Was darf’s sein?«

»Haben Sie keine Angst?«

»Natürlich hab ich Angst, Levi. Ich hab sogar eine Scheißangst. Und Sie genauso. Ich sehe es Ihnen an. Aber wenn Sie glauben, dass es eine Möglichkeit gibt, diese … was auch immer sie sind aufzuhalten, und wenn ich Ihnen dabei helfen kann, dann sage ich: Tun wir’s!«

Levi nickte. »Gehen wir. Ich muss zuerst etwas finden.«

Donny folgte ihm über die Straße und widerstand dem Drang, sich umzudrehen, ob Marsha sie beobachtete. Er zögerte, und seine Schritte verlangsamten sich. Seine Beine fühlten sich schwer an.

»Wissen Sie zufällig, welches …« Levi verstummte, als er Donnys Unbehagen bemerkte. »Geht es Ihnen gut?«

»Ja.«

»Haben Sie Zweifel bekommen?«

»Nein«, beharrte Donny. »Alles in Ordnung. Was haben Sie überhaupt hier draußen angestellt? Myrtle hat rausgeschaut, nachdem Sie gegangen waren, und sagte, sie könnte Sie nicht sehen. Wir dachten, Sie wären längst weg.«

»War ich auch, aber dann ist mir eingefallen, dass ich vorher noch etwas besorgen muss.«

Donny runzelte die Stirn. »Besorgen?«

»Ja, in gewisser Weise. Ich habe versucht, zu erraten, welches dieser Häuser Myrtle gehört. In Anbetracht ihrer Neigungen bin ich ziemlich sicher, dass sie etwas in Ihrem Besitz hat, was ich dringend benötige.«

»Neigungen? Sie meinen diesen New-Age-Kram?«

»Ja.«

»Warum haben Sie dann nicht einfach an die Tür geklopft und sie gefragt?«

Levi zuckte mit den Schultern. »Ich hatte befürchtet, wenn ich zurückkäme, müsste ich wieder mit Ihnen darüber diskutieren, dass Sie mich begleiten wollen. Aber da Sie jetzt ohnehin hier sind …«

Donny zeigte auf ein Haus. »Dort drüben wohnt sie.«

»Sie wollen auch nicht zu Esther zurückgehen.«

»Ist das so offensichtlich?«

»Für mich schon«, erwiderte Levi, als sie die Straße überquerten.

»Und zu Marsha, vermute ich. Oder zu irgendjemandem sonst, der Augen hat und jemals verliebt gewesen ist.«

Donnys Ohren wurden heiß. Seine Haut fühlte sich knallrot an.

»Ich will wirklich nicht neugierig sein«, fuhr Levi fort, »aber mir scheint klar zu sein, dass Sie die Frau genauso sehr lieben, wie es umgekehrt der Fall ist. Worin liegt das Problem?«

»Ich will Sie nicht mehr verletzen.«

»Sie haben sie bereits verletzt? Waren Sie ihr untreu?«

»Nein, nichts dergleichen. Das würde ich Marsha nie antun. Es … es ist kompliziert. Mir gefällt es hier nicht. Hat es noch nie. Diese Stadt … zieht einen runter. Sie höhlt die Menschen aus. Verstehen Sie, was ich meine? Für mich hat es sich nie wie ein Zuhause angefühlt.«

»Also sind Sie weggelaufen?«

»Ja, so könnte man es nennen – wenn man es als ›wegrennen‹ bezeichnen will, dass ich mich freiwillig für die Army gemeldet und in den Irak gegangen bin.«

»Haben Sie im Ausland gefunden, wonach Sie gesucht haben? Hat sich der Krieg heimischer angefühlt?«

»Nein. Er hat sich wie die Hölle angefühlt.«

»Also kehrten Sie zurück.«

»Nicht freiwillig. Glauben Sie mir, dies war der letzte Ort, an den ich zurückkehren wollte. Aber meine Ma wurde krank. Krebs.«

»Wo ist sie jetzt?«

Donny seufzte. »Sie ist gestorben. Ich bin nur lange genug geblieben, um mich um ihren Nachlass zu kümmern. Habe das Haus zum Verkauf gestellt und dafür gesorgt, dass die Bestattung bezahlt wird. Heute Abend wollte ich abreisen. Ein paar Minuten früher, dann wäre ich nicht mehr hier gewesen, als alles anfing. Ich wäre bereits etliche Meilen entfernt über die Landstraße gebrettert.«

»Wohin wollten Sie?«, fragte Levi, als sie sich Myrtles Eingangstür näherten.

»Keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, so weit hatte ich nicht vorausgeplant. Ich schätze, erst mal weg. An irgendeinen Ort, der sich besser anfühlt, verstehen Sie? Um zu mir zu finden.«

»Tja, aber jetzt sind Sie hier.«

»Was soll das denn heißen? Wollen Sie damit behaupten, es wäre mein Schicksal?«

Levi zuckte mit den Schultern. »Schicksal. Gottes Wille. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Manche Menschen halten das Universum für chaotisch – sie glauben, dass es keinen konkreten Auslöser für Ereignisse gibt. Ich denke, sie irren sich. Es gibt eine bestimmte Grundordnung. Uns mag nicht immer gefallen, wie sich das Leben entwickelt, aber es entwickelt sich nicht grundlos so. Sie wollten zu sich selbst finden – vielleicht befand sich Ihr wahres Selbst von Anfang an hier.«

»Was weiß ich.«

»Allerdings bin ich nach wie vor nicht sicher, ob ich Ihren Widerwillen verstehe, sich auf Marsha einzulassen.«

»Als ich das erste Mal wegging, bekam Marsha solche Depressionen, dass sie ihr Studium abbrach und versuchte, sich umzubringen. Wissen Sie, das war meine Schuld. Ich will sie nicht an mich ranlassen, weil ich wieder verschwinden werde und sie das nicht noch einmal durchmachen soll.«

»Ich verstehe. Das ist eine schwere Bürde für einen jungen Mann wie Sie.«

»Das können Sie laut sagen.«

Levi verstummte und legte den Kopf schief, als lausche er.

»Hören Sie etwas?«, fragte Donny nach einer Weile.

»Nein, ich wollte mich nur vergewissern, dass die Luft rein ist. Gehen wir rein.«

»Ich vermute mal, die Tür ist abgeschlossen. Brinkley Springs mag eine Kleinstadt sein, trotzdem neigen die Bewohner dazu, abzuschließen, wenn sie das Haus verlassen.«

»Schon in Ordnung. Ich habe einen Schlüssel.«

»Myrtle hat Ihnen ihren Schlüssel gegeben?«

Levi schüttelte den Kopf, dann ergriff er mit der Rechten den Türknauf und schloss die Augen. Donny beobachtete, wie er tief Luft holte, etwa zehn Sekunden lang den Atem anhielt und ihn dann gepresst ausstieß. Levi schlug die Augen auf, und die Verriegelung klickte. Er drehte den Knauf, und die Tür öffnete sich.

»Wie um alles in der Welt haben Sie das angestellt?«

Levi zwinkerte ihm zu. »Was glauben Sie? Kommen Sie mit.«

Die beiden Männer traten ein. Levi ging voraus, dicht gefolgt von Donny. Myrtles Haus erwies sich als staubiges Monument voll Gerümpel und Spinnweben. Auf jedem Quadratzentimeter verfügbarer Regal- oder Tischfläche türmte sich eine schwindelerregende Ansammlung von Krimskrams – Zeitschriften und Taschenbücher, Duftölfläschchen, Votivkerzen, Weihrauchkessel, Kristalle, Perlen, Fantasyfigürchen aus Zinn, Tarotkarten, Einhörner und Delfine aus Keramik und einiges mehr. In einem Bücherregal drängten sich Myrtles im Eigenverlag erschienene Ratgeber, daneben standen sechs offene Kartons mit weiteren Exemplaren. Auf dem Fernseher thronte eine Engelsfigur. Donny gefiel sie nicht. Der Engel wirkte nicht tröstlich, sondern eher bedrohlich. Er schien sie mahnend anzustarren. In der Luft hingen die widerstreitenden Gerüche von Räucherkerzen, die leichte Übelkeit in ihm auslösten.

»Ramsch«, murmelte er.

»Ja«, bestätigte Levi, der einen auf dem Kaffeetisch liegenden Quarzsplitter betrachtete. »Vieles davon ist Ramsch. Tatsächlich sogar der Großteil. Aber hoffentlich finden wir auch ein paar brauchbare Utensilien.«

»Wonach suchen wir genau?«

»Gehen Sie bitte in die Küche und halten Sie Ausschau nach Salz. Einerlei, was für eine Sorte. Kochsalz. Meersalz. Jodsalz. Alles funktioniert. Bringen Sie den gesamten Vorrat mit – so viel, wie Sie tragen können.«

»Salz?« Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Donny wahrscheinlich vermutet, Levi wollte ihn auf den Arm nehmen. »Wozu brauchen wir das?«

»Es ist eine Waffe. Sie haben ja gehört, was Randy sagte. Die Kreatur, die seine Eltern tötete, besaß eine Abneigung gegen Salz. Das gilt für viele übernatürliche Wesen, jedenfalls dann, wenn sie in körperlicher Gestalt auftreten. Salz ist eine gute magische Rückversicherung.«

»Und ich dachte, es sorgt bloß dafür, dass das Essen besser schmeckt.«

»Das auch. Los, gehen Sie. Ich versuche unterdessen, Salbei aufzutreiben.«

»Salbei?«

»Ja. Eine kleine Menge habe ich in meiner Westentasche dabei, aber wir werden wesentlich mehr davon benötigen.«

»Ich persönlich würde mich ja mit einem M16-Gewehr wohler fühlen.«

»Allerdings wissen wir bereits, dass eine solche Waffe gegen unseren Feind nichts ausrichtet. Was wir brauchen, sind Salz und Salbei.«

»Wenn Sie das sagen …«

Levi nickte und wandte die Aufmerksamkeit dem Gerümpel zu. Kopfschüttelnd ging Donny in die Küche. Auf dem Tisch fand er einen Salzstreuer, den er in die Tasche steckte. Dann öffnete er die Speisekammertür und entdeckte im obersten Regalfach eine große Vorratsbüchse. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, fehlte von Levi jede Spur.

»Levi?«

»Ich bin oben«, rief Levi. Seine Stimme klang leise. »Bin gleich wieder bei Ihnen.«

Donny wartete. Er stellte die Salzbüchse auf dem Tisch ab und begann, Zeitschriften durchzublättern, die sich in einer Ecke des Raums vor der Wand stapelten. Die Namen der Magazine hatte er vorher noch nie gehört – Fate, Fortean Times, Angels, Coming Changes, Conscious Creation, Lightworker Monthly … Er hörte Levis Schritte über sich, gefolgt vom Geräusch einer Schublade, die geöffnet wurde. Er ergriff eine Ausgabe der Fortean Times und blätterte sie durch. Ein längerer Artikel handelte von Meerjungfrauen und enthielt einen Bericht über eine angebliche Sichtung an der Küste vor Haifa im vergangenen Jahr.

Die meisten anderen Beiträge schienen aus Publikationen in aller Welt zusammengetragen oder übernommen worden zu sein. Alle behandelten eigenartige oder paranormale Phänomene – Geister auf Londons Highgate-Friedhof, ein Mann, der in Peking 17 Stockwerke in die Tiefe gestürzt war und überlebt hatte, Sichtungen aller möglichen Kreaturen, vom Bigfoot bis hin zu Panthern in Manhattan, ein Fischregen in einem kleinen französischen Dorf, ein Vietnamese, dem Hörner aus dem Kopf gewachsen waren und weitere Absonderlichkeiten. Jede Geschichte klang noch seltsamer als die vorherige, und alle entsprachen angeblich der Wahrheit. Wenngleich Donny noch nie von der Zeitschrift gehört hatte, kannte er einige der angegebenen Quellen – Associated Press, die Londoner Times oder die Washington Post.

Plötzlich verspürte Donny ein Schwindelgefühl. Der Raum begann, sich vor ihm zu drehen. Der Puls pochte in seinen Ohren. Er holte tief Luft und stützte sich ab. Alles war so bizarr. Die meiste Zeit fühlte er sich wie ein junger Greis. Er hatte Dinge gesehen und getan, die viele seiner ehemaligen Freunde in Brinkley Springs niemals verstehen würden. Obwohl er so viel von der Welt gesehen hatte, sah er sich mit der Erkenntnis konfrontiert, dass er im Grunde nichts wusste und nichts gesehen hatte. In den Schatten der Realität existierte eine gänzlich andere Welt – eine Welt, die Menschen wie Levi und Kreaturen wie jene da draußen bevölkerten. Das Überfliegen der Artikel in der Zeitschrift machte ihm das noch bewusster.

»Großer Gott«, flüsterte er atemlos. »Großer Gott im Himmel …«

Er hörte Schritte auf der Treppe. Donny sammelte sich. Sekunden später tauchte Levi mit einem Bündel auf, das wie Heu aussah. Er schwenkte es, als er sich näherte.

»Gefunden. Ich wusste doch, dass sie welchen im Haus hat. Sogar Laien wissen um die Eigenschaften von Salbei. Jetzt sind wir gerüstet.« Sein Blick heftete sich auf das Magazin, das Donny in den Händen hielt. »Oh, die Fortean Times. Eine meiner Lieblingszeitschriften.«

»Wirklich?«

»Oh ja. Ich lese sie jeden Monat.«

»Hätte ich mir denken können.«

Levi tat so, als wäre er gekränkt. »He, ich lese auch sonst alles Mögliche, von National Geographic bis hin zum Soldier of Fortune

»Was ist mit Penthouse?«

»Natürlich nur die Artikel.« Grinsend deutete Levi auf die Zeitschrift in Donnys Hand. »Das ist eine ziemlich alte Ausgabe. Wenn ich mich recht erinnere, befindet sich darin ein interessanter Artikel über namibische Blutsauger. Regt stark zum Nachdenken an, zumal die klassischen Chupacabra-Legenden ihren Ursprung in Südamerika haben.«

»Damit kenne ich mich nicht aus.« Donnys Mund fühlte sich an, als wäre er mit Baumwolle ausgestopft worden. »Über Blutsauger habe ich nichts gelesen. Dafür bin ich auf einen umfassenden Bericht über Meerjungfrauen gestoßen.«

»Ah, Meerjungfrauen.« Levi nickte. »Leviathans Mägde. Wunderschön und bitterböse. Außerdem sind sie vampirisch, wenngleich auf eine Art und Weise, die Sie wahrscheinlich nicht nachvollziehen könnten. Grässliche Kreaturen, keine Frage, aber nicht annähernd so schlimm wie die, mit denen wir heute Nacht konfrontiert sind.«

»Sind … sind die Krähen ebenfalls Vampire?«

Levi runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube nicht. Sie haben keine Anzeichen dafür offenbart. Vielleicht etwas Ähnliches wie Vampire, zumal sie sich von den Seelen von Lebewesen zu ernähren scheinen, aber ich bin mir noch nicht sicher.«

Donny erwiderte nichts. Mit zittriger Hand legte er die Zeitschrift zurück auf den Stapel.

»Was ist?«, fragte Levi. »Sie schwitzen ja.«

»Levi … wie lange befassen Sie sich schon mit diesen Dingen?«

»Womit genau?«

»Damit.« Donny machte mit der Hand eine ausholende Geste. »Mit all diesem verrückten okkulten Kram.«

Levi senkte den Kopf und starrte auf den Boden. Als er wieder aufschaute, hörte sich seine Stimme leiser an, und die Selbstsicherheit, die er zuvor ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Er wirkte und klang müde.

»Mein ganzes Leben lang. Ich wurde in die Sache hineingeboren. Mein Vater Amos hat Powwow praktiziert, genau wie sein Vater vor ihm.«

»Also hat Ihnen Ihr Vater alles beigebracht, was Sie wissen?«

Levi zuckte mit den Schultern. »Teilweise. Jedenfalls hat er mir Powwow beigebracht, aber damit endete sein Unterricht – und seine Toleranz. Die anderen Methoden, die ich mir angeeignet habe, billigte er nicht. Er wollte nicht begreifen, dass sie unerlässlich für den Kampf gegen die Kreaturen sind, gegen die wir uns stellen müssen.«

»Er wollte, dass Sie so werden wie er.«

»In gewisser Weise. Obwohl – um ehrlich zu sein, ich glaube, am glücklichsten wäre mein Vater gewesen, wenn ich wie mein Bruder Landwirt geworden wäre. Natürlich konnte ich das nicht. Die Magie hätte mich eingeholt, ob ich nun Unterricht erhalten hätte oder nicht. Und dasselbe lässt sich von Marshas Bruder sagen.«

»Randy? Haben Sie sich in seiner Gegenwart deshalb so merkwürdig verhalten? Aber an Randy ist nichts magisch. Glauben Sie mir, ich kenne den Kerl, seit er klein ist. Er ist bloß ein Möchtegern-Gangsta. Das einzig Magische an ihm ist, dass ihm seine Hose beim Laufen nicht auf die Kniekehle rutscht.«

»Ich weiß zwar nicht genau, was ein Möchtegern-Gangsta ist«, gab Levi zurück, »aber vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Randy über besondere Gaben verfügt. Er ist mit diesen Fähigkeiten geboren worden. Sie sind nur nie in ihm geweckt worden. Wahrscheinlich, weil es in seinem Leben niemanden gab, der sein Talent erkannte. Ich vermute, dass er öfter ungewöhnliches Glück hat – etwa heute Nacht, als die Fahrzeuge ansprangen, nachdem er sie berührte. Kleine Brocken von Synchronizität sind ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir tun. Der Trick besteht darin, sie zu erkennen, wenn sie auftreten, und sie für uns zu nutzen oder zu kontrollieren, sie dem eigenen Willen unterzuordnen. Wäre er ordentlich ausgebildet worden, wäre er eine beeindruckende Verstärkung gegen unsere Feinde gewesen.«

»Haben Sie das vor? Ihn auszubilden?«

»Nein!«

Levi stieß seine Antwort mit solchem Nachdruck aus, dass Donny unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Er fürchtete, dass er Levi beleidigt hatte. Der ältere Mann stand steif da, die Miene mit einem Mal ernst und verkniffen.

»Nein«, wiederholte Levi, diesmal ruhiger. »Tut mir leid. Das kam barscher heraus, als ich beabsichtigte. Aber nein, ich werde Randy nicht unterweisen. Ich werde niemanden unterweisen.«

»Warum nicht?«

Levi schwieg. Zuerst dachte Donny, er würde die Frage nicht beantworten. Levi verstaute den Salbei in seiner Tasche und sah sich im Raum um. Schließlich sah er Donny an. »Als ich etwas über andere Disziplinen – andere mystische Praktiken – erfahren wollte, hat sich mein Vater dagegen gesperrt. Also ging ich woandershin. In meiner früheren Glaubensgemeinschaft bekommen junge Leute ein Jahr Zeit, um die Außenwelt zu erkunden und zu entscheiden, ob sie sich wirklich dem Lebensstil der Amish verschreiben wollen. Ich habe mein Jahr genützt, um zu lernen. Ich habe unsere Gemeinde verlassen und mich auf eine Art Pilgerreise begeben, um mich von anderen unterrichten zu lassen. Damals war ich jung, arrogant, dreist und absolut überzeugt davon, besser als mein Vater oder jeder andere zu sein.«

»Sie haben vorhin gesagt, Hochmut sei eine Sünde.«

»So ist es«, bestätigte Levi. »Ich war ein Sünder. Nur habe ich es damals nicht so gesehen. Ich war unheimlich selbstgerecht in meinem Wunsch, einer von Gottes auserwählten Kriegern zu werden und die Kniffe des Feindes gegen ihn einzusetzen. Und ich hatte recht. Gegen einige der Widersacher, gegen die mich der Herr im Laufe der Jahre in den Kampf ziehen ließ, wäre Powwow wirkungslos gewesen. Ich musste auf andere Methoden zurückgreifen. Mein Vater fand, es käme Gotteslästerung gleich, dass ich sie erlernte, aber ich sah das anders. Ich lernte sie, um Gottes Willen zu verrichten. Letztlich brachte meine Beharrlichkeit mich zu Fall. Ich wurde aus der Gemeinschaft verstoßen, von meiner Familie verleugnet und gezwungen, das einzige Zuhause zu verlassen, das ich je gekannt hatte. Man schickte mich fort, um in der Außenwelt zu leben. Als es geschah, war ich etwa so alt wie Randy.«

»Als was geschah? Hat man Sie verstoßen, weil Sie Magie erlernt haben?«

»Nein. Jedenfalls nicht allein deshalb. Es fiel noch etwas anderes vor.«

»Was denn?«

Levi antwortete nicht.

»Levi, warum hat man Sie rausgeworfen?«

»Da war ein Mädchen. Sie hieß Rebecca. Ich …«

»Ja?«

»Ich habe sie geliebt. Ich kannte sie schon mein ganzes Leben. Wir wuchsen zusammen auf, ähnlich wie Sie und Marsha. Sie war … von etwas betroffen, das ich tat. Von etwas entschieden Dunklerem als Powwow. Von etwas, das ich versehentlich entfesselte. Und als ich es rückgängig machen wollte, da … Rebecca … sie …«

»Reden Sie weiter«, drängte ihn Donny. »Ich höre Ihnen zu.«

»Vergessen Sie’s. Dafür haben wir keine Zeit.«

Levi schritt auf die Tür zu, die Miene verkniffen und entschlossen. Donny wollte ihm im Vorbeigehen an die Schulter fassen, doch Levi schüttelte ihn unwirsch ab. Als er die Tür erreichte, hielt er inne und legte den Kopf schief, dann öffnete er die Tür und eilte hinaus. Donny folgte ihm.

»Hey.« Er packte Levi am Ellbogen. »Es tut mir leid, wenn ich Sie verärgert habe.«

Levi lächelte traurig. »Das haben Sie nicht. Es ist nur sehr lange her, seit ich zuletzt darüber gesprochen habe – über Rebecca und alles andere. Es fühlt sich an, als reiße man den Schorf von einer noch nicht verheilten Wunde. Verstehen Sie?«

»Ja, sehr gut. Glauben Sie mir, ich kenne das Gefühl. Und auch, wenn’s vielleicht nicht viel wert ist, es tut mir leid, dass Sie Ihr Zuhause verloren haben, Levi.«

»Tja, dann lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir zumindest Ihr Zuhause retten. Ich weiß, dass Sie Brinkley Springs nicht für Ihre Heimat halten, aber stellen Sie sich folgende Frage: Wenn dies nicht Ihr Zuhause ist, warum kämpfen Sie dann dafür? Wenn Sie nicht für die Stadt kämpfen, für wen dann? Tun Sie es für Marsha? Falls ja, ist vielleicht sie Ihre Heimat.«

Donny öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Levi hob den Finger und kam ihm zuvor. »Nein«, sagte er. »Antworten Sie nicht. Denken Sie einfach darüber nach. Es ist wie in dem alten Sprichwort – Zuhause ist dort, wo sich das Herz am wohlsten fühlt. Die Frage, die Sie sich stellen müssen, Donny, lautet: Wo fühlt sich Ihr Herz wohl?«

In der relativen Sicherheit von Axels Keller hatten Greg, sein Bruder und Paul alles erzählt, was sie wussten, wobei sie Jeans Sohn die grausigeren Einzelheiten ersparten. Danach war Stille eingekehrt. Greg rechnete ständig damit, dass Paul sie drängen würde, wieder aufzubrechen, aber er schien seinen Plan, Hilfe zu holen, aufgegeben zu haben. Seine Hartnäckigkeit schien der Entscheidung gewichen zu sein, an Ort und Stelle zu bleiben. Und das taten sie. Bobby kauerte auf dem Schoß seiner Mutter. Jean hatte einen Arm schützend um ihn gelegt. Axel summte eine unmelodische Version von Big Rock Candy Mountain. Gus starrte geradeaus an die Wand. Paul atmete schwer durch die Nase und schien fast einzuschlafen.

Schließlich brach Greg das Schweigen. »Ich denke, die Mountaineers werden dieses Jahr eine gute Saison hinlegen. Vielleicht schaffen sie es sogar ganz nach vorn.«

Er verstummte und wartete auf eine Erwiderung, aber Gus, Paul, Axel, Jean und Bobby glotzten ihn wortlos an. Besonders gut konnte er sie in der Dunkelheit nicht erkennen, denn nach ihrer Ankunft hatte Paul Axel dazu gedrängt, die Kerzen auszublasen. Allerdings brauchte Greg sie auch nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie ihn anstarrten. Er spürte ihre Blicke auf sich lasten. Plötzlich kam er sich ungeheuer albern vor und räusperte sich.

»Na ja, ich glaube das jedenfalls. Sie haben einen neuen Spieler aus New Jersey. Ein anständiger Christ. Kommt aus dem Getto in Newark und hat einen verdammt kräftigen Wurfarm. Nebenher lernt er Gartenbau oder so was Ähnliches.«

Gus rührte sich. »Was zum Geier ist los mit dir?«

»Mit mir? Ich plaudere ein bisschen über College-Football. Was zum Geier ist los mit dir?«

»Wie kannst du zu einem solchen Zeitpunkt über Sport reden? Hältst du das wirklich für angemessen?«

Greg zuckte mit den Schultern und legte die Schuhe auf das Sims des Kerosinofens. Da er laut Axel ausgefallen war, machte er sich keine Sorgen, dass er sich die Füße verbrennen würde.

»Keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Es war bloß so ruhig. Wir sitzen hier rum und keiner redet. Ich dachte, eine Unterhaltung würde unsere Stimmung heben.«

»Er hat recht«, murmelte Paul.

»Du willst über Sport reden?« Gus hörte sich fassungslos an.

»Nein, das meine ich nicht. Im Augenblick ist mir Football wirklich scheißegal. Aber es ist wirklich totenstill. Von draußen ist seit einiger Zeit nicht das Geringste zu hören.«

»Glauben Sie, es ist vorbei?«, erkundigte sich Jean. »Könnten die weg sein?«

»Könnte sein«, erwiderte Gus. »Aber ich stecke nicht den Kopf raus, um nachzusehen.«

»Einer von uns sollte es tun«, schlug Axel vor. »Wäre schließlich sinnlos, dass wir hier unten hocken und uns im Dunkeln den Hintern abfrieren, wenn die Gefahr längst vorbei ist. Zumindest sollten wir die Behörden alarmieren, wie ihr es ursprünglich vorhattet.«

»Haben wir immer noch«, erwiderte Paul. »Sobald wir aufbrechen.«

»Damit scheinst du es nicht mehr eilig zu haben«, merkte Greg an.

»Du aber auch nicht«, entgegnete Paul barsch. »Und außerdem dachte ich, wir könnten eine Pause ganz gut brauchen.«

»Also …« Greg seufzte. »Die hatten wir jetzt. Und unsere Lage hat sich nicht geändert, während wir rumsaßen. Axel hat recht. Wir sollten draußen nach dem Rechten sehen.«

»Nur zu«, sagte Gus. »Ich für meinen Teil bleibe hier unten.«

Paul stand auf. »Wir gehen alle. Das ist am sichersten.«

Jean zog ihren Sohn enger an sich heran. »Bobby geht nirgendwohin, bis wir sicher sein können, dass keine Gefahr mehr besteht.«

»Sie hat recht«, fand Greg. »Es scheint mir nicht richtig zu sein, den Jungen mit in dieses Chaos zu zerren.«

»Nein«, pflichtete Paul ihm bei. »Ist es nicht. Jean und Bobby, ihr bleibt hier. Wir geben euch Bescheid, wenn die Luft rein ist.«

Gus und Greg rappelten sich auf. Stöhnend folgte Axel ihrem Beispiel. Er legte die Hände an die Hüften und streckte den Rücken durch. Seine Gelenke knackten hörbar.

»Verfluchte Arthritis«, murmelte er. »In diesem feuchten Keller zu sitzen, hat’s nicht gerade besser gemacht.«

Bobby streckte die Hand nach Axel aus. »Mr. Perry, ich will nicht, dass sie gehen. Ich will, dass sie hier bei Ma und mir bleiben.«

Greg bemerkte die Gefühlsregungen, die sich in der Miene des alten Mannes widerspiegelten, als er sich dem Jungen zuwandte. Axel wirkte zugleich glücklich und traurig. Er schlurfte zu Jean und Bobby und reichte dem Jungen seinen knorrigen alten Spazierstock.

»Hier.« Axel drückte dem Jungen den Stock in die Hand. »Nimm du ihn. Du erinnerst dich doch daran, was ich dir über ihn erzählt habe, oder?«

Bobby nickte energisch. »Oh ja, Sir. Sie haben gesagt, dass er magisch ist, weil er von Mrs. Chickbaum stammt.«

Axel lachte. »Genau. Mrs. Chickbaum. Also, wir werden nur kurz weg sein. Wir schleichen rauf und sehen uns um – vergewissern uns, dass die bösen Männer gegangen sind. Während wir das tun, hältst du diesen alten Stock ganz fest. Er wird dafür sorgen, dass deiner Mutter und dir nichts passiert. In Ordnung? Kannst du das für mich tun?«

»Ja, Sir.«

»Braver Junge.« Axel streichelte Bobbys Schulter, dann drehte er sich zu den anderen. »Also gut, dann wollen wir mal nachschauen, wie der Stand der Dinge ist.«

Am Fuß der Treppe zögerte das Quartett kurz. Jeder hoffte, dass ein anderer voranging.

»Alter vor Schönheit«, meinte Greg zu Axel und Paul und gestikulierte einladend mit der Hand. »Ihr zwei wart diejenigen, die gehen wollten.«

Paul brummte etwas vor sich und erklomm langsam die Stufen. Gus folgte ihm. Greg und Axel starrten sich an.

»Mach schon«, forderte Axel ihn auf. »Ich bestehe darauf. Ich bin alt und würde euch nur aufhalten.«

Greg folgte seinem Bruder. Er hörte, wie Axel hinter ihm herschlich. Die hölzernen Stiegen knarrten unter ihren Füßen, und das Geländer zitterte leicht. Greg fürchtete, die Treppe könnte unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Immerhin war das Haus beinahe so alt wie Axel. Es ließ sich unmöglich abschätzen, welchen Schaden der Zahn der Zeit und Insekten im Verlauf der Jahre angerichtet hatten. Es wäre verdammt ironisch gewesen, so abzutreten – das Massaker draußen zu überleben, um sich hier in Axel Perrys Keller das Genick zu brechen.

Als sie oben ankamen, öffnete Paul die Tür. Sie alle drehten sich um. Jean und Bobby standen unten und starrten aus der Dunkelheit zu ihnen herauf. Greg hob die Hand und winkte.

»Seid vorsichtig«, rief Jean. »Und bitte kommt bald zurück.«

»Machen wir«, erwiderte Axel. »Bobby, du hältst brav den Stock fest, ja?«

»Okay, Mr. Perry.«

»Wir sind nicht lange weg. Versprochen.«

Als sie durch Axels Haus schlichen, wandte sich Greg mahnend an den Alten: »Du hättest dem Jungen nicht einreden sollen, dass der Stock magische Kräfte besitzt.«

»Warum nicht? Er fühlt sich dadurch besser – sicherer. Was schadet es schon?«

Greg zuckte mit den Schultern. »Da ist was dran.«

»Und außerdem«, fügte Axel hinzu, »woher weißt du so genau, dass er keine magischen Kräfte hat?«

Greg schüttelte den Kopf. »Alter Wirrkopf.«

»Ich bin nicht derjenige, der glaubt, dass die Jungs von der NOW die Welt kontrollieren.«

»NWO, nicht NOW, verdammt. Wie oft muss ich das denn noch erklären?«

Paul und Gus gingen zu den Fenstern.

»Seht ihr was?«, wollte Greg wissen.

»Nichts«, antwortete Paul. »Sogar die Leichen sind inzwischen verschwunden. Es ist, als wäre nie etwas geschehen.«

»Tja, das ist eigentlich das Schlimmste, oder?« Gus wandte sich vom Fenster ab. »Nicht wirklich zu wissen, was los ist. Ich meine, würden wir mit einem Tornado, einem Blizzard oder einer Überschwemmung konfrontiert, wüssten wir, was zu tun ist. Wir wüssten, wie wir uns schützen können. Aber selbst nach allem, was wir heute Nacht mit eigenen Augen gesehen haben, wissen wir immer noch nicht, was da genau auf uns lauert.«

Greg ging in den vorderen Raum. Die anderen folgten ihm. Als er die Eingangstür öffnen wollte, hielt ihn sein Bruder auf.

»Bist du dir ganz sicher?«

»Klar bin ich sicher«, antwortete Greg. »Paul und du haben durchs Fenster geschaut und nichts gesehen. Außerdem ist nichts zu hören. Was immer passiert sein mag, das Schlimmste dürfte hinter uns liegen, denke ich.«

Mit einem Klicken öffnete sich das Schloss. Greg drehte am Knauf und zog die Tür auf …

… etwas Großes, Schwarzes und Übelriechendes packte sein Gesicht und zerrte ihn hinaus.

Greg blieb keine Zeit, um zu schreien. Das übernahmen die anderen für ihn.

»Also«, meinte Donny, »wenn Sie kein Amish mehr sind, was hat es dann mit der Kleidung, dem Bart und dem Hut auf sich? Könnten Sie sich nicht … ich weiß nicht … moderner kleiden? Ein bisschen modischer?«

Levi seufzte und versuchte, seine Verärgerung zu verbergen. Fragen wie diese hatte man ihm schon Hunderte Male gestellt, und seine Antwort fiel stets gleich aus.

»Ich bin alleinstehend«, sagte er. »Ich dachte, Frauen finden den Bart attraktiv. In allen Zeitschriften und Talkshows heißt es, dass Bärte wieder in Mode gekommen sind. Und was den Hut angeht, den trage ich aus denselben Gründen wie jeder andere – er hält mir die Sonne aus den Augen und schützt den Kopf vor Regen. Außerdem versteckt er meine kahle Stelle.«

»Lassen Sie sich doch eine Haartransplantation machen.«

»Haben Sie nie die Geschichte von Samson gelesen? Fuhrwerkt man an den Haaren eines Mannes herum, raubt man ihm die Kraft.«

Donny kicherte nervös. Levi merkte dem jüngeren Mann an, dass er nicht sicher war, ob er es ernst meinte oder nicht. Er konnte gut damit leben. Insgeheim wünschte er, Donny würde endlich die Klappe halten. Obwohl er sie beide vor dem Feind abschirmte, konnten in der Umgebung andere Gefahren lauern, und es hatte keinen Sinn, ihre Anwesenheit unnötig hinauszuposaunen. Außerdem musste er nachdenken, und das ging erheblich besser, wenn Donny nicht die ganze Zeit plapperte.

»Was ist mit dem Pferdewagen? Warum benutzen Sie einen Pferdewagen, wenn Sie kein Amish sind?«

»Haben Sie sich in letzter Zeit mal die Benzinpreise angeguckt?«

»Gutes Argument.«

Endlich verstummte Donny. Zähneknirschend versuchte Levi, sich zu konzentrieren. Über sich spürte er den Seelenkäfig, den Randy beschrieben hatte. Natürlich hatte der Junge weder dessen wahre Bezeichnung noch seinen Zweck gekannt. Er hatte ihn lediglich für ein Gefängnis gehalten, das sie davon abhalten sollte, die Stadt zu verlassen. In Wirklichkeit handelte es sich um ein Konstrukt, das durch gewaltige Willenskraft und Bösartigkeit errichtet worden war – eine mystische Barriere, dazu bestimmt, die Seelen aller Lebewesen einzufangen, die direkt mit ihr in Berührung kamen.

Nach der Menge der Energie zu urteilen, die der Käfig abstrahlte, hielt er bereits viele Seelen gefangen. Levi überlegte, ob es ihm möglicherweise gelang, die Gitter zu zerstören, bevor seine Erschaffer sich am Inhalt laben konnten, doch dann entschied er sich dagegen. Er hielt es für besser, sich die Kräfte für die Hauptaufgabe aufzusparen, statt sie auf den Käfig zu verschwenden. Im Erfolgsfall würden die im Käfig gefangen gehaltenen Seelen ohnehin befreit. Er hoffte, dass es noch nicht zu spät für jene Seelen war, welche die Wesen direkt verspeist hatten.

Die Leichen, die noch vor einigen Stunden die Straßen säumten, waren verschwunden. Einige kleine Aschehaufen bemerkte er, doch auch diese waren überwiegend vom kräftigen Wind weggeblasen worden. Levi verlangsamte die Schritte, als sie den Henkersbaum passierten, den Randy erwähnt hatte. Die Schnitzerei hob sich deutlich von der Rinde ab: CROATOAN.

In welcher Relation stand das Wort zu den Vorgängen in Brinkley Springs? Die Methoden und das Ziel – das Auslöschen sämtlicher Lebewesen in einer Kleinstadt – entsprachen denen von Meeble, aber offensichtlich hatten sie es doch mit einem anderen Gegner zu tun. Was steckte dahinter? Unwillkürlich stellte sich Levi ihr Dilemma als Puzzlespiel vor. In der Mitte klaffte ein Loch, und bis er auf die fehlenden Teile stieß, würde er das vollständige Bild nicht erkennen. Irgendwie standen die Wesen, die hier wüteten, mit Meeble und den Dreizehn in Verbindung. Die Frage lautete: Wie?

Seine Gedanken schweiften zu Wiedergängern und Totengeistern ab. Konnten die schwarzen Gestalten einer dieser beiden Gruppen angehören? Ein Totengeist war, wie die Bezeichnung schon andeutete, der schattige Geist eines Toten. Der Begriff schien in mehreren Quellen aufzutauchen, unter anderem in Homers Odyssee und Dantes Göttlicher Komödie. In der griechischen Mythologie lebten die Toten dauerhaft in den Schatten der Unterwelt. Die hebräische Version eines Totengeists nannte sich Tsalmaveth, was frei übersetzt »Todesschatten« bedeutete.

Während die Wesen zweifellos einige Eigenschaften von Totengeistern aufwiesen, glaubte er nicht, dass diese Annahme ins Schwarze traf. Ebenso wenig schienen sie die Definition eines Wiedergängers zu erfüllen. Andererseits wusste er, dass die Kriterien nicht eindeutig waren. So wurde der Begriff unter anderem für Kreaturen verwendet, die keine Wiedergänger im eigentlichen Sinne, sondern Siqqusim darstellten – eine Rasse von Wesen, die in der Lage waren, die Körper von Toten in Besitz zu nehmen. Als Ishtar und Ereshkigal in der akkadischen Literatur drohten, »die Toten zu erwecken, auf dass sie die Lebenden fressen und die Zahl der Toten die der Lebenden übersteigt«, bezogen sie sich darauf, Siqqusim in Leichen hineinzubeschwören. In Wirklichkeit handelte es sich um Zombies, nicht um Wiedergänger, doch dieser Unterschied fand bei ihnen keine Berücksichtigung.

Mittelalterliche Wiedergänger erinnerten schon eher an das, womit Levi sich derzeit konfrontiert sah. Er dachte an die anglonormannischen Aufzeichnungen des William von Newburgh, den Chronisten Walter Map, den Abt von Burton und den Bischof Gilbert Foliot sowie an die späteren Schriften von Augustus Montague Summers. Wenngleich die Beschreibungen voneinander abwichen, stimmten sie insofern überein, als dass Wiedergänger, die von den Toten auferstanden, als gottlos und böse galten. Die einzige Möglichkeit, sie zu zerstören, bestand laut den Verfassern darin, ihre Körper zu exhumieren, ihnen den Kopf abzuschlagen, das Herz zu entfernen und in weiterer Folge zu verbrennen.

Konnte es sein, dass seine Feinde eine neue Form von Wiedergängern verkörperten, einen Okkultisten bislang unbekannten Typus? Falls ja, wie sollte er sie besiegen?

Er grübelte immer noch darüber nach, als er die Schreie hörte. Ohne ein Wort zu verlieren, stürzten Levi und Donny der Quelle des Lärms entgegen. Ihre Schritte pochten über den Asphalt wie ein Takt zur Melodie des Gebrülls. Sie bogen um eine Ecke, gelangten in eine andere Straße und stießen auf ein Haus, das unter Belagerung zu stehen schien.

»Dort wohnt Axel Perry«, sagte Donny.

Die fünf dunklen Gestalten hatten das Gebäude umzingelt.

Zwei befanden sich im Vorgarten. Eine hatte gerade einem unglückseligen Opfer das Gesicht weggefetzt. Der Körper des Mannes lag zuckend im nassen Gras. Drei weitere Männer standen auf der Veranda und beobachteten das Geschehen entsetzt. Levi erkannte einen von ihnen als Besitzer der örtlichen Autowerkstatt wieder.

»Oh Scheiße«, stieß Donny stöhnend hervor. »Ich glaube, das auf dem Boden ist Greg Pheasant. Aber irgendwas stimmt nicht mit ihm. Es sieht … nicht richtig aus.«

Levi fasste in die Tasche und holte seine Ausgabe von Der lange verborgene Freund hervor. Er küsste das Buch, dann reichte er es Donny.

»Hier. Ich gebe gleich unsere Tarnung auf. Behalten Sie das bei sich und lassen Sie es unter keinen Umständen los. Und Donny, um Gottes und Ihrer selbst willen, bleiben Sie hier und tun Sie genau, was ich Ihnen sage.«

»Was haben Sie vor?«

Levi knirschte mit den Zähnen. »Ich provoziere einen Streit.«

Ohne ein weiteres Wort setzte er sich in Richtung des Hauses in Bewegung.

Der verletzte Mann zuckte immer noch, aber seine Bewegungen hatten sich verlangsamt. Während Levi näher heranschlich, beugte sich der Mörder über sein Opfer und rammte eine Hand in dessen Rücken. Selbst aus der Ferne konnte Levi hören, wie Sehnen und Muskeln zerrissen. Der Mörder tastete im Leib herum, dann zerrte er das Rückgrat heraus, brach es am Schädelansatz ab und hielt es in der Hand wie eine tote Schlange. Die Bewegungen des Mannes erlahmten abrupt.

Der Mann in Schwarz streckte die grausige Trophäe hoch über den Kopf. »Jetzt laben wir uns am Rest von dir.«

»Nein«, widersprach Levi und trat vor. »Das werdet ihr nicht tun.«