
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Vorwort
1 Das Reformprojekt Ganztagsschule – eine Einleitung
2 Schulbezogene Reformimpulse – zeitgeschichtliche Vergewisserungen
Der Dialog Ganztagsschule
Der Dialog Bildungslandschaft
3 Der Ausbau der Ganztagsschule – ein Blick auf die Länder
Entwicklungen im Vorfeld des IZBB
Der Ausbau der Ganztagsschulen auf Länderebene
Ganztagsschule und Chancengerechtigkeit
Kooperation mit außerschulischen Partnern
Wandel durch Annäherung
Zwischenfazit
4 Der Ganztag im Spiegel der Forschung – eine Bilanz
Eine Bestandsaufnahme empirischer Befunde
Chancengerechtigkeit und Ganztag? Ein Zwischenfazit
5 Ganztagsschulen – Modelle empirischer Klassifikation
Klassifi kationen von Schulen
Methodisches Vorgehen
Befunde
Ganztagsschule als Regelschule – aber nach welchen Regeln?
6 Die Ganztagsschule der Zukunft – Erweiterungen des Bildungskonzepts
Die Ganztagsschule im kommunalen Sozialraum
Die Ganztagsschule in einem erweiterten Bildungshorizont
Literatur
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Ganztagsschule als Hoffnungsträger? Eine Bilanz in zwölf Thesen
Anhang
Vorwort
Das Potenzial der Ganztagsschule besser ausschöpfen
Vielfalt ist Normalität in unseren Klassenzimmern – nicht nur in den Grundschulen, sondern auch in den weiterführenden Schulen. Vor allem in den Großstädten steigt die Zahl der Kinder aus Zuwandererfamilien, in ländlichen Gebieten müssen Schulen unterschiedlicher Art wegen Schülermangels zusammengelegt werden, immer mehr Eltern schicken ihre Kinder – gerade in wohlhabenden Gegenden – auf das Gymnasium, und seit Inkrafttreten der UN-Konvention gehen zunehmend Kinder mit besonderem Förderbedarf auf Regelschulen.
Diese Vielfalt der kulturellen und sozialen Hintergründe, der Begabungen, aber auch der unterschiedlichen Lernausgangslagen stellen zusätzliche Anforderungen an Schule und Unterricht. Bislang gelingt es unserem Schulsystem nicht ausreichend, der zunehmend heterogenen Schülerschaft faire Bildungschancen zu bieten – der Bildungserfolg hängt nach wie vor in hohem Maße von der Herkunft ab. Das belegt, neben internationalen Schulleistungsstudien wie PISA und IGLU, auch der »Chancenspiegel« des Instituts für Schulentwicklungsforschung und der Bertelsmann Stiftung, der die Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit der deutschen Schulsysteme untersucht: Die Chance eines Akademikerkindes, ein Gymnasium zu besuchen, ist beispielsweise 4,5-mal höher im Vergleich zur Chance eines Arbeiterkindes. Angesichts dieser Bestandsaufnahmen drängt sich die Frage auf, mit welchen konkreten Maßnahmen die Schulsysteme in allen Bundesländern gerechter und gleichzeitig leistungsfähiger gestaltet werden können.
Der quantitative und qualitative Ausbau der Ganztagsschule spielt dabei eine zentrale Rolle. Seit 2003 unterstützen Bund und Länder gemeinsam den Ausbau ganztagsschulischer Angebote im Zuge des Investivprogramms »Zukunft Bildung und Betreuung«. Die Bundesregierung fördert den Aus- und Aufbau der Ganztagsinfrastruktur mit insgesamt vier Milliarden Euro. Schon diese Fördersumme ist ein Hinweis auf die großen Hoffnungen, die mit Ganztagsschulen verbunden werden: An die Ganztagsschule richtet sich die Erwartung, dass sie die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit unterstützt, zur Entwicklung von Lernkultur und pädagogischer schulischer Praxis beiträgt, Lernchancen verbessert, den Erwerb kognitiver und sozialer Fähigkeiten fördert sowie soziale Benachteiligung kompensiert.
Vor dem Hintergrund der ambitionierten Zuschreibungen und Erwartungen an Ganztagsschulen hat die Bertelsmann Stiftung das Deutsche Jugendinstitut beauftragt, das »Reformprojekt Ganztagsschule« auf den empirischen Prüfstand zu stellen. Die Studie zeigt einerseits die beeindruckende Ausbaudynamik der Ganztagsschulen in Deutschland. Sie macht aber andererseits auch die Grenzen eines Projekts deutlich, das ohne klares Leitbild und mit geringen inhaltlichen Vorgaben gestartet ist. So ist, laut der Definition der Kultusminister, eine Schule bereits dann eine Ganztagsschule, wenn sie an drei Tagen der Woche mindestens sieben Stunden unterrichtet. Daher geht die Studie vor allem der Frage nach, ob der bisherige Ganztag wirklich einen substanziellen Beitrag zu Chancengerechtigkeit leistet und herkunftsbedingte Benachteiligungen ausgleichen kann. Ich danke an dieser Stelle den engagierten Autorinnen und Autoren, Thomas Rauschenbach, Bettina Arnoldt, Christine Steiner, Heinz-Jürgen Stolz, die sich der Herausforderung einer Bilanz der Ganztagsschulentwicklung in Deutschland gestellt haben.
Empirische Befunde zur Leistungsfähigkeit der Ganztagsschulen waren bislang eher enttäuschend. So zeigt im erwähnten Chancenspiegel ein Vergleich der Kompetenzwerte von Schülern in Ganz- und Halbtagsschulen auf der Grundlage von PISA- und TIMSS-Daten keine besseren Leistungen von Ganztagsschülern. Die Studie des Deutschen Jugendinstituts macht nun deutlich, wie das Potenzial der Ganztagsschule besser ausgeschöpft werden kann. Denn der Besuch einer Ganztagsschule kann bei Schülerinnen und Schülern sehr wohl zu positiven Wirkungen führen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf erzieherische Wirkungen (Motivation, Wertorientierung, Sozialverhalten) als auch auf Leistung und Schulerfolg. Die Wirksamkeit der Ganztagsschule ist allerdings abhängig von der Qualität des Angebots und einer regelmäßigen Teilnahme. So bieten voll gebundene Ganztagsschulen prinzipiell bessere Bedingungen für eine individuelle Förderung, sind aber nicht hinreichend für eine gute und gerechte Schule. Nachdenklich stimmt im Hinblick auf Chancengerechtigkeit zudem, dass sich Ganztagsschulen bislang nicht vermehrt in sozialen Brennpunkten finden, wo der Bedarf an passgenauen Unterstützungsangeboten für benachteiligte Schüler am größten ist. Insgesamt deuten die Ergebnisse daraufhin, dass das qualitative Potenzial des Ganztags zurzeit noch nicht ausgeschöpft wird und auch Ganztagsschulen es noch nicht schaffen, Herkunft und Schulleistung zu entkoppeln.
Ziel muss es daher sein, dass alle Kinder und Jugendlichen von einem qualitativ hochwertigen Ganztagsangebot profitieren können. Allerdings ist der Weg zu dem benötigten flächendeckenden System alles andere als einfach – und auch finanziell eine Herausforderung: Der flächendeckende Betrieb von gebundenen Ganztagsschulen kostet Schätzungen zufolge bis zu zehn Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr. Beginnen muss der Ausbau darum in den sozialen Brennpunkten der Städte. Dort werden die Ganztagsschulen am dringendsten gebraucht. Mit der Zeit müssten sich die anfangs häufig unverbindlichen offenen Ganztagsschulen in – pädagogisch sinnvollere – verbindliche gebundene Angebote wandeln. Damit der quantitative und qualitative Ausbau mit dem nötigen Nachdruck passiert, brauchen wir in wenigen Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz.
Bereits zu Beginn des Ausbaus müssen die Schulen so gut sein, dass die Eltern ihre Kinder gern und freiwillig dorthin schicken – anders wird sich der kulturelle Wandel politisch nicht durchsetzen lassen. Deshalb müssen Ganztagsschulen mehr sein als Halbtagsschulen, die in den Nachmittag verlängert werden: Lernen und Erholungsphasen wechseln sich während des Tages ab, Sport und Musik sind verstärkter Teil des Curriculums, Selbstlernphasen sind genauso Bestandteil des Schulalltags wie »normaler« Unterricht. So verstandene und konzipierte Ganztagsschulen unterstützen kognitives Lernen, indem sie die intensive individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler ermöglichen und sicherstellen, dass das neu Erlernte geübt, wiederholt und verfestigt wird. Solche Ganztagsschulen bieten aber auch neue Möglichkeiten, da sie Gelegenheiten für informelles, soziales und interkulturelles Lernen eröffnen und beispielsweise Sport- und Kulturangebote bereitstellen, die Kindern aus bildungsfernen Familien sonst nicht zugänglich sind.
Eine solche Schule ist Lern- und Lebensraum für alle Kinder und Jugendlichen. Nur so bietet Schule echte Chancen für alle und leistet einen wirksamen Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit in Deutschland. Die einzelne Schule wird das allein nicht schaffen. Sie ist dabei auf die Unterstützung der Kommune und des Landes angewiesen. Wir brauchen eine Gesamtstrategie von Bund, Ländern und Kommunen, damit das Potenzial von Ganztagsschulen endlich besser ausgeschöpft werden kann. Diese Studie soll für eine solche Strategie entsprechende Anstöße geben.
Dr. Jörg Dräger
Mitglied des Vorstands
der Bertelsmann Stiftung
1 Das Reformprojekt Ganztagsschule – eine Einleitung
Im Schuljahr 2010/11 gab es in Deutschland mehr als 14.000 Schulen bzw. schulische Verwaltungseinheiten mit Ganztagsangeboten. Das entspricht einem Anteil von inzwischen über 50 Prozent an allen schulischen Verwaltungseinheiten. Im Vergleich zum Bezugsjahr 2002/03, als es noch keine 5.000 »Ganztagsschulen« gab, kommt das einem Zuwachs um 192 Prozent bzw. um mehr als 9.500 Ganztagsschulen in nur acht Jahren gleich. Setzt sich der Ausbau in den nächsten Jahren etwa im gleichen Tempo fort – und mehrere Bundesländer haben sich hier ehrgeizige Ziele gesteckt – , dürfte die Zahl der Ganztagsschulen bis Mitte des Jahrzehnts, also bis zum Schuljahr 2015/16, auf nahezu 20.000 Verwaltungseinheiten steigen. Das hieße: Rund sieben von zehn Schulen könnten in wenigen Jahren ein Schulangebot im Ganztagsbetrieb unterbreiten.
Schon dieses kleine Zahlenspiel macht deutlich: Wenige bildungspolitische Reformprojekte der letzten Jahre dürften das Bildungswesen und die Schullandschaft hierzulande – aber auch das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen – so nachhaltig verändert haben wie der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen. Deutlich leiser geworden sind die anfänglich kontroversen Debatten um die weitere Ausbreitung staatlich verantworteter Bildung, Betreuung und Erziehung, nahezu verstummt sind die zeitweilig massiv geäußerten föderalen Vorbehalte gegen eine bundeszentrale Beteiligung am Ganztagsschulausbau. Aus einer zunächst ungewissen Entwicklungsperspektive heraus hat sich Deutschland ausnahmslos in allen Bundesländern auf den Weg gemacht, die für die Bundesrepublik so prägende Halbtagsschullandschaft sukzessive mit einem flächendeckenden Ganztagsangebot zu unterfüttern.
Noch ist nicht erkennbar, welche Stellung im Bildungswesen der Ganztagsschule am Ende dieser Ausbaudynamik zukommt. Wird sie in diesem Jahrzehnt zu einem anteilsmäßig weiter wachsenden Alternativangebot, bei dem zuallererst die Nachfragenden – die Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern – entscheiden, in welchem Ausmaß diese neue Schulform in Anspruch genommen wird? Oder wird es in wenigen Jahren – ähnlich wie bei der Kindertagesbetreuung – für Kinder und ihre Eltern auch im (Grund-)Schulalter einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz geben, der die staatliche Seite in die Pflicht nimmt, für einen bedarfsdeckenden Ausbau zu sorgen? Oder aber wird die Ganztagsschule gar zu dem flächendeckenden schulischen Regelangebot schlechthin, sprich zur Normalform des schulischen Alltagslebens für alle Kinder und Jugendlichen, wie dies beispielsweise in Frankreich der Fall ist?
Alle diese Varianten sind vorerst immer noch denkbar. Zwischen einem niedrigschwelligen, freiwilligen Angebot am einen und einem verpflichtenden Ganztagsschulkonzept am anderen Ende ist die weitere Entwicklung nach wie vor ergebnisoffen, auch wenn die gegenwärtigen Rahmenbedingungen unübersehbar eine – immer mal wieder geforderte – Möglichkeit ausschließen: die kurzfristige Realisierung eines verpflichtenden Ganztagsschulkonzeptes für alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Zu dieser Sofortmaßnahme fehlen schlicht die Voraussetzungen – baulich, personell und finanziell.
Aber auch jenseits der schulorganisatorischen und finanztechnischen Hindernisse, die sich auf dem Weg zu einem flächen- wie bedarfsdeckenden Ganztagsschulangebot zumindest kurzfristig unübersehbar auftun, wird es letztlich darauf ankommen, ob sich die erhofften Vorzüge tatsächlich realisieren lassen, sprich: ob die Vorteile gegenüber den Nachteilen und unvermeidlichen Nebenwirkungen überwiegen, ob also das Reformprojekt Ganztagsschule das halten kann, was es verspricht – und was sich viele davon erhoffen. Nur dann wird es gelingen, auch die anfänglichen Skeptiker gegenüber einer weiteren Verschulung und zeitlichen Verdichtung des Kindes-und Jugendalters zu überzeugen. Ohne eine breite Zustimmung aufseiten der Eltern, ohne das Einverständnis und die Mitwirkung der Lehrkräfte und ohne eine überzeugte und überzeugende Politik wird das flächen- und bedarfsdeckende Reformprojekt Ganztagsschule nicht zu vollenden sein.
Die Ganztagsschule ist keine exklusive Erfindung der jüngeren Bildungspolitik. Dazu gibt es zu viele Vorläufer und Anschlussstellen an frühere Entwicklungen und Debatten. Trotzdem stand dieses Reformprojekt zu keinem Zeitpunkt so stark im Mittelpunkt der wissenschaftlichen, politischen und medialen Aufmerksamkeit wie in den letzten Jahren. Mehr noch: Kaum bestreitbar dürfte es sein, dass die Ganztagsschule sich inzwischen in Deutschland so stark verbreitet und etabliert hat, dass es keinen Weg mehr zurück geben wird. Die Ganztagsschule ist hierzulande unwiderruflich eine Realität im Bildungswesen geworden.
Das Augenmerk wird in den nächsten Jahren vor allem auf vier Themenkomplexe zu richten sein:
• auf die Fragen nach der zeitlichen Ausbaugeschwindigkeit und nach der politischen Ausbauentschiedenheit – in den einzelnen Gemeinden und in den Ländern ebenso wie auf der Ebene des Bundes – , also auf die Fragen nach dem (bildungs-)politischen Willen für eine Ganztagsschullandschaft;
• auf die Frage nach den sich herausbildenden Formen und Spielarten schulischer Ganztagsangebote angesichts des Umstandes, dass dieses Projekt ergebnisoffen ist, da zu Beginn der Ausbauphase keine einheitlichen Leitziele und keine verbindlichen Leitbilder für die bundesdeutsche Ganztagsschullandschaft vorgegeben wurden;
• auf die Frage, in welchem Verhältnis die Ganztagsschulentwicklung zu den zeitgleichen Bemühungen um eine vernetzte Bildung steht – wie sie etwa bei den Themen »Lernen vor Ort« oder »lokale Bildungslandschaften« sichtbar wird – , und in welcher Weise sie die Impulse um ein erweitertes Bildungsverständnis in sich aufnimmt, mit dem das Bildungswesen in neuer, zeitgemäßer Weise auf die Herausforderungen des Aufwachsens im 21. Jahrhundert vorbereitet werden soll;
• auf die Frage, ob es im Rahmen ganztägiger Angebote besser und nachhaltiger gelingt, alle Heranwachsenden trotz einer größeren Heterogenität individuell zu fördern sowie die herkunftsbedingten Disparitäten abzumildern und in diesem Zuge vor allem den bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen mehr Chancengerechtigkeit zu eröffnen.
Damit sind wesentliche Zukunftsthemen des Reformprojekts Ganztagsschule abgesteckt: Ausbaudynamik, Profilbildung, Vernetzung und Horizonterweiterung sowie verbesserte Chancengerechtigkeit. Jedes dieser Themen ist eine eigene Betrachtung wert.
Die Ganztagsschule ist kein solitäres bildungs- und gesellschaftspolitisches Entwicklungsprojekt. Vielmehr muss es als Bestandteil und Ausdruck von übergreifenden und umfassenderen Reformbestrebungen im Bildungs-, Sozial- und Erziehungswesen verstanden werden, die derzeit hierzulande zu beobachten sind. Nicht ohne Grund hat die Bundeskanzlerin vor wenigen Jahren die »Bildungsrepublik Deutschland« ausgerufen, hat die Bundesregierung ein milliardenschweres Programm »Aufstieg durch Bildung« aufgelegt. Selbst wenn man den angepeilten Erfolg bislang noch für überschaubar halten mag, sind derartige Aktivitäten starke Signale für einen größeren Reformbedarf und für umfassende Reformvorhaben rund um das Thema »Bildung«.
Bildungsrelevante Reformprojekte sind in diesem Zusammenhang daher auf allen Ebenen zu konstatieren, seien es die vielfältigen Aktivitäten rund um die frühkindliche Bildung und das damit einhergehende »U3-Ausbauprojekt« – der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Ein- und Zweijährige ab 2013 – , seien es die schulinternen Reformen im Kontext der Transformation der Hauptschulen und der Schulzeitverkürzung durch die G8-Gymnasien, seien es die – weniger deutlich gebündelten – Bemühungen, die Folgen der ersten Schwelle am Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung abzumildern, oder seien es schließlich die keineswegs unumstrittenen Bologna-Reformen im Hochschulwesen. Sie alle zeigen, dass Bildung längst zu einer politischen Schlüsselfrage, zu einem weichenstellenden Themenfeld mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit des Landes geworden ist. Und in diesen weiteren Kontext muss auch der Auf- und Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland gestellt werden.
Allerdings gibt es im Unterschied zu den anderen Reformbaustellen in Sachen Bildung einen auffälligen Unterschied: Das Projekt Ganztagsschule, der Auf- und Ausbau einer deutschlandweiten Ganztagsschullandschaft, wurde deutlich weniger als die anderen laufenden Vorhaben von einer dezidiert bildungspolitischen Begründung, von einer grundlegenden Weichenstellung getragen. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Bund sein Ganztagsschulprogramm just in einer Hochphase der Kontroversen um eine Entflechtung föderalistischer Verstrickungen von Bund und Ländern auflegte, das im Kräftespiel zwischen diesen Ebenen zu einer fast schon stilisierten kategorischen Ablehnung jedweder inhaltlicher Ambitionen des Bundes aufseiten der Länder führte. Da die Bundesländer selbst jedoch nicht auf die zugesagten Mittel des Bundes für den Auf- und Ausbau verzichten wollten, wurde das Reformvorhaben Ganztagsschule in Deutschland einigermaßen überstürzt, jedenfalls nicht als Ergebnis einer Grundsatzdebatte über Sinn und Ziele der Einführung ganztägiger Schulangebote auf den Weg gebracht.
Diese offene Ausgangskonstellation prägt bis heute den öffentlichen, fachlichen und politischen Umgang mit dem Ganztag als einem bildungspolitisch folgenreichen Thema. Die Ganztagsschule umgibt immer noch eine Art konzeptionelles Vakuum. Dies beschwört unweigerlich eine nachholende Modernisierung, eine nachträgliche Zweck- und Zielbestimmung des Reformprojektes herauf. Vorerst, so drängt sich der Eindruck auf, gleicht der Ganztagsschulausbau – in seiner Gesamtentwicklung – einer Reise in die Zukunft ohne klares Ziel, zumindest mit einem nicht hinreichend geklärten Ziel.
Die vorliegende Expertise wurde im Auftrag der Bertelsmann Stiftung von einer kleinen Arbeitsgruppe am Deutschen Jugendinstitut – teils unterstützt von weiteren Personen – verantwortlich angefertigt. Ziel der Studie war der Versuch, die aktuelle Lage der Ganztagsschulen im Licht der jüngeren Forschungsergebnisse unter zwei erkenntnisleitenden Gesichtspunkten zu bilanzieren: zum einen der Frage, ob sich in einer pluralen und wenig vorstrukturierten Ganztagsschullandschaft unterscheidbare Muster und Typen, gewissermaßen distinkte Ganztagsschulprofile abzeichnen oder herausbilden; zum anderen der Frage, inwieweit Ganztagsschulen zu mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem beitragen. Zu beiden Themen hoffen wir weiterführende Hinweise liefern zu können.
2 Schulbezogene Reformimpulse – zeitgeschichtliche Vergewisserungen
Nicht zuletzt haben die als enttäuschend empfundenen PISA-Befunde für Deutschland der Ganztagsschulentwicklung in der vergangenen Dekade neuen Auftrieb verliehen (vgl. BMBF 2004: 1). Das vom Bund im Jahr 2003 aufgelegte Investitionsprogramm »Zukunft Bildung und Betreuung« (IZBB) (vgl. BMBF 2003; 2009) sowie die begleitenden Programme der Bundesländer zum Ausbau von Ganztagsschulen führten dazu, dass inzwischen jede zweite allgemeinbildende schulische Verwaltungseinheit ein Ganztagsangebot vorhält (vgl. KMK 2012: 9). 1 Dieser ausgesprochen rasche Auf- und Ausbau wird mit einer Vielzahl gesellschaftspolitischer Ziele und Hoffnungen in Verbindung gebracht: Man denke nur an die Zieldimensionen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Forderung nach einer verbesserten Ausbildungsfähigkeit von Schulabgängerinnen und Schulabgängern (Stichwort: Fachkräftemangel) oder an das immer wieder genannte Leitziel der Gewährleistung einer chancengerechteren Bildung.2 Zudem verbindet sich der Ausbau mit der Einbeziehung einer Vielzahl institutioneller Kooperationspartner sowie einem multiprofessionell zusammengesetzten Spektrum an pädagogisch tätigem Personal.
Der schnelle Ausbau, die Unterschiedlichkeit der damit verbundenen gesellschafts- und bildungspolitischen Ziele sowie die interinstitutionelle und multiprofessionelle Erweiterung des Aufgabenzuschnitts der einbezogenen Schulen führten vor dem Hintergrund der föderalen Struktur des deutschen Schulsystems zu vielfältigen Entwicklungssträngen und Motivbündeln, deren Eigendynamik sich kaum noch auf den Anlass des »PISA-Schocks« zurückbeziehen lässt. So hätten es die diagnostizierten Kompetenzdefizite – vordergründig betrachtet – nahegelegt, die im Ganztag zur Verfügung stehende »Zeit für mehr« (BMBF 2004) primär zur Umsetzung einer unterrichtsnahen und im engeren Sinne kompetenzorientierten individuellen Förderung einzusetzen. Eine solche Entwicklung ist aber bis heute nicht zu beobachten.
Umgekehrt blieb auch die Hoffnung, eine alternative, bundeseinheitliche Entwicklungslinie auf Basis eines erweiterten Bildungsverständnisses durchzusetzen, bislang ohne durchschlagenden Erfolg (vgl. BMFSFJ 2005). Dabei legte das Bundesministerium für Bildung und Forschung zu Beginn folgende Kriterien des Ganztagsschulausbaus fest, auf die Schulen bei der Beantragung von IZBB-Fördermitteln eingehen sollten (BMBF 2003: 6):
• individuelle Förderung durch Umsetzung einer »Pädagogik der Vielfalt«
• eine vom 45-Minuten-Takt gelöste und pädagogisch veränderte Unterrichts- und Lernkultur
• soziales Lernen
• Partizipation
• Öffnung von Schule
• kreative Freizeitgestaltung
• Qualifizierung des multiprofessionell zusammengesetzten Personals
Allerdings findet sich in der IZBB-Verwaltungsvereinbarung (vgl. BMBF 2003) von alledem nichts mehr – eine Bund-Länder-Vereinbarung zu Qualitätsstandards im Ganztag wurde letzten Endes aus föderal unvereinbaren Standpunkten nicht getroffen. Ganztagsschulen sollten sich, so eine implizite Maxime, zuerst vor Ort dynamisch entwickeln; eine bundeszentrale Zielvorgabe erschien den Ländern nicht akzeptabel.
In dieser von Pluralität und dezentraler Offenheit gleichermaßen geprägten Gesamtkonstellation empfiehlt sich eine zeitgeschichtliche Vergewisserung, die zugleich die in den vergangenen beiden Dekaden zu beobachtenden bildungsprogrammatischen Erweiterungen mit im Blick hat, die beispielsweise in Leitformeln wie »Bildung ist mehr als Schule« (vgl. BJK et al. 2002), »Lokale Bildungslandschaften« (vgl. BMFSFJ 2005: 535), »Lebenslanges Lernen« (vgl. EU-Kommission 2000) oder »Ganztagsbildung« (vgl. Otto und Coelen 2004; Coelen und Otto 2008) zum Ausdruck kommen.
Obwohl Kooperation und Vernetzung in der Ganztagsschulentwicklung wie auch in den Debatten um Bildungslandschaften eine zentrale Rolle spielen, hat sich die Ganztagsschule in Deutschland historisch in einer erstaunlichen Distanz zu den eher sozialraumbezogenen Diskussionen um die Bildungslandschaften entwickelt. Daher nehmen die Debatten im Umfeld der Ganztagsschule die Fragen der Kooperation und Vernetzung auch sehr selbstbezüglich auf, verorten Schule also weniger als einen abhängigen Bestandteil einer breiter zu fassenden Bildungslandschaft, sondern thematisieren die Funktion von Kooperationspartnern und -beziehungen vor allem schulimmanent im Kontext von Schulentwicklung.
Dadurch entsteht zwischen diesen beiden Welten eine eigentümliche Sprachlosigkeit: Während vor allem Kommunen und außerschulische Bildungspartner fragen, welche Funktion Schule als wichtiger Lern- und Lebensort in der lokalen Bildungslandschaft ausfüllen kann, fragt die Schule, wie sie eine Öffnung zum Sozialraum und zu anderen Bildungsanbietern bei der Erfüllung ihres gesellschaftlichen Bildungsauftrags unterstützen kann. Man ist versucht, diese Perspektivendifferenz als eine Art wechselseitige Ausblendung zu verstehen: Obgleich es sich hier um komplementäre, keineswegs widersprüchliche Orientierungen handelt, wird bislang immer nur eine Seite in den Blick gerückt – um den Preis der temporären Vernachlässigung der jeweils anderen Seite. Darin spiegelt sich auch ein gewisses Spannungsfeld zwischen einer eher institutionszentrierten und damit schulbezogenen Perspektive sowie einer stärker subjekt- und damit lebensweltbezogenen Sichtweise. Beide Zugänge sollen im Folgenden zeitgeschichtlich knapp eingeordnet werden: zum einen mit Blick auf ein eher reformpädagogisches Verständnis, zum anderen mit einem Akzent auf die Debatte um »Bildungslandschaften«.
Der Dialog Ganztagsschule
Die für Deutschland charakteristische halbtägige Unterrichtsschule setzte sich erst ab Ende des 19. Jahrhunderts durch. Bis dahin war der ganztägige Unterricht in einer »Schule mit geteilter Unterrichtszeit« üblich (Ludwig 2003: 26). Für den Übergang zur Halbtagsschule wurde neben der »Rücksichtnahme auf die damals noch verbreitete Kinderarbeit in Landwirtschaft und Gewerbe« (ebd.) auch die ärztliche »Überbürdungsklage« (ebd.), das heißt der Verweis auf die Überlastung der Kinder und Jugendlichen, als Motiv genannt.
In den USA hielt man unter vergleichbaren industriegesellschaftlichen Herausforderungen hingegen nicht nur an der Ganztagsschule fest, sondern integrierte überdies sozialerzieherische, musische und bewegungserzieherische Elemente als »co-curricular-activities«. John Dewey und andere entfalteten das Paradigma der »Community Education« (vgl. Buhren 1997), also der Theorie und Praxis der Ganztagsschule als einem kulturellen Zentrum des Gemeinwesens auf Basis eines demokratisch-pädagogischen Verständnisses.
Nicht nur die staatliche, halbtägig organisierte Unterrichtsschule entwickelte sich dann in einer eher wachsenden Distanz zum kommunalen Gemeinwesen – auch die reformpädagogisch orientierte deutsche Ganztagsschulbewegung blieb letzten Endes ohne sozialräumliche Fundierung. So waren die vor allem von den oberen sozialen Klassen genutzten Landerziehungsheime Internatsschulen in naturnaher ländlicher Umgebung, deren pädagogische Konzepte sozialerzieherische wie auch vielfältige kulturelle Elemente sowie eine Unterrichtsrhythmisierung beinhalteten. Sie basierten eher auf einem zivilisations- und industrialisierungskritischen Impuls, der die urbanen Realitäten mit Skepsis betrachtete. Zwar existierte mit der Arbeitsschulbewegung hierzu eine quasi urbane Alternative, die den sozialkompensatorischen Aspekt des Ganztags hervorhob und Ansätze einer »Großstadtpädagogik« (Tews) integrierte (vgl. Ludwig 2003: 33 f.). Ebenso wurde mit dem Konzept der »Tageswaldschulen« eine bessere Verknüpfung von alltäglicher Lebensführung und dem reformpädagogisch intendierten schulischen Gemeinschaftsleben angestrebt. Gleichwohl etablierte die deutsche Ganztagsschule eine ganz eigene Spielart der für das gesamte deutsche Schulsystem charakteristischen Distanz zu den sozialen Herkunftsmilieus ihrer Schülerinnen und Schüler sowie zum sozialräumlichen Umfeld.
Der reformpädagogische Bezug zur Familie stellte und stellt sich schulischerseits dabei widersprüchlich dar: Zum einen finden sich Ansätze einer »Pädagogisierung der Eltern« (Scholz und Reh 2009: 159), deren erzieherische Kompetenz eher defizitorientiert thematisiert wurde und wird; zum anderen galt und gilt die entdifferenzierende »Familialisierung des schulischen (Gemeinschafts)Lebens« (ebd.) als schulentwicklerisches Leitbild, das in kritischer Distanz zur »›Künstlichkeit‹ systematischen Unterrichts als des Kerngeschäfts der Schule« (ebd.: 173) ideologisch positioniert wurde und immer noch wird.
Bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme hatte die Ganztagsschulbewegung in ihren verschiedenen Varianten bereits »zentrale Strukturelemente für eine moderne Ganztagsschule« (Ludwig 2003: 36) zusammengetragen: »Mittagsmahlzeit und Freizeitangebote; Arbeitsgemeinschaften und Neigungsgruppen; Förderunterricht; Integration der Hausaufgaben in die Schule; neue Unterrichtsformen (›Offene‹ Unterrichtsgestaltung, Gruppenarbeit, Projekte); flexible Stundenplangestaltung und Rhythmisierung; enge Kooperation mit Eltern; Intensivierung des Schullebens; Ausgestaltung als Lebensraum; Öffnung der Schule zum ›Leben‹; Ausbau des schulischen Beratungswesens; mehr Gelegenheit für Schüleraktivitäten; Wandlungen der Lehrerrolle« (ebd.: 33 f.).
Im Nationalsozialismus mussten mit Ausnahme der Jena-Plan-Pädagogik Petersens alle Ganztagsschulexperimente eingestellt werden. In der Nachkriegszeit entstand dann eine »Skepsis gegen jede Form der Einheits- und Gemeinschaftserziehung« (Hagemann und Mattes 2008: 9), welche in der Folge auch mit der Ganztagsschule assoziiert wurde (vgl. Appel 2011). Die von den Westalliierten vorgeschlagene »comprehensive school« wurde ebenso abgelehnt. Stattdessen wurde am mehrgliedrigen Sekundarstufensystem festgehalten (ebd.). Die ideologische Abgrenzung gegenüber der DDR spielte eine wichtige Rolle. Dennoch nahmen ab 1956 erste »Tagesheimschulen« ihre Arbeit auf, wobei der sozialerzieherische Aspekt und der Benachteiligtenfokus ins Auge fallen.
Ipfling und Lorenz weisen in kritischer Absicht auf eine wichtige Schieflage hin, die die Ganztagsschulentwicklung hierzulande bis in die jüngste Vergangenheit begleitet: »Bis heute fehlt es noch an einer ernstzunehmenden Einbeziehung der GTS in eine umfassende Theorie der Schule, die aufzeigt, dass die GTS manche erzieherischen und bildungspolitischen Aufgaben aufgrund ihrer pädagogischen und organisatorischen Struktur besser lösen kann als die z.Z. bestehenden HTS« (Ipfling und Lorenz 1979: 11 f.).
Als bedeutenden fachpolitischen Versuch, dies zu ändern, lassen sich die Empfehlungen zur »Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen« des Deutschen Bildungsrats (1968) lesen. Individuelle Förderung, musisch-kulturelle Bildung, soziales Lernen, Partizipation von Schülern und Eltern sowie Beratung wurden als Strukturelemente aufgeführt und das Potenzial für sozialschichtübergreifende Kommunikation sowie für unverplante Aktivitäten hervorgehoben, ungleiche Bildungschancen sollten kompensiert werden (vgl. Deutscher Bildungsrat 1968: 13 ff.). Die Aktivitäten des Deutschen Bildungsrats können als Ausgangspunkt für eine Reihe von bis auf den heutigen Tag andauernden Initiativen zur Modernisierung des deutschen Schulsystems verstanden werden, wobei auch das Strukturelement Ganztag konzeptionell und fachpolitisch neu verortet wurde.
Als weitere wichtige programmatische Meilensteine sind die Denkschrift der Bildungskommission Nordrhein-Westfalen »Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft« (vgl. Bildungskommission NRW 1995) sowie die Ergebnisse des Forums Bildung (2001) zu nennen. Sie stehen exemplarisch für eine politisch-konzeptionelle Neuverortung des Themas »Ganztag«, mit der nicht zuletzt auch eine starke Betonung der nah- und sozialräumlichen Lokalisierung und Vernetzung von Ganztagsschulen verbunden ist und somit die konstatierte Fremdheitsbeziehung zwischen Ganztagsschule und sozialem Umfeld mehr und mehr zum Problem wird. Die fachpolitischkonzeptionell mit dem Begriff der »lokalen Bildungslandschaft« (vgl. Lohre et al. 2006) verbundene Vernetzungsperspektive ist durch ein partizipativ-konsensorientiertes Steuerungsverständnis charakterisiert, das sozialwissenschaftlich als »Local Governance« (vgl. Schwalb und Walk 2007), »Regional Governance« (vgl. Fürst 2007) und »Educational Governance« (vgl. Altrichter, Brüsemeister und Wissinger 2007) analysiert wird.
Wie im Folgenden zu zeigen ist, nimmt der Diskurs um die Gestaltung lokaler Bildungslandschaften Ganztagsschulen zwar als wichtiges Strukturelement konzeptionell auf, verdankt sich aber völlig anderen Einflüssen und steht derzeit noch relativ unverbunden neben Ganztagsschuldiskurs und Ganztagsschulbegleitforschung.
Der Dialog Bildungslandschaft
Die Spurensuche nach den fachpolitischen Wurzeln der mit dem Terminus »lokale Bildungslandschaft« benannten Perspektive der Schaffung eines örtlich vernetzten »Gesamtzusammenhangs von Bildung, Erziehung und Betreuung« (vgl. JMK und KMK 2004) reicht bis zu dem 1988 in Nordrhein-Westfalen gestarteten Initiativprogramm »Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule« zurück (zur detaillierten Rekonstruktion des Bildungslandschaftsdiskurses vgl. Weiß 2011).