Laura Summers

Das Ende der Lügen

Aus dem Englischen von Eva Riekert

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutsche Erstausgabe

2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-42264-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-78277-7

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Meiner Mutter Pamela Ruth Cranfield gewidmet 23. September 1929 – 12. September 2012

Kapitel 1

Ellie

»Versprecht mir nur, dass ihr keinem ein Wort sagt«, flüstert Mum, als wir zur Schule aufbrechen, Grace und ich.

»Niemandem«, verspreche ich ihr. »Keine Sorge, Mum.«

Mehr muss sie uns nicht sagen. Lieber würde ich mit menschenfressenden Zombies picknicken, als irgendjemand zu erzählen, was bei uns zu Hause los ist.

Sie lächelt ihr liebes Lächeln, als sie sachte die Tür hinter uns schließt, daher denke ich den ganzen Tag an sie. Ich sehe sie in jeder Schulstunde, beim Mittagessen, während ich meine Pausenbrote mit Käse und Marmelade esse, und sogar in der Morgenversammlung, in der Mrs Stone ihre Tiraden zu ungebührlichem Benehmen in den Korridoren loslässt. Immer wieder geht mir durch den Kopf, was gestern Abend passiert ist, trotzdem bin ich aber ständig auf Autopilot, munter und vergnügt, und tue vor den anderen so, als ob es ein stinknormaler Tag ist.

Als die Schule aus ist, tut mir das Gesicht weh und mein Kopf brummt wummernd, und ich suche nach Grace und wir laufen eilig los, schlängeln uns zwischen Gruppen von Schülern durch, die angeregt schwatzen und lachen, während sie gemütlich nach Hause schlendern.

»Es geht ihr doch wieder besser, oder?«, frage ich Grace zum wiederholten Mal. Sie nickt, geht jedoch schneller, sodass ich laufen muss, um mithalten zu können. Ich hatte Mum gebeten, uns heute zu Hause bleiben zu lassen, aber sie sagte, wir müssten zur Schule wie immer.

»Hey, Ellie, warte!«, höre ich eine Stimme von gegenüber rufen.

Es ist Lauren. Sie ist neu in meiner Klasse, ein lustiges und freundliches Mädchen und schon richtig beliebt. Genau so, wie ich gerne sein würde. Als sie die Straße überquert und auf uns zukommt, spüre ich, wie Grace mich am Ärmel zieht, aber es ist schon zu spät. Ich kann nicht so tun, als ob ich sie nicht gehört hätte.

»Kann ich heute mal zu euch mitkommen?«, fragt sie, als sie bei uns ist.

Ich zwinge mich, so zu lächeln wie sie. »Morgen vielleicht«, sage ich mit einem ausweichenden Schulterzucken.

»Das hast du neulich auch schon gesagt«, erwidert Lauren. Sie wendet sich an Grace. »Du bist also Ellies Schwester?«, fragt sie mit neugierigem Blick.

Das hat sie nicht erwartet, so eine hochgewachsene, atemberaubende Prinzessin mit langen seidigen Haaren, kornblumenblauen Augen und einer Haut wie Porzellan. Lauren hat offensichtlich gedacht, dass meine Schwester wie ein Klon von mir aussieht – auch so eine stupsnasige, total unscheinbare Göre mit reichlich Pickeln –, nur eben ein Jahr älter und ein oder zwei Zentimeter größer als ich. Nichts Besonderes und auf keinen Fall eine Prinzessin – eher wie das Aschenputtel, das die Drecksarbeit macht.

Laurens Freundlichkeit ist bei Grace vergeudet. Sie beachtet sie nicht, wirft mir einen drängenden Blick zu und wendet sich ab, um weiterzugehen. Ich winde mich vor Verlegenheit. Warum kann sie um Himmels willen nicht irgendwas sagen? Das ist ja so peinlich. Ein Wort würde genügen – »Ja«, »Nein«, »Hallo« … irgendwas.

»Ja, das ist Grace«, stoße ich schnell hervor, denn ich will jetzt nicht erklären, dass meine Schwester mit keinem außer mir spricht. »Sorry, wir müssen.«

Lauren starrt mich neugierig an. Ich will fort, ehe sie noch mehr unangenehme Fragen stellt.

»Was habt ihr denn vor?«

»Nichts«, sage ich lachend. »Dad geht mit uns Pizza essen, wenn wir nach Hause kommen.«

»Habt ihr ein Glück!«, ruft mir Lauren nach. »Wenn mein Vater nur auch so wäre wie eurer!«

Ich antworte nicht darauf, grinse nur und winke ihr zu.

»Was sollte das denn?«, fragt Grace wütend, als wir um die Ecke biegen.

»Ich weiß nicht … letztes Mal … letztes Mal hat es ihm leidgetan … ich hab einfach nur gedacht …«

Grace wirft mir einen Blick zu und ihr Ausdruck wird milder. »Lauren wird schon bald mit der Fragerei aufhören«, sagt sie.

Und ich bin wütend und traurig und erleichtert, alles auf einmal, weil ich weiß, dass sie recht hat. Nach einer Weile hören alle auf zu fragen.

Kapitel 2

Grace

Mulberry Grove. Unsere Straße. Eine vornehme Stichstraße, sagt Dad. Alle Häuser sehen gleich aus, weiß gestrichen mit vorgetäuschtem schwarzem Fachwerk, roten Dachziegeln und dichten Gardinen an den Fenstern zur Straße, damit niemand reinsehen kann.

»Grace, fragst du dich jemals, wie es wäre, wenn die Situation anders wäre?« Ellies Stimme bebt.

»Bringt doch nichts.« Mein Blick gleitet im Zickzack von Haus zu Haus.

Nummer 3 – Mr und Mrs Teppichrasen, wie mit der Nagelschere geschnitten.

Nummer 4 – Mrs Sechs Katzen.

Nummer 5 – Der Gartenzwergtyp.

Nummer 6 –

»Aber wäre es nicht unglaublich, wenn wir andere Leute wären und ein ganz anderes Leben führen würden?«, bohrt sie weiter.

Warum andere Leute? Andere Leute sind doch das Problem.

Geh weiter. Zähl weiter.

Nummer 8 – Haus zu verkaufen.

Nummer 9 –

»Ach komm schon, Grace, sag doch mal, wer du gerne wärst und wo?«, plappert sie weiter. »Egal wer – und wo immer du lieber sein möchtest.«

»Okay, immer noch ich – auf einer einsamen Insel.« Mir dreht sich der Magen, und zwar heftig.

Nicht darauf achten.

Nummer 9 – Honeysuckle Cottage (wen wollen die denn wohl beeindrucken?).

»Ha, um nichts in der Welt würde ich so bleiben wollen, wie ich bin!«, sagt Ellie mit nervösem Schnauben. »Ich würde ganz glamourös sein und natürlich atemberaubend schön, wie ein Filmstar. Und ich würde den ganzen Tag durch meine riesige Villa schweben und in meinem herzförmigen Pool relaxen, wo um den Beckenrand lauter Eisbecher stehen.«

Wie oft ich das schon gehört habe. Ellie redet ständig, wie ein Wasserfall. Manche haben gut reden. Ich habe letzte Woche meine möglichen Wahlfächer für die Abschlussprüfung nach Hause gebracht. Dad hat beschlossen, dass meine Zukunft in Zahnmedizin liegt – in Zähnen sei Geld. Er hat drei naturwissenschaftliche Fächer angekreuzt, also muss ich Kunst aufgeben. Aber ich möchte Modedesignerin werden, und bei der Vorstellung, anderen im Mund rumzustochern, wird mir übel. Ich hatte mir eine Liste gemacht, was ich sagen wollte – alles aufgeschrieben. Als ich dann vor ihm stand, blieben mir die Worte im Hals stecken. Schließlich musste ich sie runterschlucken und sie rumpelten mir im Bauch herum wie der Nachgeschmack vom Schulessen.

Und das gleiche Gefühl habe ich jetzt. Schon den ganzen Tag – gleich vom Aufwachen an, und ich habe versucht, nicht an gestern Abend zu denken. Ich muss schlimm ausgesehen haben, denn sogar Mrs Evans hat mich in der Geigenstunde gefragt, ob alles in Ordnung sei. Eigentlich wollte ich Nein sagen, brachte es aber nicht heraus. Nicht mal dieses kleine Wort konnte ich durch den unsichtbaren Knebel über meinem Mund herausbringen. Dann fingen meine Handflächen zu schwitzen an und ich merkte, wie mein Gesicht rot wurde, also nickte ich nur und stürzte mich in mein Geigenstück. Als ich dann fertig war, hatte sie vergessen, dass sie gefragt hatte, bot mir ein Bonbon an und setzte mir ausführlich auseinander, dass sie mich für einen großen Musikwettbewerb anmelden würde. Mir lag da nicht viel dran, aber ich wusste, dass Dad sich freuen würde, wenn ich einen Preis gewinnen würde.

Und jetzt sind wir da.

Nummer 14 – trautes Heim, Glück allein.

Stoß das Tor auf. Los.

Meine Hand zittert leicht. Wir hasten den Gartenweg entlang, der säuberlich von Lavendel gesäumt ist, vorbei an den Rosenbüschen in der komischen kleinen Senke mitten im Rasen. Ellie hat sich ausgedacht, dass da ein Vampir begraben ist. Dann gehen wir ums Haus herum zum Kücheneingang.

Bleiben stehen. Lauschen.

Es ist totenstill, bis eine Autotür zugeschlagen wird und wir beide zusammenfahren, aber es ist nur unser Nachbar Mr Kensell, der winkt und lächelt. Er hat einen grauen Anzug an und trägt ein Buch unter dem Arm. Er und Dad sind gute Freunde.

»Hallo, Mädels!«, ruft er und streicht sich über den Kopf. Der Wind hat seine Haare hochgeweht, die er immer über seine kahle Stelle kämmt. »Sagt eurem Vater, dass das nächste Treffen der Nachbarschaftswache am Montagabend ist, ja?«

Ich nicke und Ellie ruft: »Okay«, doch dann bleiben wir beide wie gelähmt stehen. Er kommt näher und beugt sich über den Zaun.

»Ach ja, und gebt ihm bitte das hier zurück«, setzt er hinzu und reicht mir ein großes Hochglanzbuch über Vögel. »Dankt ihm von mir; es war sehr nett, dass er es mir geliehen hat. Wirklich sehr nett.«

Vor sich hin summend geht er zu seinem Haus zurück. Dad versteht sich gut mit allen unseren Nachbarn. Sogar mit Mr Gartenzwerg. Mr Kensells Sohn Danny, der noch keine Glatze hat, aber schon fleißig dafür übt, hat kürzlich mal zu Ellie gesagt, Dad sei ein »Top-Typ«.

Ich drehe den Knopf an der Küchentür und drücke sie auf.

Gaaaanz langsam.

Die schwarz-weißen Fliesen sind makellos sauber. Mein mulmiges Gefühl verstärkt sich. Ich schlüpfe aus den Schuhen und stelle sie dorthin, wo wir sie hinstellen sollen: mit einer Fliese Abstand von der Küchenwand.

»Mum?«, ruft Ellie. Keine Antwort. Die zerbrochenen Teller von gestern Abend sind aufgefegt und in den Abfall entsorgt worden. Alles ist sauber und aufgeräumt. Keine Gabel, keine Spülbürste, wo sie nicht hingehören. Bruno blickt auf, aber als er feststellt, dass nur wir es sind, fährt er fort, unsichtbare Speisereste vom Boden aufzulecken, mit wedelndem Schwanz.

»Mum!«, ruft Ellie lauter und macht die Tür zum Flur auf. »Alles in Ordnung?«

Von oben kommt ein gedämpftes Geräusch. Wir rennen hinauf und finden sie im Elternschlafzimmer über einen geöffneten Koffer gebeugt. Sie trägt nicht eine ihrer hochgeschlossenen langärmeligen Blusen mit schicker Hose, sondern ein altes weißes T-Shirt und Jeans. Seitlich am Hals hat sie schlimme violette bis schwarzblaue Flecken.

Sie blickt auf und lächelt.

Ellie bricht in Tränen aus, rennt auf sie zu und umarmt sie fest. Mum zuckt vor Schmerz zusammen, doch sie beruhigt Ellie und streicht ihr die Haare glatt, als ob sie diejenige sei, die verletzt worden ist.

»Wir haben genau zehn Minuten«, sagt sie. »Packt ein, was euch am meisten bedeutet. Wir gehen.«

Kapitel 3

Ellie

»Fahren wir zu Tante Anna?«, frage ich erstaunt. Dad erlaubt Mum nicht, ihre Schwester zu besuchen. Sagt, sie hätte einen schlechten Einfluss, und noch viele andere Gemeinheiten.

Mum schüttelt den Kopf. »Nein, sie weiß nichts von dieser Sache.«

»Wohin denn dann?«

Mum zuckt die Schultern. »Weg. Irgendwohin, wo wir nicht gefunden werden können.« Sie blickt nervös auf ihre Uhr, dann reicht sie jeder von uns eine große Segeltuchtasche. Die Dinger, die wir immer vollpacken, wenn wir in Ferien fahren.

»Wir können nicht viel mitnehmen«, schärft sie uns ein, »nur so viel, wie ins Auto passt. Ich habe schon ein paar Anziehsachen und eure Schlafsäcke und für ein Abendessen habe ich Brote geschmiert.«

Als ob wir einen Ausflug machen.

»Was ist mit Bruno?«, frage ich.

Mum sieht uns und an und verzieht schmerzlich das Gesicht.

»Wir können Bruno nicht dalassen, Mum!«, protestiere ich. »Das geht einfach nicht!«

Sie legt den Arm um mich. »Es tut mir wirklich leid. Ihm passiert schon nichts«, sagt sie sanft. »Mädels, wir müssen uns beeilen. Euer Vater –«

Völlig unerwartet klingelt plötzlich das Telefon. Wir alle erkennen die Nummer auf dem Display und sehen uns erschrocken an. Mum streckt die Hand zum Nachttisch aus und hebt langsam den Hörer ab.

»Hallo, Adam«, sagt sie mit ganz ruhiger Stimme, aber ihre Augen sind aufgerissen vor Schreck.

Es ist Dad mit einem Kontrollanruf. Jeden Tag ruft er Mum zu unterschiedlichen Zeiten von der Arbeit aus an, um herauszufinden, was sie macht, und zu überprüfen, ob sie nicht ohne seine Einwilligung ausgegangen ist.

Mum scheucht uns mit einer Bewegung aus dem Schlafzimmer und sagt zu ihm, dass sie gerade mit dem Abendessen anfangen will: Fleischpastete, selbst gemacht, sein Lieblingsgericht. Ich kriege Angst, dass er hören kann, wie sie zittert, aber irgendwie schafft sie es, gelassen zu bleiben, und erzählt ihm, welche Blumen sie heute im Garten eingepflanzt hat.

»Er rastet aus, wenn er heimkommt und merkt, dass wir nicht da sind«, flüstere ich Grace zu, die jedoch nicht antwortet.

Ich gehe in mein Zimmer, ziehe schnell die Schuluniform aus und Jeans und ein T-Shirt an, dann werfe ich einen Blick auf meine Sachen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Was soll ich mitnehmen? Was zurücklassen?

Von unten kann ich hören, wie Bruno winselt, weil er rauswill. Dad erlaubt nicht, dass er sich außerhalb der Küche aufhält, aber Grace und ich lassen ihn manchmal heimlich heraus und spielen mit ihm im Wohnzimmer, wenn Dad bei der Arbeit ist. Einmal haben wir vergessen, alle Hundehaare aufzusammeln, und Dad ist uns auf die Schliche gekommen. Er hat Bruno eine Woche lang draußen angekettet, um ihm eine Lektion zu erteilen. Es war Januar und eiskalt. Grace und ich konnten betteln, so viel wir wollten, er ließ ihn nicht rein.

Ich sehe mich erneut im Zimmer um und hole tief Luft. Ich weiß jetzt genau, was ich mitnehmen will.

Kapitel 4

Grace

Keine Zeit für Listen.

Ich krame in meinem Schrank nach der braunen Papiertüte, die hinten versteckt ist.

Da ist sie.

Vorsichtig nehme ich die Patchworkdecke heraus. Dad hat keine Ahnung, dass ich sie an dem Morgen, nachdem er sie in den Mülleimer geworfen hatte, herausgefischt habe, vor Monaten, und seitdem liegt sie versteckt hier drin. Ich habe es nicht mal gewagt, sie Mum oder Ellie zu zeigen, aus Angst, dass er dahinterkommt.

Gran hat sie letztes Jahr zu Mums Geburtstag gemacht. Ein paar der Flicken haben winzige Mottenlöcher und manche Stückchen sind so alt und so oft gewaschen worden, dass sie ganz ausgebleicht sind, aber das ganze Werk ist immer noch so atemberaubend schön, dass ich bis heute nicht verstehe, warum Dad so voller Hass darauf war … außer, dass es Mums Reaktion war, die den Wutanfall ausgelöst hat.

Er hat Gran immer eine alte Schachtel genannt, die sich in alles einmischen würde. Hat deutlich gemacht, dass sie hier nicht willkommen ist, daher haben wir sie, genau wie Tante Anna, nur selten zu Gesicht bekommen, aber sie hat regelmäßig Karten und Päckchen zu Geburtstagen und Weihnachten geschickt.

Als Mum Grans Päckchen auspackte, hat ihr Gesicht ganz kurz aufgeleuchtet. Sofort hat sie sich wieder beherrscht, aber ein verräterisches Funkeln lag noch in ihrem Blick und Dad konnte sehen, wie sehr ihr die Decke gefiel. Uns auch. Die reinste Farbexplosion.

Himmelblau.

Kirschrot.

Zitronengelb.

Smaragdgrün.

Rosenrot.

Orangerot.

Fliederfarben.

Rubinrot.

Golden.

Türkis.

Wie ein Garten voller Blumen, sagte Ellie begeistert. Sekunden später riss Dad sie Mum aus der Hand.

»Dieser zerlumpte Dreck hat nichts in meinem Haus verloren!«, fuhr er sie an und rollte die Decke zu einem Bündel zusammen. »Wie kann jemand, der noch ganz bei Verstand ist, einen Haufen alter Lumpen zum Geburtstag verschenken?«

Ellie protestierte. Mum sah nur zu Boden und sagte kein einziges Wort. Dad brachte die Decke in die Küche und nach ein paar Minuten hörten wir Stoff reißen. Ellie fing zu weinen an. Sie wollte hinausrennen, um ihn daran zu hindern, doch Mum hielt sie zurück. »Es macht nichts«, sagte sie immer wieder. »Es macht nichts.«

Am folgenden Abend kam er mit einem Bettüberwurf, den er in einem eleganten Kaufhaus in der Nähe seines Büros gekauft hatte, von der Arbeit heim. Echte chinesische Seide, handbestickt mit schwarzen und roten ineinander verschlungenen Drachen. Hätte ihn ein Vermögen gekostet, wäre aber ein echtes Familienerbstück, belehrte er uns, etwas, das Mum bis in alle Ewigkeit behalten könnte. Sie sagte, die Decke sei sehr schön. Sie strich über die Seide, aber das Leuchten in ihren Augen war erloschen.

Keiner erwähnte Grans Geschenk noch mal, aber ein paar Tage später ging ich mit unserer Klasse in ein Museum und neben den Dinosaurierknochen und Geräten aus der Eisenzeit gab es auch eine Ausstellung mit Patchworkdecken. Alle rannten einfach daran vorbei, denn das Gerücht von einem ausgestellten grausigen abgetrennten Kopf machte die Runde, doch ich blieb zurück und sah die ganzen kleinen beschrifteten Karten an den Decken.

Je mehr ich las, desto mehr erfuhr ich. Patchworkdecken wurden nicht einfach gemacht von Leuten, die zu viel Zeit hatten; sie hatten auch den Zweck, etwas mitzuteilen, das man nicht laut aussprach. Ehefrauen nähten Schmähungen auf ihre herrschsüchtigen Ehemänner ein und Bedienstete hechelten Bosheiten über ihre Dienstherren und -herrinnen durch. Es gab politische Botschaften, Liebesbriefe und sogar unanständige Witze.

Es gab auch ›Freiheitsdecken‹. Amerikanische Sklaven schickten sich geheime Botschaften, indem sie Symbole auf Decken stickten und diese aus den Fenstern oder auf Wäscheleinen hängten, und geflüchtete Leidensgenossen konnten den Botschaften entnehmen, dass es ein sicheres Haus war oder es dort Hilfe für sie gab.

Als ich wieder zu Hause war, kam mir der Gedanke, dass Gran meiner Mutter vielleicht mehr als nur einen Haufen zusammengenähte Stoffflicken geschenkt hatte. Vielleicht schickte sie eine verschlüsselte Botschaft. Wenn Dad nicht zu Hause war, holte ich daher die Stücke der zerrissenen Decke hervor und untersuchte sie nach geheimnisvollen Symbolen, die ich entschlüsseln könnte. Aber ich fand nie etwas.

Doch dann dämmerte mir etwas. Jedes Stoffstück der Decke hatte entweder Gran, Grandad, Mum oder Tante Anna gehört, alle Flicken waren aus Kleidern geschnitten, die sie einmal getragen hatten, also hatte jedes Stück eine eigene Geschichte. Da erkannte ich, dass Grans Patchworkdecke voll von Geschichten war, die Ellie und ich inzwischen nicht mehr hören durften. Und das war Grans geheime Botschaft. Sie ermahnte uns, nicht zu vergessen.

Also fing ich an, die Decke zu reparieren, Stück um Stück, immer, wenn Dad fort war. Ich musste vorsichtig sein und immer nur einen oder zwei Streifen auf einmal zusammennähen, falls er unerwartet nach Hause kam. Einmal war ich so vertieft in die Arbeit, dass der Boden meines Zimmers mit Flicken übersät war und ich sie gerade noch zusammenraffen konnte, ehe er hereinkam.

Mit der Zeit, nach einigen Wochen, war alles wieder zusammengenäht; nicht so säuberlich wie Grans Arbeit, denn sie war ausgebildete Näherin gewesen, aber ich wurde immer geschickter beim Nähen und es wurde letztendlich ganz anständig. Immer noch wagte ich nicht, Mum die Decke zu zeigen, aber von nun an begann ich, mir selbst Kleider zu nähen. Ich kaufte alte Klamotten in Secondhandläden, zerschnitt sie und mischte die Teilstücke und nähte sie wieder zusammen und fügte Bänder, Perlen oder Spitze hinzu und machte mir so neue Kleider, die Gran bestimmt auch gefallen hätten.

Ein paar Monate später starb sie. Bei der Beerdigung konnte Mum gar nicht mehr zu weinen aufhören. Dad redete nach dem Gottesdienst mit dem Pastor und sagte, Gran würde uns sehr fehlen. Der Pastor tätschelte ihm den Arm und murmelte tröstliche Worte. Hinterher gingen wir nicht mit allen anderen zu Tante Anna. Dad sagte, Mum sei zu mitgenommen und müsste nach Hause. Als wir zurück waren, kochte sie das Abendessen und Dad sah sich einen Dokumentarfilm über Königsadler an.

Ich falte die Decke, stecke sie wieder in die braune Tragetüte, dann lege ich sie sorgfältig in meine Segeltuchtasche unter meinen Geigenkasten.

Nicht mehr viel Platz jetzt.

Ich wickle meine Perlmuttohrringe und meine Halskette in die Teile eines Kleides, das gerade in Arbeit ist, und stecke alles vorsichtig auf die eine Seite und Grans altes Holznähkästchen mit meinen ganzen Nähsachen auf die andere Seite.

Muss Papier und ein paar Stifte für meine Listen mitnehmen.

Sie kommen obenauf. Ich ziehe mein Lieblingskleid an, das lange mit Blumenmuster, von dem Dad sagt, dass ich darin wie eine Stadtstreicherin aussehe, und zum Wärmen ziehe ich meinen dicken himbeerfarbenen Pullover drüber. Ich werfe einen Blick auf das Stück Papier, das mit Tesa innen an die Schranktür geklebt ist. Es ist eine Liste mit allen Geigenstücken und Tonleitern, die ich zurzeit übe.

»Ellie. Grace. Wir müssen jetzt los«, ruft Mum leise von unten.

Ich werfe meine Schuluniform in den Schrank, stecke meine Geldbörse in die Tasche am Kleid und schnappe mir meine Reisetasche.

Ich lasse einen letzten Blick über das Zimmer mit seinen schweren messingbeschlagenen Möbeln und den schrecklichen steifen marineblauen Vorhängen gleiten, dann gehe ich eilig hinaus.

Kapitel 5

Ellie

Mums Auto ist in der Garage. Sie darf es nur in Notfällen und freitags zum Einkaufen von Lebensmitteln benutzen. Samstags gibt sie Dad alle Kassenbelege und das Wechselgeld und am nächsten Freitagmorgen, nachdem Dad alles überprüft hat, gibt er ihr genug Geld, damit sie die Einkäufe für die folgende Woche erledigen kann. Weil er derjenige ist, der das Geld verdient, meint er, dass er entscheiden sollte, wofür es ausgegeben wird.

Ungefähr vor zwei Jahren hat Tante Anna Mum ein Vorstellungsgespräch für einen Teilzeitjob in einem Blumenladen vermittelt, damit sie eigenes Geld verdient, aber als Dad rausgefunden hatte, wo sie gewesen war und dass sie den Job bekommen hatte, ist er an die Decke gegangen und hat gesagt, er würde schließlich nicht die ganze Zeit arbeiten, damit seine Frau losziehen würde wie eine Dienstmagd.

Später am Abend konnte ich immer noch aus der Küche hören, wie sie stritten. Es machte mir so Angst, dass ich aus dem Bett stieg und nach unten ging und so tat, als wollte ich ein Glas Wasser holen, nur damit sie aufhörten, aber es hat nicht funktioniert. Am Morgen hatte Mum eine Platzwunde direkt über dem Auge, das ganz geschwollen war. Sie behauptete, sie hätte sich an einer der Küchenschranktüren gestoßen, sah mich dabei aber nicht an. Dad legte den Arm um sie und drückte sie fest und sagte, wie schade, dass sein kleiner trampeliger Tollpatsch nun nicht auf die Straße könnte, so wie sie aussähe.

Sie rief bei der Ladeninhaberin an und sagte, es täte ihr leid, aber sie könnte doch nicht kommen. Am drauffolgenden Samstag, als ihr Auge fast wieder gut war, machte Dad mit uns allen einen Ausflug in einen Freizeitpark. Der schönste Tag in meinem Leben. Er war richtig nett zu Mum und kaufte Grace und mir Armbänder mit unseren Geburtssteinen, Eis und niedliche weiche Stofftiere, obwohl ich ihn darauf hinwies, dass wir viel zu alt dafür waren. Er kaufte Mum eine schöne Halskette mit Metallperlen an einer schweren Kette und sie tat so, als ob sie ihr gefiel. Sie trägt sie nicht oft, damit sie nicht kaputtgeht.

Ich fuhr mit Dad mindestens drei Mal in jedem der Karusselle und Bahnen und konnte nicht zu lachen aufhören, als wir die Wildwasserbahn runterfuhren, obwohl wir total durchnässt wurden. Ich war sogar in der Todeswand und war so stolz und glücklich, als Dad mich lobte, wie mutig ich sei, und ich kicherte wie verrückt, als er witzelte, er habe sich gerade in die Hose gemacht.

Als wir nach Hause kamen, war alles wunderbar, außer, dass wir Tante Anna nicht mehr sahen, auch wenn Mum versprach, dass sie sich nie mehr um einen Job bemühen würde. Dad lächelte und sagte: »Ganz mein braves Mädchen«, und aus irgendeinem Grund bildete ich mir ein, dass jetzt alles gut würde, aber da war ich noch ein Kind und hatte keine Ahnung.

Mum ist damit beschäftigt, den Koffer und unsere Schlafsäcke in den Kofferraum zu laden, als wir in die Garage kommen. Meine Reisetasche ist echt schwer und es macht mir Mühe, sie auf dem Rücksitz zu verstauen, bevor Mum sie sieht. Grace merkt, dass die Tasche sich leicht bewegt, wirft mir einen kurzen Blick zu und ich weiß, dass sie Bescheid weiß.

»Na, hoffentlich hält er die Schnauze«, flüstert sie und hilft mir, die Tasche vorsichtig auf den Boden zu stellen, damit man sie nicht sieht.

»Im Auto schläft er doch immer«, flüstere ich zurück und hoffe und bete, dass es heute Abend nicht anders ist.

»Eine von euch nach vorne, eine nach hinten«, sagt Mum und schließt den Kofferraum mit sanftem Druck. »Und kein Gezanke darum, verstanden?«

Grace wirft mir wieder einen Blick zu und lächelt, als sie vorne einsteigt. Ich steige hinten ein, stecke heimlich die Hand in die Tasche und streichle den warmen, pelzigen Körper darin.

Fünf Minuten später verlassen wir unsere Auffahrt und biegen auf unsere Straße. Es regnet inzwischen. In einer Stunde wird Dad heimkommen und erwarten, dass eine selbst gemachte Fleischpastete auf dem Tisch steht. Aber er wird weder einen Auflauf noch uns finden. Ich fange zu kichern an. Ich weiß nicht warum, aber ich kann nicht aufhören, auch wenn ich weiß, dass es überhaupt nicht lustig ist. Ich blicke zurück zu unserem Haus, als wir um die Ecke biegen, und spüre einen Druck auf der Brust. Ich kann nicht anders, ich frage abrupt: »Was wird Dad sagen?«

Mum umklammert das Lenkrad fester und nimmt den Blick nicht von der Straße.

»Keine Sorge, Ellie«, sagt sie leise. »Wir sind bis dahin so weit weg, dass wir ihn nicht hören.«

Kapitel 6

Grace

Ist das ein Traum? Oder eine von Ellies Fantasiegeschichten? Jeden Augenblick wird Mum das Lenkrad rumreißen und sagen: »Okay, das Abenteuer ist vorbei, wir sind weit genug gegangen – lasst uns lieber umkehren.«

Aber sie tut es nicht. Wir fahren weiter und um uns wird der Berufsverkehr dichter. Ich muss ruhig bleiben. Ein paar Listen machen.

Okay.

Schwarzer Kater (Glück).

Verkehrspolizist (unwirsch).

Pizzaservice-Junge (pickelig).

Straßenarbeiter (schmutzig).

Na bitte. Es klappt. Alles wird gut.

Mann oben an einem Telegrafenmast (wackelig).

Frau in einem Hennenkostüm, die Flugblätter verteilt (abartig).

Alte Frau mit Kinderwagen und –

Ellie jammert, dass ihr schlecht wird.

»Ich halte an und du kannst mit Grace tauschen und vorne sitzen«, sagt Mum, aber das will Ellie nicht.

Mum hält dennoch an, wir müssen tanken. Als sie am Zapfhahn ist, frage ich mich, ob sie überhaupt Geld hat, um zu bezahlen. Heute ist erst Donnerstag, vor morgen gibt ihr Dad nichts.

Ich sehe aus dem Fenster und beobachte die Zapfsäule, bis die Ziffern auf der Anzeige schließlich stehen bleiben. Mum fängt meinen Blick auf, als sie den Zapfhahn wieder einrasten lässt. Sie trägt nicht wie üblich ihre langen Perlenohrringe und auch nicht das große Goldmedaillon, das ihr Gran zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hat.

Sie verschwindet in der Tankstelle, um zu zahlen, und Ellie öffnet ihre Segeltuchtasche. Ein verschlafener Bruno steckt die Nase heraus, gähnt und schnuppert und scheint zu beschließen, dass er Fressen riechen kann. Plötzlich schält er sich aus der Tasche und klettert nach vorne.

»Grace, tu was!«, kommandiert Ellie, als ob ich Wunder vollbringen könnte. »Scheuch ihn nach hinten!«

Aber Mum kommt schon zurück und Bruno ist wild entschlossen, seine Schnauze in die Tragetüte zu meinen Füßen zu stecken. Ich rette die Tüte vor ihm, aber es ist zu spät, um auch nur daran zu denken, ihn wieder verstecken zu können.

»Ach, Grace!«, sagt Mum, als sie sich auf den Fahrersitz zurücksetzt. »Was um Himmels willen hast du dir nur gedacht?«

Ich blicke zu Boden und packe die Plastiktüte fester. Ich merke, wie ich die Lippen aufeinanderpresse.

»Grace, rede mit mir!«, fordert mich Mum auf. »Bitte.«

Ich sehe sie an, sage aber nichts. Ich bringe kein Wort heraus. Mein Schweigen schneidet mir wie ein Messer ins Fleisch.

Sie wendet den Blick ab und schüttelt bekümmert den Kopf.

»Es war nicht sie, ich war’s«, platzt Ellie heraus.

»Aber ich habe euch doch gesagt, dass wir ihn nicht mitnehmen können.«

»Das wird schon, Mum. Ich kümmere mich um ihn. Versprochen. Ich hab ein paar Dosen Hundefutter und seinen Napf und seine Leine mitgenommen. Es ist alles in meiner Tasche.«

Mum sitzt da, starrt aus dem Fenster und beißt sich auf die Lippe. Sie berührt ihren Hals, wo die Kette ihres Medaillons sein sollte, seufzt ein wenig und reibt sich die Haut unter ihren Blutergüssen, als ob das Medaillon wie durch Zauberei auftauchen könnte.

»Mum, bitte …«, fleht Ellie.

Als ob er die Situation versteht, klettert Bruno von meinem auf Mums Schoß und fängt an, ihr das Gesicht zu lecken.

»Pfui! Bruno, hör auf!«, wehrt sie sich, aber sie lächelt schon fast, auch wenn ihr die Tränen über die Wangen laufen. Bruno ist verwirrt und leckt heftiger und seine Schnauze kräuselt sich leicht bei dem salzigen Geschmack auf seiner Zunge.

»Okay. Okay. Guter Junge, Bruno«, sagt Mum und muss ihn jetzt einfach streicheln. »Ellie, ich habe es dir verboten, aber er ist nun mal hier und muss bei uns bleiben.«

Sie scheucht ihn nach hinten auf den Sitz neben Ellie, die ihr Gesicht in sein Fell steckt und ihn drückt wie einen lange vermissten Freund. Wir fahren los auf die Autobahn, in westlicher Richtung.

Warum hat Mum Ohrringe und Halsschmuck abgenommen? Das tut sie doch nie. Warum hat sie den Schmuck ins Gepäck getan?

Und dann dämmert es mir. Mir wird ganz klar, was sie gemacht hat; sie hat ihn verkauft, um etwas Bargeld zu haben. Und zum ersten Mal wird es mir richtig bewusst.

Wir gehen nicht zurück.

Kapitel 7

Ellie

Auf der Autobahn bittet Mum Grace, ein paar von den Broten herauszuholen, die sie eingepackt hat. Es sind Käsebrote mit selbst gemachtem Mangopickle, mein Lieblingsbelag. Das Brot ist frisch und krümelig und ich merke, dass ich seit Mittag nichts mehr gegessen habe und am Verhungern bin. Ich nehme einen kleinen Bissen, ganz vorsichtig. Mir ist zwar nicht mehr schlecht, aber ich habe Angst, überall hinzukrümeln. Dann fällt mir ein, dass Dad das Auto ja nicht absuchen und die Krümel entdecken kann, da entspanne ich mich und beiße ordentlich zu.

»Es gibt auch ein bisschen Kuchen«, sagt Mum, als ich beim zweiten Brot bin. Grace greift in die Tüte und zieht wie ein Zauberer zwei Stücke von Mums leckerem Karamell-Bananenkuchen heraus. Als sie mir eines davon reicht, fällt mein Blick auf ihre Armbanduhr.

Grace ist die Uhrzeit auch aufgefallen. Sie erstarrt und langsam weicht alle Farbe aus ihrem Gesicht. Sie wirft mir einen Blick zu, dann dreht sie sich um und sitzt bewegungslos da. Das Kuchenstück liegt unangerührt auf ihrem Schoß. Und ich weiß, was ihr durch den Kopf geht, denn ich muss auch daran denken. Eben jetzt kommt Dad durch die Haustür herein.

Das Haus ist immer still und makellos sauber, wenn er nach Hause kommt, und heute ist es auch nicht anders. Er stellt seine Aktentasche ab und merkt nicht mal, dass wir nicht da sind – erst mal nicht. Er schüttelt die Falten aus seinem Mantel und hängt ihn sorgfältig in den Garderobenschrank, dann geht er in die Küche. Keine Mum. Er schnuppert. Keine Fleischpastete im Ofen. Vielleicht schlägt er eine Ecke der Tischdecke zurück und guckt unter den Küchentisch. Kein Bruno. Jetzt ist er verwundert. Sogar misstrauisch. Er reibt sich mit den Fingerspitzen den Bart und geht hinüber ins Wohnzimmer. Keine Hausaufgaben auf dem Tisch ausgebreitet. Keine Grace. Keine Ellie. Keine Mum. Er runzelt die Stirn und stürmt nach oben und sieht in jedes Zimmer. Keiner da. Seine Augen sind jetzt hart, seine Lippen zu diesem verbissenen Ausdruck zusammengepresst, den er immer hat, wenn er kurz davor ist, auszurasten.

Mein Herz schlägt schneller. Ich sehe zu Grace. Auf ihrer weißen Stirn stehen drei Schweißperlen. Sie holt tief Luft und schluckt heftig. Den Kuchen auf ihrem Schoß hat sie nicht angerührt.

»Mum … ich glaube, Grace wird es schlecht.«

Mum dreht sich zu ihr um und sieht sie an.

»Bitte nicht, Grace … nicht jetzt!« Panik liegt in ihrer Stimme. Wir sind auf der Autobahn. Sie kann nicht an den Rand fahren und anhalten. »Mach das Fenster auf. Frische Luft hilft dir … Grace, dir wird doch sonst nie im Auto schlecht!« Aber Grace hört ihr nicht zu. Sie packt die leere Plastiktüte und kotzt hinein.

Der Geruch ist schrecklich, aber wir müssen weiterfahren, bis die nächste Ausfahrt kommt. Mum biegt ab und hält an, sobald es geht. Wir steigen alle aus und stehen auf der Grasböschung. Mum sagt, Grace soll mehrmals tief Luft holen, und gibt ihr Wasser zu trinken, während ich Bruno aus dem Auto lasse. Er ist begeistert, nachdem er so lange eingesperrt war, und denkt, dass wir schon angekommen sind, und rennt direkt auf die Straße.

»Bruno!«, schreie ich hinter ihm her. Ein dunkelgraues Auto kommt um die Ecke, direkt auf mich zu. Mein Herz setzt einen Schlag aus.

Denk daran, ich komme dir immer auf die Schliche, Ellie. Immer. Wenn du Lügenmärchen erzählst – damit kommst du bei mir nie durch. Niemals. Dads Drohung von gestern Abend hallt in mir nach.

Mum schreit, ich soll von der Straße kommen, aber ich rühre mich nicht. Ich kann nicht. Er ist es. Er hat uns eingeholt. Er drückt heftig auf die Bremse und kommt nur wenige Zentimeter vor mir quietschend zum Stehen.

»Ellie!«, ruft Mum. Sie packt mich am Arm und greift nach Brunos Halsband und zieht uns an den Straßenrand zurück. »Was machst du denn?«

»Es ist Dad!«, sage ich zu ihr. Ich habe Angst hinzusehen.

Ich kann hören, wie der Mann das Fenster runterdreht und mich anschreit. Aber seine Stimme ist anders, ganz hoch und überhaupt nicht wie sonst. Als ich endlich so viel Mut aufbringe, um hinzusehen, stelle ich fest, dass es doch nicht Dad ist. Es ist nicht mal ein Mann mit einem Bart; es ist eine Frau mit kurzen grauen Haaren. Ich fange zu kichern an. Es ist so komisch, dass ich nicht mehr zu lachen aufhören kann. Ich schnappe mehrmals tief nach Luft und es fühlt sich gut an, das hysterische Kreischen tief in mir herauszulassen, auch wenn die Frau, die nicht Dad ist, dadurch noch unwilliger wird.

»Es tut mir leid!«, ruft Mum ihr zu, während sich Grace um Bruno kümmert. »Entschuldigung. Unser Hund ist davongelaufen und …«

Die Frau schüttelt den Kopf, murmelt etwas und fährt davon, und jetzt hält Mum meine Arme fest und sagt, ich soll aufhören, mich beruhigen – doch ich kann nur denken, dass es doch nicht Dad ist. Er ist es nicht. Er hat uns nicht aufgespürt. Allmählich lässt das heisere Kichern nach und ich bin nur noch erschöpft und fühle mich leer und habe Seitenstechen, als ob ich zu lange gelaufen wäre.

Mum nimmt mich in die Arme, dann steigen wir wieder ein und fahren zurück auf die Autobahn. Es geht endlos weiter und man kann nichts sehen außer Scheinwerfern und Rücklichtern von anderen Autos und Lastwagen. Mum dreht das Radio an, aber keiner hört zu, daher stellt sie es wieder ab und wir fahren stumm weiter. Grace schließt die Augen, aber ich glaube, sie tut nur so, als ob sie schläft. Es sind jetzt weniger Autos unterwegs und es wird schon spät.

»Versuch zu schlafen, wenn du kannst«, flüstert mir Mum über die Schulter zu.

»Wo fahren wir hin?«, frage ich.

Sie antwortet nicht.

»Mum? Wir können doch nicht ewig weiterfahren.«

»Machen wir auch nicht. Schlaf ein bisschen. Ich wecke dich, wenn wir da sind.«

Es ist dunkel draußen, meine Augenlider werden schwer, und obwohl ich weiß, dass ich nicht einschlafen kann, wird es immer schwieriger, die Augen offen zu halten. Bruno kuschelt sich an mich und gähnt.

Kapitel 8

Grace

Das Letzte, was ich beim Aufwachen zu sehen erwartet habe, ist das glitzernde blaugrüne Meer, aber da liegt es direkt vor mir, magisch schimmernd, postkartenschön, wenn auch erschreckend nah. Das Wasser ist bewegt und Wellen mit weißen Schaumkronen brechen sich am Strand unter uns und krachen an Felsen draußen auf dem Meer. Die Sonne scheint, aber der Wind ist rau und von Zeit zu Zeit wird unser Auto von heftigen Böen geschüttelt und Federbettwolken werden über den Himmel geblasen. Wir sind das einzige Auto auf dem Parkplatz – und es scheint, als seien wir ans Ende der Welt gefahren und haben gerade noch rechtzeitig angehalten.

Ich werfe einen Blick auf Mum neben mir, die fest schläft, die Wange in die Hand gelegt und mit einem leichten Stirnrunzeln, das die zarte Haut zwischen ihren Augenbrauen durchzieht. Der Bluterguss an ihrem Hals ist ein qualvoller und schmerzender Anblick. Mein offener Schlafsack ist über uns ausgebreitet, doch von ihr abgerutscht, daher hebe ich ihn vorsichtig an und lege ihn wieder über sie. Sie regt sich wie ein kleines Kind, stöhnt leise, wacht jedoch nicht auf.

Auf dem Rücksitz liegt Ellie zusammengerollt mit Bruno, beide kuscheln sich unter ihren Schlafsack, nur ihre Köpfe schauen hervor. Bruno macht die komischen Brummgeräusche, die er oft im Schlaf von sich gibt, und dem Zucken seiner Nase nach zu schließen, träumt er wahrscheinlich davon, Karnickel zu jagen. Es ist sieben Uhr und kein Mensch zu sehen. Ein Schwarm Möwen schießt über uns hinweg. Sie erfüllen die Luft mit ihrem ohrenbetäubenden Kreischen. Bruno wacht auf und bellt erregt und sofort wachen auch Mum und Ellie auf.

»Sind wir da?«, fragt Ellie und setzt sich verschlafen auf. Sie späht aus dem Autofenster und sperrt ungläubig den Mund auf. »Wow …« Ihre Stimme erstirbt und sie starrt auf die schimmernde See, als ob sie eine Fata Morgana sieht.

»Hier habe ich mal Ferien gemacht, als ich zehn war«, sagt Mum leise. »Mit Anna, Gran und Grandad, in dem Jahr, bevor er gestorben ist. Wahrscheinlich hat sich inzwischen alles verändert.«

Wir sitzen da und starren durch die Windschutzscheibe aufs Meer.

»Hey! Was ist das?«, ruft Ellie plötzlich. Sie deutet auf drei glänzende schwarze Fußbälle, die im Wasser schaukeln. Verwundert sehen wir hinunter und merken, dass die Fußbälle Augen, Nasen und Barthaare haben.

»Seehunde!«, sagt Mum aufgeregt. »Das sind Seehunde!«