Die Robe

6  Wiesel hatte oft genug zugesehen, wie sich die Federn im waffenlosen Kampf übten, und wusste, dass er sich gegen eine Meisterin in diesem Stil keinen Sieg erhoffen konnte. Er war nicht imstande, einen Stein mit einer Hand zu zerschlagen oder andere mit einem Finger gleich vier Schritt weit durch die Lüfte segeln zu lassen. Doch er war in den Straßen aufgewachsen, und dort hatte er gelernt, sich zu behelfen. In der nächsten freien Zelle entledigte er sich seiner Fesseln. Die Fußmanschetten waren schwer genug für seinen Zweck.

Die Kette um seine Hand gewickelt, die eiserne Manschette fest im Griff, wartete er, bis sie an seiner Zellentür vorübergegangen war, dann tat er einen raschen Schritt hinaus.

»Tut mir leid«, flüsterte er leise, wenngleich nicht leise genug, denn schnell wie eine Natter fuhr sie herum, und ihre Ferse beschrieb dort einen Bogen, wo Wiesels Kinn eben noch gewesen war. Bevor dies noch so endete, dass er mit gebrochenem Kiefer hier zu Boden ging, schlug Wiesel zu, und als die harte eiserne Manschette sie an der Schläfe traf und sie in sich zusammensackte, fing er sie auf, bevor sie noch laut auf den Boden fallen konnte. Er zog sie in die Zelle, wo er sie rasch von ihren Kleidern und der Maske befreite.

Er musterte die regungslose Sera und unterdrückte einen Seufzer. Inquisitorin Kyra besaß ein ebenmäßiges Gesicht mit weit geschwungenen Augenbrauen, eine gerade Nase und ein stures breites Kinn. Ihre Haare waren blond und kurz geschnitten, wie es bei den Priestern in Borons Tempel üblich war. Bewusstlos sah sie überraschend jung und unschuldig aus, und für einen Moment spürte Wiesel Reue, dass er so hart zugeschlagen hatte. Er prüfte ihren Puls und tastete ihren Schädel ab, um erleichtert festzustellen, dass sie es überleben würde – nur eine Beule würde sie wohl morgen haben.

Das Leibchen und ihre Stiefel ließ er ihr. Das Leibchen, weil sie es brauchte und es unschicklich gewesen wäre, die Stiefel, weil sie ihm nicht passten. Er legte ihr seine Ketten an und verschloss die Zellentür, dann ging er barfuß weiter den Gang entlang.

Der Schwertsoldat, der weiter vorne Wache hielt, war freundlich genug, ihm mitzuteilen, in welcher Kammer man die Besitztümer der Gefangenen zwischenlagerte. Auch der Korporal, der diese Kammer bewachte, war hilfsbereit und überreichte ihm einen Beutel, in dem sich Wiesels Eigentum befand.

Als die Soldaten ihn kurz darauf ungehindert das Tor durchschreiten ließen, war Wiesel versucht, hysterisch aufzulachen. So aber zwang er sich dazu, gelassen weiterzugehen. Jeden Moment musste einem der Soldaten dort auffallen, dass dieser Inquisitor barfuß ging, und bei jedem Atemzug erwartete er den Alarm oder einen Ruf. Doch nichts geschah, niemand hielt ihn auf, im Gegenteil, fast jeder, dem er nahe kam, sah zur Seite oder zum Boden weg und ging ihm aus dem Weg.

So ist es also, wenn man diese Robe trägt, dachte Wiesel und suchte sich den schnellsten Weg zur nächsten Gasse, wo er ungesehen war. Man hätte meinen können, es wäre Respekt, den man dem Träger einer solchen Robe entgegenbrachte. Doch Wiesel wusste es besser. Es war die Furcht. Oder aber das schlechte Gewissen.

Wenn es jemanden gab, vor dem Wiesel zeitlebens Respekt oder vielleicht sogar Angst gehabt hatte, war dies die Inquisition oder, noch genauer, Hochinquisitor Pertok. Für ein paar junge Diebe, die von ihrer Geschicklichkeit und der Dummheit der Menschen leben mussten, war er der personifizierte Schrecken. Wie Desina einst sagte, sie würde lieber mit dem Namenlosen selbst Fangen spielen, als sich dem Hochinquisitor stellen zu müssen.

Auch damals, als sie noch Kinder waren, war Hochinquisitor Pertok schon älter als die Berge gewesen. Allein der Anblick des hochgewachsenen hageren Mannes hatte ausgereicht, um Wiesel breit grinsend flüchten zu lassen. Die Erinnerung an seine dunkelrote und schwarze Robe, den gemächlichen und dennoch weiten Schritt, der üblicherweise jeden vor ihm Platz machen ließ, seine gerade Haltung und vor allem diese kühlen klaren Augen, die einem scheinbar tief in die Seele zu schauen vermochten, zudem die Erinnerung an den Moment, als er dem Mann das erste Mal gegenübergestanden hatte, ließen den schlanken Dieb noch heute frösteln.

Einst, als Magie in Askir noch allgegenwärtig gewesen war, hatten die Eulen, die Kriegszauberer des alten Reichs, weitaus mehr getan, als die Mysterien der Magie zu erforschen. Sie hielten auch die Ordnung im Kaiserreich aufrecht, waren überall dort zur Stelle, wo die Ereignisse über das hinausgingen, was die Legionen oder die Seeschlangen erreichen konnten.

Der Eid einer Eule, magisch und nicht zu brechen, band sie daran, ihre Fähigkeiten zum Wohle des Reichs und seiner Bürger einzusetzen. Darin, wie sie es taten, waren sie grundsätzlich frei, doch über die Zeit wurde es üblich, die Eulen dorthin zu rufen, wo sich ein besonders abscheuliches oder schwer aufzuklärendes Verbrechen ereignet hatte.

Allein das Wissen darum, dass ein Verbrechen die Aufmerksamkeit einer Eule auf sich ziehen könnte, hatte viele davon abgehalten, gegen die Gesetze des Reichs zu verstoßen. Sicher, in manchen Fällen wurden auch die Priester des Boron tätig und sorgten dafür, dass die Schuldigen bestraft wurden, aber die Gesetze des Kaiserreichs waren weltlicher Natur, und es war nicht üblich, die Diener des Gottes der Gerechtigkeit zur Aufklärung von Straftaten heranzuziehen.

Doch schließlich, an einem schicksalhaften Tag, verließ die Magie die Kaiserstadt. Binnen weniger Jahre waren die meisten Eulen dem Fanal erlegen, eine Art magischer Unfall, der leicht geschehen konnte, wenn das Wirken der Magie über das hinausging, was an magischen Kräften zur Verfügung stand. Dann nämlich bezog die Magie ihre Kraft aus dem Sein des Magiers, was zu dem Fanal führte, zu einer Lichtsäule, die bis zum Himmel hinaufreichte und in der die Eule verging und mit ihr all jene, die zu nahe waren.

Knapp ein Jahrzehnt, nachdem der Kaiser abgedankt und den Königreichen ihre Unabhängigkeit zurückgegeben hatte, gab es in der Kaiserstadt so gut wie keine Eulen mehr. Der Kaiser war verschwunden, niemand wusste, wo er war, ob er noch lebte und zurückkommen würde, die Ordnung und das Weltengefüge war erschüttert, die Königreiche, einst zuverlässige Handelspartner unter der Führung kaiserlicher Gouverneure, gingen ihren eigenen Weg und suchten Möglichkeiten, sich von der Kaiserstadt zu lösen und alte Traditionen und Verbindungen aufzubrechen.

So viele ehrliche Bürger es auch gab, es gab auch solche, die den schmalen Pfad der Ehrbarkeit nur unter dem Zwang und der Angst vor der Entdeckung durch die Eulen gegangen waren. Nun, da die Eulen nicht mehr waren, fiel dieser Zwang zur Ehrlichkeit, und bald versuchten sich alle, denen es danach gierte, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Es war nicht das erste Mal, dass Korruption und Zwietracht ein großes Reich in den Abgrund führte, und auch für die alte Kaiserstadt schien dies der Weg zu sein, der sich alsbald abzeichnete.

Kaum jemand hatte verstanden, wie wichtig die Arbeit der Eulen für das Kaiserreich gewesen war, jetzt da sie vergangen waren, zeigte sich die Schwachstelle in den Gesetzen des Kaisers. Ohne die Unbestechlichkeit der Eulen war kaiserliches Recht jetzt käuflich. Das Gesetz, einst ein eherner Pfeiler, auf dem der Frieden in der Stadt ruhte, galt nur noch für die, die es sich leisten konnten; Bestechung war die Norm und Unrecht folgte.

Bis der damalige Hochkommandant, noch selbst vom Kaiser als Gouverneur über Askir eingesetzt, entschied, dass es so nicht weitergehen könne.

Die Eulen gab es nicht mehr, auch keine magischen Eide, die nicht gebrochen werden konnten. Und doch gab es noch jene, die das Wohlergehen der Kaiserstadt und ihrer Bürger über das Eigene stellten, gab es solche, die sich nicht bestechen ließen. Aus ihren Reihen suchte sich der Hochkommandant die ersten Inquisitoren, solche, die das Recht des Kaisers achteten und auch bereit waren, es gegen alle Widerstände und Versuchungen durchzusetzen. Über diese wiederum stellte der Hochkommandant einen anderen, einen, der die Wächter bewachen sollte, jemand, dessen Loyalität zur Kaiserstadt und ihren Gesetzen über alle Zweifel erhaben war. Der Hochinquisitor, ein Amt, eine Person, dessen wahre Identität zunächst hinter einer Maske verborgen und somit zunächst unbekannt gewesen war. Dieses Amt stattete der Hochkommandant mit Rechten und auch Pflichten aus, die denen einer Eule vergleichbar waren. Doch wo die Eulen von einst sich auf ihre magischen Fähigkeiten stützen konnten, war dies dem neu ernannten Hochinquisitor verwehrt. Dafür aber gab man ihm das Recht, sich über das Recht selbst zu stellen, sofern es die Aufklärung eines Verbrechens erforderte.

Nur die Götter, der Kaiser und sein Gewissen standen über dem Hochinquisitor, fand er es für angebracht, konnte er ohne Angaben von Gründen ein Haus durchsuchen oder verdächtige Personen in Gewahrsam nehmen und dazu in jeder Lage die Unterstützung der Legionen oder der Seeschlangen in Anspruch nehmen.

Wer der erste Hochinquisitor gewesen war, war im Nebel der Geschichte untergegangen. Doch eines war bis heute bekannt: Allein in seinem ersten Amtsjahr hatte es über vierhundert Hinrichtungen gegeben, von denen er oder seine ihm unterstellten Inquisitoren den größten Anteil selbst ausgeführt hatten.

Selbst die braven Bürger der Stadt, die unter der Korruption und dem Missbrauch noch am meisten gelitten hatten, begegneten diesem neuen Amt indessen zum größten Teil mit Misstrauen. Wie sollte ein Mensch diese Macht besitzen und nicht der Versuchung zum Opfer fallen, sie zu missbrauchen? Bei den Eulen wusste man, dass ihr Eid sie band, doch sogar, wenn man auf die Götter selbst schwor, waren es ohne die bindende Magie des Kaisers nur Worte. So war von Anfang an das Amt des Hochinquisitors mit diesem Misstrauen behaftet, der Vermutung, nein, der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass auch dieses hohe Amt von einem sterblichen Menschen besetzt war, der ob seiner Menschlichkeit an diesem Anspruch scheitern musste.

Selbst über die Jahrhunderte war es nicht möglich gewesen, diese Vorwürfe zu entkräften, und so war es bis heute geblieben. Das Amt des Hochinquisitors war als Garant für das kaiserliche Recht gedacht gewesen, doch statt dass dies dazu geführt hätte, dass man dem Träger dieses Amts mit Respekt und Ehrfurcht begegnete, geschah das genaue Gegenteil. Selbst der bravste Bürger der Stadt spürte nichts als Angst und Schrecken, wenn er dem Hochinquisitor gegenüberstand, alleine schon dadurch begründet, dass der Träger dieser dunklen Robe sich in dem, was er tat, nur dem Kaiser und den Göttern zu verantworten brauchte und dem Wissen, dass diese nicht immer zur Stelle waren, wenn man sie denn brauchte.

Auch Wiesel hatte einst so gedacht, vor allem da der schlanke Dieb sich seiner Verfehlungen und Missetaten nur allzu deutlich bewusst gewesen war. Diebstahl war ein Verbrechen und wurde durch das Gesetz bestraft. Wurde man zu oft erwischt, litten zuerst die Ohren und dann die Nase an der Diebesschere, die einen Streifen aus dem Fleisch des Delinquenten schnitt, danach die Finger, die man verlor, bis zum Schluss die ganze Hand dem Henker zum Opfer fiel.

Selbst Wiesel kannte kaum einhändige Diebe; abgesehen davon, dass es oft genug geschah, dass Betroffene am Wundbrand starben, fiel es einem schwer, sich mit geschlitzter Nase und Ohren und nur einer Hand einem Opfer anzunähern, ohne dass jenes misstrauisch geworden wäre.

Dass Wiesels Ohren noch immer unverletzt und keck von seinem Haupt abstanden, schrieb er vor allem Desina zu sowie einem Übermaß an Glück, das ganz und gar ungerecht zu seinen Gunsten verteilt war. Was nichts daran änderte, dass Wiesel sehr wohl wusste, dass er es verdient hätte, Hand, Finger, Nase und auch noch seine Ohren zu verlieren.

Des Kaisers Gesetz schützte auch die Schuldigen; ohne Beweise oder Zeugen keine Anklage, ohne Gericht keine Verurteilung und ohne Urteil auch kein Henker. Stand man aber vor dem Hochinquisitor, galt dieser Schutz nicht mehr, ein Wort von ihm reichte, um dem Henker vorgeführt zu werden.

Für Desina und Wiesel, schon als Kinder nur auf sich allein gestellt, war der Diebstahl die einzige Möglichkeit gewesen, um zu überleben. Doch das erste Mal, als Desina eine Hinrichtung auf dem Kaiserplatz sah, hatte dies einen großen Eindruck auf sie hinterlassen, zumal sie den Dieb kannte, der damals seine Hand verloren hatte, und dieser kaum älter als sie selbst gewesen war.

Dies, entschied sie, durfte ihnen nicht geschehen. Jetzt, Jahre später, musste Wiesel lächeln, als er daran zurückdachte. Eigentlich war es im Rückblick überraschend, dass sie nicht im Traum daran dachte, das Diebeshandwerk aufzugeben, vielmehr fand sie eine andere Lösung. Fast alle Diebe, die dem Henker ausgeliefert wurden, hatten den Fehler begangen, sich auf frischer Tat erwischen zu lassen. Dies, so schlussfolgerte Desina damals, lag nicht daran, dass sie stahlen, sondern wie sie es taten. Sie brachten die Wachen gegen sich auf, indem sie ihre Opfer demütigten, verletzten oder ihnen alles nahmen, was zur Folge hatte, dass die Wachen sich besonders viel Mühe gaben, die Täter ausfindig zu machen. Stahl man zudem noch, was einem anderen besonders wichtig war, spornte dies die Opfer an, und wurde man zudem noch mit der Ware im Besitz ertappt, war man des Verbrechens überführt.

Taschendiebstahl, so folgerte sie damals ganz richtig, war für die beiden zu gefährlich. Die Menschenmenge war eines Diebes Freund und Feind zugleich. Zwar konnte man unbemerkt an sein Opfer gelangen, doch zugleich war man auch den Blicken aus tausend Augen ausgesetzt. Darunter mitunter auch den Blicken einer Seeschlange oder eines Legionärs, der in der Stadtwache seinen Dienst verrichtete. Zudem fiel es den Opfern recht häufig auf, dass man sie um ihren Beutel erleichtert hatte, und manche von ihnen waren schnell genug, einen Dieb nach der begangenen Tat auch zu greifen.

War man jedoch klein und geschickt und konnte überdies gut klettern, war es weitaus einfacher, in die Häuser reicher Handelsherren einzusteigen und von dort zu nehmen, was diese überreichlich besaßen und auch nicht vermissten, wenn man sich nur ein wenig nahm. Bislang war es auch noch nicht vorgekommen, dass jemand anklagend hätte rufen können, dass dieses spezielle Goldstück ihm gehören würde. Nicht alles zu nehmen, was man nehmen konnte, hatte zudem den Vorteil, dass manche, die man bestahl, es gar nicht wussten oder sich nicht sicher waren, ob man sie bestohlen hatte. Denn welcher Dieb würde nur einen Teil des Goldes nehmen und den Rest dann liegen lassen?

Auf der anderen Seite war der Taschendiebstahl auch eine Kunst, die sowohl Wiesel als auch Desina nur zu gut beherrschten. Niemand, dies war Wiesels feste Überzeugung, hatte darin jemals bessere oder geschicktere Hände besessen als Desina. Vielleicht war es auch schon damals Magie gewesen, jedenfalls erschien es Wiesel oft so, als ob der fette Beutel am Gurt des Händlers sich vor seinen Augen binnen eines Lidschlags in Luft auflöste.

Obwohl sie es also besser wussten und dem Taschendiebstahl abgeschworen hatten, war die Versuchung doch groß gewesen. Wie an jenem Tag, an dem sich Wiesel und Desina mehr zufällig auf dem Weichmarkt befunden hatten und zusehen mussten, wie sich ein dickleibiger Händler mit einem Pferdehändler stritt und dabei mit einem prall gefüllten Beutel prahlte. Selbst so hätten sie der Versuchung vielleicht widerstehen können, hätte der fette Händler nicht schließlich aus Zorn den Burschen des Pferdehändlers getreten, der nur die Zügel festgehalten hatte. Dass der fette Händler Desina beinahe noch umrannte, hatte sie als ein Zeichen der Götter gedeutet, und im Tausch gegen den Beutel nahm Desina auch die blauen Flecke gern in Kauf.

Das Problem war nur, dass der fette Mann den Diebstahl schnell bemerkte, und als er sich suchend nach dem Dieb umsah, fiel sein Blick auf Wiesel, der erst in dem Augenblick verstand, dass Desina soeben ihre eigene Regel gebrochen hatte.

So erzürnt der Mann aussah und so laut, wie er danach rief, den Dieb zu halten, empfand Wiesel es als angebracht, seinem Namen alle Ehre zu machen. War Desina flink mit ihren Fingern, waren Wiesels Füße noch viel flinker. So auch dieses Mal, viel länger als einen Lidschlag lang hatte der Händler Wiesel nicht gesehen, so schnell hatte der sich aus dem Staub gemacht. Nur als der junge Dieb sich fast schon in Sicherheit wähnte, spürte er zum ersten Mal diese eisenharte knöcherne Hand an seiner Schulter, ein Griff, der ihn fast lähmte, und als Wiesel verstand, wer es war, der ihn so unerbittlich hielt, dass diese hagere Gestalt in der dunklen Robe niemand anderes als Hochinquisitor Pertok war, hatte er sich selbst zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben eingenässt. Verzweifelt grinsend, vor Schreck erstarrt und mit feuchter Hose, hatte Wiesel nur hilflos dagestanden und sein Ende kommen sehen.

Pertok zumindest hatte Wiesels Wissen nach niemals die Maske getragen, so hatte Wiesel freien Blick auf das Gesicht, ein Gesicht, hager und fast ausgezehrt, von tiefen Falten durchzogen wie eine unerbittliche Gebirgslandschaft. Eine Hakennase, ein schmaler, vom Alter faltiger Mund und, bei den Göttern, diese Augen. Grau und kühl wie ein Gletschersee in den fernen Varlanden hatten sie den kleinen Dieb gemustert, als sei er ein Insekt, das auf einer Nadel zappelte.

Dann war auch schon der fette Mann herangekommen, wies anklagend auf Wiesel, forderte mit der hohen Stimme eines Weibes sofortige Genugtuung und, besser noch, sofortige Bestrafung. Behauptete, gesehen zu haben, wie Wiesel von ihm stahl. Hinter ihm stand Desina, die sich all dies mit großen weiten Augen entsetzt besah.

»Und, Junge«, hatte eine tiefe Stimme überraschend freundlich gefragt. »Stimmt es, dass du diesen Mann bestohlen hast?«

Wiesel hatte schlucken müssen und spürte, wie sein Grinsen an seinen Wangen zerrte, die Stimme hatte es ihm vor Schreck verschlagen, so schüttelte er nur verzweifelt seinen Kopf.

Dann hatte Pertok Wiesel überrascht. »Gut«, sagte der Schrecken aller Diebe und löste seinen eisernen Griff um Wiesels Schultern. »Du kannst gehen.«

»Seht Ihr denn nicht, wie er grinst, der unverschämte Kerl«, hatte sich der Händler keifend eingemischt, um hochrot anzulaufen. »Wie könnt Ihr ihn da gehen lassen? Seht Ihr denn nicht, dass er Euch frech anlügt?«

Ganz langsam war der Blick des Hochinquisitors von Wiesel über Desina, wo er kurz verweilte, letztlich zu dem Händler hingegangen. »Mich kann man nicht belügen«, hatte der Hochinquisitor dem Mann in kühlem Tonfall mitgeteilt. »Er sagt die Wahrheit. Er mag ein Dieb sein, aber er hat Euch nicht bestohlen. Doch Ihr, Ser, habt gelogen, Ihr habt ihn nicht gesehen, nur vermutet, dass er es gewesen ist, weil er in Eurer Nähe stand. Seid mit meinem Urteil zufrieden, Ser, sonst überlege ich mir, was ich von falschen Anschuldigungen halte.«

Und dann war etwas geschehen, das Wiesel niemandem je erzählte, weil selbst Desina es ihm niemals hätte glauben können: Hochinquisitor Pertok, das Schreckgespenst aller Missetäter und Verbrecher, hatte nämlich ihm, Wiesel, im Schatten seiner Kapuze zugezwinkert.

Sosehr war Wiesel und Desina der Schreck in die Glieder gefahren, dass es gut ein halbes Jahr gedauert hatte, bis sie das nächste Mal einer Versuchung erlegen waren, was dann dazu führte, dass sie beide einen harten Griff an ihren Schultern spürten. Ein Berg von einem Mann hatte sie ertappt, gerade als sie ihre Beute hatten teilen wollen, und ihnen mit Nachdruck den Vorschlag unterbreitet, ihrem Opfer doch den Beutel zurückzugeben, den dieses verloren hatte.

Der Name des Mannes war Istvan gewesen, und was darauf folgte, war, wie man so schön sagt, eine ganz andere Geschichte.

Niemand wusste so recht, wie lange Pertok dieses Amt schon innehatte; man war sich weitestgehend darin einig, dass es bestimmt schon über sechzig Jahre sein mussten. Doch so übermächtig, wie der Hochinquisitor in Wiesels Erinnerung war, auch er war nur ein Mensch und sterblich. Vor ein paar Wochen war er fast einem Herzriss zum Opfer gefallen und hatte den Anfall nur mit Mühe und den Gebeten der Priesterinnen der Astarte überlebt. Andere wären damit zufrieden gewesen, noch nicht aus dieser Welt gegangen zu sein, doch Pertok konnte es nicht auf sich beruhen lassen, und kaum dass er dazu imstande gewesen war, hatte er einen Priester Soltars zu sich beordert und ihm befohlen, ihm sein Schicksal zu offenbaren.

Andere hätten das Wissen um den Zeitpunkt, an dem sie vor die Götter treten würden, um ihnen Rechenschaft abzulegen, als Fluch empfunden, nicht so Pertok, vielmehr schien es ihn zu beflügeln. Und dennoch passte es zu ihm, dachte Wiesel. Jetzt, mit dem Wissen gesegnet oder verflucht, wann es für ihn an der Zeit war, vor die Götter zu treten und ihnen Rechenschaft abzulegen, hatte sich der Hochinquisitor entschlossen, seine Angelegenheiten zu ordnen und, wie es üblich war, seinen Nachfolger in dieses höchste aller richterlichen Ämter zu bestellen.

All dies nötigte Wiesel allerhöchsten Respekt vor Pertok ab, er bewunderte den Mann dafür, dass er imstande war, seinem Schicksal so klar und unverzagt ins Antlitz zu sehen. Wenn es da nicht diesen kleinen Haken gäbe.

Nämlich den, dass der alte Mann es sich in seinen Kopf gesetzt hatte, ausgerechnet ihn, Wiesel, als seinen Nachfolger zu sehen. Demzufolge, dachte Wiesel, entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, dass er sich jetzt in dieser Lage wiederfand.