Inquisitorin Kyra
5 Dieses Mal wirst du es gar nicht erst versuchen. Das hatte der Verräter Erinstor ihm mit dieser seltsam sanften Stimme eingeflüstert. Das war, als er in der Zelle gehangen hatte. Doch dies hier war anders. Die Zelle war eine von sechs Stück, die ebenerdig gelagert waren, und sie bot durch ein vergittertes Fenster einen Blick in den dunklen Innenhof. Nur eine Laterne sorgte dort für Licht, sodass Wiesel den Galgen, an dem er bald sein Ende finden sollte, nur im Schatten und schemenhaft wahrnahm.
Für eine Zelle war diese luxuriös. Sie besaß ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl und sogar einen Waschstand. Damit er nicht blutbesudelt und beschmutzt vor die Götter treten musste. Jemand hatte ihm Papyira, Federkiel und Tinte ausgelegt, damit, wie der Korporal sagte, als er ihn in diese Zelle stieß, er noch imstande war, seine Angelegenheiten zu ordnen. »Wenn Ihr nicht schreiben könnt, diktiert es mir«, hatte er noch angeboten, doch begeistert hatte er dabei nicht geklungen.
Die Fesseln hatte man ihm abgenommen, jetzt blieb nur noch die geschlossene Tür. Tatsächlich hätte es schwieriger sein sollen, von hier zu entkommen, auch hier standen ihm drei Türen im Weg und an und für sich auch ein halbes Dutzend Wachen. Nur war der Wachraum nicht besetzt. So oft, wie hier in der Hochstadt die Soldaten Streife gingen, hielt sich das Verbrechen sehr in Grenzen, den Gesprächen der Soldaten vor der Tür hatte er entnommen, dass es in diesem Jahr nur zwei Verurteilungen gegeben hatte. Offenbar war es sogar schwierig, für die frühe Uhrzeit einen Henker zu bekommen.
Blieben der Sergeant und der Korporal, die an einem Tisch am Ende des Ganges saßen und Karten spielten.
Das Schloss an der Tür war wahrscheinlich Jahrzehnte wenn nicht Jahrhunderte alt, doch es brauchte auch nicht besonders gut zu sein, es gab, was nicht überraschte, kein Schlüsselloch auf Wiesels Seite.
Neben seiner Flinkheit und Geschicklichkeit hatten die Götter in ihrer Güte Wiesel noch zwei andere Talente mit auf den Weg gegeben. Das eine war dazu gut, Schlösser zu überreden, das andere bestand darin, dass er, wenn er es so wollte, besonders leicht zu übersehen war. Beide Talente waren nicht besonders groß, das Schloss musste in der Nähe sein, eine Armlänge war bereits zu viel, und war man besonders aufmerksam, konnte man auch einen Wiesel sehen. Wiesel hatte davon gehört, dass es Talente gab, die es einem erlaubten, durch den Stein zu gehen, ein solches Talent wäre jetzt nett gewesen. So klein seine Talente auch waren, Wiesel hatte sich zeitlebens in ihnen geschult, so war es auch kein Wunder, dass das Schloss mit leisem Klicken aufsprang, kaum dass Wiesel seine Hand darauf legte. Lautlos schlich Wiesel aus der Zelle und zwang sich, die blutenden Rattenbisse an seinen Füßen für den Moment nicht mehr zu beachten.
Kaum war Wiesel im Gang, hörte er aber, wie vorne, dort, wo die beiden Soldaten saßen, eine Tür geöffnet wurde, gefolgt von dem Scharren der Stühle, als die beiden Bullen aufsprangen, um zu salutieren.
»Ich hörte, ihr habt einen Mörder gefangen?«, fragte eine kühle klare Stimme, dennoch klang sie seltsam hohl. Die Stimme einer Sera, doch eine, die er nicht erkannte.
Der Sergeant gab ihr Antwort. »Ja, Sera. Er ist in der hintersten Zelle untergebracht, ich werde Euch zu ihm führen.«
»Es ist ein kurzer Gang, Sergeant, glaubt Ihr, ich werde mich verirren? Ihr beide wartet hier, dies geht euch nichts an.«
Hastig glitt Wiesel zurück in seine Zelle und verschloss die Tür, als die gemessenen Schritte näher kamen, saß er am Tisch und tat, als wäre er bedrückt. Was ihm so schwer nicht fiel.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, dann wurde die Zellentür aufgezogen, und im Schein der Laterne auf dem Gang konnte Wiesel eine Sera sehen, deren Robe, von der Farbe alten Blutes, ihn scharf die Luft einziehen ließ.
So wie der Stoff der Robe ihre Figur betonte, gab es keine Zweifel an ihrer Weiblichkeit, doch unter der Kapuze dieser sah er nur eine Maske. Diese Maske war fein ausgeformt und zeigte ein schmales Gesicht aus Stahl, das einen Ausdruck von unnahbarem Desinteresse trug.
Waffen trug die Sera keine, aber dies wollte nicht viel heißen. Wie die Federn, die Gelehrten der Legionen, übten sich auch die Inquisitoren im waffenlosen Kampf und waren, den Geschichten nach, auch mit bloßen Händen tödlich. All dies war indessen nebensächlich. Wichtig war allein, dass sie für eine Sera groß geraten war und sie in etwa Wiesels Größe hatte. Also gut, dachte Wiesel grimmig. Vielleicht konnte er sie überzeugen, was unwahrscheinlich war. Wenn nicht, gab es jetzt einen neuen Plan.
»Ich bin Inquisitorin Kyra«, sagte die vermummte Gestalt, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Wiesel durch die Augenschlitze ihrer Maske. »Stabsmajor Onsgard war mit dem Urteil nicht zufrieden und verwies Euren Fall an uns. Nur um Euch vorzuwarnen: Euer Urteil wird zum Morgengrauen vollstreckt werden, ich bin lediglich hier, um Unregelmäßigkeiten aufzuklären.«
Dafür, dass sie Unregelmäßigkeiten geradezu unerbittlich aufklärte, stellte Wiesel fest, war Kyra bekannt. Der alte Mann hatte ihm von ihr erzählt: Hochinquisitor Pertok hatte viel von ihr gehalten und nur einen Makel an ihr festgestellt. Dass Wiesel wusste, wer sie war, hätte ihm zum Vorteil gereichen sollen, doch mit dem Bann des Nekromanten war auch dieser Weg versperrt.
»Wie schön für mich«, sagte Wiesel also bissig. »Jetzt müsste ich Euch noch von dem Mann erzählen können, der mich in meiner Zelle …« Als ihm klar wurde, was er da soeben gesagt hatte, fing Wiesel fast schon hysterisch an zu lachen. »Götter!«, stieß er hervor. »Er befahl mir, dem Richter und den Wachen hier nichts zu erzählen, doch Ihr seid weder das eine noch das andere!«
Die Sera mit der Maske legte den Kopf schräg.
»Was …«
»Ein Seelenreiter«, brach es aus Wiesel heraus. »Eine der alten Eulen des Kaisers, die schon zur Zeit des alten Reiches zu Kolaron Malorbian übergelaufen ist. Er kam in meine Zelle, als ich dort gehangen habe. Sein Name ist Erinstor, und er hat mir Befehle aufgetragen, gegen die ich nicht aufbegehren kann! Er verbot mir, den Wachen und dem Richter hier zu erzählen, was sich zugetragen hat, aber Ihr seid weder eine Wache noch ein Richter. Und er hat noch mehr mit mir gemacht und ich …«
Die Inquisitorin hob die Hand.
»Langsam, Ser«, sagte sie. »Fangt von vorne an, wir haben noch fast eine halbe Glocke Zeit. Was sagt Ihr da von einem Nekromanten?«
Mit knappen Worten erklärte Wiesel, was sich in seiner Zelle zugetragen hatte, aber noch immer hielten ihn die Worte des Verräters in ihrem Bann. Er konnte der Inquisitorin erklären, dass er nicht der war, der er zu sein schien, doch egal, wie sehr er sich bemühte, es war ihm nicht möglich, einen Hinweis darauf zu geben, dass er Wiesel war. Jedes Mal, wenn er es versuchte, fühlte er den Zwang zu erklären, dass er es war, der einen gewissen Wiesel aus Eifersucht erschlagen hätte, und konnte die Worte noch gerade so herunterwürgen.
Die Inquisitorin hörte in Ruhe zu, nickte und stand auf. »Erinstor, sagt Ihr, war sein Name? Und Ihr haltet ihn für eine der verräterischen Eulen aus der Kaiserzeit und einen Nekromanten?«
»Ja«, antwortete Wiesel.
»Hat er sonst noch etwas über sich gesagt?«
Wiesel schüttelte den Kopf, doch dann fiel ihm noch etwas ein. »Er sagte, der Kaiser hätte ihn zuerst verraten und versucht, ihm sein Talent zu nehmen.«
Sie hob überrascht den Kopf. »Er warf dem Kaiser Nekromantie vor?«
»Nein«, sagte Wiesel. »Ich verstand es so, dass der Kaiser versuchte, ihm sein Talent zu zerstören.«
»Dieses Talent, anderen zu befehlen?«
»Ja. Vielleicht«, sagte Wiesel. »Er besitzt aber auch das Talent, andere zu verändern. Ich habe im Wasser in der Schüssel dort mein Gesicht gesehen.« Er wies auf den Waschstand. »Es ist nicht mehr das Gesicht, das die Götter mir gegeben haben.«
»Also gut«, sagte die Inquisitorin. »Zusammenfassend: Ihr habt geschlafen, als die Bardin Refala ermordet wurde, obwohl Ihr sonst angebt, einen leichten Schlaf zu haben. Ihr wart benommen und verwirrt, als man Euch weckte, und denkt, man hätte Euch betäubt. Der wahre Mörder kam dann durch einen Zauber in Eure Zelle. Dort zwang er Euch durch Magie, diesen Mord zu gestehen, und formte Euch mit seinen Händen zu einem anderen um. Für sein Handeln nannte er einen Grund, nur dass sein Befehl Euch hindert, ihn zu nennen. Ist dies das, was Euch angeblich widerfahren ist?«
»Ja«, sagte Wiesel. »Ich weiß, wie es sich anhören muss, doch …«
»Falls es Euch beruhigt«, unterbrach sie ihn. »Ich glaube nicht, dass es Euch geholfen hätte, hättet Ihr das vor Gericht erzählt. Mögen die Götter Gnade mit Euch haben, Ser Fuchs.«
Sie ging zur Tür hin und klopfte, und der Sergeant öffnete die Tür für sie.
»Ist das alles?«, fragte Wiesel ungläubig. »Ich werde immer noch gehenkt?«
Sie blieb in der Tür stehen und sah zu ihm zurück. »Ich sehe keinen Grund, warum das Urteil nicht bestehen bleiben sollte.«
Da war er also, dieser Makel, dachte Wiesel und zollte dem alten Mann im Nachhinein Respekt, er kannte seinen Schützling gut. Der Makel, sich seiner selbst zu sicher zu sein und sich nicht selbst zu überdenken. Ein Makel, den auch Wiesel sehr gut kannte.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und Wiesel hörte, wie sich ihre Schritte und die des Sergeanten entfernten. »Hat er Euch sagen können, was Ihr wissen wolltet?«, fragte der Sergeant respektvoll.
»Er tischte mir eine wahnwitzige Geschichte auf und erwartete, dass ich sie glauben würde.«
»Und? Glaubt Ihr ihm?«
Wiesel hörte sie noch seufzen. »Ich glaube ihm, dass er es glaubt. Der Mann ist wahnhaft, Sergeant, doch der Strick wird sein Leid noch früh genug beenden.«
»Bei Borons Arsch, was für ein stures Stück«, fluchte Wiesel. Dabei gab es ein Verzeichnis, in dem die Namen aller Eulen standen, die es je gegeben hatte, es wäre leicht genug gewesen, das zu überprüfen. So aber hatte sie nur seine Zeit verschwendet, Zeit, die ihm jetzt so kostbar war! Nun, die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihm helfen würde, war von Anfang an gering gewesen, doch sie konnte ihm trotzdem nützlich sein, denn für sie würden alle Türen offen stehen. Noch während ihre Schritte verhallten, entriegelte Wiesel rasch die Tür, da er das Schloss nun kannte, sprang es bereits bei seiner Berührung auf. Er verschloss die Tür und eilte den beiden mit leisen Schritten nach und war dabei schnell genug, sie so rechtzeitig einzuholen, dass er sich noch durch die Tür drücken konnte, bevor sie vor seiner Nase zugeschlagen wäre.
Einen Moment lang schien es ihm, als würde die Inquisitorin ihn direkt ansehen, aber dann trat sie an den Tisch, um eine Eintragung ins Wachbuch vorzunehmen. Sowohl der Sergeant als auch der Korporal sahen zu, wie sie dort schrieb, keine große Ablenkung gewiss, doch es reichte Wiesel, um sich ungesehen durch die nächste Tür zu drücken. Auch von dem Gang, zu dem die Tür hinführte, gingen Zellen ab. Manchmal, dachte Wiesel zufrieden, hörten die Götter scheinbar doch auf die Gebete.