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Salman Rushdie

JOSEPH ANTON

Die Autobiografie

Aus dem Englischen übersetzt
von Verena von Koskull
und Bernhard Robben

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
»Joseph Anton. A Memoir« bei Random House, New York.

2. Auflage

© 2012 by Salman Rushdie

© der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: R·M·E, Rosemarie Kreuzer

Lektorat: Rainer Wieland

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-07605-4

www.cbertelsmann.de

Für meine Kinder
Zafar und Milan
sowie deren Mütter
Clarissa und Elizabeth
und für alle,
die geholfen haben

Und dadurch sie ersehn zu einer Handlung,
Wovon, was jetzt geschah, ein Vorspiel ist,
Doch uns das Künft’ge obliegt.

William Shakespeare, Der Sturm

Inhalt

Prolog
Die erste Krähe

I
Ein umgekehrter faustischer Pakt

II
»Manuskripte brennen nicht«

III
Das Jahr null

IV
Die verhängnisvolle Falle, geliebt werden zu wollen

V
»Been Down So Long It Looks Like Up to Me«

VI
Warum es unmöglich ist, die Pampa zu fotografieren

VII
Eine Fuhre Mist

VIII
Mr Morning und Mr Afternoon

IX
Seine Millenniums-Illusion

X
Im Halcyon Hotel

Prolog
––––––––––––––––
Die erste Krähe

HINTERHER, ALS DIE WELT um ihn herum explodierte und die todbringenden Krähen sich im Schulhof auf dem Klettergerüst versammelten, wurmte es ihn, dass er den Namen der BBC-Reporterin vergessen hatte, die ihm sagte, sein altes Leben sei vorbei, für ihn beginne eine neue, eine dunklere Existenz. Sie rief ihn unter seiner Privatnummer an, ohne zu erklären, woher sie die hatte. »Wie fühlt man sich«, fragte sie, »wenn man weiß, dass man gerade von Ayatollah Khomeini zum Tode verurteilt wurde?« Es war ein sonniger Tag in London, aber ihre Frage verschattete das Licht. Ohne recht zu wissen, was er redete, hat er Folgendes geantwortet: »Man fühlt sich nicht gut.« Und Folgendes hat er gedacht: Ich bin ein toter Mann. Er fragte sich, wie viele Tage er noch zu leben hatte, und dachte, die Antwort wäre vermutlich eine einstellige Zahl. Dann legte er den Hörer auf und rannte aus dem Arbeitszimmer im oberen Stock des schmalen Reihenhauses in Islington nach unten. Das Wohnzimmer hatte hölzerne Fensterläden, die er absurderweise zuzog und verriegelte. Danach schloss er die Haustür ab.

Es war Valentinstag, nur verstand er sich nicht besonders mit seiner Frau, der amerikanischen Schriftstellerin Marianne Wiggins. Erst sechs Tage zuvor hatte sie erklärt, dass sie nicht glücklich mit ihm sei, dass sie sich in seiner Nähe ›nicht mehr wohl fühle‹, dabei waren sie kaum mehr als ein Jahr verheiratet, und er selbst wusste auch, dass diese Ehe ein Fehler gewesen war. Nun starrte Marianne ihn an, während er nervös durchs Haus tigerte, Vorhänge zuzog, Fensterriegel prüfte, von den Nachrichten so elektrisiert, als pulsierte Strom durch seine Adern, und er musste ihr erklären, was passiert war. Sie trug es mit Fassung und begann, mit ihm zu bereden, was als Nächstes zu tun war. Sie benutzte das Wort wir. Das war mutig.

Vor dem Haus hielt ein Wagen, geschickt von CBS. Er hatte mit dem amerikanischen Fernsehsender einen Termin in den Studios von Bowater House in Knightsbridge, ein Auftritt im Frühstücksfernsehen per Satellitenschaltung. »Ich muss los«, sagte er. »Die senden live. Ich kann nicht einfach hierbleiben.« Später am selben Vormittag sollte in der orthodoxen Kirche in der Moscow Road in Bayswater ein Gedenkgottesdienst für Bruce Chatwin stattfinden. Kaum zwei Jahre zuvor hatte er in Homer End, Bruce’ Haus in Oxfordshire, seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Jetzt war Bruce tot, gestorben an Aids, und der Tod hatte auch an seine Tür geklopft. »Was ist mit dem Gottesdienst?«, fragte seine Frau. Er wusste keine Antwort, schloss die Haustür auf, ging nach draußen, stieg ins Auto und wurde fortgefahren. Er konnte es damals nicht ahnen, weshalb ihm dieser Augenblick, als er auf die Straße trat, nicht besonders bedeutsam vorkam, doch sollte er das Haus, in dem er fünf Jahre lang daheim gewesen war, erst drei Jahre später wieder betreten, und dann würde es nicht mehr sein Haus sein.

Die Kinder in der Schule im kalifornischen Bodega Bay singen ein trauriges Unsinnslied. Sie kämmt sich das Haar nur einmal im Jahr, ristle-te, rostle-te, mo, mo, mo. Vor der Schule weht ein kalter Wind. Eine einzelne Krähe fliegt vom Himmel herab und landet auf dem Klettergerüst. Das Kinderlied ist ein Rundgesang; es hat einen Anfang, aber kein Ende. Es dreht sich im Kreis, rundherum und rundherum. Mit jedem Bürstenstrich vergießt sie eine Träne, ristle-te, rostle-te, hey-bombosity, knicketyknackety, retro-quo-quality, willoby-wallaby, mo, mo, mo. Vier Krähen hocken auf dem Gerüst, da kommt eine fünfte. Die Schulkinder singen. Jetzt sind es viele hundert Krähen auf dem Hof, und abertausend verdecken den Himmel wie in der ägyptischen Plage. Ein Lied hat begonnen, ein Lied ohne Ende.

Als die erste Krähe auf dem Klettergerüst landet, wirkt sie besonders, spezifisch, einzigartig. Aus ihrer Anwesenheit eine generelle Theorie abzuleiten, ein Schema der Geschehnisse, ist gänzlich unnötig. Später, als die Plage sich ausbreitet, fällt es den Leuten leicht, in der ersten Krähe einen Vorboten zu sehen. Als sie aber auf dem Klettergerüst landet, ist sie nur ein einzelner Vogel.

In den kommenden Jahren taucht diese Szene in seinen Träumen auf, und er wird begreifen, dass sie eine Art Prolog ist: die Geschichte von dem Augenblick, in dem die erste Krähe landete. Zu Beginn geht es nur um ihn; die Geschichte ist individuell, besonders, spezifisch. Niemand fühlt sich bemüßigt, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein Dutzend Jahre und mehr werden vergehen, ehe die Geschichte den Himmel verdeckt – wie der am Horizont erscheinende Erzengel Gabriel, wie zwei in hohe Gebäude fliegende Flugzeuge, wie die Plage der todbringenden Vögel in Alfred Hitchcocks großartigem Film.

In den Studios von CBS war er die Nachricht des Tages. Die Leute in der Nachrichtenredaktion und an den diversen Monitoren benutzten schon das Wort, das ihm bald wie ein Mühlstein um den Hals hängen würde. Sie benutzten es, als wäre es synonym mit ›Todesurteil‹, und er wollte rebellieren, sie pedantisch korrigieren, das sei es nicht, was das Wort besage. Von jenem Tag an aber sollte es dies für die meisten Menschen auf der Welt bedeuten. Auch für ihn.

Fatwa.

›Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt, dass der Autor des Buches Die satanischen Verse, welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publikation beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen.‹ Während er zum Interview ins Studio geführt wurde, drückte ihm irgendwer den Text in die Hand. Wieder wollte sein altes Ich korrigieren, diesmal das Wort ›verurteilt‹. Bei der Fatwa handelte es sich um kein Urteil von einem Gericht, das er anerkannte oder das Gerichtsbarkeit über ihn besaß. Sie war das Edikt eines grausamen alten, im Sterben liegenden Mannes. Doch er wusste, die Angewohnheiten seines alten Ichs nutzten ihm nichts mehr. Er besaß jetzt ein neues Ich. Er war der Mensch im Auge des Sturms, nicht mehr der Salman, den seine Freunde kannten, sondern Rushdie, Autor der satanischen Verse – dieses Buches mit dem auf subtile Weise durch das Fortlassen des Artikels Die entstellten Titels. Die satanischen Verse war ein Roman. Satanische Verse waren Verse, die satanisch waren, und er war ihr satanischer Verfasser, ›Satan Rushdy‹, eine gehörnte Kreatur auf Plakaten, die von Demonstranten durch die Straßen ferner Städte getragen wurden, der Gehängte mit langer roter Zunge auf primitiven hochgehaltenen Bildern. Hängt Satan Rushdy. Wie leicht es doch war, eines Menschen Vergangenheit auszulöschen und eine neue Version von ihm zu schaffen, eine überwältigende Version, gegen die anzukämpfen unmöglich schien.

König Karl I. hatte die Legitimität des gegen ihn verhängten Urteils angezweifelt. Oliver Cromwell konnte das nicht aufhalten; er ließ ihn trotzdem köpfen.

Er war kein König. Er war der Verfasser eines Buches.

Er sah die Journalisten an, die ihn ihrerseits ansahen, und fragte sich, ob Menschen so Verurteilte sahen, die zum Galgen, zum elektrischen Stuhl oder zur Guillotine geführt wurden. Ein Auslandskorrespondent wirkte freundlich. Er fragte ihn, was er seiner Meinung nach von Khomeinis Worten halten sollte. Wie ernst war das Ganze? War es nur eine rhetorische Floskel oder wirklich gefährlich?

»Ach, machen Sie sich keine allzu großen Sorgen«, antwortete der Journalist. »Khomeini verurteilt den Präsidenten der Vereinigten Staaten jeden Freitagnachmittag zum Tode.«

Als er auf Sendung war, wurde er gefragt, wie er auf die Drohung reagiere, und er antwortete: »Hätte ich doch nur ein kritischeres Buch geschrieben.« Dass er dies gesagt hatte, darauf war er stolz, damals wie heute. Es war die Wahrheit. Er hatte nicht den Eindruck, dass sich sein Buch besonders kritisch mit dem Islam auseinandersetzte, doch, und das sagte er auch an diesem Morgen im amerikanischen Fernsehen, eine Religion, deren Führer sich auf derartige Weise verhielt, hätte ein wenig Kritik wohl durchaus nötig.

Als das Interview vorbei war, wurde ihm gesagt, seine Frau wolle ihn sprechen. Er rief zu Hause an. »Komm nicht hierher zurück«, sagte sie. »Auf dem Bürgersteig warten gut zweihundert Journalisten auf dich.«

»Ich fahre zur Agentur«, erwiderte er. »Pack eine Tasche; und wir treffen uns da.«

Das Büro seiner Literaturagentur Wylie, Aitken & Stone befand sich in einem weißen Stuckhaus in der Fernshaw Road in Chelsea. Draußen kampierten keine Journalisten – offenbar rechnete die Weltpresse nicht damit, dass er an einem solchen Tag seinen Agenten aufsuchen würde –, doch als er das Gebäude betrat, klingelten sämtliche Telefone, und bei jedem Anruf ging es um ihn. Gillon Aitken, sein britischer Agent, sah ihn erstaunt an. Er telefonierte gerade mit Keith Vaz, dem britisch-indischen Parlamentsabgeordneten für Ost-Leicester, hielt den Hörer zu und wisperte: »Willst du mit dem Kerl reden?«

Vaz sagte in diesem Telefongespräch, was passiert sei, sei »entsetzlich, absolut entsetzlich«, und versprach seine »volle Unterstützung«. Einige Wochen später war er einer der prominentesten Redner während einer Demonstration gegen Die satanischen Verse, an der über dreitausend Muslime teilnahmen; dieser Marsch, sagte er, mache »den heutigen Tag zu einem der größten Tage in der Geschichte des Islam und Großbritanniens«.

Er merkte, dass er nicht vorausdenken konnte, dass er keine Ahnung hatte, wie er sein Leben jetzt gestalten, welche Pläne er machen sollte. Er konnte sich nur auf das Nächstliegende konzentrieren, und das war im Augenblick der Gedenkgottesdienst für Bruce Chatwin. »Mein Lieber«, sagte Gillon, »meinst du wirklich, du solltest dahin gehen?« Er traf seine Entscheidung. Bruce war ein enger Freund gewesen. »Scheiß drauf«, sagte er, »gehen wir.«

Marianne kam, in den blitzenden Augen ein leicht gestörter Blick, empört, weil sie, als sie das Haus in der St. Peter’s Street 41 verließ, von Fotografen bedrängt worden war. Am nächsten Tag würde dieser Blick auf dem Titelblatt aller Zeitungen im Land zu sehen sein. Eines der Blätter gab diesem Blick einen Namen in fünf Zentimeter großen Lettern: DAS GESICHT DER ANGST. Marianne sagte nicht viel. Er auch nicht. Sie stiegen in ihr Auto, einen schwarzen Saab, und er fuhr durch den Park nach Bayswater. Hinten saß Gillon Aitken mit besorgter Miene, sein langer Leib lässig über den Rücksitz drapiert.

Seine Mutter und seine jüngste Schwester waren in Karatschi. Was würde aus ihnen werden? Seine mittlere Schwester, längst mit der Familie auseinandergelebt, wohnte im kalifornischen Berkeley. War sie dort sicher? Seine älteste Schwester, Sameen, sein ›irischer Zwilling‹, wohnte mit ihrer Familie im Norden Londons, in Wembley, nicht weit vom berühmten Stadion. Was war nötig, um sie zu beschützen? Sein Sohn, Zafar, gerade mal neun Jahre und acht Monate alt, lebte mit seiner Mutter Clarissa in der Burma Road, Hausnummer 60, ganz in der Nähe von Green Lanes und Clissold Park. Zafars zehnter Geburtstag schien ihm in diesem Moment weit, weit weg zu sein. »Dad«, hatte Zafar gefragt, »warum schreibst du keine Bücher, die ich lesen kann?« Das ließ ihn an eine Zeile aus ›St. Judy’s Comet‹ denken, einen Song, den Paul Simon als Schlaflied für seinen kleinen Sohn geschrieben hatte. If I can’t sing my boy to sleep, well, it makes your famous daddy look so dumb – Wenn ich meinen Jungen nicht in den Schlaf singen kann, tja, dann steht dein berühmter Vater wohl ziemlich blöd da. »Gute Frage«, hatte er geantwortet. »Lass mich das Buch fertig machen, an dem ich gerade arbeite, und dann schreibe ich eins für dich. Abgemacht?« – »Abgemacht.« Also hatte er das Buch zu Ende geschrieben, und es war veröffentlicht worden, aber jetzt blieb ihm vielleicht nicht mehr genug Zeit, noch ein Buch zu schreiben. Niemals, dachte er, soll man ein Versprechen brechen, das man einem Kind gegeben hat, und dann hängte sein konfuser Kopf den idiotischen Zusatz an, wäre aber der Tod des Autors eine akzeptable Entschuldigung?

Sein Verstand sann auf Mord.

Vor fünf Jahren war er mit Bruce Chatwin durch Australiens ›rote Mitte‹ gereist, hatte sich in Alice Springs ein Graffito notiert: Stell dich, weißer Mann, deine Stadt ist umzingelt, und sich mühsam den Ayers Rock hinaufgehievt, während Bruce, der stolz darauf war, es vor kurzem bis zum Mount-Everest-Basislager geschafft zu haben, an ihm vorbeihüpfte, als liefe er einen sanften Hang hinauf, hatte gehört, was sich die Einheimischen über den sogenannten ›Dingo-Baby-Fall‹ erzählten, und in einer lausigen Bruchbude namens Inland Motel gehaust, in dem man im Jahr zuvor einem sechsunddreißigjährigen Trucker namens Douglas Crabbe einen Drink verweigert hatte, weil er schon zu besoffen war, woraufhin er die Leute hinterm Tresen beschimpfte und dann, nachdem man ihn rausgeworfen hatte, mit seinem Truck in vollem Tempo auf die Bar zuhielt und fünf Menschen umbrachte.

In einem Gericht in Alice Springs machte Crabbe seine Aussage, und sie fuhren hin, um sie anzuhören. Der Trucker war unauffällig gekleidet, der Blick gesenkt, die Stimme tief und eintönig. Er beharrte darauf, nicht zu jener Sorte Mensch zu gehören, die zu Derartigem fähig war, und als man ihn fragte, weshalb er sich da so sicher sei, antwortete er, dass er bereits seit vielen Jahren auf der Straße fahre und sich um die Lastwagen kümmere, als wären sie »seine eigenen« (an dieser Stelle schwieg er kurz, und das unausgesprochene Wort in diesem Moment der Stille hätte ›Kinder‹ sein können), weshalb es seinem Naturell völlig widerspreche, einen Truck zuschanden zu fahren. Als die Geschworenen dies hörten, erstarrten sie sichtlich, und es war klar, dass der Mann den Prozess verloren hatte. »Dabei«, murmelte Bruce, »hat er natürlich nur die Wahrheit gesagt.«

Diesem Mörder bedeuteten Lastwagen mehr als Menschen. Und fünf Jahre später waren offenbar Menschen unterwegs, die einen Schriftsteller wegen seiner gotteslästerlichen Worte umbringen wollten, und der Glaube, zumindest eine bestimmte Auslegung dieses Glaubens, war ihr Lastwagen, den sie mehr als ein menschliches Leben liebten. Dabei war das, wie er sich nun in Erinnerung rief, gar nicht seine erste Blasphemie gewesen. Mit Bruce war er auf den Ayers Rock gestiegen, und das hatte man inzwischen auch verboten. Der den Aborigines zurückgegebene Rock, der wieder seinen alten Namen Uluru trug, war heute geheiligtes Terrain, auf dem Bergsteiger nicht länger geduldet wurden.

Auf dem Rückflug von dieser australischen Reise im Jahre 1984 begann er zu verstehen, wie Die satanischen Verse geschrieben werden konnten.

Die Andacht in der griechisch-orthodoxen Kathedrale der heiligen Sophia der Erzdiözese von Thyateria und Großbritannien, hundertzehn Jahre zuvor als ein Prunkbau errichtet, der an die großen Kathedralen des alten Byzanz gemahnen sollte, wurde ganz in sonorem, salbungsvollem Griechisch abgehalten. Die Rituale waren so wortreich wie mysteriös. Bla, bla, bla Bruce Chatwin, intonierten die Priester, bla, bla Chatwin bla, bla. Sie standen auf, sie setzten sich, sie knieten sich hin, sie erhoben sich und setzten sich wieder. Es stank nach heiligem Räucherwerk. Er musste daran denken, wie ihn sein Vater in Bombay als Kind einmal mitgenommen hatte, um am Tag des Ramadanfestes zu beten. Auf dem Gebetsplatz wurde nur Arabisch geredet, und es gab jede Menge Mit-der-Stirn-Aufschlagen und Herumstehen mit ausgestreckten Händen, die Handflächen nach oben, dazu ewiges Gemurmel unbekannter Worte in einer Sprache, die ihm fremd war. »Mach mir einfach alles nach«, hatte sein Vater gesagt. Sie waren keine religiöse Familie und gingen fast nie zu solchen Zeremonien. Gebete und deren Bedeutung hatte er nicht gelernt. Alles, was er konnte, war, dieses eine Gebet nachzuplappern, es auswendig vor sich hin zu murmeln. Und deshalb kam ihm die bedeutungslose Zeremonie in der Moscow Road so vertraut vor. Er saß mit Marianne neben Martin Amis und dessen Frau Antonia Phillips. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte Martin, als er ihn umarmte. »Ich auch um mich«, hatte er geantwortet. Bla Chatwin bla Bruce bla. Der Schriftsteller Paul Theroux saß in der Bank hinter ihm. »Salman«, sagte er, »bestimmt sitzen wir nächste Woche deinetwegen hier.«

Als er eintraf, standen einige Fotografen auf dem Gehweg. Normalerweise ziehen Schriftsteller keine Scharen von Paparazzi an, doch drangen im Laufe der Andacht immer mehr Journalisten in die Kirche. Eine unverständliche Religion war Gastgeber für eine Sensationsmeldung, die der unverständliche Gewaltangriff einer anderen unverständlichen Religion ausgelöst hatte. Zu den schlimmsten Folgen dessen, was geschehen ist, sollte er später schreiben, gehört, dass das Unverständliche verständlich wurde, das Unvorstellbare vorstellbar.

Die Andacht endete, und die Journalisten drängten zu ihm. Gillon, Marianne und Martin versuchten, sie aufzuhalten. Ein hartnäckiger, grauhaariger Kerl (grauer Anzug, graues Haar, graues Gesicht, graue Stimme) schaffte es durch die Menge, hielt ihm ein Tonband unter die Nase und stellte die naheliegenden Fragen. »Tut mir leid«, erwiderte er. »Dies ist eine Andacht zum Gedenken an meinen Freund, da wäre es ungehörig, Interviews zu geben.« – »Sie verstehen nicht«, sagte der graue Kerl und klang verwirrt. »Ich bin vom Daily Telegraph. Die haben mich extra hergeschickt.«

»Gillon, ich brauche deine Hilfe«, sagte er.

Gillon beugte sich aus seiner beachtlichen Höhe zu dem Reporter hinab und sagte mit fester Stimme und hochnäsigstem Akzent: »Verpiss dich!«

»So können Sie nicht mit mir reden«, erwiderte der Mann vom Telegraph. »Ich war auch auf dem Internat.«

Danach war Schluss mit lustig. Als er auf die Moscow Road trat, umschwärmten ihn Journalisten wie Drohnen auf der Suche nach der Königin, Fotografen nahmen einander huckepack, taumelnde Leiberberge, aus denen Blitzgewitter zuckten. Blinzelnd und orientierungslos stand er da und wusste einen Moment lang nicht, was er machen sollte.

Es schien kein Entkommen zu geben. Zum Auto zu laufen, das nicht mehr als hundert Meter entfernt stand, war unmöglich, ohne von Kameras verfolgt zu werden, von Mikrofonen und Männern, die auf welches Internat auch immer gegangen und extra seinetwegen geschickt worden waren. Rettung kam durch seinen Freund Alan Yentob von der BBC, Filmemacher und Vorstandsmitglied des Senders, den er acht Jahre zuvor kennengelernt hatte, als Alan für Arena einen Dokumentarfilm über einen jungen Schriftsteller drehte, dessen frisch publizierter Roman mit dem Titel Mitternachtskinder von der Öffentlichkeit wohlwollend aufgenommen wurde. Alan besaß einen Zwillingsbruder, doch behaupteten die Leute oft: »Salman sieht wie dein Zwilling aus.« Diese Ansicht hielt sich, obwohl sie beide anderer Auffassung waren. Heute dürfte für Alan allerdings wohl kaum ein Tag sein, an dem er gerne mit ihm verwechselt werden wollte.

Alans Wagen von der BBC hielt direkt vor der Kirche. »Steig ein«, sagte er, und dann ließen sie die tobenden Journalisten hinter sich. Eine Weile fuhren sie kreuz und quer durch Notting Hill, bis sich die Menge vor der Kirche schließlich auflöste und sie dort halten konnten, wo er den Saab abgestellt hatte.

Er stieg mit Marianne ins Auto, und mit einem Mal waren sie allein; die plötzliche Stille bedrückte sie beide. Sie schalteten das Radio nicht ein, da sie wussten, dass es in den Nachrichten nur um Hass gehen würde. »Wohin sollen wir fahren?«, fragte er, obwohl sie beide die Antwort kannten. Marianne hatte vor kurzem eine kleine Souterrainwohnung in der südwestlichen Ecke des Lonsdale Square in Islington gemietet, nicht weit vom Haus in der St. Peter’s Street, angeblich, um sie als Arbeitswohnung zu nutzen, in Wahrheit aber wegen der wachsenden Spannung in ihrer Ehe. Nur wenige Leute wussten von diesem Apartment. Es würde ihnen Raum und Zeit geben, zu sich zu kommen und Entscheidungen zu treffen. Schweigend fuhren sie nach Islington. Es schien nichts weiter zu sagen zu geben.

Marianne war eine ausgezeichnete Schriftstellerin und eine schöne Frau, doch hatte er so manches herausgefunden, was ihm an ihr nicht gefiel.

Als sie zu ihm zog, hinterließ sie auf dem Anrufbeantworter seines Freundes Bill Buford, des Herausgebers der Zeitschrift Granta, die Nachricht, dass sich ihre Telefonnummer geändert habe. »Die neue Nummer kennst du bestimmt«, fuhr sie fort, um dann nach einer, wie Bill fand, erschreckenden Pause hinzuzusetzen: »Ich hab ihn.« In der aufgewühlten Zeit unmittelbar nach dem Tod seines Vaters im November 1987 hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, doch war es mit ihrer Beziehung nicht lange gutgegangen. Seine engsten Freunde, Bill Buford, Gillon Aitken und dessen amerikanischer Kollege Andrew Wylie, die guyanische Schriftstellerin Pauline Melville und seine Schwester Sameen, die ihm stets näher als irgendjemand sonst gestanden hatte, sie alle eröffneten ihm, dass sie Marianne nicht besonders mochten, was Freunde natürlich tun, wenn eine Ehe zerbricht, weshalb er sich sagte, dass er nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen durfte. Allerdings hatte er seine Frau selbst bei einigen Lügen ertappt, und das machte ihn ziemlich betroffen. Was hielt sie nur von ihm? Oft schien sie verärgert zu sein und hatte so eine Art, über seine Schulter hinweg in die Luft zu starren, wenn sie mit ihm redete, beinahe als unterhielte sie sich mit einem Gespenst. Ihren scharfen Verstand, ihren Humor hatte er stets gemocht, und beides gab es noch, auch die körperliche Anziehung war noch da, das wogende, rotbraune Haar, die vollen Lippen, das offene, amerikanische Lächeln. Dennoch war sie ihm ein Rätsel geworden, und manchmal glaubte er, eine Fremde geheiratet zu haben. Eine Frau mit einer Maske.

Es war früh am Nachmittag, und an diesem Tag schienen ihre privaten Zwistigkeiten bedeutungslos. An diesem Tag marschierte eine Menschenmenge durch die Straßen Teherans, in den Händen Poster mit seinem Gesicht, dem die Augen ausgestochen waren, so dass er an eine der Leichen in Die Vögel erinnerte mit ihren schwarz angelaufenen, blutigen, leergehackten Augenhöhlen. Das war das Thema des heutigen Tages: seine gar nicht komische Valentinspost von bärtigen Männern, verschleierten Frauen und vom todkranken Alten, der sterbend in seinem Zimmer lag und mit letzter Kraft nach düsterem, mörderischem Ruhm strebte. Sobald der Imam an die Macht gekommen war, hatte er viele von denen umgebracht, die ihm zur Macht verholfen hatten, auch alle, die ihm missfielen. Gewerkschafter, Feministen, Sozialisten, Kommunisten, Homosexuelle, Prostituierte, sogar seine ehemaligen Statthalter. In Die satanischen Verse gibt es das Porträt eines ihm ähnlichen Imams, der zum Ungeheuer wird, dessen gigantisches Maul die eigene Revolution frisst. Der wahre Imam hatte sein Land in einen sinnlosen Krieg gegen seinen Nachbarn geführt, und eine ganze Generation junger Menschen war gestorben, Hunderttausende Jugendliche, ehe der Alte dem ein Ende setzte. Er sagte, Frieden mit dem Irak zu schließen sei, als würde er Gift nehmen, aber er hat es geschluckt. Danach empörten sich die Toten gegen den Imam, und die Revolution wurde unpopulär. Er suchte eine Möglichkeit, die Gläubigen wieder hinter sich zu vereinen, und er fand, dass ihm ein Buch und dessen Autor ebendiese Möglichkeit boten. Das Buch war des Teufels Werk, der Autor war der Teufel, und sie lieferten ihm den Feind, den er brauchte. Dieser Autor, der in einer Souterrainwohnung in Islington zusammen mit seiner Frau kauerte, von der er sich bereits halb getrennt hatte. Das war der Teufel, den der sterbende Imam brauchte.

Die Schule war zu Ende, und er wollte unbedingt Zafar sehen. Er rief Pauline Melville an und bat sie, Marianne Gesellschaft zu leisten, während er sich mit seinem Sohn traf. Anfang der Achtziger war Pauline in Highbury Hill seine Nachbarin gewesen, eine lebhaft gestikulierende, warmherzige Frau mit strahlenden Augen, eine Schauspielerin aus Guyana, voller Geschichten darüber, wie einer ihrer Vorfahren Evelyn Waugh kennengelernt hatte und, so vermutete sie, das Vorbild für Mr Todd wurde, diesen wunderlichen alten Kauz, der Tony Last im Regenwald gefangen nahm und ihn in Eine Handvoll Staub zwang, endlos laut Dickens vorzulesen; Geschichten auch darüber, wie sie ihren Mann Angus vor der Fremdenlegion rettete, indem sie sich vor die Tore des Forts stellte und schrie, bis man ihn freiließ; oder darüber, wie es war, Adrian Edmondsons Mum in der erfolgreichen TV-Comedyserie The Young Ones zu spielen. Sie trat als Stand-up-Komikerin auf und schuf sich eine männliche Figur, die für sie »so gefährlich und beängstigend wurde, dass ich aufhören musste, ihn zu spielen«. Sie schrieb mehrere ihrer Guyana-Geschichten auf und zeigte sie ihm. Sie waren sehr, sehr gut, und als sie sie in ihrem ersten Buch Shape-Shifter veröffentlichte, wurden sie allgemein gelobt. Pauline war stark, gewitzt, loyal, und er vertraute ihr bedingungslos. Sie kam sofort und ohne ein überflüssiges Wort, obwohl sie Geburtstag und manche Vorbehalte gegen Marianne hatte. Er genoss es, Marianne in der Souterrainwohnung am Lonsdale Square zurücklassen und allein zur Burma Road fahren zu können. Der schöne sonnige Tag, dessen erstaunlicher Winterglanz ihm wie ein Vorwurf gegenüber den unschönen Nachrichten vorgekommen war, ging zu Ende. London im Februar, die Schulkinder machten sich im Dunkeln auf den Heimweg. Als er zum Haus von Clarissa und Zafar kam, war die Polizei bereits dort. »Da sind Sie ja«, sagte ein Beamter. »Wir haben uns schon gefragt, wo Sie abgeblieben sind.«

»Was ist los, Dad?« Sein Sohn hatte einen Blick, wie man ihn bei keinem neunjährigen Jungen sehen möchte. »Ich habe ihm erklärt«, sagte Clarissa fröhlich, »dass man auf dich aufpasst, bis dieser Sturm sich legt, und dass bald alles wieder in Ordnung sein wird.« Dann umarmte sie ihn, wie sie ihn seit fünf Jahren, seit dem Ende ihrer Ehe, nicht mehr umarmt hatte. Sie war die erste Frau, die er je geliebt hatte. Am 26. Dezember 1969, fünf Tage vor dem Ende der Sechziger, lernten sie sich kennen, er war damals zweiundzwanzig, sie einundzwanzig. Clarissa Mary Luard. Sie hatte lange Beine, grüne Augen, trug an jenem Tag einen Hippie-Schaffellmantel, ein Stirnband im dicht gelockten, rotbraunen Haar und strahlte etwas aus, das jedes Herz erhellte. Freunde in der Welt der Popmusik nannten sie Happily (doch ebenso happily verschwand dieser Name mit dem schrulligen Jahrzehnt, das ihn hervorbrachte). Ihre Mutter trank zu viel, und ihr Vater war völlig verstört aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt, in dem er eine Pathfinder geflogen hatte; als sie fünfzehn Jahre alt war, sprang er von einem Hochhaus in den Tod. Ihr gehörte ein Beagle namens Bauble, der in ihr Bett pinkelte.

Es gab so manches, was sie hinter ihrem strahlenden Lächeln verbarg; so mochte sie es nicht, wenn man die Schatten in ihr sah, und sobald die Melancholie sie überkam, ging sie auf ihr Zimmer und verschloss die Tür. Vielleicht spürte sie dann den Gram ihres Vaters und fürchtete, er könnte sie ebenfalls von einem Gebäude springen lassen, weshalb sie sich einkapselte, bis es ihr wieder besser ging. Sie trug den Namen der tragischen Titelheldin eines Romans von Samuel Richardson und war unter anderem in Harlow auf die Technische Hochschule gegangen. Clarissa aus Harlow, ein seltsames Echo der fiktiven Clarissa Harlowe, die noch einen Selbstmord in ihr Umfeld brachte, diesmal allerdings einen, der nur auf dem Papier geschah; ein weiteres, gefürchtetes Echo, das sie mit strahlendem Lächeln auszublenden suchte. Ihre Mutter, Lavinia Luard, die gleichfalls einen Spitznamen hatte, einen etwas peinlichen, wurde Lavvy-Loo genannt, Lokus-Klo, doch rührte sie die Familientragödie in ein Glas Gin, um sie darin aufzulösen und die fröhliche Witwe vor Männern spielen zu können, die dies auszunutzen wussten. Zuerst war da ein verheirateter Ex-Wachoberst namens Ken Sweeting, der von der Isle of Man kam und ihr den Hof machte, seine Frau aber nie verließ und auch nie die Absicht hatte. Als Lavinia später nach Andalusien ins Dorf Mijas zog, folgte eine Reihe kontinentaleuropäischer Tunichtgute, die willens waren, auf ihre Kosten zu leben und ihr Geld mit vollen Händen auszugeben. Lavinia war strikt dagegen, dass ihre Tochter mit ihm zusammenlebte und sich dann auch noch entschied, diesen seltsamen, langhaarigen indischen Schriftsteller zu heiraten, über dessen familiären Hintergrund sie nichts Genaues wusste und der nicht besonders viel Geld zu haben schien. Sie war mit der Familie Leworthy aus Westerham in Kent befreundet und plante, ihre schöne Tochter mit dem Sohn der Leworthys zu verehelichen, mit Richard, einem blassgesichtigen, hageren Buchhalter mit warholeskem weißblondem Haar. Ihre Tochter und Richard gingen miteinander aus, doch traf sich Clarissa insgeheim auch mit dem langhaarigen indischen Autor, und sie brauchte zwei Jahre, um sich zwischen den beiden Männern zu entscheiden, doch eines Abends im Januar 1972, als er eine Einweihungsparty in seiner frisch gemieteten Wohnung in Cambridge Gardens in Ladbroke Grove gab, kam sie und hatte ihren Entschluss gefällt; danach waren sie beide unzertrennlich. Es sind stets die Frauen, die sich entscheiden; den Männern bleibt nur, dankbar zu sein, wenn sie die Glücklichen sind, für die sie sich entschieden haben.

All die Jahre des Begehrens, der Liebe, der Ehe, Elternschaft, Untreue (meist seinerseits), Scheidung und Freundschaft schwangen an diesem Abend in ihrer Umarmung mit. Die Ereignisse des Tages hatten den Schmerz fortgespült, und darunter kam etwas Altes, Tieferes zum Vorschein, das nicht zerstört worden war. Außerdem waren sie natürlich die Eltern dieses prächtigen Jungen, und als Eltern waren sie stets vereint und einer Meinung. Zafar wurde im Juni 1979 geboren, als die Arbeit an Mitternachtskinder dem Ende zuging. »Kneif die Beine zusammen«, hatte er gesagt, »ich schreibe, so schnell ich kann.« Eines Nachmittags gab es falschen Alarm, und er hatte gedacht: Das Kind wird um Mitternacht geboren, aber es sollte dann doch anders kommen, die Geburt war am 17. Juni, nachmittags um Viertel nach zwei. Er schrieb dies als Widmung ins Buch: Für Zafar Rushdie, der, entgegen aller Erwartung, an einem Nachmittag geboren wurde. Und der nun neuneinhalb Jahre alt war und besorgt fragte: Was ist denn los?

»Wir müssen wissen«, sagte der Polizeibeamte, »was Sie nun vorhaben.« Er überlegte, ehe er schließlich antwortete: »Wahrscheinlich fahre ich gleich nach Hause« – und die erstarrenden Mienen der Männer in Uniform bestätigten seinen Verdacht. »Nein, Sir, davon raten wir Ihnen dringend ab.« Daraufhin erzählte er, was er von Anfang an erzählen wollte, dass nämlich Marianne in einer Souterrainwohnung am Lonsdale Square auf ihn wartete. »Die Wohnung ist nicht als Ort bekannt, an dem Sie sich regelmäßig aufhalten, Sir?« Nein, Officer, ist sie nicht. »Das ist gut. Wenn Sie hinfahren, Sir, gehen Sie heute Abend bitte nicht mehr aus, falls das für Sie in Ordnung ist. Zurzeit finden Beratungen statt, und man wird Sie morgen so früh wie möglich wissen lassen, was dabei herausgekommen ist. Bis dahin sollten Sie in der Wohnung bleiben.«

Er redete mit seinem Sohn, drückte ihn fest an sich und beschloss in diesem Moment, ihm so viel wie möglich zu erzählen, dabei aber das, was geschah, ins bestmögliche Licht zu rücken. Am ehesten konnte er Zafar helfen, mit den Geschehnissen fertig zu werden, wenn er ihm das Gefühl gab, unmittelbar daran beteiligt zu sein, wenn er ihm seine väterliche Version gab, der er glauben und an die er sich halten konnte, falls man ihn mit anderen Versionen bombardierte, etwa über das Fernsehen oder auf dem Schulhof. Die Schule verhalte sich hervorragend, sagte Clarissa, sie hatte Fotografen und einem TV-Team den Zugang verweigert, die den Sohn des bedrohten Mannes filmen wollten, und die Mitschüler seien ebenfalls ganz fantastisch. Ohne jede Diskussion hatten sie sich vor Zafar gestellt und ihm so einen normalen oder doch fast normalen Schultag ermöglicht. Auch die Eltern seien nahezu ausnahmslos hilfsbereit gewesen, und die ein oder zwei, die verlangt hatten, dass man Zafar von der Schule nehme, da seine Anwesenheit eine Gefahr für ihre Kinder bedeuten könnte, waren vom Direktor gerügt worden und hatten beschämt den Rückzug angetreten. Es tat gut, an diesem Tag Mut, Solidarität und Prinzipientreue zu erleben, die besten aller menschlichen Werte, die sich in ebenjener Stunde, in der es fast unmöglich schien, der wachsenden Flut der Dunkelheit zu widerstehen, gegen Gewalt und Bigotterie wandten, gegen die düsteren Seiten der menschlichen Rasse. Was bis zu diesem Tag unvorstellbar gewesen war, war vorstellbar geworden, in der Hall School in Hampstead aber hatte der Widerstand bereits begonnen.

»Sehe ich dich morgen, Dad?« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich rufe dich an«, sagte er. »Ich rufe dich jeden Abend um sieben Uhr an. Und wenn du nicht da sein solltest«, fuhr er an Clarissa gewandt fort, »hinterlass bitte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, wann ich stattdessen anrufen soll.« Das war Anfang 1989. So etwas wie PC, Laptop, Handy, Mobiltelefon, Internet, Wi-Fi, SMS und E-Mail war entweder noch unbekannt oder ziemlich neu, jedenfalls besaß er keinen Computer und kein Handy. Allerdings gehörte ihm ein Haus, auch wenn er die Nacht dort nicht verbrachte, und in diesem Haus gab es einen Anrufbeantworter, und er konnte anrufen und sich das Band vorspielen lassen, konnte die Nachricht hören, nein, sie abrufen, wie man jetzt sagte. »Sieben Uhr«, wiederholte er. »Jeden Abend, okay?« Zafar nickte mit ernster Miene. »Okay, Dad.«

Er fuhr allein nach Hause, und das Radio brachte keine guten Nachrichten. Zwei Tage zuvor hatte am US-amerikanischen Kulturzentrum im pakistanischen Islamabad eine ›Rushdie-Demo‹ stattgefunden. (Es blieb unklar, warum man die Vereinigten Staaten für Die satanischen Verse verantwortlich machte.) Die Polizei feuerte in die Menge, und es gab fünf Tote und sechzig Verletzte. Die Demonstranten trugen Plakate, auf denen stand: RUSHDIE DU BIST TOT. Durch das Edikt aus dem Iran war die Gefahr nun vervielfacht. Denn bei Ayatollah Khomeini handelte es sich nicht bloß um einen mächtigen Geistlichen; er war das Oberhaupt eines Staates, das die Ermordung des Bürgers eines anderen Staates befahl, eines Mannes, der nicht unter seine Gerichtsbarkeit fiel; und diesem Oberhaupt waren Attentäter unterstellt, die schon öfter zum Einsatz gegen ›Feinde‹ der iranischen Revolution gekommen waren, auch gegen Feinde, die außerhalb des Iran gelebt hatten. Im Radio fiel ein weiteres neues Wort, das er lernen musste: Extraterritorialität, auch bekannt als staatlich geförderter Terrorismus. Voltaire hatte einmal gesagt, dass es für einen Schriftsteller günstig sei, in der Nähe einer Landesgrenze zu wohnen, könne er dann doch, sollte er einmal mächtige Menschen verärgern, rasch über die Grenze in Sicherheit fliehen. Voltaire selbst verließ Frankreich in Richtung England, nachdem er den Chevalier de Rohan, einen Aristokraten, beleidigt hatte; er blieb sieben Jahre im Exil. Heutzutage aber bedeutete es keine Sicherheit mehr, nicht im Land seiner Verfolger zu leben. Schließlich gab es die extraterritoriale Aktion. Mit anderen Worten: Sie jagen dich und spüren dich auf.

Die Nacht am Lonsdale Square war kalt, dunkel und klar. Zwei Polizisten standen auf dem Platz, doch als er den Wagen verließ, taten sie, als würden sie ihn nicht beachten. Sie machten kurze Kontrollgänge und patrouillierten die Straße vor der Wohnung hundert Meter weit in jede Richtung; noch im Haus konnte er ihre Schritte hören. Er begriff in dieser von Schritten heimgesuchten Stille, dass er sein Leben nicht mehr verstand, dass er nicht mehr wusste, was werden würde, und zum zweiten Mal an diesem Tag dachte er daran, dass ihm vielleicht nicht mehr viel Leben blieb, das er verstehen müsse. Pauline fuhr nach Hause, und Marianne ging früh zu Bett. Es war ein Tag zum Vergessen. Es war ein Tag zum Erinnern. Er legte sich neben seine Frau ins Bett; sie drehte sich zu ihm um, und sie umarmten sich ungelenk wie das unglücklich verheiratete Paar, das sie nun einmal waren. Dann lagen sie getrennt da, hingen ihren je eigenen Gedanken nach und fanden keinen Schlaf.

Schritte. Winter. Eine Krähe flattert auf ein Klettergerüst. Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt ristle-te, rostle-te, mo, mo, mo, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie sein mögen. Ristle-te, rostle-te, hey bombosity, knickety-knackety, retro-quo-quality, willoby-wallaby, mo, mo, mo.

I
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Ein umgekehrter faustischer Pakt