Noch zehn Tage

1  Vier Gotteshäuser standen auf dem Tempelplatz in Askir: Die Häuser von Boron, der für Gerechtigkeit stand, Astarte, die für Weisheit und Liebe zuständig war, und Soltar, der uns nach dem Tod ein neues Leben versprach. Der letzte der Tempel, seit Jahren verschlossen, war dem Gott Nerton, dem Vater der Götter, geweiht. Wofür der Göttervater stand, wusste Wiesel nicht so ganz, er meinte irgendetwas von Gleichgewicht gehört zu haben. Vielleicht sollte er Desina dazu fragen. Schließlich war es ihre Idee gewesen, den Göttervater bei der Krönungsprozession mit einzubeziehen.

Zehn Tage würde es noch bis zur Krönung dauern, doch die Vorbereitungen hatten schon lange angefangen. Ohnehin gab es immer genügend Trubel auf dem Tempelplatz, und dort hinten, inmitten des Platzes, wo die Tribüne stehen sollte, ging zurzeit alles drunter und drüber. Er hatte den Fehler begangen, dort vorbeizuschauen, und kaum dass man ihn erkannt hatte, war er auch sogleich belagert worden, war befragt worden, was Desina wohl zu diesem oder jenem Vorschlag meinen würde.

Da sie gemeinhin für sich selbst entschied, ihm der Trubel schnell zu viel wurde, und Santer etwas im Tempel der Astarte zu besprechen hatte, war Wiesel mit ihm geflohen. Zum Glück war der Abend für ihn bereits angenehm verplant, doch noch war Zeit, und Wiesel sah nicht ein, warum er jetzt in Hektik geraten sollte. Davon gab es dort an der Tribüne bereits genug.

Also saß er auf einer Stufe, mit dem Rücken an eine reich verzierte Säule gelehnt, und ließ sich bis zum Glockenschlag die Sonne ins Gesicht scheinen.

Wie üblich war der schlanke Dieb tadellos gekleidet, wenn man davon absah, dass seine grüne Weste Stickereien trug, die Meerjungfrauen zeigten, die … nun ja … das taten, was man von Meerjungfrauen erwarten konnte.

Von dort, wo Wiesel saß, von den obersten Stufen des Tempels der Astarte, hätte er einen guten Blick auf den Trubel auf dem Tempelplatz gehabt, vor allem auch dorthin, wo zwei Tenets Soldaten, Hundertschaften der ersten Legion, soeben den Platz absperrten. Er hätte zudem die Tribüne erkennen können, die dort hochgezogen wurde, und sogar die Priester der Götter, die dort standen und heftig miteinander diskutierten. All dies hätte er sehen können. Hätte er die Augen offen gehabt.

»Deine Weste ist unanständig«, meinte Santer, der ebenfalls an der gleichen Säule lehnte, nur dass der Stabsleutnant offenbar keine Ruhe finden konnte.

»Ist sie nicht«, widersprach Wiesel, ohne die Augen zu öffnen oder sonst auch nur einen Muskel zu bewegen. »Die Meerjungfrauen schwimmen miteinander, das ist alles.«

»Sie ist aufreizend«, beschwerte sich Santer.

»Bei des Namenlosen Bart«, seufzte Wiesel und öffnete jetzt doch ein Auge, um zu ihm hochzusehen. »Sie haben die Schwänze von Fischen, was soll daran aufreizend sein? Du bist nur ungehalten, weil ich den schönen Tag genieße, während du dich nicht entspannen kannst.«

»Götter«, fluchte Santer und stieß sich fahrig von der Säule ab. »Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst! Siehst du nicht, dass der ganze Platz weit offen ist? Die Prozession wird hier im Tempel der Astarte ihren Anfang nehmen, danach wird sie Borons Haus aufsuchen, dann das von Soltar und ganz zum Schluss zum Nertontempel weitergehen. Das alleine dauert drei Kerzenlängen, doch im Anschluss geht es weiter, vom Tempel des alten Gottes hierher zurück zu diesem Platz in der Mitte der vier Tempel, wo sie vor dem begeisterten Volk niederknien wird und ihr die Priester der drei Götter die Krone aufsetzen werden. Jeder der Priester wird sie dort schon wieder segnen, als ob sie es nicht in den Tempeln bereits getan hätten, und eine lange Rede halten.« Er wies anklagend auf die Tribüne. »Dort werden die Ehrengäste sitzen, alles, was Rang und Namen hat, und die Hälfte von ihnen würde Desina lieber tot als lebendig sehen. Weißt du, wie lang die ganze Angelegenheit dauern wird? Über drei Glocken lang, Wiesel, alleine dadurch ist es schon eine Tortur, und die längste Zeit wird sie offen sichtbar und ohne Deckung sein! Götter, sie wird auf einem offenen Wagen stehen, der langsam gezogen werden wird, viel leichter kann man es einem Attentäter gar nicht machen!«

»Man könnte sie festhalten und ihm mit einem Spalier den Weg zu ihr freihalten«, sagte Wiesel und lachte, als er Santers empörten Blick sah. »Du machst dir zu viele Sorgen«, fügte er hinzu und setzte sich etwas bequemer hin. »Es wird auf dem Platz von Soldaten nur so wimmeln. Ein Attentäter käme gar nicht erst an sie heran, und selbst wenn er es mit einer Armbrust versuchen würde, wäre sie durch Magie geschützt. Asela wird da sein und ebenfalls Elsine. Hinzu kommt, dass sich Desina auch selbst schützen kann.« Jetzt bewegte er doch den Kopf und sah zu Santer hin, der auf den Treppenstufen ruhelos hin und her ging. »Und wenn all das nichts nützt, kannst du dich ja immer noch vor sie werfen und sie unter Einsatz deines Lebens retten. Siehst du, es ist alles nicht so schlimm.«

»Schön, dass du es derart gelassen siehst«, grollte Santer. »Sie ist deine Schwester, Wiesel, hast du keine Angst um sie?«

»Doch«, sagte Wiesel und streckte sich ein wenig. »Aber nicht hier. Nicht während des Umzugs. Sie werden nicht das tun, was so offensichtlich ist.«

Santer hielt inne und sah besorgt zu dem schlanken Dieb hin. »Also erwartest auch du einen Angriff?«

»Ja«, sagte Wiesel gelassen. »Nur nicht auf diesem Platz. Jedenfalls nicht so, wie du denkst.«

»Wie dann?«, fragte Santer aufgebracht. »Was wollen sie denn sonst tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Wiesel und zuckte mit den Schultern. »Bei Asela und Elsine, Desina selbst und all den Priestern und den Segen und Gebeten, wird sich der Nekromantenkaiser etwas Mühe geben müssen.«

»Wie würdest du es machen?«, fragte Santer grimmig. Wiesel musterte ihn, wie er da stand, ein Turm, nein, ein Berg von einem Mann, angetan in einer Kettenrüstung, die Desina für ihn im Turm der Eulen fand. Für jeden Attentäter war schon Santer alleine ein Hindernis.

»Fragst du mich gerade ernsthaft, wie ich meine Schwester ermorden würde?«, fragte Wiesel.

»Ja, Götter«, knurrte Santer. »Genau das frage ich dich.«

»Gut«, nickte Wiesel mit einem leichten Lächeln. »Hoffe einfach, dass es nicht an ihre Ohren dringt. Weiß sie, dass du sie ermorden willst?«

»Wiesel«, knurrte Santer entnervt. »Du solltest es nicht auf die Spitze treiben.«

»Schon gut«, gab Wiesel zurück und setzte sich gerader hin. Sein Lächeln schwand. »Mir fallen auf Anhieb ein halbes Dutzend Möglichkeiten ein.«

»Götter, Wiesel«, beschwerte sich der Stabsleutnant betroffen. »Du verstehst es wahrlich, mich aufzumuntern.«

»Deshalb weigere ich mich, mir beständig das Schlimmste auszumalen.« Wiesel blinzelte zur Sonne hoch und stand dann auf. »Es schlägt einem nur auf das Gemüt. Santer, wir haben noch zehn Tage Zeit, herauszufinden, was der Nekromantenkaiser plant. Dass er etwas plant, erscheint mir gewiss. Nur wird es etwas anderes sein, als wir erwarten.«

Santer schluckte. »Was ist, wenn wir ihn nicht hindern können?«

»Du vergisst etwas«, sagte Wiesel gelassen. »Desina selbst ist auch nicht wehrlos. So, und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe von diesen düsteren Gedanken genug. Die Sonne scheint, es ist ein schöner Tag, und ich habe ein Stelldichein mit einer Sera.« Er schaute zu Santer hin. »Du solltest es mir nachtun. Gehe zu Sina, sie wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Santer schaute betreten drein. »Wohl kaum. In letzter Zeit ist sie meist abgelenkt, wenn wir uns sehen. Sie zieht sich von mir zurück, Wiesel, ich merke es, doch ich kann nichts dagegen tun.«

Wiesel hob abwehrend die Hände an. »Erwarte von mir keinen Rat, Santer, da halte ich mich raus. Ich kann dir aber sagen, dass du irrst. Sie liebt dich, daran besteht für mich kein Zweifel.«

»Ich bete, dass es so ist«, sagte Santer leise. »Jetzt sage mir, wohin du gehst.«

»Nicht doch«, grinste Wiesel. »Du weißt, ich bin diskret.«

»Was ist, wenn sie dich sprechen will?«

»Was soll dann sein?«, fragte Wiesel und lachte leise. »Sie wird mich sprechen können, wenn mir danach ist.«

»Wiesel, sie ist die Kaiserin.«

»Sie ist auch meine Schwester und von mir nichts anderes gewöhnt. Ich will sie ja nicht in ihren Erwartungen enttäuschen. Und jetzt, Santer, höre auf, dich so zu sorgen und gehe hin zu ihr.« Er wies über den Platz hinweg zu dem Tor, das zur Zitadelle führte. »Ich glaube, sie kommt gerade durch das Tor.«

Santer kniff die Augen zusammen. »Wie willst du das auf die Entfernung sehen?«, fragte er verblüfft.

»Sie sagte, dass sie zur fünften Glocke hier sein wollte, um sich mit der Hohepriesterin zu besprechen. Sie ist meistens pünktlich, und da ich dort die Rüstungen der Kaisergarde in der Sonne glänzen sehe, ist sie auf dem Weg hierher. Übermittele ihr einen Gruß von mir und lass mich meiner Wege ziehen.«

Was Santer sonst noch sagen wollte, wurde von dem Läuten der Tempelglocken übertönt. Wiesel lachte, deutete auf seine Ohren und zum Tempel hin, und bevor der große Stabssoldat noch etwas sagen konnte, war er schon verschwunden.