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LEKTÜRESCHLÜSSEL FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Max Frisch

Homo faber

Von Theodor Pelster

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977. (suhrkamp taschenbuch. 354.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2001, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960083-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015303-1

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Die Struktur des Werks

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps/Filmempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

»Erkenne dich selbst!« ist eine Aufforderung, die auf einen der »Sieben Weisen« im alten Griechenland zurückgehen soll, als Aufschrift den Apollotempel in Delphi1 schmückte und bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Grundsätzlich an alle Menschen gerichtet, bedarf sie keiner weiteren Begründung.

Sie scheint wiederzukehren in dem Wahlspruch der Aufklärung: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«2 Auch hier ein Imperativ, dem sich kein vernünftiger Mensch entziehen kann. Dem Verstand wird die Fähigkeit zugesprochen, aus Wahrnehmungen Erkenntnisse zu machen, diese kritisch zu prüfen und in einen Gesamtzusammenhang einzufügen.

Max Frischs Roman Homo faber ist ein Modellfall, an dem abgelesen und erörtert werden kann, wie sich ein Mensch dieser Forderung stellt, wie er seinen Verstand gebraucht und wie es um die Möglichkeiten bestellt ist, sich selbst zu erkennen.

Max Frisch hat sich der Frage nach dem eigenen Ich früh gestellt und ist ihr nie ausgewichen. Zu seinen ersten Veröffentlichungen zählen zwei Skizzen aus dem Jahr 1932, die beide Was bin ich? betitelt sind. Dabei zeigt sich, dass diese scheinbar so einfache Frage nicht zufrieden stellend zu beantworten ist. »Weiß ich es denn selbst, wer ich bin?«3, lässt er später eine seiner Romanfiguren sagen und er fügt hinzu: »Jeder Mensch [...] erfindet seine Geschichten [...] – anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung, nicht zu Gesicht.«4

Der Roman Homo faber, erschienen 1957, stellt den Prozess einer solchen Ich-Erfahrung dar. Er ist der mittlere von drei großen epischen Werken, die das gleiche Thema umkreisen: Die Hauptfigur in Stiller (1954) ist ein Schweizer Bürger, der lange im Ausland war, bei seiner Rückkehr verhaftet wird und nun um seine Identität kämpft; die Hauptfigur in Mein Name sei Gantenbein (1964) tut so, als sei sie blind, und prüft, wie die Mitmenschen auf ihr Spiel reagieren. Dass es im Homo faber um die Frage geht »Was ist der Mensch?«, wird überdeutlich im Titel ausgesprochen; denn das lateinische homo ›Mensch‹ ist das Grundwort der Überschrift, dem das lateinische faber ›Schmied, Handwerker‹ als Bestimmungswort beigegeben ist. Damit ist ein Klassifikationsversuch gemacht, den man als Behauptung verstehen kann, für den die Begründungen folgen werden, den man aber auch als Aufforderung nehmen kann, sich der zugrunde liegenden Problemfrage zu stellen: Ist der Mensch hinreichend bestimmt, wenn man ihn als Schmied, Handwerker, Techniker, Macher auffasst, oder führt der Denkprozess, der mit dem Imperativ »Erkenne dich selbst!« beginnt, zu einem anderen Ergebnis?

Das Thema »Mensch – Welt – Technik«, das in allzu einfachen Aufgabenstellungen wie »Technik – Segen oder Fluch des Menschen?« verkommen zu sein scheint, ist in Wirklichkeit von uneinholbarer Brisanz. Die Frage »Was ist der Mensch, was soll, was kann, was darf er?« ist noch nicht beantwortet, ist wahrscheinlich nie endgültig zu beantworten. Sobald – wie in der Gegenwart – neue Problemfelder wie »Klonen, pränatale Vernichtung und gentechnische Manipulation«5 auftreten, stellen sich uralte Fragen von neuem.

Homo faber, der Roman von Max Frisch, liefert ein überschaubares Modell dafür, wie Menschheitsfragen gestellt, erörtert und letzten Endes nie endgültig und für alle Zeiten beantwortet werden können. Was eignete sich besser zur diskursiv angelegten Schullektüre?

Der Text wird im Folgenden nach der Suhrkamp-Taschenbuchausgabe 1977 (s. Kap. 10) zitiert.

2. Inhalt

Walter Faber, gebürtiger Schweizer, Ingenieur und als Entwicklungshelfer im Auftrag der UNESCO vor allem in Südamerika tätig, begegnet in seinem 50. Lebensjahr seiner ihm bisher unbekannten Tochter, erlebt ihren Unfalltod und muss sich fragen, inwieweit er an diesem unglücklichen Geschehen beteiligt ist. Er versucht sich Rechenschaft in einem groß angelegten »Bericht« zu geben, den er in zwei Stationen, an zwei verschiedenen Orten abfasst.

Caracas ist für ihn der erste Haltepunkt. Hier entsteht in der Zeit vom »21. Juni bis 8. Juli« (160) jener Teil des Berichts, den er »Erste Station« (7) überschreibt. Der Bericht setzt ein mit dem Start eines Flugzeugs, das ihn, Faber, von New York nach Mexico-City bringen soll. Ein Defekt an der Maschine zwingt zur Notlandung in der »Wüste von Tamaulipas« (22). Während man vier Tage und fünf Nächte festsitzt, kommt im Gespräch heraus, dass der Mit-Passagier Herbert Hencke ein Bruder jenes Joachim Hencke ist, mit dem Faber während seiner Studienzeit in Zürich befreundet war. Faber erfährt weiter, dass Joachim Hencke mit Hanna Landsberg, einer Halbjüdin, verheiratet war, dass diese Ehe aber sehr bald geschieden wurde. Mit Hanna Landsberg war Faber, »damals, 1933 bis 1935, Assistent an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Zürich« (33), befreundet. Er hatte sie 1936 verlassen, als sie ein Kind erwartete und er eine erste Stelle als Ingenieur in Bagdad angeboten bekam. Zu einer Heirat war Hanna in dieser Situation nicht bereit.

Herbert Hencke ist nun, im Jahr 1957, auf dem Weg zu seinem Bruder, der in Guatemala im Auftrag der Hencke-Bosch AG, Standort Düsseldorf, eine Tabakplantage leitet, der seit einiger Zeit jedoch nichts von sich hat hören lassen. Faber entschließt sich, Herbert Hencke zu begleiten. Von Mexico-City fliegen sie nach Campeche; ein Zug bringt sie nach Palenque; mit dem Landrover geht es dann in das Sumpf- und Dschungelgebiet. Als sie endlich die Plantage erreichen, finden sie Joachim erhängt in seiner Wellblech-Baracke.

Faber verlässt Hencke, fliegt weiter nach Venezuela, wo er ein Projekt zu betreuen hat, dann zurück nach New York. Um keinen längeren Aufenthalt in New York zu haben und um Ivy, seiner Freundin, von der er sich endgültig trennen möchte, aus dem Weg zu gehen, entschließt er sich, für die Überfahrt nach Europa zu einem Kongress in Paris eine Schiffsreise zu buchen, statt zu fliegen. Während der Reise lernt er Elisabeth Piper, das »Mädchen mit dem blonden Roßschwanz« (69) kennen, das er bald mit Sabeth anredet und von der er rückblickend erklärt: »Sie gefiel mir, aber ich flirtete in keiner Weise« (74). Allerdings macht er ihr in der Nacht vor der Ankunft in Le Havre, an seinem 50. Geburtstag, einen Heiratsantrag, zu dem sie jedoch nicht Stellung nimmt.

In Paris treffen sich Faber und Sabeth wieder. Sie gehen gemeinsam in die Oper und Faber bietet Sabeth an, mit ihr durch Frankreich und Italien bis zu ihrer Mutter in Griechenland zu fahren – angeblich, um sie davor zu bewahren, per Autostop reisen zu müssen. In Avignon erleben sie die »Nacht (13. V.) mit der Mondfinsternis« (124), die einen Wendepunkt in der Beziehung bedeutet. Faber rechtfertigt sich: »Jedenfalls war es das Mädchen, das in jener Nacht [...] in mein Zimmer kam –« (125). In einem Gespräch, das Faber und Sabeth bei einer Besichtigungspause am Rand der Via Appia vor den Toren Roms führen, erfährt Faber dann, dass Sabeth, also Elisabeth Piper, die Tochter von Hanna, geborene Landsberg, geschiedene Hencke, geschiedene Piper ist. Noch kann er sich nicht eingestehen, dass sie seine eigene Tochter ist, mit der Hanna schwanger war, als er sie verließ, und von deren Existenz er nichts ahnen konnte, da er annahm, Hanna habe die Schwangerschaft unterbrochen, wie es mit Joachim Hencke, dem Mediziner, abgesprochen war.

Kurz vor dem Ende der Reise, in der Nähe von Korinth, geschieht ein Unglück: Sabeth wird, während Faber im Meer badet, von einer Schlange gebissen. Als sie Faber herbeirufen will, stürzt sie von einer Mauer und bleibt ohnmächtig liegen. Faber setzt alles daran, sie möglichst schnell in ein Athener Krankenhaus zu bringen, damit sie rechtzeitig mit Serum versorgt werde. Doch Sabeth stirbt im Krankenhaus – nicht an dem Schlangenbiss, sondern an einer unentdeckten Schädelfraktur.

Im Krankenhaus treffen Hanna – jetzt Dr. Hanna Piper –, die im Krieg nach der Scheidung von Joachim zuerst nach Paris ging, dann nach England und nun in Athen am archäologischen Institut arbeitet, und Faber nach »einundzwanzig Jahre[n], genau gerechnet« (132) zusammen. Nicht nur der Tod Sabeths veranlasst sie, ihren Lebensweg und ihre Lebenskonzeption zu überdenken.

Berufliche Verpflichtungen führen Faber erneut nach New York, dann nach Caracas in Venezuela, wo endlich das Projekt abgeschlossen werden soll, für das Faber verantwortlich ist. Doch überfallen ihn in Caracas derartige Magenschmerzen, dass die Arbeiten ohne seine Aufsicht durchgeführt werden müssen und er zwei Wochen im Hotel bleibt. In dieser Zeit schreibt er den vorliegenden Bericht der »Ersten Station«, »ohne denselben zu adressieren« (170), weil er vor allem Hanna gegenüber Klarheit schaffen will, diese aber weder brieflich noch telegrafisch zu erreichen ist.

Der zweite Teil des Berichts, die »Zweite Station« (161), entsteht vom 19. Juli an im Krankenhaus in Athen. Faber wartet darauf, operiert zu werden. Es hat sich bestätigt, was sich durch Symptome längst ankündigte, dass Faber an Magenkrebs leidet. Im Krankenhaus führt er Tagebuch – handschriftlich (deshalb kursiv gedruckt) –, trifft letzte Verfügungen und trägt auf seiner Hermes-Schreibmaschine nach, wie sein Leben in den Wochen nach Sabeths Tod weiter ging: Ein kurzer Aufenthalt in Caracas verlief unbefriedigend, da er arbeitsunfähig war; ein Besuch auf der Tabakplantage bei Herbert Hencke ließ ihn die Abgeschiedenheit dieser Dschungel-Welt noch einmal spüren; aus Düsseldorf, wo er die Geschäftsleitung der Hencke-Bosch AG über die Situation auf der Plantage in Guatemala informieren wollte, floh er Hals über Kopf, als er versehentlich Filme in das Wiedergabegerät eingab, auf denen Sabeth zu sehen war.