Das Schwert des Ostens

Manfred Rebhandl

DAS SCHWERT DES OSTENS

Manfred Rebhandl

DAS SCHWERT DES OSTENS

Czernin Verlag, Wien

Für meine Tochter

Rebhandl, Manfred: Das Schwert des Ostens / Manfred Rebhandl
Wien: Czernin Verlag 2012
ISBN: 978-3-7076-0404-7

© 2012 Czernin Verlags GmbH, Wien
Lektorat: Eva Steffen
Umschlaggestaltung: Bernd Püribauer
Produktion:
ISBN E-book: 978-3-7076-0404-7
ISBN Print: 978-3-7076-0403-0

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

* * *

Ich hatte seit einer halben Ewigkeit eine Hausfrau am Ohr, die sich mit Meinungsforschung über Wasser hielt und mich mit der Frage löcherte, ob mir die neue Gosse jetzt gefalle oder nicht. Die Sache war nämlich die, dass die neue Gosse seit ein paar Monaten versuchte, dem alten Schlachtschiff Posse den Rang abzulaufen. Ich aber war in solchen Dingen immer recht unschlüssig und hatte mich noch für keine der beiden Schlampen entschieden, also fragte mich die Lady schneidig: „Na, was ist jetzt?“

Ich lag in der Wanne und ließ kaltes Wasser einlaufen, und während ich mir einen hinter den Zaun kippte, überlegte ich hin und her, wog ab und prüfte das Für und Wider, bevor ich sie endlich wissen ließ: „Die Posse ist vielleicht besser, wenn man den toten, stinkenden Fisch darin einwickeln möchte, bevor man ihn in den Kübel schmeißt. Andererseits hat die Gosse die Nase vorne, wenn man sich am stillen Örtchen ein kleines Depot anlegen möchte – für die Tage der Not, wenn Vati mal kein Flauschi zuhause hat. Also ich weiß nicht so recht.“

Sie sagte: „Sehr witzig!“, und legte auf.

Ich genehmigte mir einen weiteren Russenschnaps mit Eis, das ich aus dem Kübel nahm, der neben der Badewanne stand, und in dem Kübel selbst stand die Flasche. Ich hatte die Reparatur meines gewaltigen Brummschädels perfekt organisiert, was auch nötig war, nachdem ich gestern noch auf einen Sprung bei Happiness oben im Pink Flamingo vorbeigeschaut hatte. Es dauerte immer ein Weilchen, bis sie endlich fertig war, und die Zeit bis dahin hatte ich mir gewohnheitsmäßig mit einer Flasche „Wodka geht aufs Haus“ vertrödelt. Um halb vier Uhr früh war es dann endlich so weit, die Mumme tat ihr weh und der Arsch auch, nachdem sie den letzten türkischen Spinner nach Hause geschickt hatte, der noch ein paar Jährchen auf die versprochene Ostanatolierin warten musste und sich die Zeit bis dahin mit Happi vertrieb. Sie hatte sich in letzter Zeit schon öfter darüber beklagt, dass die Gehänge bei den Türken in der Jogginghose immer größer wurden – „Richtige Schwerter haben die!“ –, was ich ihr aber nicht recht glauben wollte, dagegen sträubte sich schlicht alles in mir. Wenn es um die Größe vom Gehänge ging, dann war auch ich irgendwie immer schnell beleidigt, oder anders gesagt: Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein anderer einen Größeren hatte als ich! Zwar hatte Happiness dann noch versucht, den Abend zu retten, indem sie „Aber so wie du gebaut bist, ist es doch genau richtig, Rocky!“ sagte. Aber da war es natürlich längst zu spät, und es waren irgendwie auch nicht die richtigen Worte. „Sag bitte nicht Rocky zu mir. Ich heiße Rock wie der Felsen und nicht Rocky wie das Felschen. Aber das weißt du doch, nicht wahr?“

Ich legte mir ein paar von den Eiswürfeln auf den Scheitel, dann schüttete ich den Rest einfach ins Wasser, es war nämlich verdammt heiß in diesen Tagen. Der Brunnenmarkt vor meinen Fenstern war längst zum Leben erwacht, die Abdullahs priesen ihre Waren an und schnitten ihr Kebab. Nur ich lag noch immer untätig in der Wanne herum, als plötzlich die Schelle läutete, ich drückte auf Grün und sagte: „Rock Rockenschaub löst auf alle Fälle alle Fälle, was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin’s, Willi!“

Es war Willi das Schwein, dem oben am Gürtel Dirty Willi’s Swedish Pornhouse gehörte. Er klang ganz schön durch den Wind, als er sagte: „Rock, du kommst doch heute Abend?“

Es kam mir irgendwie gleich komisch vor, dass er mich das fragte, schließlich arbeitete ich für ihn, und er hatte für heute Abend Jack schleckt auf! ins Programm genommen, Jacks Porno-Klassiker aus den späten 80er-Jahren, der im Rasentennis-Milieu spielte. Zu einer Zeit also, als ein Waldschrat wie Guillermo Vilas als gutaussehend durchging und Körperbehaarung nicht modern, sondern normal war, und zwar auch bei den Mädels.

Ich hatte den Schinken sicher schon hundertmal gesehen, aber mir ging immer noch einer in die Hose, sobald Willi die Lichter in seiner stinkenden Bude ausmachte und man die Nummer eins der Weltrangliste auf der Leinwand sah – ein heißes Törtchen, das in seinem kurzen Tennisröckchen samt Rüschen dran auf einem Hotelbett saß und sich die Hornhaut feilte, während es mit Superschnüffler Jack Schleck telefonierte: „Jack, mein Trainer, Manager und Ehemann in Personalunion betrügt mich mit der Nummer 69 der Weltrangliste, das tut so weh!“ Jack war Privatdetektiv und auf Eifersuchts- und Scheidungsdelikte spezialisiert. Er saß in seinem Büro am Cielo Drive, L.A. und hatte die spitzen Schuhe am Schreibtisch, seine gewaltige Zunge war noch nicht ganz auf Betriebstemperatur, als er ihr mit seinem typischen Jack-Schleck-Lispeln sagte: „Ich bin gleich bei Ihnen, Herzliebchen.“ Als er dann an ihrer Hoteltüre läutete, trug Herzliebchen nicht einmal mehr das kurze Röckchen, das sie noch vorhin getragen hatte, das war ja jetzt in der Wäsche. Stattdessen schützte sie eine gewisse Verspanntheit im Gesäßbereich vor, und sie fragte Jack, ob er sie nicht mal netterweise genau dort für ein paar kurze Minuten massieren könnte, bevor sie das Geschäftliche regelten, sie musste ja am Abend noch das Finale spielen. Jack ließ sich natürlich nicht zweimal bitten, und bald hatte er nicht nur seine Hände dort, wo die Freude wohnt, sondern auch seinen flinken Lappen mittendrin im saftigen Faltenmeer, und die kleine Lady stöhnte wie die frühe Monica Seles, wenn sie die beidhändige Rückhand schlug. Ein guter Anfang für einen guten Film jedenfalls! Und da fragte er mich, ob ich heute Abend komme?

Ich sagte: „Willi, du weißt doch genau, dass ich kommen werde, also warum rufst du mich an? Möchtest du mit mir reden?“

Es dauerte ein Weilchen, während dem ich Willi am anderen Ende der Leitung schwer atmen und einige Male tief seufzen hörte, dann sagte er: „Ach weißt du, Rock, ich bin ein bisschen trübe in letzter Zeit. Ich fühle mich schlapp und wertlos, ich spüre Druck auf der Brust und traue mich nicht einmal mehr zum Zigarettenkaufen auf die Straße.“

Es ist nie schön, wenn man Freunde am absteigenden Ast sieht, aber bei Willi dem Schwein hatte die Sache etwas Bitteres. Ein Leben als Gürtelkaiser ist nämlich nur erstrebenswert, solange man jung ist, enge Hosen trägt und das Blei, das einem um die Ohren fliegt, mit den Jackettkronen auffängt. Wenn man aber langsam älter wird und sich die Beißerchen eines nach dem anderen verabschieden, wenn sich die Hämorrhoiden melden und einen Briefe der Pensionistenresidenz Goldene Eichel erreichen, die einem ein freies Plätzchen anbieten, dann sieht man als Gürtelkaiser schnell ein bisschen lächerlich aus, und zwar lächerlicher als jeder andere alte Mann, der ständig aufs Klo rennen muss und mit 70 noch ein geflochtenes Zöpfchen trägt, das ihm bis zum Arsch hinunterhängt.

Angst hatte schon lange keiner mehr vor Willi, und Respekt war den ganzen zugelaufenen Albanern, die sich am Gürtel überall breitmachten und die alten Platzhirsche verdrängten, sowieso ein Fremdwort. Aber es gab noch ein anderes Problem, mit dem Willi sich herumschlagen musste, also sagte ich: „Das riecht mir verdammt nach angeschissenen Windeln. Ist es vielleicht wegen der späten Mütter mit ihren Sacktitten, die jetzt überall ihre im Windkanal getesteten Kinderwägen durch die Gegend schieben und dir wegen deinem Swedish Pornhouse das Leben zur Hölle machen?“

Es gab nichts, was einem alternden Pornokönig mehr zusetzen konnte als diese fanatischen Mütter! Ich bot ihm also an, dass ich ein paar von denen mal die Ohren langziehen würde, aber Willi sagte nur: „Lass lieber, Rock. Es genügt, wenn du heute Abend Lemmy mitbringst. Und sag ihm bitte, er soll die Tabletten mitnehmen. Aber nicht das Zeug für kleine Mädchen, sondern das für Fernfahrer und Bomberpiloten.“

Als Willi mit seinen Pornos anfing, da wurden die Filme noch auf Celluloid gedreht, und es gab noch so nützliche Dinge wie Festnetzanschluss und Anrufbeantworter. Damals war aber auch unser Viertel noch überschaubar und klar strukturiert – es gab arme Türken, arme Einheimische, arme Sexfreaks, arme Süchtige, arme Alte und arme Junge, und drumherum jede Menge Dreck und Scheiße, aber keinen, der sich darüber groß aufregte. Heute aber war die Gegend um den Brunnenmarkt ganz schön im Wandel begriffen. Man konnte nicht mehr schnell genug seinen Tank leer fahren, schon hatte wieder irgendwo eine Sauerkrautbude zugemacht und stattdessen irgendein schickes Restaurant eröffnet, in dem man reservieren musste, bevor man Sachen wie „Trockener Riesling“ trinken und „Gedünsteter Fisch“ essen durfte. Ich meine: Fisch!

Immer mehr Neureiche zogen hierher, darunter viele mit Kindern, die sich gewaltige Sorgen um ihre Brut machten. Die kleinen Noahs und Anna-Sophies sollten unter keinen Umständen in einer Welt aufwachsen, in der es etwas so Schmutziges wie das Swedish Pornhouse gab. Lieber sollten die Gehsteige rosa gestrichen und mit Zuckerwatte ausgekleidet werden, damit den Kleinen nichts passieren konnte. Der arme Willi hatte in letzter Zeit immer wieder Briefe und Anrufe erhalten, in denen man ihm mit allem Möglichen drohte, sollte er seinen Schandfleck, wie man sein Kino in Mütterkreisen nannte, nicht endlich zusperren. Auch angeschissene Windeln waren ihm schon vor die Tür gelegt worden, als kleiner dezenter Hinweis darauf, dass sich die Zeiten hier langsam, aber sicher änderten. Ich dachte: Wenn sich nun also schon Willi in die Hosen schiss, dann standen vielleicht wirklich gravierende Veränderungen ins Haus. Aber mussten es deswegen gleich die Tabletten von Lemmy sein?

* * *

Es gibt Orte, an denen der gesunde Mann lieber alleine bleibt, und Dirty Willi’s Swedish Pornhouse war definitiv so einer. Ich hatte daher gar keine rechte Freude, dass ich Lemmy mitnehmen sollte. Er war zwar mein Quartiergeber und bester Kumpel, aber er war auch hektisch und nervös, und wenn sich die Frauchens auszogen, dann wurde er immer noch hektischer und nervöser. Er hüpfte dann auf seinem schmalen Arsch auf und ab, und sobald im Kino die Lichter ausgingen, lehnte er sich vor und zurück und raufte sich die Haare, als habe er ein größeres Rätsel zu lösen. Aber am peinlichsten war natürlich immer, wenn er „Das kann ich auch!“ schrie, sobald Jack Schleck eine gelungen Aktion an einer der Ladys ausführte und sie zum Erzittern brachte. Lemmy klang dann immer wie Tante Frieda beim Hausfrauenkränzchen, wenn sie „Gulasch mit Nudeln kann ich auch!“ schrie.

Es war einfach nur peinlich.

Trotz aller Abstriche, die man in einem Pornokino natürlich machen musste, legte Willi das Schwein großen Wert auf eine gewisse Qualität seiner Kunden. Und Lemmy fiel zu Beginn seiner Karriere im Swedish Pornhouse nicht nur deshalb negativ auf, weil er ständig „Das kann ich auch!“ schrie, sondern vor allem, weil er selbst für Pornokino-Verhältnisse ganz außerordentlich stank. Also bat mich Willi eines Tages, dass ich mir den Kerl in Reihe zehn mal genauer anschauen sollte, und kaum hatte ich mich hinter ihn gesetzt, war mir schon klar, woher der schneidige Wind wehte: Es war Lemmys Fransen-Lederjacke Marke Neverwithoutme, die nach feuchtem Keller und Rauchwaren stank und von den Bieren tausender Konzertschlägereien imprägniert war, weil er sie seit geschätzten vierzig Jahren Tag und Nacht trug. Ich berichtete Willi davon, und der sagte: „Hol das Schwein da raus, er stört das Geschäft!“

Und das wollte verdammt noch mal was heißen, wenn man in einem Pornokino das Geschäft störte!

Ich ging also wieder rein, tippte dem Stinker sachte auf die Schulter und bat ihn, den leisen Abgang zu machen. Aber Willis Projektor warf gerade Jack schleckt zurück! auf die Leinwand, Jacks Polit-Klassiker aus den Zeiten des Kalten Krieges, in dem er von einer eiskalten russische Spionin unter einem fadenscheinigen Vorwand in das Reich des russischen Bären gelockt wird: „Sind Sie der weltberühmte Jack Schleck?“, fragte sie ihn über das rote Telefon. „Hören Sie bitte zu: Mein rotes Höschen klemmt ein bisschen in der Pofalte, können Sie nicht mal rüberkommen und mir helfen?“ Sie meinte echt „nach Moskau rüberkommen“, und es war natürlich eine verdammte Falle! Aber schon eine Minute später landete Jack am Roten Platz, setzte die Breschnjew-Mütze ab und rückte der Fallenstellerin im Hotel Moskwa das rote Höschen mit seiner Zunge zurecht, bis eine Horde KGB-Leute über ihn herfiel und ihn in ein versautes Gefängnis irgendwo in Sibirien steckte, wo er Informationen über den Feind liefern sollte. Aber Jack konnte mit seiner gewaltigen Zunge nur ganz schlecht reden, schon gar nicht auf Russisch! Also hatten sie sich leider den Falschen ausgesucht, und so ließen sie ihn mit den strengen, aber leckeren Wärterinnen im Gulag alleine, was dann den Hauptteil des Filmes ausmachte, bis sie am Schluss einen lieblosen Gefangenenaustausch mit dem FBI organisierten und Jack seine Zunge wieder im freien Westen schwingen konnte. Ein Film aus seiner etwas schwächeren politischen Phase, der Lemmy aber trotzdem sehr gut gefiel, weil er selbst ein durch und durch politischer Mensch war. Also klammerte er sich mit seinen dürren Fingerchen an die Lehne seines Vordermanns und wollte unter keinen Umständen freiwillig mitkommen, sodass ich ihm entgegen dem ursprünglichen Plan schon im Kino eine über die Rübe ziehen und ihn wie einen Sack hinauf zu Willi ins Büro schleppen musste.

Als er dort endlich wieder zu sich kam, wollte Willi ihm persönlich das Hausverbot aussprechen, bevor ich ihn aus dem Fenster werfen sollte. Aber Lemmy schiss sich dabei vor Angst fast in die Hosen und bettelte wie ein altes Waschweib, dass er doch bitte vorher seine Tabletten nehmen dürfe, denn dann würde er leichter sterben. Und da sagte Willi auf einmal: „Moment mal, was denn für verdammte Scheiß-Tabletten?“

Lemmy öffnete seine Lederjacke, und da sahen wir, dass die nichts anderes als eine Art Bauchladen war, mit dem er durch die Gegend lief wie ein Messervertreter, er hatte wirklich für jede Gemütslage etwas dabei: in der linken Innentasche was zum Abheben und in der rechten etwas Stärkeres zum Einschlafen. Dazu astreines Zeug zum Rauchen, wahlweise Dope aus der Gegend um das weitläufige Atlasgebirge oder sein selbst gezogenes Gras. Willi und ich griffen sofort herzhaft zu, und nach einer geilen Session oben im Vorführraum, zu der Willi noch den Schnaps und die Mädels aus dem Pink Flamingo beisteuerte, waren wir Freunde geworden, und zwar Freunde fürs Leben.

* * *

Ich hüpfte aus der Wanne und ließ das H2O abtropfen, dann machte ich ein paar Liegestütze und verschob die Sit-ups-Session auf morgen. Ich hatte aufgehört, meinen Körper übermäßig zu quälen. Zwar war ich immer noch gut in Schuss, aber halt auf die Vollsack-Art. Bald war ich 48, und das schien mir das richtige Alter, um langsam ins Vollsack-Dasein hinüberzugleiten.

Ich ging zum Kasten und machte mich schick. Kein Nylon-Scheiß, wie das hier in Klein-Anatolien ewige Mode war, sondern was fürs Auge – ein gelb-rotes Hawaii­hemd und weiße Bermudas, und in diesen Tagen natürlich nur die Badelatschen an den niedlichen Füßchen Größe 46. Dazu ein paar falsche Goldkettchen, die sich gegen die Brusthaare behaupten mussten. Dann holte ich den groben Kamm aus der Arschtasche, schickte die rechte Hand vor und erledigte mit der nassen linken den Rest. Wenn man in dieser Gegend auf die Piste ging, dann mussten die Haare unbedingt nach hinten gekämmt sein. Das war eine in Stein gemeißelte Regel, sonst sah das einfach scheiße aus. Zum Schluss trug ich noch ordentlich Zuhälter-Diesel auf und setzte mir die Sonnenbrille Marke Carrera, Jahrgang 1970 auf die Nase. Als ich meine Erscheinung im vergilbten Spiegel prüfte, fand ich, dass ich durchaus kühl aussah, aber irgendwie auch heiß. Weiß der Teufel, wie man das nannte, so wie ich aussah!

Es war kurz vor Ladenschluss, als ich die paar Stufen hinunter zu Lemmy hüpfte. Der hatte im Souterrain unseres Hauses direkt am Brunnenmarkt sein Plattengeschäft Quattro Stazzione, das früher mal eine Pizzeria war. Laut Handelsregister verkaufte er dort unten Vinyl, also alte Singles und alte LPs und alte Schellacks und all den Scheiß, den heute keiner mehr braucht. An der Finanz vorbei aber betrieb er dort unten seinen Weltvertrieb „Teufelszeug“. Den Namen seiner Bude und auch den rot-grün-weißen Anstrich an der Fassade hatte er erst gar nie geändert, weil er sich die Welt lieber mit Rauschmitteln bunt malte, als zu Pinsel und Farbe zu greifen. Und welchen Namen hätte er seinem Etablissement auch geben sollen? Quattro Different Dopes vielleicht? Wer ihn finden wollte, der fand ihn auch so. Und so mancher Unwissende ging dann halt mit einem Tütchen Gras nach Hause anstatt mit einem Säckchen Oregano und war damit mehr als zufrieden.

Als ich zu Lemmy hinunterstolperte, saß er da unten mit seinem schmalen Arsch auf einer Stahlfeder seiner kaputten Couch und drehte sich zur Abwechslung einen Joint. Wenn man Dennis Hopper in Easy Rider hübsch fand, dann fand man auch Lemmy in seiner Fransen-Lederjacke hübsch, nur für die Zahnbürstenindustrie kam er mit seinen schwarzen Stummelchen im Maul nicht mehr als Model infrage.

Ich flätzte mich neben ihn, machte die Beine breit, kratzte mich am Sack und fragte: „Willst du dir heute noch ein bisschen die Füße vertreten?“

Er fragte: „Wieso denn?“

Er war von Natur aus skeptisch. Ich gab ihm also den Auftrag von Willi weiter samt der Einladung für die heutige Gala, aber er blieb sitzen wie Aschenputtel, die nicht so recht wusste, was sie anziehen sollte. Jack schleckt auf! reizte ihn natürlich, auch wenn der Film nicht sehr politisch war. Und Willis Auftrag klang verlockend, denn die Geschäfte liefen schlecht, seit hier immer mehr Nichtstuer und ewige Studenten, die bisher Lemmys Hauptabnehmer waren, aus ihren Kleinstwohnungen vertrieben wurden. Er war also fast so weit, seinen Arsch zu bewegen, aber als er dann hin und her überlegte, ob er die spitzen oder die sehr spitzen Stiefel anziehen sollte, da fiel ihm plötzlich ein, dass er seit ein paar Tagen hinten im Anbaugebiet einen Wal liegen hatte, und er fragte: „Was ist, wenn sie aufwacht?“

Lemmy ließ ein Glas kaltes Wasser einlaufen und sagte: „Ich übergieße sie alle paar Stunden mit Wasser, sie atmet ruhig, aber sie wacht nicht auf. Ich hab’ keine Ahnung, wie es mit uns beiden weitergehen soll.“

Ich sagte: „Sie ist kein Wal, Lemmy! Du brauchst sie nicht mit Wasser zu übergießen!“

„Aber was soll ich denn sonst mit ihr machen?“

„Keine Ahnung!“

Wenn man so will, dann lebte Lemmy seit ein paar Tagen in einer Art fixen Partnerschaft. Die Glückliche war aber nicht irgendeine heiße Kifferbraut, von der Lemmy träumte, seit er ein Kiffer war. Es handelte sich vielmehr um einen hundert Kilo schweren Wal aus türkischer Erzeugung mit überquellendem Bauchfett und reichlich Hüftgold, der vor zwei Tagen wie aus dem Nichts auf ihn draufgefallen war, gleich beim Eingang, wo er gerade einen Packen Schellacks sortierte.

Die Fettwurst, die in zu enge Leggings und ein bauchfreies Top gezwängt war, hatte sich bei dem Sturz ihr süßes Köpfchen angeschlagen und dabei das Bewusstsein verloren. Und wenn ich nicht wie jeden Tag auf einen Guten-Morgen-Jolly zu ihm hinuntergestiegen wäre, mit dem wir immer den neuen Tag begrüßten, dann würde sie heute von Maden zerfressen und von Würmern bewohnt auf ihm draufliegen, und Lemmy würde es bei den hohen Temperaturen und der unerträglichen Luftfeuchtigkeit keinen Deut besser gehen.

Das war natürlich keine schöne Vorstellung, auch wenn dann alles hier mir gehört hätte!

Ich hatte den Wal von Lemmy heruntergerollt, um seine Sauerstoffzufuhr zu sichern, und ihm dann sofort einen Joint unter die Nase gehalten, damit er nicht etwa zu viel von dieser frischen Luft abkriegte. Was man halt macht, wenn man einen verunglückten alten Kiffer wieder auf die Beine stellen will. Und während sein Gesicht langsam wieder Farbe annahm, hatte ich mich natürlich gefragt, was die Lady wohl zu ihm heruntergeführt haben mochte. Wollte sie Platten kaufen? Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich, denn die Platten, die ein DJ heute so braucht, die hatte Lemmy nicht im Angebot, und sie sah irgendwie auch nicht aus wie ein verdammter DJ. Also wollte sie vielleicht einen Gras-Deal mit ihm checken? Auch das glaubte ich eher nicht, denn diese jungen Dinger kauften heute kein Gras mehr, die kauften Schminkzeug und zu enge Tops. Blieb also nur noch die Möglichkeit, dass sie neu in der Gegend war und bei ihm Pizza holen wollte, aber noch nicht wusste, dass es bei ihm gar keine Pizza gab. Jedenfalls sah sie so aus, als würde ihr Pizza schmecken.

Nachdem er aber wieder halbwegs geradeaus schauen konnte, hatte mich Lemmy auf eine ganz andere Spur geführt: „Sie hat immer ,Bitte nicht große Schwert‘ geschrien, und dann ‚Asül‘, Rock! Immer wieder ‚Asül‘!“

„Asyl?“

„,Asül‘, Rock! Mit ü! Und ‚Bitte nicht große Schwert!‘“

Asül mit ü? Dann war sie also eine Türkin, die auf der Flucht vor einem großen Schwert war? Du lieber Himmel!

Die tellergroßen Schweißflecken an den Achseln ihres Hello-Kitty-T-Shirts und der riesengroße Schweißfleck zwischen ihren mächtigen Schenkeln deuteten jedenfalls darauf hin, dass sie sich ordentlich angestrengt haben musste, nachdem sie vermutlich ganz gegen ihre Gewohnheit die Couch verlassen hatte, auf der sie sonst den ganzen Tag mit Chips und Cola vor dem Fernseher herumlag.

Wir gingen zu ihr nach hinten, wohin wir sie geschleppt hatten, nachdem sie einfach nicht aufwachen wollte. Sie war zu schwer, als dass wir sie in der Dunkelheit auf die Straße hinauf hätten tragen und dort irgendwo ablegen können. Aber dafür war es ohnehin zu spät, denn wenn die Türken erst erfuhren, dass eine von ihnen im Plattenladen eines einheimischen Freaks herumgelegen war, dann machten die geschnittene Gurke aus ihm, die würden ihm nicht glauben, dass er sie nur mit Wasser übergossen hatte!

Ich fragte Lemmy, ob ich nicht doch meinen Kumpel Guttmann anrufen sollte, der Bulle bei der Mord-West war und der sich mit solchen Sachen vielleicht besser auskannte als wir. Aber Lemmy wollte nicht. Er drehte das Licht an, und ein paar Neonröhren begannen zu zucken, ein paar mehr, als ich in Erinnerung hatte. Er fragte: „Das alles willst du Guttmann zeigen?“

Ich sagte: „Das alles würde ihn wohl aus den Socken hauen!“

* * *

Tatsächlich machten Lemmys Plattenverkäufe nur noch einen mikroskopisch kleinen Teil seines Gesamtumsatzes aus, weshalb die Fläche seines Plattenladens auch nur noch einen kleinen Teil seiner Gesamtnutzfläche ausmachte. Denn gleich dahinter hatte er sich eine unterirdische Cannabis-Plantage eingerichtet, die sich über den gesamten Keller des Hauses erstreckte und jeden südamerikanischen Drogenbaron vor Neid erblassen ließe. Als das hier noch eine richtig beschissene Gegend war mit vielen Zottelhaarträgern und schlurfigen Schafskäseessern, die ihre Sozialhilfe umgehend in Lemmys Rauchwaren investierten, gingen die Geschäfte nämlich mal so gut, dass der Plattenladen samt Keller bald nur noch einen kleinen Teil seines Gesamtbesitzes ausmachte, weil ihm schließlich das ganze Haus gehörte. Wer damals ein paar Tausender in altem Geld investierte, der konnte sich gleich ein ganzes Haus kaufen, wenn er das wollte. Nur wollte das damals keiner, außer Lemmy.

Heute aber wollte sich hier jeder eine Wohnung oder ein Haus kaufen, und es liefen immer mehr von diesen neureichen Arschlöchern herum, die allesamt keine Berufe hatten, sondern „in Branchen tätig“ waren, und die den elenden Stress mit Dachbodenausbau und der Sorge um ihren Porsche Cayenne vor der Haustür nur mit dem ganz harten Zeug durchstanden, das Lemmy aber aus Prinzip nicht im Angebot hatte, sondern nur die Kaukasier oben vorm Grosny Creditsky neben dem Huberpark. Also musste Lemmy immer öfter auf seine Einkünfte als Hausbesitzer zurückgreifen, um uns beiden den Kühlschrank zu füllen, was mit mir als Mieter nicht einfach war. Wir hassten die neuen Zeiten und den verdammten Kapitalismus!

* * *

Nachdem Lemmy den Wal noch einmal mit Wasser übergossen hatte, gingen wir zum Toyota. Wir brauchten ihn nicht unbedingt, um die paar Meter zum Swedish Pornhouse hinaufzukommen, aber wir brauchten ihn, um uns davor einzuparken. Wer abends ins Gürtelkino ging, der musste mit der Karre vorfahren, oder er ließ es gleich bleiben. Wenn man zu Fuß dahergelatscht kam, dann sah das nämlich scheiße aus, irgendwie unwürdig. So, als hätte man es zu rein gar nichts gebracht!

Wir stiegen also ein und fuhren los. Mich ritt schon wild die Vorfreude, als mich Lemmy plötzlich bat, für ihn noch kurz den Umweg über den Huberpark zu machen, der am westlichen Rand des Brunnenmarktes gelegen war. Wie eine verdammte Ehefrau konnte er sich einfach nie an Abmachungen halten und nervte mit immer neuen Anträgen zur Abänderung der Tagesordnung. Ich sagte: „Wir sind doch ohnehin schon so spät dran!“ Er aber sah mich wieder nur mit seinen kleinen Augen an und sagte: „Bitte!“ Wenn er mich so anschaute und „Bitte!“ sagte, dann konnte ich ihm einfach nur schwer etwas abschlagen.

Lemmy hatte sich dort oben im Park auf einen Deal mit ein paar Müttern aus den sogenannten bildungsfernen Schichten eingelassen, die allesamt ihren fetten Arsch nicht mehr hochkriegten und im Wesentlichen von Kindergeld und Sozialhilfe lebten. Während des Sommers hatten sie ihr Leben wie eine lustige Ausflugsgemeinschaft auf eine Parkbank-Garnitur verlagert, mit genug Fressalien auf dem Tisch, um damit selbst einen Laden aufmachen zu können, und mit reichlich Sprit, der sie vor dem Austrocknen bewahrte. Die Mädels taten das ihre, damit Rotts Wurstwaren seit 1898 unten am Yppenplatz vielleicht doch noch ein paar Jährchen überlebte.

Das „Big“ in Big Bärbels Namen bezog sich daher im Wesentlichen auf ihren Arsch, hinter dem sich ein ganzes Volk verstecken konnte. Dazu kamen vier bis fünf Schwangerschaften in den letzten Jahren, die auch ihre Spuren hinterlassen hatten, und Big Bärbel hatte nicht den Ehrgeiz, die paar Kilos wieder abzutrainieren.

Sie hatte ein Händchen für schwierige Typen, die sie vornehmlich um das Grosny Creditsky rekrutierte, einen tschetschenischen Kredithai, der gleich neben dem Eingang zum Park lag. Den ganzen Tag über standen dort gut trainierte Typen in der Sonne herum, hatten ihre Hand in die Jogginghose gesteckt und kratzten sich am Sack. Das war irgendwie cool bei denen. Sie interessierten sich für kurzfristige Kredite, mit denen sie dann ein Finanzloch stopfen oder ihre Flucht finanzieren wollten, weil sie Spielschulden angehäuft hatten oder von Heimholkommandos gejagt wurden. Oft waren es Boxer oder Kampfsportler, die in stinkenden Keller-Klitschen der Umgebung trainierten, ein paar von denen brachten es sogar zu Amateurkämpfen unten in der Lugner City, dem örtlichen Einkaufstempel. Das brachte ihnen zwar bei ihren Schwestern und Cousinen zuhause hohes Ansehen ein, aber nur ganz selten einen Stich. Wenn du aber stundenlang auf einen Sandsack einschlägst, dann willst du am Abend vielleicht mal eine zärtliche Hand spüren.

Die ganz Hoffnungslosen, die nicht einmal mehr im Grosny Creditsky Geld kriegten, versuchten es bei Big Bärbel und ihren Mädels. Sie zapften deren Kindergeld und die Familienbeihilfe an, und wenn sie dann am Abend allesamt besoffen genug waren, dann kriegten die Jungs von den Mädels hinter einem Baum auch mal einen geblasen oder durften sie noch weiter hinten überhaupt flachlegen. Als Alleinerzieherin aus dem Gemeindebau stand man auf solche Typen, oder man stand nicht auf sie. Wenn Ersteres der Fall war, dann konnte man hier als Frau ein durchaus erfülltes Sexualleben haben, und so war Big Bärbel zu einer ansehnlichen Sammlung Kinder gekommen, die alle einen anderen Erzeuger hatten, es war von jedem Genpool etwas dabei, ein schöner Querschnitt der Vielfalt der Welt – rot, gelb, schwarz. Die Väter selbst waren freilich längst über alle Berge oder irgendwohin abgeschoben worden.

Der Huberpark war also einer meiner liebsten Plätze in der Stadt, ein letztes Refugium der Unterschicht. Aber selbst diese dreckige Idylle war bedroht, seit sich die Mädels um Big Bärbel hier immer öfter Schwierigkeiten mit dem Stoßtrupp „Besorgte Mütter“ einhandelten, die diesen schönen Streifen Grün im Zentrum der Bildungsferne neuerdings für sich beanspruchten und ihn lieber ohne Zigarettenrauch und Bierdosen und Einwegspritzen haben wollten, dafür aber mit Caffè Latte und Zitronengras. Wer von der Sozialhilfe lebte, der sollte das in Zukunft bitte zuhause tun, die späten Mütter wollten in Ruhe ihr gepudertes Näschen in die Sonne halten, während das moldawische Kindermädchen die Kleinen von der Schaukel zur Sandkiste trug. Angeblich würde hier sogar bald ein International Private Children House errichtet, wie das heute hieß, aber nur für solche, die es sich auch leisten konnten. Big Bärbel und ihre Mädels würden da mit Sicherheit nicht dazugehören, denn von ein paar dreckigen Ficks mit irgendwelchen Lümmeln gegen eine Dose Red Bull wurde man nicht reich, erst recht nicht, wenn man sich dabei immer wieder ein Kind anhängen ließ!

So setzte sich die ganze verdammte Kette der Armut letztlich bis hin zu Lemmy fort, der das schwächste Glied in dieser Kette war, weil er zwar ein guter Mensch war, als Geschäftsmann aber rein gar nichts taugte. Er ließ sich von Big Bärbel oft nur mit einem süßen Lächeln bezahlen, in der Hoffnung, dass er vielleicht auch mal randürfte. Aber das würde natürlich nie passieren, denn die Frau, die Lemmy ranließ, musste erst noch gebaut werden.

Ich parkte den Toyota direkt vor dem Parkeingang in zweiter Spur, und wir betraten den Park, wo gleich rechts vom Eingang die kombinierte Doppelbank mit Esstisch stand. Leere Bierdosen lagen auf dem Boden herum, neben Dutzenden verdreckten Ausgaben der Gratis-Gosse, die mit Statt Schandfleck – bald Kindergarten? getitelt hatte. Die Mädels hatten ihre geschwollenen Füße draufgestellt, oder sie schoben darauf ihre klapprigen Kinderwägen vor und zurück, während sie die wichtigen Dinge des Lebens besprachen: „Ich lass’ mich ja schon länger nur noch von Türken besteigen, am besten von frisch gefangenen anatolischen Ziegenhirten, die noch nicht viel gesehen haben von der Welt außer Steine und Ziegen. Und du kannst mir eines glauben: Sie haben die größeren.“

„Ich will auch keinen Österreicher mehr, nicht in hundert Jahren! Der Österreicher ist im Durchschnitt 15 bis 20 Kilo fetter, und sein Schwanz ist um fünf bis zehn Zentimeter kürzer.“

Ich fragte: „Gleich um so vieles fetter?“

Wir hatten uns ungefragt dazugestellt, dabei hatte ich einen strengen Blick auf Big Bärbels eigenes Schwabbelfleisch riskiert. Manches deutete darauf hin, dass sie schon wieder schwanger war, wenn auch nicht unbedingt ihre Figur, die immer irgendwie gleich war, seit sich ihr Gewicht bei geschätzten 120 Kilo plus/minus eingependelt hatte. Sie sagte zu Lemmy: „Schön, dass du da bist. Ich brauch’ was, echt!“

Am Ende des Tages, wenn die Sonne sich verabschiedete, mussten wir alle wieder ein bisschen herunterkommen von dem verdammten Trip, der das Leben war. Wir setzten uns dazu, und Lemmy legte für jede von ihnen einen fertigen Jolly auf den Tisch, woraufhin eine von Bärbels Freundinnen ihren Beitrag zum Gelingen des kleinen Festes leisten wollte und uns den Tetra-Pak mit dem billigen Fusel herüberschob. Lemmy sagte: „Nein danke!“, und ich sagte: „Bitte nicht!“

Dann fragte ich Bärbel rundheraus: „Bist du schon wieder schwanger, oder was?“

Big Bärbel strahlte wie frisch geputzt, der Frühling war ihr ordentlich ins Gestell gefahren, die Hormone wuchsen ihr bei den Ohren heraus, sie war rundum zufrieden, wie man so schön sagt, nichts konnte ihr Glück trüben. Längst hatte sie sich den Ofen in den Mund geschraubt und ein paarmal kräftig daran gezogen, ich sah mich genötigt, den Sozialarbeiter zu spielen: „Dann wird es aber sicher ein sehr lustiger Junge! Wenn du so weiterrauchst, kriegen wir hier in der Gegend noch so einen Scheiß-Freak, von denen wir weiß Gott schon genug haben!“

Aber Big Bärbel ignorierte meine Pädagogik und lehnte sich an Lemmys Lederjacke, was Lemmy als klaren Beweise ihrer Liebe wertete. So hart, wie sie war, hätte er die Jacke aber auch einfach dort stehen lassen können, und Big Bärbel hätte sich daran lehnen können, bis sie mit ihrer neuen Frucht niederkam. Aber dazu würde es nicht kommen, denn sie brach plötzlich in Tränen aus und sagte: „Er hat doch gesagt, dass er wiederkommt!“

Sie sagte es, als stünde sie am Strand eines weiten Meeres und wartete auf den Dampfer, der ihren Herzallerliebsten wieder zurückbringen sollte. Aber der Dampfer würde natürlich nicht mehr kommen, es gab ja noch nicht einmal das Meer.

Ich dachte: Diese verdammten Hormone! Und Lemmy fragte: „Wer ist ,er‘?“

Ich konnte mir vorstellen, dass „er“ stark behaart war und Dimitar oder Jack Daniel oder Yussuf oder so irgendwie hieß und dass er nicht daran gedacht hatte, sich einen Gummi überzuziehen, als er mit ihr hinter dem Gebüsch verschwand. So einer war „er“. Diese Frau hatte echt ein Händchen für sogenannte exotische Männer, von denen sie sich scheinbar mehr versprach als Verlässlichkeit und ein Eigenheim mit Garten im Grünen. Aber was genau versprach sie sich?

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Kaum hatten wir die Mädels vom Huberpark abgefertigt, gab es das nächste Geschrei: „Rock! Da vorne!“

Lemmy war ein eingefleischter Angsthase, die Regionen seines Gehirns, in denen die Angst saß, hatten die vielen Drogen bisher nicht zerstören können. Ich fragte: „Hast du denn deine Beruhigungspillen nicht mit dabei?“

Er sagte: „Doch, warum?“

Ich sagte: „Dann nimm sie gefälligst!“

Was ihn jetzt so aufregte, war Folgendes: Wir durchfuhren über eine Strecke von ca. 300 Metern die Friedmanngasse vom Brunnenmarkt hinauf in Richtung Gürtel. Da gab es eine kleine Pornoklitsche namens Türkpörn, die gegenüber einer Kebabbude lag, die Türkkebab hieß. Vorm Türkpörn stand immer eine Menge Testosteron herum – vier geistig leicht bedepperte Affen, allesamt Brüder, die aussahen wie die Orgelpfeifen, Trainingsanzüge als Kampfmontur trugen und jede Menge Hammelfleisch zwischen den Beißerchen hatten.

Richtige Bauernlümmel von ganz weit östlich!

Wir nannten sie die Daltons, weil sie uns in Art und Aussehen an die vier Idioten aus den Lucky-Luke-Comics erinnerten. Da konnte man schon leichtes Fracksausen kriegen, wenn die zu einem „Ey! Was guckst du? Warum blickfickst du mich?“ sagten. Und wenn man nicht immer brav die Hundescheiße auf dem Gehsteig anschaute, sondern ihnen direkt in die Augen, dann hatte man schnell die behaarte Faust auf der Nase. Weiß der Teufel, warum die es gar nicht mochten, wenn man sie anschaute! Die hatten „echt ein Problem“, wie man das heute nennt, wenn jemand einen ordentlichen Dachschaden hat.

Gleich neben dem Türkpörn lag dann Dirty Willi’s Swedish Pornhouse, ein farbiger Tupfen Heimat, allerdings an prominenter Adresse mit der Eingangsfront zum gut frequentierten Gürtel hinaus. Und das Swedish Pornhouse nahm sich auch sonst wie ein Palast gegen diesen Ziegenstall aus.

Ich hatte die Daltons schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen, weil ich sonst immer direkt über den Gürtel zu Willi fuhr, wegen des Umwegs zu Big Bärbel musste ich nun aber durch die Friedmanngasse. Sofort fiel mir auf, dass die Jogginghosen der Daltons heute irgendwie noch ausgebeulter waren als sonst, so, als hätten sie sich alle eine Flasche Cola hineingesteckt, und zwar eine Zwei-Liter-Flasche. Nichts gegen eine ordentliche Schwanzfixierung, aber die anatolische Version der Schwanzfixierung war vielleicht schon ein bisschen krankhaft.

Lemmy hatte natürlich keine Erfahrung im Nahkampf, und ich nahm es alleine auch nicht mehr jeden Tag mit gleich vier von denen auf, also drückte ich lieber ordentlich auf die Tube. Sie spuckten meinen Toyota an und machten mit der einen Hand Wichsbewegungen, während sie mit der anderen alle möglichen Botschaften in die Luft zeichneten. Diese Idioten verwendeten heutzutage echt mehr Zeit darauf, ihre Sprüche in die Luft zu malen, als mal ordentlich schreiben zu lernen!

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