Contents
Weitere Sonderausgaben der „Erlebnis Wissenschaft“
John Emsley
Parfum, Portwein, PVC …
Chemie im Alltag
3-527-30789-3
2003
John Emsley
Sonne, Sex und Schokolade
Mehr Chemie im Alltag
3-527-30790-7
2003
Jan Koolman, Hans Möller, Klaus-Heinrich Röhm
Kaffee, Käse, Karies ….
Biochemie im Alltag
3-527-30792-3
2003
Friedrich R. Kreißl, Otto Krätz
Feuer und Flamme, Schall und Rauch
Schauexperimente und Chemiehistorisches
3-527-30791-5
2003
Peter Häußler
Donnerwetter – Physik!
3-527-31644-2
2006
Heinrich Zankl
Fälscher, Schwindler, Scharlatane
Betrug in Forschung und Wissenschaft
3-527-31646-9
2006
Autor
Martin Schneider
SWR Wissenschaft
Hans-Bredow-Str.
76530 Baden-Baden
Auflage 2002
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© 2006 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
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Print ISBN 9783527298730
Epdf ISBN 978-3-527-60222-3
Epub ISBN 978-3-527-66303-3
Mobi ISBN 978-3-527-66302-6
Der amerikanische Chemiker Roy Plunkett hätte sich verärgert mit der Zwangspause abfinden können, die eine vermeintlich leere Gasflasche seinen Experimenten bescherte. Ebenso wäre es verständlich gewesen, hätte Alexander Fleming seine verschimmelten Bakterienkulturen einfach in den Müll geworfen, als er aus dem Urlaub zurück ins Labor kam. Dass sich beide näher mit dem vermeintlichen Missgeschick beschäftigten, bescherte der Menschheit so nützliche Dinge wie Teflon und Penicillin.
Plunkett und Fleming sind keine Einzelfälle. Seit grauer Vorzeit begleiten Anekdoten von Zufällen die Geschichte der Entdeckungen. Schon die Ägypter sollen das Bier zufällig dadurch erfunden haben, dass einige Brotreste in einen Wasserkrug fielen und dort vergoren, Archimedes bescherte bekanntlich eine überlaufende Wanne sein Heureka-Erlebnis und Newton brachte ein fallender Apfel auf sein Gravitationsgesetz. Die Spur des Zufalls zieht sich bis in unsere Zeit: Die Mikrowelle in der Küche, so wird berichtet, verdanken wir einem Techniker, dem vor einem Radargerät ein Schokoriegel schmolz und den Velcro-Klettverschluss einem Schweizer Erfinder, dem nach einer Wanderung hartnäckige Kletten an der Kleidung hafteten. Als erster Eindruck drängt sich auf: In der vermeintlich so rationalen Welt von Wissenschaft und Forschung scheint nicht immer alles nach Plan zu laufen.
Aber wie groß ist die Rolle des Zufalls in der Forschung tatsächlich – und wie groß ist der Anteil des Entdeckers, dem er zustößt? Will man es nicht bei dem oberflächlichen Eindruck belassen, Glück spiele in der Wissenschaft eine mindestens ebenso große Rolle wie Verstand, muss man näher hinschauen und die vielen Geschichten über Zufälle zunächst einmal grob „vorsortieren“. Wie nämlich schon die obigen Beispiele erahnen lassen, sind sie von recht unterschiedlicher Qualität. Da gibt es zum einen die „wissenschaftlichen Mythen“ à la Archimedes oder Newton: kaum überprüfbare, ausgeschmückte Berichte des Augenblicks, in dem jemand einen Einfall hat, angeregt durch irgendetwas in seiner Umgebung. Wo solche Einfälle herkommen, mag ein interessantes Feld der Psychologie sein; als außergewöhnlich allerdings kann man das „Haben von Einfällen“ schwerlich bezeichnen. In jedem kreativen Gewerbe, und bis zum Beweis des Gegenteils ist auch die Wissenschaft ein solches, sind ungewöhnliche Einfälle an der Tagesordnung. Die Liste ausgeschmückter Berichte solcher Einfälle ließe sich daher auch beliebig verlängern: James Watt beobachtet einen pfeifenden Wasserkessel und erfindet daraufhin die Dampfmaschine, August Kekulé bringt der Traum von einer sich in den Schwanz beißenden Schlange auf die ringförmige Struktur des Benzols, und John Dunlop bekommt die Grundidee zur Erfindung des Luftreifens durch einen Gartenschlauch. Ein Beweis dafür, dass in der Forschung das „Gesetz des Zufalls“ herrsche, sind derartige wissenschaftliche Mythen nicht.
Neben derartigen Legenden aber gibt es eine Fülle von Berichten über Zufälle in der Forschung, die sich nicht auf vom Baum fallende Äpfel oder überlaufende Badewannen reduzieren lassen. Auffallend viele große, oftmals nobelpreisgekrönte Entdeckungen waren nicht Ergebnis eines streng geplanten Forschungsprogramms; kleine Laborunfälle oder das unvorhersehbare Zusammentreffen zweier Ereignisse hatten die entscheidenden Weichen gestellt, unscheinbare „Dreckeffekte“ im Experiment, von aufmerksamen Forschern bemerkt, den richtigen Weg gewiesen.
Auch wenn Letztere dabei höchst selten nackt durch die Straßen ihrer Universitätsstadt liefen und „Heureka“ riefen, scheinen derartige Vorfälle ein wichtiges Element des wissenschaftlichen Fortschritts darzustellen; in verschiedenen Variationen nämlich treten sie quer durch die Wissenschaftsgeschichte immer wieder auf, wie schon ein grober Überblick zeigt.
Da findet man zunächst die Forscher, die nach einer bestimmten Sache lange vergeblich suchten, bis sich der Zufall einmischte und ihren Bemühungen den letzten „Kick“ gab. Charles Goodyear etwa war regelrecht besessen davon, Gummi anwendungstauglich zu machen; nach jahrelangem Experimentieren brauchte es aber doch eine glückliche Fügung, die ihn die Vulkanisation entdecken ließ. Louis Daguerre verfolgte über ein Jahrzehnt lang die Idee, Abbildüngen der Welt erstellen zu können, ehe ihm letztlich ein zerbrochenes Thermometer bei der Erfindung der Fotografie half. Und auch Alexander Fleming suchte nach einer bakterientötenden Substanz, auf die ihn dann erst eine zufällig ins Labor gewehte Pilzspore brachte.
Andere Forscher machten zufällig epochale Entdeckungen, obwohl sie nach ganz etwas anderem suchten. DuPont-Mitarbeiter Roy Plunkett etwa sollte eigentlich ein neues Kältemittel für Kühlschränke entwickeln und entdeckte Teflon, William Perkin suchte nach der Möglichkeit, Chinin künstlich herzustellen und erfand den ersten künstlichen Farbstoff, Mauvein, und Johann Friedrich Böttgers Versuche, Gold zu machen, führten auf verschlungenen Wegen zum Porzellan.
Und dann sind da noch die Grundlagenforscher, die eigentlich nach gar keiner konkreten Anwendung suchen, aber dennoch zufällig eine wichtige Entdeckung machen. Wilhelm Conrad Röntgen zum Beispiel wollte gar nichts „entdecken“ – als theoretischen Physiker interessierte ihn ein eigentümliches Leuchten, das bei einer bestimmten Art von Strahlung auftrat; und Karl Ziegler, der mit einem neuen Herstellungsverfahren für Polyethylen das Kunststoffzeitalter einläutete, hat stets „ganz frei gearbeitet, um die Erkenntnisse der Chemie zu mehren“, wie er betonte. Er wollte einfach bestimmte Vorgänge bei der Katalyse besser verstehen.
Wichtiger als die Unterschiede dieser verschiedenen Zufalls-Spielarten in der Forschung aber sind ihre Gemeinsamkeiten, und die ziehen sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel dieses Buches. So wird etwa schnell deutlich werden, dass es sich nie um wirklich „blinde Zufälle“ handelt. Der Wissenschaftsbetrieb ist alles andere als eine große Lotterie, in der mal der eine, mal der andere das große Los zieht. Keinem der vom Zufall beglückten Forscher ist seine Entdeckung einfach in den Schoß gefallen, in den er seine Hände in Erwartung einer glücklichen Fügung schon lange zuvor gelegt hatte. „Der Zufall begünstigt nur einen vorbereiteten Geist“, bringt es der französische Chemiker Louis Pasteur auf den Punkt, und die Geschichten in diesem Buch werden zeigen, was das im Einzelnen bedeutet. Ähnlich wie das biblisch-sprichwörtliche Samenkorn auf fruchtbaren Boden fallen muss, um zu keimen, braucht der Zufall Rahmenbedingungen, um zu einer Entdeckung zu werden. Sicher nicht zufällig waren die Wissenschaftler, denen das Glück hold war, in aller Regel Experten auf ihrem Gebiet, besessene Arbeiter, mit täglichen Arbeitszeiten, bei denen eigentlich die Berufsgenossenschaft hätte einschreiten müssen. Sie haben mühsam, durch oft jahrelange Arbeit, den Boden bereitet, auf dem der Zufall erst zur Entdeckung gedeihen konnte. Das Wort vom „Glück des Tüchtigen“ scheint selten so angebracht wie hier. Nur wer sein Gebiet in- und auswendig kennt, kann zum Beispiel eine Unregelmäßigkeit im Versuchsablauf überhaupt als solche erkennen, die den Keim für eine völlig neue Sicht der Dinge in sich bergen kann.
Die Aufmerksamkeit vermeintlich unwichtigen Nebensächlichkeiten gegenüber ist ein weiterer verbindender Charakterzug der Forscher, die eine „Begegnung der zufälligen Art“ hatten. „Entdeckung bedeutet zu sehen, was jeder gesehen hat, aber zu denken, was noch keiner gedacht hat“, definierte Medizin-Nobelpreisträger Albert Szent-Gyorgyi, womit er ein allgemeineres Wort des Physikers Georg Christoph Lichtenberg präzisierte: „Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Großes hervorgebracht.“
Zu einem wachen Geist und einer unbändigen Neugier, ohne die im Forschungsbetrieb ohnehin niemand weit kommt, muss aber noch etwas kommen, um aus einem glücklichen Zufall eine Entdeckung werden zu lassen. Um im biblisch-agrarischen Bild zu bleiben: Der gut vorbereitete Boden und der Samen, der zu keimen beginnt, sind nur der Anfang. Die zarten Keimlinge brauchen jede Menge Hege und Pflege, damit aus ihnen eine widerstandsfähige, fruchttragende Pflanze werden kann. „Entdeckung ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration“, besagt ein geflügeltes Wort. Glück und Zufall sind in der Regel nur an dem einen Prozent „Inspiration“ beteiligt. Jede Menge mühsame, oft wenig kreative Arbeit ist nötig, um die Idee „umzusetzen“, zur Anwendungs“reife“ zu bringen. Auch wenn dies den Beruf des Wissenschaftlers für manchen angehenden Gelehrten, der sich ein leichtes Leben erhofft, unattraktiver macht: Blinde Hühner mögen hin und wieder ein Korn finden; der große Wurf in der Forschung wird ohne Weitblick und viel Arbeit kaum gelingen.
Und die „dümmsten Bauern“ sind es auch nicht, die in der Wissenschaft die dicksten Kartoffeln ernten. Im angloamerikanischen Sprachraum gibt es einen seltsam schillernden Begriff für die Art von Zufällen, die den Forschern in diesem Buch zustoßen: Serendipity bezeichnet die „Eigenschaft, wünschenswerte Entdeckungen durch Zufall zu machen“, wie das Unabridged Dictionary erklärt. Was sich wie ein Widerspruch in sich anhört, lässt sich im Deutschen vielleicht am ehesten mit „Finderglück“, übersetzen, ein Moment von „Spürsinn“ und dem erwähnten „Glück des Tüchtigen“ schwingt dabei mit. Den Ausdruck übrigens prägte der britische Schriftsteller Horace Walpole bereits 1754. Ihn hatte die Sage „The Three Princes of Serendip“ beeindruckt. Serendip ist ein alter Name für Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, und besagte drei Prinzen machen in dieser Sage durch eine Mischung von Glück und Weisheit eine Fülle nützlicher Entdeckungen, nach denen sie gar nicht gesucht hatten. Interessanterweise ging der Begriff Serendipity erst in den 1970er-Jahren in den Alltagssprachgebrauch vor allem in den USA ein, wo er heute eine Art Modebegriff ist. Weingüter, Hotels und Modeboutiquen führen diesen Namen, und sogar ein im Jahre 2001 erfolgreicher Kinofilm hatte im Original diesen Titel (auf Deutsch „Weil es Dich gibt“ – die Übersetzer kapitulierten vor dem schillernden Originaltitel).
Während der Zufall also auf jeden Fall sein „Gegenstück“ in einem „vorbereiteten Geist“ finden muss, zeigen die vielen Geschichten auf den folgenden Seiten vor allem eins: Der wissenschaftliche Fortschritt ist nur in Grenzen wirklich planbar. Die landläufige Vorstellung, Forschung laufe ab wie der Entwurf eines neuen PKW, ist einfach falsch. Die Autoingenieure bekommen (oder setzen sich) bestimmte Vorgaben, und dieses „Lastenheft“ wird dann abgearbeitet. Geplant wird vom Ende her. Man weiß, was man haben will, und arbeitet darauf hin. In der Wissenschaft aber läuft es anders. „Die meisten Fragen, mit denen sich die gegenwärtige Wissenschaft herumschlägt, hätten bei dem Stand der Dinge vor einer Generation nicht einmal aufgeworfen werden können“, formuliert der Philosoph Nicholas Rescher, und der Heidelberger Physiker Wolfgang Krätschmer pflichtet ihm bei: „Wenn man Forschung dirigiert, kommt halt entweder das heraus, was man sich vorstellt, oder gar nichts, aber es kommt halt nie das Unerwartete heraus, und das Unerwartete ist das, was die Forschung wirklich weiterbringt.“
Krätschmer, der bei astrophysikalischen Experimenten zufällig die Fullerene, eine völlig neue Zustandsform des Kohlenstoffs, entdeckte, lässt hier das Leid der Grundlagenforscher anklingen – der Forscher, denen es bei ihrer Arbeit nur um die Erweiterung unseres Wissens als solches geht und die keine konkrete Anwendung im Sinn haben. In Zeiten knapper werdender Mittel sehen sie sich einem wachsenden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Wer heute einen Antrag auf Forschungsförderung stellt, muss am besten den Business-Plan für die Vermarktung des erwarteten Ergebnisses gleich mit einreichen, will er seine Chancen auf Bewilligung erhöhen. Dabei wird vergessen, dass jedes Forschungsvorhaben nur auf dem Stand des jeweiligen Wissens begonnen werden kann, aber ja gerade dazu beitragen soll, die Grenzen dieses Wissens zu erweitern. Platt gesagt: Wüsste man schon, was dabei heraus kommt, brauchte man ja nicht mehr zu forschen. Eine Konsequenz daraus mahnte schon der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz vor fast 150 Jahren an: „Wer in den Naturwissenschaften nach unmittelbarem Nutzen jagt, kann ziemlich sicher sein, dass er vergebens jagen wird.“ Nur eine solide, ergebnisoffene Grundlagenforschung, die sich mit Dingen beschäftigt, die wir einfach noch nicht verstehen, bereitet den Boden für eventuelle künftige Innovationen, von denen wir heute nicht die leiseste Ahnung haben. „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“, gab Max Planck zu bedenken und trat damit Forderungen nach stärkerer Anwendungsnähe der Forschung entgegen, die auch schon Anfang des letzten Jahrhunderts aufkeimten. Ohne Frage sind angewandte
Forschung und Entwicklung, die nach dem Schema des Entwurfs eines neuen Autos ablaufen, wichtig; völlig neue Phänomene aber können sie nicht erschließen.
Interessanterweise sind es keineswegs nur Grundlagenforscher, die eingedenk der im wahrsten Sinne unvorstellbaren Wissensschätze der Zukunft um mehr Freiheitsgrade in der Forschung werben. „Wenn ich meinem Auftraggeber Forschungserfolge garantieren können will, werden diese Erfolge ziemlich langweilig ausfallen. Wenn man in der Forschung unerwartete Resultate bekommen möchte, muss man Risiken eingehen.“ Dieser Satz stammt von Nathan Myhrvold, dem ehemaligen Forschungschef des weltgrößten Softwarekonzerns Microsoft, dem man kaum unterstellen kann, Forschung als l’art pour art zu betreiben. Auch große Firmen wissen, dass sie „breit aufgestellt“ sein müssen, um auch auf künftigen Märkten bestehen zu können. Die folgenden Kapitel werden einige Produkte präsentieren, die zu „Megasellern“ wurden, obwohl sie niemand geplant oder vorhergesehen hatte – vom schon kurz angesprochenen Teflon bis zu den Post-it Notizzetteln. „Was wir morgen wissen werden, wird zu 80 Prozent eine Erweiterung des heutigen Wissens sein, aber 20 Prozent werden völlige Überraschungen sein“, glaubt Art Fry, Erfinder der besagten gelben Haftnotizzettel. Er weiß, wovon er spricht: Niemand in seiner Firma hätte sich vor 25 Jahren seine Erfindung, bei der der Zufall gleich auf mehreren Ebenen half, überhaupt vorstellen können; heute ist sie aus Büro und Haushalt kaum mehr wegzudenken. Nebenbei bemerkt hat früher auch niemand die Post-its so recht vermisst – und das beleuchtet einen interessanten weiteren Aspekt des wissenschaftlichen Fortschritts: Nicht immer steuert ein konkreter Bedarf seine Entwicklung. Niemand brauchte wirklich Fernsehen, Personalcomputer, Biotechnologie – oder Post-it Notes. Einmal erfunden, fanden sie aber schnell ihre Märkte. „Not macht erfinderisch“ mag ja stimmen, aber der Umkehrschluss, dass es immer eine Art „Not“, einen Bedarf, geben muss, damit etwas erfunden wird, ist sicher nicht richtig.
Die folgenden Geschichten (deren Lektüre übrigens an keine bestimmte Reihenfolge gebunden ist) sind keine vollständige Enzyklopädie sämtlicher Entdeckungen, bei denen in irgendeiner Weise der Zufall mitgespielt hat. Ich habe nur Geschichten aufgenommen, bei denen die Datenlage mehr ermöglichte als die bloße Wiedergabe einer Legende. Dabei habe ich stets nicht nur den Moment skizziert, in dem der Zufall „seines Amtes“ waltete, sondern jede Entdeckung in einen größeren Zusammenhang gestellt. Nur eine kleine Reise in die Geistesgeschichte der jeweiligen Zeit nämlich verdeutlicht ihre Besonderheit – sowohl die der Entdeckung als auch die des Forschers, dem sie zustieß. Nicht selten nämlich mussten Letztere nicht nur einen „vorbereiteten Geist“ haben, sondern sich auch noch aus etablierten Denkstrukturen befreien, sie hinterfragen, um sich für das Neue zu öffnen. Oder wie schon Aristoteles wusste: Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben.
Den Anstoß, mich mit den Zufällen in der Forschung zu beschäftigen, verdanke ich meinem früheren Redaktionsleiter beim Süddeutschen Rundfunk, Walter Sucher. Seine Anregung mündete in einer Fernsehdokumentation über „Zufall in der Forschung“. Bei den Dreharbeiten dazu lernte ich Prof. Royston Roberts aus Austin/Texas kennen, der mich auf viele Beispiele von Zufällen in der Forschung aufmerksam machte. Mein Kollege Dr. Siegfried Klaschka hat mit kritischem Blick die Geschichten in diesem Buch gegengelesen und mir manchen wertvollen Hinweis gegeben (gleichwohl liegen natürlich alle etwaigen Fehler oder Ungenauigkeiten allein in meiner Verantwortung). Dr. Gudrun Walter vom Wiley-VCH Verlag hat trotz vieler Verzögerungen stets an diesem Projekt festgehalten. Und ich danke meiner Lebensgefährtin Heidi Schnell, die über eine lange Zeit mein freizeittötendes „Hobby“, zufälligen Entdeckungen in der Wissenschaft nachzuspüren, erdulden musste.
Wann immer nach sachlichen Argumenten für das teure Abenteuer der bemannten Weltraumforschung gefragt wird, ist von den möglichen „Spin-off-Effekten“ die Rede. Techniken, die für die Raumfahrt erfunden wurden, so heißt es, hätten seit jeher als „Zweitverwertung“ zu Entwicklungen geführt, die unseren Alltag angenehmer machen. So gab zweifellos der Zwang zur Miniaturisierung in der Elektronik in den 1960er-Jahren die entscheidenden Anstöße für die Entwicklung des Personal Computers, und auch der Kugelschreiber, der über Kopf schreibt, ist sicher eine Segnung der Raumfahrt. Bei einem Lieblingsargument liegen die Raumfahrt-Enthusiasten allerdings leider gänzlich daneben: Die Wundersubstanz Teflon wurde bei Raumfahrtmissionen zwar großzügig eingesetzt, keineswegs aber eigens dafür entwickelt. Die erste Teflonpfanne konnte man schon 1954 in Frankreich kaufen, vier Jahre bevor Sputnik 1 die ersten Piepssignale aus der Erdumlaufbahn sandte; und das Material an sich – chemisch Polytetrafluorethylen (PTFE) – wurde bereits in den 1930er-Jahren entdeckt – durch einen Zufall.
Genau genommen begann die Entdeckungsgeschichte des Teflons noch viel früher. Im Jahre 1851 wurde dem Amerikaner John Gorrie das Patent für ein „Gerät zur künstlichen Produktion von Eis bei tropischen Temperaturen“ zuerkannt – der Urahn des modernen Kühlschranks war geboren. Bis in die 1920er-Jahre aber gab es Probleme mit den eingesetzten Kältemitteln. Ethylen, Ammoniak oder Schwefeldioxid, die in den Kühlleitungen zirkulierten, neigten leider dazu, sich über kleine Lecks in der Küche auszubreiten. Diese hochexplosiven, giftigen oder zumindest bestialisch stinkenden „Nebenwirkungen“ ließen so manche Hausfrau der damaligen Zeit den Fortschritten der Technik, gelinde gesagt, distanziert gegenüberstehen.
Um den Absatz von Kühlgeräten voranzubringen, brauchte man dringend neue Kältemittel. Forscher bei General Motors, die seinerzeit nicht nur Autos, sondern auch Kältemaschinen entwickelten, untersuchten systematisch alle bis dahin bekannten chemischen Substanzen daraufhin, ob sie nicht ein neues, ungefährliches Kühlmittel abgeben könnten. Sie stießen auf eine wahrhaft ideale Substanzklasse, – farblos, geruch- und geschmacklos, ungiftig und nicht brennbar, und der Siedepunkt lag exakt in dem Bereich, der für die Verwendung als Kältemittel gefordert war – die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, FCKW. Dass sie in den oberen Schichten unserer Atmosphäre die Ozonschicht zerstören, sollte sich erst ein halbes Jahrhundert später herausstellen. General Motors gründete ein Joint Venture mit dem Chemiekonzern DuPont zur Herstellung von „Freon“, chemisch Dichlortetrafluorethan. Einziger Kunde der Wundersubstanz durfte aus patentrechtlichen Gründen die Frigidaire-Abteilung von General Motors sein – ein höchst unbefriedigender Zustand, wie nicht nur die neidische Konkurrenz empfand. Auch DuPont nämlich hätte gern mehr von der Substanz verkauft, die den ultimativen Durchbruch für Kühlschränke brachte. In den Jackson Laboratorien von DuPont in der Nähe von Philadelphia bekam daher ein junger Chemiker den Auftrag, nach anderen Kältemitteln zu suchen, die das General Motors Patent umgehen würden. Roy Plunkett war gerade 27 Jahre alt und hatte erst zwei Jahre zuvor seinen Doktor gemacht, das Kältemittelprojekt war sein erster größerer Auftrag für den Chemiemulti.
Plunkett wollte aus Tetrafluorethylen und Salzsäure einen neuen FCKW herstellen. Er legte sich einen enormen Vorrat von Tetrafluorethylen an – fast einen Zentner, abgefüllt zu Portionen von knapp einem Kilo in kleinen Stahlflaschen von der Größe einer Haarspraydose. Für bloße chemische Syntheseversuche hätte es eine solche Menge zwar nicht gebraucht; für die toxikologischen Test, die Plunkett ebenfalls gleich durchführen wollte, konnte man aber gar nicht genug von der zu untersuchenden Substanz haben. Plunkett lagerte das kostbare Gas bei Trockeneistemperaturen von etwa minus 80 Grad Celsius. Bei diesen Temperaturen war das Gas flüssig und der Druck in der Flasche gering – und damit auch die Gefahr, dass kleine Mengen des Gases durch undichte Ventile verloren gingen.
In verschiedenen Versuchsanordnungen wollte Plunkett das Chlor der Salzsäure dazu bringen, sich mit dem Tetrafluorethylen zu verbinden. Am Morgen des 6. April 1938 allerdings störte ein Zwischenfall die Routine. „Jack Rebok, mein Assistent, drehte wie immer das Ventil auf, aber es kam kein Gas“, erinnert sich Roy Plunkett. Ein Blick auf die Waage zeigte: Die Flasche war keineswegs leer; war vielleicht das Ventil verstopft? Sie stocherten mit einem Stück Draht in der Öffnung herum – nichts geschah. Als sie endlich das Ventil ganz abschraubten, wurde endgültig klar, dass kein Gas mehr in der Flasche war. „Als wir die Flasche umdrehten und vorsichtig mit der Öffnung auf den Tisch klopften, kamen wenige Krümchen eines eigentümlichen weißen Pulvers heraus“, berichtet Plunkett. Ein Chemiker weiß natürlich sofort, was das zu bedeuten hat: Die einzelnen Moleküle des Gases hatten sich vermutlich zu langen Ketten verbunden, waren polymerisiert. Die Grundzüge der Polymerchemie hatte man in den 1930er-Jahren bereits verstanden; fluorisiertes Ethylen allerdings, so war man überzeugt, konnte nicht polymerisieren. „Im ersten Moment waren wir uns der Bedeutung nicht im Mindesten bewusst“, erzählt Plunkett, „wir haben uns einfach nur geärgert, dass wir das teure Gas verloren hatten.“
Bild 1: Der Yag, an dem Teflon entdeckt wurde: Eintrag in Roy Plunketts Laborbuch vom 6.4.1938
Mehr aus Neugier denn aus Forschungsdrang sägten die Forscher den Behälter auf – und fanden die Behälterinnenwand regelrecht ausgekleidet mit der eigentümlichen weißen Masse. Damit hatten sie auch genügend davon für ein paar chemische Tests. Trotz aller Bemühungen blieb der Stoff völlig unbeeindruckt von allem, was man mit ihm chemisch anstellte – er reagierte mit keiner anderen Substanz, schien völlig „inert“ zu sein, wie Chemiker sagen. Selbst Königswasser, das teuflische Gemisch aus Salz- und Salpetersäure, in dem sich sogar Gold auflöst, vermochte dem Fluorpolymer nichts anzuhaben. Für einen Industriechemiker ist das zwar interessant, aber unter Anwendungsaspekten ein höchst unerfreuliches Ergebnis, da man mit einem solchen Stoff wenig anfangen kann. Und als Kältemittel taugte der neue Stoff schon gar nicht.
Bild 2: Roy Plunkett (rechts) und Kollegen stellen den entscheidenden Moment der Teflon-Entdeckung nach
Eigentlich also ein unerfreulicher, teurer Fehlschlag. Wie ein Blick in Plunketts Laborbuch zeigt, das im Firmenarchiv von DuPont in Wilmington/Delaware fast wie eine Reliquie verwahrt wird, gab Doc Plunkett trotzdem keine Ruhe. Neben der weiteren Suche nach einem neuen Kältemittel bemühte er sich doch über mehrere Wochen, den genauen Bedingungen, die zu der Polymerisation geführt hatten, auf die Spur zu kommen. Mit oder ohne Katalysator, bei hohen oder niedrigen Temperaturen, mit Katalysator und Lösungsmittel und so weiter. Entscheidend war Plunketts Gedanke, die Flaschen bei Trockeneistemperaturen aufzubewahren. Die Kombination aus Temperatur, Druck und der ungewöhnlich langen Aufbewahrungszeit hatte selbsttätig zur Polymerisation geführt. Mit verschiedenen Katalysatoren und Lösungsmitteln, stellte Plunkett fest, ließ sich der Vorgang allerdings beschleunigen. „Von Polymerchemie hatte ich allerdings kaum Ahnung, das war damals noch ein Zweig für Spezialisten“, erinnert sich Plunkett. Und die gab es im Hause DuPont zur Genüge – schließlich war ihnen wenige Jahre bzw. Monate zuvor mit Neopren und Nylon die Synthese epochaler Kunststoffe gelungen (siehe im Kapitel „Heiße Geschäfte durch kaltes Ziehen“). Plunkett reichte seine Entdeckung an die Polymerabteilung weiter. Der Grund für die Unangreifbarkeit des Materials, so fanden die Chemiker schnell heraus, waren die festen chemischen Bindungen innerhalb des Polytetrafluorethylenmoleküls. Nach eingehenden Analysen aber winkten die Nylonerfinder ab: Eine Idee, zu was die eigentümliche Substanz nutze sein könnte, hatten auch sie nicht, und vor allem entmutigte sie eine kurze Überschlagsrechnung der Produktionskosten. Selbst wenn sich etwas mit dem Polytetrafluorethylen (PTFE) anfangen ließe, wären die Herstellungskosten so hoch gewesen, dass eine erfolgreiche Vermarktung völlig ausgeschlossen erschien. PTFE verschwand im Firmenarchiv.
Bis zum Jahr 1943, als die Väter der Atombombe bei ihrem Manhattan Project vor unlösbaren Problemen standen. Um das für die Kernspaltung nötige hoch angereicherte Uran herzustellen, mussten sie mit Uranhexafluorid experimentieren – ein extrem korrosiver Stoff, der alle Behälter und Leitungen, mit denen er in Berührung kam, binnen kürzester Zeit zerstörte. Ihr dringender Hilferuf an alle Chemiefirmen erreichte auch die DuPont-Forschungsabteilung, wo man sich der eigenartigen Substanz erinnerte, die sich sämtlichen chemischen Angriffsversuchen widersetzt hatte. Nach umfangreichen verfahrenstechnischen Versuchen gelang es bald, mit PTFE, an dem ja bekanntlich nichts haftet, Oberflächen zu beschichten. In aller Eile fuhr DuPont die Produktion von „K416“, wie PTFE nun im Code hieß, hoch, um genügend davon für die Forscher des Manhattan Projects liefern zu können. Ab 1943 schützte eine Teflonschicht die Behälter und Rohrleitungen der Atomforscher.
Nach dem Krieg, im Jahre 1948, begann die Firma mit der kommerziellen Produktion der Substanz, für die der Kunstname „Teflon“ ersonnen wurde. Beschichtungen, Dichtungen und Isoliermaterial waren die Haupteinsatzgebiete. Als dann der Wettlauf ins Weltall begann, griffen auch die NASA-Ingenieure dankbar die Erfindung Plunketts auf. Vom Explorer 1 bis zum Space-Shuttle haben Teflon und seine Derivate die Geschichte der amerikanischen Raumfahrt begleitet – als Kabelisolierung, Hitzeschutzkachel oder als Schutzschicht auf den Raumanzügen. Die Apollo-Mondlandefähren hatten mehrere Hundert Kilo Teflon an Bord; selbst die Sammeltüten für Mondgestein bestanden daraus.
Die berühmte Teflonpfanne, die wir angeblich der Raumfahrt verdanken, gab es da übrigens schon seit fast 10 Jahren – und auch bei ihrer Erfindung hatte der Zufall eine Rolle gespielt. Anfang der 1950er-Jahre hörte der Pariser Chemiker Marc Gregoire von der schlüpfrigen Substanz. Zum Glück heutiger Hausmänner und -frauen hatte Gregoire ein Hobby, das ihm einerseits viel Zeit zum Nachdenken ließ und andererseits ein Problem mit sich brachte, welches durch Teflon, wenn auch nicht völlig gelöst, so doch deutlich verkleinert wurde. Gregoire war passionierter Angler; immer wieder ärgerte er sich über völlig verhedderte Angelschnüre. Eine hauchdünne Teflonschicht auf der Schnur half beim Entwirren.
Und die Pfanne? Die Idee dazu, so will es die Anekdote, kam seiner Frau. Gregoire, der zu Küchenutensilien bisher keine größere Affinität bewiesen hatte, gründete eine neue Firma, mit der er ins Pfannengewerbe einstieg. Unter dem Namen „Tefal“ produzierte und verkaufte Gregoire binnen weniger Jahre über eine Million Pfannen und Töpfe mit der Antihaftbeschichtung – allerdings nur in Europa. In den USA schlugen zunächst alle Vermarktungsversuche fehl. Kein Hersteller sprang auf Gregoires Idee an, und die US-Kaufhausketten, an die der Pariser Tüftler insgesamt 3000 Probepfannen verschickte, stellten die nicht mal ins Regal. Mit viel Mühe gelang es ihm dann doch, den Kaufhauskonzern Macy’s zu überreden, 200 Tefal-Pfannen ins Sortiment zu übernehmen. Innerhalb von zwei Tagen waren alle verkauft, die Teflonpfanne hatte es auch in der Heimat des Wunderstoffs geschafft.
Die Entdeckungsgeschichte rund ums Teflon aber war damit noch nicht beendet. Der amerikanische Unternehmer William Gore, ein ehemaliger DuPont-Mitarbeiter, verarbeitete den von seiner früheren Firma hergestellten Rohstoff zu Isoliermaterial für elektrische Geräte. Nicht zuletzt um den Materialeinsatz zu optimieren und neue Einsatzfelder für das teure Material zu finden, versuchte sein Sohn Bob im Jahre 1969 den Kunststoff zu strecken. Er erhitzte einen Teflonstab und zog vorsichtig an beiden Enden. Nach nur wenigen Zentimetern zerbrach der Stab – und nach ihm Dutzende weiterer Probestäbe, die er unter verschiedenen Bedingungen zu strecken versuchte. Nach mehreren Wochen voller Fehlversuche nahm er einen glühend heißen Stab in seine asbestbewehrten Hände und riss ihn voller Wut ruckartig auseinander. Völlig überraschend dehnte sich der Stab dabei, ohne zu brechen. „Ich erzählte zunächst niemandem davon, weil ich dachte, es wäre ein dummer Zufall gewesen“, erinnerte sich Gore später. Aber wie es mit „dummen Zufällen“ halt mitunter so ist: Er ließ sich beliebig oft wiederholen. Die dünne Teflonmembran, die man beim extremen Dehnen des Grundstoffs erhielt, eignete sich hervorragend zur Herstellung extrem widerstandsfähiger Dichtungen.
Wenn heute von „Gore-Tex“, wie Gore die Membran bald nannte, die Rede ist, denkt aber kaum jemand an Dichtungen für Rohre. Mit „Dichtigkeit“ hat aber auch die Anwendung zu tun, durch die Gore-Tex weltbekannt wurde. Die hauchdünn gestreckte Teflonfolie nämlich erwies sich einerseits als wasserdicht, ließ aber Wasserdampf ungehindert passieren. Schutz vor Regen, aber dennoch atmungsaktiv: für alle erdenklichen Arten von „Outdoor-Aktivität“ ein wahres Traummaterial, das als Membran in Oberbekleidung oder in Schuhen eingesetzt wurde. Das Geheimnis der Teflonmembran besteht aus winzigen Löchern – fast unglaubliche 1,5 Milliarden pro Quadratzentimeter. Wasser in Tropfenform kann sich wegen seiner Oberflächenspannung nicht durch die Löcher zwängen; Wasserdampf aber, wie er von der schwitzenden Haut aufsteigt, besteht aus einzelnen H20-Molekülen, die die Poren passieren können. Gore-Tex sorgt allerdings nicht nur für trockene Haut – vielen Millionen Menschen steckt das Material sogar unter der Haut. Seine unangreifbaren Eigenschaften machen es ideal für Implantate. Künstliche Gelenke oder Herzklappen werden aus Gore-Tex gefertigt, aber auch Inletts für verkalkte Arterien oder komplette Bauchschlagadern haben die Chirurgen am Lager.
Bild 3: Roy Plunkett (1911–1994) mit Kabel und Muffin-Backform – Teflon beschichtet
Roy Plunkett übrigens, der durch seine Zufallsentdeckung im Jahre 1938 den Grundstein für Antihaftpfannen, Klimamembran und Arterieninletts legte, hatte seinerzeit längst andere Aufgaben bei DuPont übernommen. In Corpus Christi, Texas, war er maßgeblich am Aufbau einer neuen Fabrik beteiligt. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1975 war er Produktmanager für den Bereich organisch-chemische Erzeugnisse des Weltkonzerns. Auch danach blieb Plunkett ein Vorzeige-Angestellter DuPonts, bis er 1994, 83-jährig, in Corpus Christi starb.
Außergewöhnlichen Reichtum hatte ihm seine Entdeckung nicht gebracht: Das Teflonpatent gehörte der Firma.
Manche Produkte sind derartig erfolgreich, dass ihr Markenname Synonym für eine ganze Produktklasse wird: „ Tempo “ für Papiertaschentuch etwa oder „ Aspirin “ für den Wirkstoff Acetylsalicylsäure. Und natürlich „Tesa“ für transparentes Klebeband. Dabei ist der Dauerseiler aus dem Hause Beiersdorf eigentlich ein verunglücktes Hansaplast; und auch bei seiner Vermarktung half der Zufall. Eine völlig verrückte Studentenidee könnte dem Tesafilm sogar eine Zukunft als Datenspeicher bescheren.
Nivea, Tesa, Hansaplast – Paul Beiersdorf konnte im Jahre 1882 nicht ahnen, dass sein kleines Hamburger Unternehmen zu einem Weltkonzern aufsteigen würde, der nicht nur zwei Weltkriege überstehen, sondern bis ins 21. Jahrhundert hinein allen Fusionsverlockungen und Übernahmeanfeindungen widerstehen würde. Beiersdorf genießt Weltruf bei Hautpflegemitteln, bei der Wundversorgung und bei Klebebändern. Was sich zunächst nach einer eigentümlichen Melange anhört, hängt historisch eng zusammen; und bei der Herausbildung dieser Produktpalette half der Zufall.
Die Geschichte des Unternehmens beginnt mit einem Patent des Hamburger Apothekers Paul C. Beiersdorf vom 28. März 1882. Darin wird ein von ihm entwickeltes, neuartiges Verfahren zur Herstellung von medizinischen Pflastern beschrieben. Medizinische Pflaster waren seinerzeit noch meilenweit entfernt von den praktischen Heftpflastern unserer Tage. Pflaster waren Wundabdeckungen mit heilenden Ingredienzien, die mittels eines Verbandes auf die Wunde aufgebracht wurden. Paul Beiersdorf versah seinen Pflastermull nun erstmals mit einer Klebstoffschicht auf Guttaperchabasis – das allererste Heftpflaster war geboren – und damit das erste Produkt des Hauses Beiersdorf, das man anfangs wohl am ehesten als größere Apotheke bezeichnet hätte.
Im Jahre 1890 übernahm Oskar Troplowitz die Leitung des Laboratoriums von Paul Beiersdorf. Er war ebenfalls Apotheker, hatte aber eine viel deutlicher ausgeprägte unternehmerische Ader als sein Vorgänger. Er erkannte früh, welche langfristigen Chancen in Produkten liegen, die bei der Lösung alltäglicher Probleme wirksam helfen – jenseits von Heftpflastern. Ein wacher, „vorbereiteter“ Geist, der ständig nach neuen Einsatzmöglichkeiten seiner Produkte suchte. Vor allem der geringe Erfolg seines Guttapercha-Pflastermulls machte ihm zu schaffen. Der Weisheit letzter Schluss war das von seinem Vorgänger Beiersdorf entwickelte Klebepflaster keineswegs, und auch Troplowitz’ eigene Weiterentwicklungsversuche wiesen zunächst keinen Weg aus dem Dilemma: Entweder klebte es nicht richtig, und man musste den Mull zusätzlich mit einem Verband fixieren, oder es klebte derartig, dass beim Abziehen des Pflasters die Haut gleich mit abgelöst wurde. Hautreizungen durch den Klebstoff waren ohnehin ständige unangenehme Begleiterscheinungen des Pflasters.
Eine besonders „kontaktfreudige“ Klebstoffmischung, auf die er in seinen Labors gestoßen war, brachte Troplowitz auf eine folgenreiche Idee. Er vermarktete sein Produkt als „Sport-Heftpflaster für Radfahrer, Reiter & Touristen“. Cito – so der Name des neuen Wunderprodukts – eigne sich „zum Dichten von Luftreifen und zum Schutzverband von Verletzungen“ gleichermaßen. Der wahrhaft geniale Marketingschachzug hatte nur einen kleinen Fehler: Als Heftpflaster war das Klebeband wegen seiner reizenden Wirkungen nach wie vor kaum zu gebrauchen. Und auch als Fahrradflickzeug und Klebeband hatte Cito nur bescheidenen Erfolg. Immerhin: Das ursprünglich als Heftpflaster entwickelte „Lassoband“, wie Cito später genannt wurde, begründete den neuen Beiersdorf-Geschäftszweig der technischen Klebebänder. Was die Pflasterentwicklung angeht, hatte Troplowitz übrigens doch noch Erfolg. Im Jahre 1901 brachte er das erste selbstklebende Pflaster der Welt auf den Markt, das die Haut nicht mehr reizt. Beim „Leukoplast“ hatte er die Klebemasse mit Zinkoxid angereichert, was die negativen Folgen des Klebstoffs ausglich. Und das noch heute erfolgreiche Hansaplast (im Prinzip ein Leukoplast mit Wundauflage) ist seit 1922 auf dem Markt.
Vom Lassoband zum Tesafilm allerdings war es noch ein weiter Weg. 1934 trat der 25-jährige Industriekaufmann Hugo Kirchberg aus Eisenach eine Stelle bei Beiersdorf an. Er erkannte sofort, dass die völlig archaischen Vertriebsstrukturen der Firma für den Misserfolg vieler Produkte verantwortlich waren. Vor allem der Vertrieb des Lassobandes war ihm ein Dorn im Auge. Anfertigung und Lieferung erfolgten nur auf Bestellung: Wollte ein Kunde Lassoband kaufen, konnte er keineswegs in die Bürobedarfshandlung um die Ecke gehen. Er musste seine schriftliche Bestellung an Beiersdorf richten; die Firma handelte daraufhin einen Quadratmeterpreis mit dem Kunden aus und fertigte erst dann das Produkt eigens für ihn, auf seine individuellen Bedürfnisse zugeschnitten, an. Kirchberg erkannte, dass ein solches Vorgehen einer Massenverbreitung, gelinde gesagt, recht hinderlich war. Er entwarf ein völlig neues Produktions-, Vertriebs- und Preismodell für das Klebeband: Geliefert und verrechnet würde nach Rollen, die in verschiedener Größe und Breite angeboten werden sollten.
Alles war für den Vertriebsstart der neuen Lassobandrollen vorbereitet, da zog der Vorstand die Notbremse: Wegen Devisenmangels stand nur unzureichend Gewebe zur Verfugung, Ersatz gab es nicht. Kirchberg verbrachte Tag für Tag im Labor bei den Chemikern, um sich nach dem Stand ihrer Suche nach einem Ersatz zu erkundigen. Doch vergebens – was sie in ihren Reagenzgläsern zusammenkochten, war leider gänzlich ungeeignet, ein anständiges Klebeband abzugeben. In der Not klopfte Kirchberg bei anderen deutschen Chemieunternehmen an – und wurde fündig. Die Wacker-Chemie in München konnte geeignetes Material liefern: spröde Acetatfolie, Cellophan. Statt Klebeband auf Rollen gab es nun Klebefilm. Und den passenden Abroller entwickelte Kirchberg gleich mit. Noch heute orientieren sich die Tesa-Abroller in Form und Funktion an Kirchbergs Ur-Entwurf.
Bild 1: Hugo Kirchberg (1909–1999)
Den Namen „Tesa“ erhielt das Klebeband 1936 – ein Name, der schon Jahrzehnte vorher geschaffen worden war. Er setzt sich zusammen aus der Anfangssilbe des Nachnamens und der Endsilbe des Vornamens der Beiersdorf-Sekretärin Elsa Tesmer, die 1908 für die Firma arbeitete. Warum und wieso die Beiersdorf-Strategen seinerzeit gerade einer Sekretärin so viel Ehre zuteil werden ließen, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Jedenfalls ließen sie den Namen „Tesa“ 1908 schützen und benannten eine Patenttube für Zahnpasta danach. Das Produkt wurde zum Flop – ebenso wie der zweite Versuch im Jahre 1926, als der Name einer neuartigen künstlichen Wurstpelle ebenfalls kein Glück am Markt brachte. Kirchberg grub das Warenzeichen in den Beiersdorf-Archiven aus und setzte es gegen den Vorstand durch, der noch die beiden Tesa-Flops ungut in Erinnerung hatte – und zu dem Namen „Pilot“ riet.
Bild 2: Heile Welt mit Tesafilm
Bild 3: Tesa-Werbung aus den 1950er Jahren. Der schneckenförmige Abroller blieb bis heute mit leichten Veränderungen im Programm