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Ihr Outfit ist Kult, ihre Meinung ist Gesetz. Helena Levy ist Mitte dreißig und Chefredakteurin der bekannten Frauenzeitschrift FEMME. Sie ist die Königin der Glamourwelt. Aber der Preis, den sie dafür zahlt, ist hoch. Kaum einer ahnt, wie es hinter ihrer perfekten Fassade aussieht. Ihre Selbstzweifel, ihre Angst, den Schönheitsidealen nicht zu genügen, und ihre Einsamkeit bekämpft sie mit Alkohol und zügellosem Sex. Aber irgendwann kommt Helena an den Punkt, an dem sie sich entscheiden muss freier Fall oder Mut zur wahren Liebe.

 

Nina George, am 30. August 1973 geboren, lebt in Hamburg, glaubt an Universumsbestellungen für Parkplätze, Liebe auf den dritten Blick, die Ehe und die Macht erstklassiger italienischer Küche. Sie ist verheiratet mit dem Autor Jens J. Kramer.

Unter ihrem Pseudonym Anne West sind neun Sachbücher rund um Liebe, Lust und Partnerschaft erschienen. Seit 1993 ist sie als Krimiautorin und Journalistin tätig, zunächst für »Penthouse«, dann für das »Hamburger Abendblatt«. Heute schreibt sie freiberuflich als Kolumnistin u. a. für »Cosmopolitan«, »TV Movie« und »BILD am Sonntag«.

 

Nina George

 

Wie der Teufel es will

Roman

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia

© Chichili Agency 2012

ISBN 978-3-8450-0803-5

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Dieses Werk unterlag zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung noch nicht der neuen Rechtschreibreform.

Daher werden noch die alten Schreibweisen verwendet.

 

 

»Es gibt ein Alter,

in dem eine Frau schön sein muss,

um geliebt zu werden.

Und dann kommt das Alter,

in dem sie geliebt werden muss,

um schön zu sein.«

Françoise Sagan

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Der Mittwoch, an dem das Ende meines bisherigen Lebens seinen Anfang nimmt, wird von einem Jahrhundertregen in zwei Hälften geteilt. Daumendicke Tropfen. Nägelscharfe Nässe, die alles durchdringt, aufschäumt, wenn sie auf das Pflaster trifft. Der Himmel stürzt herab, was er hat - ohne Kompromisse.

Unendliches Prasseln, rauschende, amoralische Gewalt der Natur, die brutal genug ist, um mich an meiner glutleeren Mutlosigkeit verzweifeln zu lassen und mich hier hereinzutreiben. Noch weiß ich nicht, dass es eine Zeit vor dem großen Regen geben wird. Und eine danach. Es ist 14 Uhr 45. Niemand weiß, wo ich jetzt bin. Ich bin verloren gegangen.

Ich schüttele den dünnen Mantel aus, meine Augen gewöhnen sich an das Zwielicht der Bar R&B. Nur wenige Schatten, die sich aus der Dämmerung materialisieren, hinter mir feuert der Hamburger Wind nasse Salven an die Scheibe, wie Millionen von Perlen einer gerissenen Kette. Der Mantel aus Wasser verwischt den Blick auf die Welt. Wie hungrig er den Asphalt in Besitz nimmt. Sonnenschirme, Plastiktischdecken, Straßenrinnen, Lederjacken, Motorhauben. Haut.

Wasser rinnt mir die Schläfen hinab, in den Nacken, und ich wünschte, es wäre dieselbe durchdringende Kraft, die mich regieren würde - dass sich das Leben über mich ergießt, prall und satt. Ich wünschte, ich würde es wagen, da draußen zu tanzen. Barfuß.

Ich wünschte, ich würde herausschreien, was ich will. Ich will so intensiv geliebt werden vom Leben, so durchdringend, wie der Regen es ist.

Liebe mich! Schlag mich! Fick mich! Alles, will ich, alles. Ich will spüren und leben, ich will Männer, die wie dieser verschlingende Regen sind, bedingungslos und rasend, pur und ganz und gar Mann. Ich will dieselbe Leidenschaft, mit der sich das Wasser auf mich stürzt, so will ich mich auf das Leben werfen.

Für einen Augenblick aus der Gegenwart herausgespült, sehe ich in diesem Regen alles, was mir fehlt. Und was ich brauche.

Als seine Kraft nachlässt, und er zu einem Rinnsal verläuft, schwächlich und klein, banal und unentschieden, ein Regen, wie es viele gibt, sehe ich, was ich jetzt sofort brauche.

Ich brauche etwas zu trinken.

Ich mag es, wenn mir der Alkohol durch die Adern fließt. Die angenehme Schwere in den Beinen. Die Wärme in den Füßen. Das leise Summen im Hinterkopf. Die Lust. So vieles, was egal ist. Es ist mir egal, was ich habe, in diesem Moment, wo der Regen nachlässt und mich nur mit einem vagen Echo an das, was ich will, zurücklässt. Keine Ehe, keine Kinder. Ich habe einen Liebhaber, den ich nicht liebe und der mich nicht liebt. Und eine 60-Stunden-Woche als Chefredakteurin der Frauenzeitschrift FEMME.

Ich trage Bauchwegstrumpfhosen und Push-up-BHs. Mein blondiertes Haar ist künstlich verlängert, genauso wie meine Fingernägel. Falsche Wimpern gehören zu mir wie aufgemalte Leberflecken. Wenn ich mit einem Mami ins Bett gehe, darf ich vorher nichts trinken, sonst vergesse ich, meinen figurformenden Body auszuziehen. Erledigt er das, verwandele ich mich mit einem »Pff« von einem schlanken scharfen Erdnüsschen in aufgeblasenes Popcorn. Nein, ich korrigiere - Ich verwandele mich in ein Michelinfrauchen. Ich trage grüne Kontaktlinsen und habe eine Brille, die ich nicht aufsetze.

Und es ist mein letzter Tag als 34-jährige Frau.

Ich werde morgen 35. Das Alter, von dem es heißt, dass eine Frau eher von einem Tiger gefressen wird, als zu heiraten.

Bis Mitternacht hätte ich also noch Zeit.

Ich stelle mir vor wie es wäre, hier in der Bar mit den Blümchentischdecken aus Plastik und den Hängelampen mit Fransen, auf einen der Männer zuzugehen, und zu fragen: »Entschuldigen Sie? Hätten Sie was dagegen, mir bei einer Statistik zu helfen und mich zu heiraten? Sagen wir, in einer Stunde?«

Ich glaube, ich nehme lieber was zu trinken. Das geht schneller. Windbälle rollen über den Himmel, der sich schroff über der Weidenallee aufrichtet. Möwen kreischen und lachen mich aus.

»Damit man dich heiratet, Helena Levy, müsstest du selbstlos sein«, schreien sie. Selbstlos - wie wird man das Selbst los? Soll ich es wie meine Brille im Wagen liegen lassen? Den ich nicht fahre, weil ich zu oft trinke?

Der Regen hat sich in ein mutloses Gewäsch feuchter Nichtigkeit verwandelt und klebt so schüchtern an der Scheibe, dass ich mich schäme, ihn jemals als Bruder meiner Sehnsucht empfunden zu haben. Ich muss an erschlagene Schmetterlinge im Bauch denken.

Als ich mich auf den Barhocker setze, bemerke ich den Mann das erste Mal.

Er ist nicht schön. Er ist nicht mal mein Typ. Doch er starrt mich an, als sei ich, was er lang gesucht und endlich gefunden hat. Nur dass ich nicht so aussehe, wie er es sich erhoffte. Seine Augenbrauen über der Brille haben sich zusammengezogen, als hätte ich schon meinen halben Arm im Tigerkäfig verloren.

Ach, ja. Männer. Sie glauben immer noch, dass Frauen zum Leben nicht mehr brauchen als einen intensiven Blick, ein halbherziges Kompliment und einen halben Kaugummi am Tag. Vielleicht ist er auch ein One-Night-Stand, den ich nicht zurückgerufen habe. Wer weiß?

Ich bin auch mal mit einem Schokoladenriegel im Mund aufgewacht und wusste nicht, wie er dorthin kam.

Würde ich mich an all diese Nächte erinnern, mit Männern, an deren Gesichtern ich mich weniger aufhielt als an ihren Körpern, dann wüsste ich auch, wo ich mein Selbst losgeworden wäre. Ich betrachte seinen Körper. Er trägt ein Nadelstreifen-Jackett zur Jeans, eine eckige, dunkle Hornbrille, ist etwa 40plus und hat dunkelblondes Haar. Unter seiner Kleidung zeichnen sich

lange Muskeln ab. Er hat diese Sorte Hände, die immer warm sind. Liebhaberhände. Ich erinnere mich nicht an sie. Wieso sieht er mich so an, als müsste ich jetzt noch spüren, wie es war, als er seine Lust in meine Haut hineinrieb?

»Helena. Es ist nur irgendein Mann. Er beobachtet dich. Er fragt sich das, was alle Männer sich für eine Sekunde fragen: ›Würde ich mit dieser Frau schlafen?‹ Du würdest es ihm sowieso nicht allzu schwer machen, wenn er wollte. Nicht wahr?«

Nein. Nicht wahr. Doch das lässt sie nicht gelten, die Richterin Gnadenlos. Meine innere Stimme

Ich ziehe den Bauch ein. Es ist ein Reflex, einem Mann gefallen zu wollen, von dem ich noch nicht entschieden habe, ob er mir gefällt. Mein Körper ist mein Feind. Er reagiert. Er beschämt mich, denn er weiß mehr vom Leben als ich.

Ich rechne die Gerichte auf der Karte in Getränke um. Für einen Salat ein Glas Tee. Für das Rinderhüftsteak drei Glas Rotwein und ein Martini Bianco. Nein, ich will mich ja nicht überfressen. Stattdessen werde ich Champagner trinken. 160 Kalorien entsprechen 250 Gramm Nektarinen. Jeder weiß, dass man von Alkohol nicht zunimmt. Die wenigsten, dass sich Kummer darin nicht ertränken lässt: das fette Biest kann schwimmen

Die Hyäne erhebt sich. Jenes Tier in mir, das alles will, jetzt, sofort. Es ist ein Biest. »Haben, haben, haben. Gib mir was zu trinken«, verlangt es. Ich lege die Speisekarte weg und bestelle ein Glas Champagner bei dem fülligen, hellblonden Keeper, Richterin Gnadenlos zischt »Säuferin«, aber das macht sie dauernd.

Es ist Zeit, dem Mann, der mich so ansieht, als hätte er auf mich gewartet, ein Gesicht zu geben. Sein Haar - genug am Hinterkopf, um hineingreifen zu können. Nasolabialfalten - ausgeprägt. Kräftige Augenbrauen. Die Ohrmuscheln biegen sich am oberen Rand nach außen, die Läppchen liegen an. Schwierige Ohren. Sinnlicher Mund, mit ... da ist sie ja. Die vertikale Einbuchtung zwischen Oberlippe und Nasenspitze - breit und tief. Bevor er geboren wurde, wusste er alles über Leben und Tod, die Liebe und die Frauen. Dann kam ein, Engel und legte ihm den Zeigefinger auf den Mund, grub diese. Kerbe ein und verschloss ihm für immer die Lippen. Genau deswegen reden Männer nicht.

Wen liebt er?

Seine Freundin liest wahrscheinlich die FEMME und hat sich an unsere Vorschläge gehalten, um ihn im Bett zu überraschen. Und er glaubt immer noch, es sei sein Augenaufschlag gewesen, der sie dazu bewog, sich ihren Slip mit dem Küchenmesser vom Leib zu schneiden. Weil er nur gefragt hatte: »Was gibt's zu Essen, Schatzi?«

»Mich, du Spießer.«

Aber so sieht er nicht aus. Er liebt die Liebe. Ich beneide ihn. Der weizenblonde Keeper schaut misstrauisch. Ich habe laut mit mir selbst geredet. Mal wieder. »Sie wünschen noch etwas?« Nein. Ja. Jemand könnte die Musik lauter drehen. Shirley Bassey. Sie singt »Something«, »Something in the way, he moves ... attracts me like no other lover«. Musik verführt, Dinge zu glauben, die sich doch nur reimen.

Am besten, ich schaue weg. Mein Blick flieht zwischen den Tischen an der Brille entlang nach draußen, um nicht zu verpassen, wann es aufhört zu regnen und ich zurück kann.

Ich sehe auf einen Müllcontainer.

Und einen pinkelnden Hund.

Die Brille schaut. Ich bin bald 35. Sein Hemd ist nicht ganz zugeknöpft. Ich liebe die Männer. Ich habe einen Ausblick auf den Ansatz seines Schlüsselbeins. Ich verliebe mich nicht mehr. Kräftige Hände. Gefalle ich ihm? Liebhaberhände. Ich will diese Hände.

Ich sehe weg, auf Ursula Andress an der Wand gegenüber, und bekomme Komplexe. Ich zwirbele an einer Locke, der Schmerz hilft.

Eine Strähne klebt an meinem Mund. Ein dummes Gefühl, es stört in diesem Augenblick, wo ich mich fast verlieren will in einem alten Traum. Ich beginne die Beine der braunen Bistrostühle zu zählen und mir dabei vorzustellen, ich sei die Andress, die sich anmutig die Mähne von den zart gewölbten Lippen streichelt. Der Lipgloss bleibt erst an den Haarspitzen hängen, streift meine Nase und schleift an meiner Wange entlang, bis das rechte Nasenloch mit dunkelrosafarbenem Light-my-Fire-Mac-Gloss verklebt ist. Prima.

»Wohlsein«, säuselt der Keeper und schiebt mir Champagner hin.

»Endlich, wieso hat das so lange gedauert?«, schreit die Hyäne. Ruhig. Ganz ruhig. Die Brille starrt immer noch.

Mein Körper schaltet unter diesem Blick auf Autopilot. Ich schlage das rechte Bein mit graziösem Schwung über das linke. Leider bleibt die Schuhspitze dabei in dem Schulterriemen meiner geöffneten Handtasche hängen, die auf dem Hocker neben mir liegt. Ich beuge mich instinktiv nach vorne, wische dabei das Glas mit dem Ellenbogen vom Tresen, fange es am Stil auf, bekomme einen Krampf im unteren Rücken und muss zusehen, wie das Kelly-Bag vom Hocker auf den Parkettboden flatscht. Heraus kullert mein mobiles Leben.

Als ich mich nach schweigenden Sekunden der Scham, die ich auf den Knien verbracht habe, um meine Geheimnisse wieder in die Handtasche zu räumen, aufrichte, klebt die Haarsträhne wieder an meiner Oberlippe und der Barhocker furzt, als ich mich darauf setze. Die Bauchwegstrumpfhose ringelt sich nach unten und drückt zwei Kilo Problemzone über den Hosensaum: als ich mir die Strumpfhose aus der Poritze ziehe, streckt der Keeper seinen Blondschopf über die Theke und fragt, ob es noch was sein dürfe.

Eine Reinkarnation vielleicht? Oder ein bisschen Hirn absaugen.

Eine der BH-Einlagen ist verrutscht. Ein wogendes Wasser-Öl-Gemisch. Ich räume die naturidentische Lebendigkeit dahin, wohin sie gehört, und lasse mich mit der Lässigkeit einer geheimnisvollen weiblich weichen Amazone auf dem Pupshocker nieder. Ich sehe diesen Mann, der mir nichts bedeutet, wieder an. Die Schatten der Regentropfen, die auf der Fensterscheibe liegen, zeichnen sein Gesicht. Ich weiß nicht, was ich darin finde. Ich habe nichts gesucht.

Ich liebe die Männer. Aber ich hasse die Liebe. Hass ist ein großes Wort, und ich wähle es mit Bedacht. Denn Hass ist nichts anderes als gescheiterte Liebe. Ich habe es versucht, einige Male. Ich war jung. Ich wusste nicht, dass die Liebe eine Lüge ist. Ich scheiterte.

Durch das Fenster fällt ein verirrter Sonnenstrahl, teilt die Wolken und verdrängt die erschütternde Ohnmacht, in die sich das Gewitter geflüchtet hatte. Ein unwirkliches Licht. Der Tag ist schwarz gefärbt und diese Sonne ist wie ein gleißendes Messer. Es zerschneidet die Zeit in zwei Hälften. Jetzt beginnt die Zeit nach dem großen Regen.

Ich verharre im Dunkeln. Mein Körper neigt sich dem Mann wie eine Blume der Sonne zu. Verräter.

Das Licht fällt direkt auf sein Gesicht und lässt zwei blaue Leuchtfeuer erstrahlen. Diese Augen. Ihr Blick weicht keinen Millimeter zur Seite, schwankt nicht, flieht nicht zurück. Er starrt nicht, er fordert nicht. Er sieht auf den Grund meiner Wüste und findet etwas wie Sehnsucht. Es ist ein Blick der sagt: »Ich weiß«, und ich falle in diese Augen hinein.

Was weißt du, Fremder?

»Zeig dich«, sagt dieser Blick. »Scheiß auf Tiger«, singen seine Augen, »scheiß drauf, dass du dich nie verliebst, dass du gehst, wenn einer die drei Worte sagt. Komm mit mir, ich bin dein Regen.«

Ich lächele ihn an. Willst du mein Regen sein? Mein alles verschlingender, leidenschaftlicher, wilder Regen? Willst du?

Aber der Mann bleibt stumm. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Seine Augen verdunkeln sich. Ich lächele weiter. Er sieht mich nicht. Er sieht durch mich hindurch. An mir vorbei. Und über mich hinweg.

Zum Fernseher in der Ecke, direkt über mir. Tiger Woods schlägt ab. Es läuft Golf auf N24. Ohne Ton. Die Brille sieht nicht mich an.

Ich saß die ganze Zeit nur im Weg.

Ich glaube, ich stecke gleich mal den Kopf in die Restaurantküche und frage, ob der Gasherd noch frei ist.

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Mag ja sein, dass Vita, Virginia Woolfs Geliebte, Virginias Mann Leonard geraten hat, seine Gattin nicht zum Orgasmus zu bringen, weil sie das zu sehr aufrege. Ich schätze, Virginia regte sich aber genau deshalb auf und wurde depressiv, weil sie eben keinen Orgasmus hatte. Gut, rechnet man die Zeit hoch, die eine Frau mit ihren Orgasmen verbringt, kommt man sowieso nur auf etwa 16 Stunden - und zwar im Leben.

Es ist leicht, dennoch an Schicksal zu glauben. »Ach! Alles hat einen Sinn gehabt! Dass ich heute hier sitze, auf dieser Party, an diesem Tresen, in dieser U-Bahn, in diesem gottverlassenen Nest am Ende der Welt und meine Große Liebe finde ‒ das war vorherbestimmt! Eine andere U-Bahn, ein verpasster Flieger, ein Schnupfen, der es mir nicht erlaubt hätte, den schwulen Bruder jener Frau zu treffen, die heute auf diese Party eingeladen ist und mich statt ihres Gatten mitnimmt, da dieser die Geliebte ihres Vaters auf der Wickelkommode vögelte und das rhythmische Quieken des Hunde-Kauknochens unter ihrem Hintern sie verriet. Das musste sein. Denn auf der Party ist die große Liebe mit der ich meine sechzehn Stunden vollkriege!«

Somit hat alles, was man je im Leben getan hat, rückwirkend einen Sinn bekommen, denn es steuerte auf das Happy End zu - den einen. Schicksal.

Was für ein grandioser Quatsch. Das hier ist die Wirklichkeit. Ein nasses Hamburg, frisch gewaschene Großstadtluft, die nach Abfall, Rum und Limette riecht, nach St. Pauli, Reeperbahn und diesem Sexshop, vor dem ich stehe. Hinter mir fährt das Taxi an, in dem ich aus der Bar dorthin geflüchtet bin, wo es Neonreklame und keine Männer mit Leuchtfeueraugen gibt.

Für die 16 schönen Stunden tut es ein Liebhaber genauso gut. Und ohne die Folgen wie Reihenendhaus, Qual, Sehnsucht und Einsamkeit im Ehebett, während der andere schläft, schnarcht und rotzt und alles nicht so ist, wie es sein sollte, nämlich wild, frei und warm.

Lex steht mir, wie jeder Frau ein Mann steht, der sechs Jahre jünger ist und die entschlossene Tiefe jener Männer ausstrahlt, die wenig reden. Das, was andere Liebe nennen, bezeichnet er als eine horizontal fokussierte Tätigkeit. Und darin ist er gut. Deswegen will ich nicht allzu genau definieren, was denn da so ist, dieses »zwischen uns«. Wenn ich eines gelernt habe als Chefredakteurin der Frauenzeitschrift FEMME, dann das: Zwinge einen Mann, die Beziehung zu definieren, und er bekommt eine spontane erektile Dysfunktion. Verbindlichkeit ist eine Zivilisationskrankheit, die Männern auf den Schwanz schlägt.

Der schöne Alexander. Nachkomme französischer Tischler und schlesischer Metzger. Wir waren verrückt nacheinander. Am Anfang kamen wir kaum übers »Bonjour Cherie« heraus und lagen schon im Bett, im Flur, auf dem Küchenboden. Aber bin ich verpflichtet, mich wegen ein bisschen Sex (minus 81 bis 150 Kalorien, je nach Qualität) vor den Altar schleppen zu lassen?

Wenn wir mal wieder welchen hätten, um genau zu sein.

Denn bis auf die Tatsache, dass Lex der perfekte Liebhaber ist, gibt es ein klitzekleines Problem. Wir haben seit Wochen nicht miteinander geschlafen.

Ich bin nicht länger bereit, mit einem Liebhaber ehelichen Sex, sprich gar keinen, zu haben. Wenn der Frauenarzt einen öfters anfasst als der eigene Liebhaber, sollte eine Frau handeln. Ich habe nicht vor, mir die Manteltaschen voller Steine zu stopfen und in die Elbe zu gehen.

Ich werde Lex heute Abend daran erinnern, was der Sinn unserer Affäre ist. Er hat meine Hormone in Ordnung zu halten, und ich gebe die heilige Hure und behellige ihn nicht mit Gefühlssimulation.

Ich bin bereit, meinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Ich werde für meinen Liebhaber tanzen. Und ihn mit einem Erste-Klasse-Huren-Outfit betören. Mich von ihm ins Bett tragen, schleifen, ' treiben, küssen lassen. Kurz vor Mitternacht wird er wohlig erschöpft von mir lassen, um den Champagner zu öffnen. Dann habe ich Geburtstag und wir werden anstoßen. Morgen werden wir ein rauschendes Fest feiern, mit meinen Freunden. Und nochmal ins Bett gehen.

Soweit der Plan. Dafür werde ich erstmalig in meinem Leben einen Sexshop betreten, um mich auszurüsten. Das empfehlen wir doch ständig unseren FEMME-Leserinnen. Also, was ist schon groß dabei?

Dabei ist es nur Richterin Miststück-Gnadenlos, die flüstert: »Früher haben die Männer an deiner Bettkante gebettelt, rein zu dürfen. Und heute bettelst du, dass einer mal reinkommt. Bestell dir schon mal einen Tigerkäfig.«

Schnauze, Euer Ehren.

Meine Verhandlungsmasse heißt »Dirty Dance«. Auch auf glattem Parkett möglich, so verspricht es die Autorin mir, ihrer Chefredakteurin, und über einer halben Millionen FEMME-Leserinnen. Dirty Dance, die Solovariante mit Strip und Stuhltanz, aus unserer Serie »Private-Show-Sex«. FEMME erklärt in jeder Ausgabe den Frauen von Passau bis Flensburg mit Fotos step-by-step, wie sie bühnenreife Verführung liefern, vom Lapdance bis zum Pole-Dance, dem Tanz um die Stange. Ein Garderobenständer tut es zur Not auch.

Dafür habe ich Overkneestiefel mit Zwölf-Zentimeter-Absätzen, aus dem Fundus der Moderedaktion und von Angelica, der Modechefin, zum Must-Have des Winters deklariert: »Jetzt müssen sich die Nutten am Hafen aber echt was einfallen lassen, damit sie neben uns nicht alt aussehen.« Nur die VOGUE hat noch größeren Einfluss auf Kleiderstangen als Angelica. Was brauche ich noch? Ein Korsett. Echte Nylons, einen hochkarätigen Slip. Und einen Kojak, eine intime Totalrasur.

Alles, was zwischen mir und der erotischen Erfüllung steht, ist nur die Tatsache, dass ich mich nicht in diesen Sexshop traue. Als ich zum dritten Mal an dem hell erleuchteten Eingang der »Boutique Bizarre« auf der Reeperbahn vorbeischlendere, erbarmt sich der Türsteher der »Blue Bar« von nebenan, und kobert mich gutmütig an. »Na, kommense mal rein hier, schöne Frau, gibt 'ne Menge zu lernen für Männe zu Hause, wiesien rischtisch auf Zack bringen könne, hömma.«

»Nein danke, damit komme ich schon zurecht«, erwidere ich höflich und frage mich, ob »Trockenzone« auf meiner Stirn steht. »Dann nisch«, nuschelt er. Ich setze meine Sonnenbrille auf und betrete entschlossen die »Boutique Bizarre«.

Der Fachsalon für Ehehygiene auf der Reeperbahn 35 besitzt den nonchalanten Charme eines Lidl-Supermarktes. Fehlt nur noch die Lautsprecherdurchsage: »Vibrator ›Rabbit‹, in zwei attraktiven Farben, nur heute im Angebots Nimm zwei, zahle einen, dingdingdadong.«

Die zwei Kassierer, rechts am Tresen, sehen knapp an mir vorbei. Ich wette, das lernen sie in der zweistündigen Begattungswarenfachverkäuferausbildung. Und wer Diskretion will, kann ja darum bitten, dass draußen die Nummernschilder vom Wagen zugehängt werden. Und zwar mit den Paillettenbikinis inklusive Brustwarzenguckloch, die da in der Vitrine neben der Säule liegen. Hübsch. Aber wozu? Eine Art Still-BH »Modell Madonna« vielleicht.

Ich mache mich auf ein entsprechendes Kundengespräch gefasst: »Guten Tag, kann ich helfen?« »Aach, ich suche da ein Video. Ich glaube, es heißt ›Mösenpatrouille 212‹. Und ein Vibrator wäre auch schön. Größe L. Mit extra langer Schnur, die Steckdose ist soweit weg vom Bett.« »Aber gern, wollen Sie ihn gleich mal anprobieren?« Nein. Hier sieht es nicht so aus, als ob sich die Kunden unbedingt helfen lassen wollen. Ich schlendere in Richtung Spielzeugregale.

Nanu? Werden hier auch Waffen verkauft? Ach nein. Ein Dildo. Etwa so dick und lang wie mein Unterarm. Nein, eher wie mein Oberarm. Ob er für die Geburtsvorbereitung gedacht ist? Ah, die Mädchenabteilung! Dildos in pink, Dildos in natur, Dildos mit Delphinköpfchen. Vibratoren, die wie Handstaubsauger aussehen. Prickelschlaufen-Cockringe und oha: Das Bett-Fesselset. Die Lederarmbänder werden mit Kletthalterungen auf der Matratze festgepappt. So wie Seniorensandalen mit Klettverschluss.

Ein quietschrosa Karton hält das Rundumsorglospaket für die Dame bereit. Das »Lust-Set für die totale Sexstimulation« enthält einen Noppenüberzug, einen Vibrator, einen Analdildo, ein ferngesteuertes Vibrator-Ei und Gleitmittel »Flutschi«. Na, damit kann man sich doch mal einen schönen Abend machen. Und alles so schön rosaorange wie marinierte Nackensteaks. Ich schüttele den Karton. Das Plastikfleisch raschelt. Unter den Neonröhren verblassen die Gedanken an warme Liebhaberhände. Hier wird die totale geschlechtliche Stimulation als Maß aller sexuellen Dinge verkauft. Mit so etwas banalem wie Küssen oder Streicheln wird sich hier nicht lang aufgehalten.

Ich stoße am Ende der Regalreihe auf die DVDs und blinzele durch die Sonnenbrille. So ein Sexshop ist ja auch ungemein hell. Schau, schau, was ist denn das da? »Ponyplay«. Niedlich.

Oh. Ein Tierfilm. Sie gibt die Stute. Mit Halfter. Und einem schwarzen Pingpongball im Mund. Meine Güte! Nach meinem bisherigen Wissensstand hätten es ein paar kräftige Segelseile auch getan!

Ich gehe die Cinemathek weiter ab. Teenies. Gouvernanten, Blacks an Blondes, »Fill Jill« - reizend, »Bunny und Clyde«, »Hure der Karibik« - hmm, »Toy Story Sex« - aha, »Pulp Fucktion« und ... ach, wie nett, Schokoladenspiele. Ich nehme die Sonnenbrille ab.

Putain! Das ist gar keine Schokola ... Ich werde nie wieder im Leben welche essen. Eine Tafel Schokolade macht fünf doppelstöckige Whiskys. Die bräuchte ich jetzt auch, um diesen Anblick zu vergessen.

Ich drehe mich um und stehe direkt vor dem blassen Kopulationsbeihelfer von der Kasse, der sich geräuschlos auf seinen Leinen-Turnschuhen angeschlichen hat. »Suchen Sie was Bestimmtes?«, fragt er. Die grauen Augen hinter seiner Brille, so starr wie tote Fische im Glas. Was denn Bestimmtes? Nur weil ich mich bei der Schokolade vertan habe?

»Dessous«, nuschele ich heiser.

»Was? Ach. Dessous. Untergeschoss.« Sein Kinn zuckt unbestimmt in Richtung Treppe. Ich aber muss erst mal das Wort Hämorrhoiden aus meinem Kopf bekommen, während ich die grau gestrichenen Betonstufen herunterbalanciere. Wozu von Liebe faseln, wenn andere Leute lieber Scheiße fressen?

Eine Dame mit langem schwarzen Haar und roten Strähnen - sie erinnert mich an Anjelica Huston in »The Addams Family«, ordnet an einer großen Glasvitrine lange Abendhandschuhe neben einem Strauß neonfarbener Minipeitschen ein, die mich an Schirmchen erinnern, die man sonst in bunte Cocktails steckt. An den Kleiderstangen links hunderte Dessousensembles, rechts eine Batterie von kostbaren Nylonstrümpfen. Weiter hinten leuchtet etwas auf, das mich an die Kostüme von »Holiday an Ice« erinnert. Nur mit weniger Stoff.

»Darf ich Ihnen helfen?«, zwitschert Lady Addams mit einer atemlosen, leuchtstoffröhrenhellen Tweety-Stimme.

»Ich suche ein Korsett.«

»Halbschale, Balkonette, brustfrei? Mit oder ohne Straps? Zum Schnüren oder mit Zipp? Als Häkchen-Bustier oder Kombi? Farbe?« Atemloses Piepsen. Ich nicke ergeben.

Sie vermisst mich mit geübten Blicken, murmelt was von »38, 40, 80 B, 39«, schließt mit einem Spezialschlüssel eine Tür neben der Galerie himmelblauer Bodyfähnchen auf, winkt mich hinein und zieht die Tür zu. Ich hoffe, bei den Zahlen eben war jetzt nicht mein geschätztes Alter dabei.

Ein halb verspiegelter Raum, gedämpftes Licht, drei rote Sessel, alles in allem so groß wie fünf H&M-Umkleidewaben zusammen. Die Jungs hier haben Ahnung von weiblichen Komplexen. Schmeichelhafte, indirekte Teint-Beleuchtung, und ein Spiegel, der eindeutig schlank macht. Ich beuge mich vor und kontrolliere meinen Hintern.

Morticia Addams schiebt mir ein Armvoll Korsetts, Slips, Probierstrümpfe und ein Paar Nuttenschuhe mit Plateausohle hinein. »Viel Spaß«, tschilpt sie und flattert davon.

Ich nehme ehrfürchtig ein Korsett hoch. Ich möchte sofort Kurtisane werden, mich für den Rest meines Lebens in diesem Ding räkeln und die Legionen von bewundernden Männeraugen auf mir hin und her flanieren lassen.

Das perfekte Rot, die perfekten schwarzen Stickereien, vorne Häkchen, hinten eine Schnürung, dicht wie ein Fischgrätmuster, Strapsbänder zum An- oder Abklipsen, und ein winziger Bindfaden mit Perlen im Schritt. Wieso? Ach so. Der Stringtanga. Und wo ist vorn?

Ich ziehe mich aus bis auf den Bambi-Slip mit Swarovski-Wiese und lege das Korsett um meine 64,6 Kilo, ohne in den Spiegel zu sehen. Nanu? Ich ziehe das Kurtisanenkostüm nach oben, mein Bauch guckt raus. Ich schiebe es nach unten, meine Brüste rufen: »Liberté«. Jetzt die widerspenstigen Häkchen bändigen, kaum ist eines geschlossen, geht das darüberliegende wieder auf, dann noch die Strümpfe über die Beine, die Strapshalter kommen später, rein in die Schuhe und fertig. Spiegel, da bin ich. Schön einen Fuß vor den anderen gestellt, leicht seitlich in der Hüfte gedreht, das macht schmal.

Kreisch! Brüste sehen einfach nicht gut aus, wenn sie von einem steifen Spitzenbund erst hochgewuchtet und dann fallen gelassen werden. Wie zwei Topflappen. Das geht so nicht. Irgendwie fehlt ein wenig zu viel Stoff. Indiskutabel. Ich mag Morticia nicht fragen. Meine Topflappen gehören mir. Und dieser Wulst unter den Achseln, über der BH-Linie, der war vor drei Jahren auch noch nicht da.

Oh, Männer, wenn ihr wüsstet, was Frauen alles auf sich nehmen! Und was macht ihr? Ihr vergesst den Fummel, sobald ihr ihn entfernt habt. Würden es zwei gekreuzte schwarze Tapes auf den Brustwarzen nicht auch tun, dazu halterlose Wolfords und ein Glas Martini?

Ich hake die Korsage wieder auf und widme mich der romantischen Variante in Altrosa mit goldenen Stickereien. Hier sind Halbschalen mit dabei. Ein Balkon für die Julias.

Häkchen zu, Häkchen auf, tief ausatmen. Zu eng. Schnürung lockern, das Ganze nach vorne drehen, Schnürung binden, wieder zurück. Noch die Brüste in die Halbschalen klemmen, fertig. Hm. Jetzt wirken die beiden Girls wie nach innen gerollte Teigpuffer. Die Brustwarzen gucken beleidigt raus und wissen nicht, ob sie schön finden sollen, was sie durchmachen. Sie schielen. Ich schiele auf das Preisschild. Waaas? 249 Euro für etwas, was die Brüste aussehen lässt wie Poffertjes? Und dazu ein Bindfadenschlüpfer?

»Brauchen Sie Hilfe?«, zirpt Morticia von draußen.

»Nein, nein, geht schon«, lüge ich zurück. Was ich bräuchte, wäre eine Ganzkörperstraffung.

Das letzte Korsett mit dem seitlichen Reißverschluss hat endlich mal keine Häkchen. Und die Brüste präsentieren sich auch wohlgeordnet in den dafür vorgesehenen Halterungen. Hm. Enger könnte es sein.

Ich stecke vorsichtig meinen Kopf aus der Tür. »Huhuu ...«, hüstele ich unbestimmt in den leeren Verkaufsraum. Wo steckt Morticia denn?

Ich wage mich halb aus der Umkleide. Gucke um die Ecke. Tweety?

»Hallo? Hilfe!« Jetzt mache ich einen Schritt nach vorne.

Die Tür fällt mit einem bösartigen, zufriedenen Schmatzen hinter mir zu.

Ich habe jedenfalls keinen Schlüssel.

Na, reizend. In einem zu großen Korsett, das mir über die Brust flippt, mit meinem Bambislip, Probierstrümpfen mit Naht, die schief über die Wade schlingert, und auf hohen Nuttenhacken stakse ich durch den Keller eines Sexshops. Die Strapsbänder flattern unmotiviert um meine Schenkel herum. Ich spähe in den nächsten Raum, der sich neben der Vitrine auftut. Die Lederabteilung. Peitschen, Ganzkörperanzüge, Ketten, gefährlich aussehende Cat-Woman-Gesichtsmasken und kieferorthopädisches Zubehör. Zum Mundspreizen.

Ich halte mir die Korsage in der Taille fest. Ich sehe ein bisschen aus wie ein zänkischer Ehedrachen, der auf den Mann einblökt, weil er zwei Minuten nach der Tagesschau eingeschlafen ist anstatt dem ehelichen Pflichtbeischlaf nachzukommen. Mit Nudelholz wär das Bild perfekt. Fehlt jetzt nur noch, dass jemand vorbeikommt, der mich kennt und mich nicht mag.

»Helena??!«

Bingo. Bitte lass es nicht Daphne, meine Stellvertreterin, sein. Die soll in der Redaktion sitzen, intrigieren, an meinem Stuhl feilen, Autoren dressieren und mich, an meinem ersten halben freien Tag in sechs Monaten, vertreten. Bitte lass es keinen Ex-Liebhaber sein, der mir seine madonnenhafte, schwangere Frau vorstellen möchte, mit der er glücklich in der Nordheide lebt, die einen Kräutergarten in Herzform anlegt und einen Pailletten-Still-BH mit Guckloch trägt.

Ich war selten so erleichtert, Telse Grill, die Sekretariatsgouvernante meines Verlegers Heiner Zerom, zu sehen. Telse ist eine Cocktailfeministin. Ihre spitzen Kommentare sind so gefürchtet wie ihre Acrylnägel, mit denen sie Eingriffe am offenen Herzen vornehmen kann. Damit überspielt sie jene Männerhörigkeit, die Frauen entwickeln, die es nicht anders gewohnt sind, als dass der Mann im Haus selbstverständlich das größte Stück Fleisch bekommt. Und ein eigenes Zimmer, zum Laubsägen und Onanieren.

Telse ist das, was meine Freundinnen Hanne, Claire, Fanny und ich als »Männer-Frau« bezeichnen, eine Frau, die einem Mann immer den Vorzug selbst vor der besten Freundin geben würde. Telse ist eine alt gewordene Männer-Frau, Endvierzigerin aus Hamburg-Klein Flottbek, die mit Bananenknoten am Hinterkopf, Brille am Goldkettchen nebst zweireihiger Perlenkette auf die Welt gekommen ist. Der Typ man-redet-nicht-über-Geld-man-hat-es, gefolgt von eine-Frau-darf-einem-Mann-nie-zeigendass-er-sie-verletzt-hat-sonst-verachtet-er-sie. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist sie seit 21 Jahren vergeblich in meinen Verleger Zerom verliebt.

Jetzt taxiert sie mich über ihre Goldkante hinweg, um jedes Detail aufzusaugen, damit sie es hinter vorgehaltenen Geierkrallen verbreiten kann.

»Nanü«, näselt sie, »Frau Levy. Sie sehen ja ... also ... interessant aus.« In ihre Mine mischt sich Tücke. »Haben Sie heute noch was vor?«

»Heute und für den Rest meines Lebens.«

»Ich kann mir denken, wie das aussieht. Aber das Oberteil muss enger sitzen!«, bestimmt sie mit einem Glitzern in den Augen. Und schon geht sie einmal um mich herum, greift sich die beiden Enden der Schnüre und beginnt routiniert, das Korsett enger zu ziehen. Ich atme scharf ein. Und aus. Dann hechele ich nur noch ganz, ganz flach.

»Können Sie noch atmen, Liebchen?«, fragt Telse. Es hört sich wie »Lübchen« an. Ich nicke tapfer.

»Dann ist es zu weit«, stellt sie fest und zieht noch stärker. Gleich werden mir die Julias mit einem scharfen Klack unterm Kinn klemmen und meine Organe auf kleinste Lebenserhaltung umstellen.

Aus dem Lederparadies kullert ein Pärchen, Hand in Hand, Partnerlook-Regenjacken, er mit einer braunen Plastiktüte in

der Hand. Wahrscheinlich haben sie da ein Halfter drin oder eine Kollektion Hodenspreizer mit passendem Brustwarzen-Coquillage?

»Kannst du so was nicht auch mal tragen?«, rügt er seine Begleiterin nach einem stieren Blick auf meine quellenden Brüste. Sie ist eine kaum klaviergroße Rothaarige mit doppelten Rubensformen, in der Blüte ihrer Kurven. »Nur für Werbepausen-Sex«, erwidert sie zickig und erdolcht ihn mit Blicken. Und dann mich. Hey, falsche Abteilung, verpartnerte Männer sind für mich tabu, da kann er noch so reizend in seinen Hochwasserhosen, dem praktischen blauroten Blouson und den freiliegenden Zahnhälsen aussehen. Keine Verliebten, keine Verheirateten. Manchmal sind die Verheirateten jedoch schwer zu erkennen. Sie tarnen sich mit Verfügbarkeit. Sie tragen keinen Ehering. Aber man erkennt sie. An der hellen, haarlosen Rille am Ringfinger. An der Visitenkarte ohne Privatnummer. Und letztlich am gebügelten Taschentuch in der hinteren Hosentasche. Teilzeit-Odaliske für frustrierte Gatten zu spielen ist aber nicht meine Absicht, ich will kein Liebesdieb sein. Also, Rotschopf, nimm deinen Mr. Werbepausen-Romantik bitte mit und schlag ihn - love hurts.

Morticia flattert zu unserer kleinen Teegesellschaft. »Ah, Sie haben bereits professionelle Unterstützung bekommen«, piepst sie und nickt Telse zu wie eine gurrende Taube. »Sie können hier jederzeit anfangen, so gut wie Sie sich inzwischen auskennen, Frau Grill«, tschilpt Mrs Addams der Grillerin in der höchsten Kadenz zu. Ich registriere mit unkeuscher Befriedigung, wie Telse knallrot wird.

Ich schlingere auf meinen gefühlten ein Meter neunzig zwischen den Dessous entlang. Oh, là, da steht genau so eine Art Bistrostuhl mit geflochtenem Sitz, wie der, der für »Dirty Dance« als Requisite gebraucht wird. Wie ich es dank der FEMME-Step-by-Step-Foto-Anleitung gelernt habe, schwinge ich ein Bein durchgestreckt über die Lehne, stelle es auf der Sitzfläche ab, greife mir durch die Beine und kippele mir den Stuhl Richtung Becken. Das Korsett zwickt etwas, aber wer sexy sein will, muss leiden. »Na, da wird sich aber jemand freuen«, lobt Morticia. »Sie sehen rattenscharf aus«, zwitschert sie. »Wenn ich da noch einen passenden Slip raussuchen dürfte... ?« Sie macht sich kichernd auf den Weg. Wäre ich ein Junge, würde ich mich in sie verlieben. Sie wirkt, als ob S/M, Analverkehr und Gruppensex ein riesenlustiger Spaß sind, der erst richtig kitzelt, wenn es weh tut. Ich wiege mich vor dem Spiegel hin und her, vernehme mich kurz im Zeugenstand, wie es sein kann, dass es mir Spaß macht, meinem Liebhaber gefallen zu wollen. Die Richterin entscheidet gönnerhaft, dass es eine absolut menschliche Regung ist, die man nicht zu politisieren braucht. Und ich greife nach zwei roten Nippelhäubchen mit süßen weißen Punkten, an denen jeweils bunte Bommeln mit roten Perlen befestigt sind. Wie niedlich! Ich halte sie mir testweise an meine Brustspitzen und beginne, die Bommel zu schwingen. Mein Nippelschleuderkurs ist zwar schon etwas länger her, eine Pariser Mätresse hatte es mir beigebracht, während sie mir en passant die Regeln des Seitensprungs erklärte, aber ich verheddere mich nicht.

So wende ich mich an Telse: »Und Sie ... sind also öfter hier?« Schwing, schwing, schwing.

Telse wird eine Spur dunkler. »Nein! Ich besorge etwas für ... für Ich lasse die Nipple Tassles rotieren. Telse sucht verzweifelt nach einer Lüge und krampft ihre Finger um ein rotes BH-String-Straps-Ensemble. Alarmrot. Aber was ist in diesem Moment besser? Zuzugeben, dass sie selbst unter ihrem Waisenhausaufseherinnen-Kostüm einen Traum in Nuttenrot trägt, oder es dem Verleger in die Schuhe schieben und behaupten, dass er für seine Frau Möhrchen ein paar scharfe Bindfäden haben will? Oder für seine Geliebte? Wie tief kann eine Frau, die seit Jahrhunderten in ihren Chef verliebt ist, sinken? Sich in einen Sexshop schicken lassen, um Unterwäsche für eine andere, jüngere, schärfere Frau zu besorgen! Eine unter 35 vielleicht? Mein Kreislauf sackt ab.

Ich halte inne. Die Bommeln hängen herunter. Plötzlich tut mir Telse unendlich leid. Ich hatte immer Angst davor, dass mir ein Mann so viel bedeuten könnte, dass ich alles mit mir machen lassen würde. Und dabei auch noch denken könnte, er würde mich dafür lieben.

Das hat Telse nach all den Jahren davon, sich dem Gott Maskulinum auf dem Altar der Sehnsucht nach Dankbarkeit zu opfern. Sie lässt sich schicken und demütigen. Sie weiß es. Ich weiß es. Und sie weiß, dass ich es weiß. Ich weiß zu viel.

Ich brauche eine Ausrede für sie. Ausreden kannte die Pariser Mätresse auch. Sie amüsierte sich kolossal über den Tick aller fremdgehenden Männer und Frauen, ihren Geliebten gegenüber abzustreiten, noch eine intime Beziehung mit ihren Ehepartnern zu haben. »Sex? Mit mein Mann› Mais non, schon seit Jahren nicht mehr.« Mit Verlaub: Jeder fremdgehende Ehepartner schläft noch mit seinem Ehedings. Alles andere wäre verdächtig.

»Für die Moderedaktion?«, helfe ich Telse also mit einer Ausrede aus und sehe sie dabei nicht an. Wie wund ihr Herz ist. Eine Ewigkeit vergeht. Dann sagt sie: »Genau.« Ich ahne, dass ich eine neue Feindin habe. Mitleid wird Telse mir nicht verzeihen.

Wir verabschieden uns überhöflich. Ich lade Telse in einem Versuch von Versöhnlichkeit zu meiner Party morgen Abend ein, lasse mir von Morticia die Umkleide aufschließen, zippe das Korsett an der Seite auf und stolziere später, mit einer dessous-gefüllten braunen Plastiktüte, beschwingt in die Welt, willens zu lieben, zumindest für diesen Abend, koste es, was es wolle.

Der Preis wird mich überraschen.