Prosa bei Lektora
Bd. 38
Eine Erzählung in zwölf Happen
Erste Auflage 2013
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 2013 by
Lektora GmbH
Karlstraße 56
33098 Paderborn
Tel.: 05251 6886809
Fax: 05251 6886815
www.lektora-verlag.de
Cover: Simon Höfer
Lektorat: Lektora GmbH
Satz: Lektora GmbH
ISBN: 978-3-95461-013-6
„Aus den Träumen des Frühlings
wird im Herbst Marmelade gemacht.“
Happen Eins
Happen Zwei
Happen Drei
Happen Vier
Happen Fünf
Happen Sechs
Happen Sieben
Happen Acht
Happen Neun
Happen Zehn
Happen Elf
Happen Zwölf
Mein Name ist Sebastian und als ich klein war, hatte ich einen immer wiederkehrenden Traum.
Das ist soweit sicher nicht ungewöhnlich, vermute ich. Nach dem, was man so hört, geht es vielen Menschen ähnlich. Nur reagieren nicht alle gleich darauf.
Viele Menschen, die einen immer wiederkehrenden Traum haben, schütteln kurz den Kopf, drehen sich dann um und schlafen weiter. Andere erzählen ihren Familien am Frühstückstisch zwischen Brötchen und Bild hindurch von ihrem Traum. Dann schütteln die Familien kurz den Kopf, drehen sich um und wachen weiter.
Wenn ein Bundespräsident Visionen hat, dann geht er zum Arzt.
Wenn ein Deutschlehrer eine Metapher entdeckt, gibt er eine Zwei minus.
Aber ich bin nicht Präsident und erst recht nicht Deutschlehrer. Ich bin der, vor dem beide Angst haben: Ich bin Dichter.
Nun gut, vermutlich kommt es selten vor, dass sich der Präsident unterm Bett versteckt, weil er erfährt, dass ein Dichter vor der Tür steht. Auch wenn das eine goldige Vorstellung ist.
Bei den Deutschlehrern bin ich mir aber recht sicher, dass sie den Dichtern lieber ausweichen. Der Volksmund murmelt ja, dass jene, bei denen es nicht zum Schriftsteller gereicht hat, eben Kritiker werden. Ich murmele, dass jene, bei denen es nicht zum Kritiker gereicht hat, eben Deutschlehrer werden. Sie verteilen schiefe Kopien literarischer Werke und lassen die Schüler Kritiker spielen, um dann mäßige Noten dafür in Zeugnisse zu willküren.
Die Fuchsigeren unter Ihnen werden gemerkt haben, dass ich grade Deutschlehrer kritisiere und damit den Kreis schließe. Fuchsige mögen Kreisstrukturen und verkünden sanft nickend ihr Urteil: „Zwei minus.“
Das reicht für zwei Mark von Omma (für eine Eins hätte es fünf Mark gegeben) und es reicht auch, um den Bogen zurückzuschlagen zu dem Traum.
Wenn Dichter einen immer wiederkehrenden Traum haben, dann reagieren sie darauf ganz anders als andere Menschen. Für den Dichter ist die Welt eine Dampflokomotive, die statt mit schwarzer Kohle mit Bedeutung betrieben wird. Ein Dichter nimmt sich selbst wahr als jemand, der vorne in der Lok steht und mit einer Schaufel Bedeutung aus dem Tender seines überreichlich empfindenden Herzens in das glühende Feuer der Welt hievt.
An den Bahnübergängen stehen die Menschen vor den gesenkten Schranken und sehen unter einer buschig aufquellenden Dampfwolke die Lokomotive des Dichters vorbeirattern. Ihre Ohren folgen dem warnenden Pfeifen, das im Vorbeifahren die Tonhöhe fallen lässt und abebbt, während die Bedeutung am Horizont verschwindet.
Die Leute sehen sich daraufhin seit langer Zeit mal wieder in die Augen, gehen nach Hause und machen Liebe vorm Kamin, denn darum geht es im Leben. Der Dichter aber rast weiter mit seiner Lokomotive auf den unendlichen Schienen, die den Namen der Zeit in ihrer Mitte zärtlich umarmen. Er schaut aus dem gusseisernen Fenster hinaus auf eine Handvoll Wolken und atmet den Duft der Bedeutung ein, der irgendwie an verbrennende fossile Rohstoffe gemahnt.
Die Fuchsigen unter Ihnen werden längst gemerkt haben, dass ich mich da in was reingesteigert habe – wo der Dichter langformuliert, da geht die Sprache manchmal mit ihm durch. Sie ist ein wildes Pferd in einer zügellosen Steppe … Moment, lassen wir das.
Wenn also ein Dichter einen immer wiederkehrenden Traum hat, dann vermutet er dahinter eine tiefere Bedeutung, mehr noch, er ist sich sicher, dass das nicht einfach nur ein Traum ist, sondern dieser auf etwas anderes verweist, eine tieferliegende Ebene eben.
Also nehme ich mir meine Schaufel, spitze die Hacke und den Bleistift und dann wollen wir doch mal sehen, was passiert.
Das Unterfangen wird dadurch stark vereinfacht, dass der Traum sehr simpel und kurz war. Ich fand mich in einer hügeligen Landschaft wieder, die von grünen, geschwungenen Linien geprägt war. Es mag sich um Wälder oder Wiesen gehandelt haben, jedenfalls war da Natur. Ich sah mich um und entdeckte stets das Gleiche: Oben auf einem der Gipfel war ein Schiffswrack.
Nun gut, zugegeben, manchmal war das Schiffswrack auch etwas unterhalb der Hügelkuppe, aber doch immer oben an einem Hang.
Das war es schon.
Manchmal hatte ich noch etwas mehr Zeit, dann konnte ich näher ans Schiff rangehen und das Wrack begutachten. Es ist auch ein paar Mal passiert, dass es vorher ins Rutschen geriet und den Hang hinabglitt, wenn ich geweckt wurde. Dann setzte man mir ein Frühstück vor und erzählte mir etwas von Schule und so.
Ich wollte aber ungern in die Schule, weil ich da so schlecht schlafen konnte. Und selbstverständlich wollte ich gerne wieder hin zu dem Schiff in meinem Traum. Ich war ja ein Kind, da ist man neugieriger drauf – das geht später leider verloren. Ich kenne Erwachsene, die interessieren sich überhaupt nicht mehr für Vorgänge außerhalb ihres gewohnten Wirkungskreises. Denen könnte plötzlich grundlos der Fuß brennen und die würden nicht staunen oder gar Fragen stellen.
„Du, Michael?“
„Ja, Heike?“
„Ich glaub’, dein Fuß brennt.“
„Ach. Und was gibt’s zum Abendbrot?“
Ein ganz typischer Dialog aus deutschen Wohnzimmern.
Kinder sind da anders. Die wollen wissen, was los ist, und sind noch nicht doof genug, zu glauben, dass ihnen der Fernseher die Welt erklärt. Die suchen ihre Antworten in der Realität. Und da gehören Träume nun mal zu, um jetzt mal was Kindlich-Monistisches zu sagen.
Aber in der Schule war Träumen untersagt, da hatte man sich Bruchrechnung beibringen zu lassen – eigentlich paradox. Oder gar widersprüchlich.
„Du, Michael, das Schöne an diesem Satz ist ja grade, dass er sich selbst widerspricht, aber wenigstens nicht paradox ist.“
„Ach. Und was gibt es zum Abendbrot, Heike?“
Man kennt das.
Zen-Buddhisten sind ja immer auf der Suche nach so etwas. Um den Geist zu leeren, versuchen sie sich in Meditation zu versenken und sich auf Unmögliches zu konzentrieren, z. B. Klatschen mit einer Hand. Ich habe das jahrelang betrieben und fühlte neben der nagenden Frage nach dem Traum eine innere Ruhe aufkeimen. Eines Tages hat mir dann ein geistig leicht lädierter Mann in einem übel beleumundeten Bahnhof gezeigt, dass er sehr wohl mit einer Hand klatschen kann, indem er sehr schnell die rechte Hand schüttelte, bis seine Finger auf die Handfläche klatschten. Er hatte dies gelernt, weil er die Flasche Dosenbier in seiner anderen Hand beim Klatschen weiter halten können wollte. Staunend sah ich ihm etwa eine halbe Stunde zu und als ich wieder zur Besinnung kam, war der Mann schon nicht mehr da.
Ich trug die neu gewonnene Erkenntnis über das einhändige Klatschen zu meinem Zen-Meister in sein Dojo und er teilte mir seine Meinung mit: „Zwei minus!“
So ging der Buddhismus dahin, der Traum blieb. Ein Schiff auf einem Hügel.
Viel mehr kann ich nicht über meinen immer wiederkehrenden Traum sagen. Das macht es gleichzeitig schwieriger und einfacher, eine Interpretation zu bieten. Aber bevor die Buddhisten jetzt schon wieder glänzende Augen kriegen: So ist das eben mit vielschichtigen Sachen und Träume sind in diesem Punkt der Blätterteig in der Konditorei des Geistes.
Ich habe beschlossen, diese Erzählung nicht in Kapitel zu unterteilen, sondern in Happen. Das wird hier schließlich kein Roman und keine Loge. Ich habe überhaupt keine Lust, meine Gedanken entlang eines roten Fadens zu sortieren oder gar eine hanebüchene Handlung zu entwickeln, um den Lesegewohnheiten zu entsprechen.
Den letzten Satz habe ich nur geschrieben, um den Lektor zu erschrecken. Wenn der Satz abgedruckt wurde, dann hat mein Plan funktioniert und dieser schreckliche Mann hat einen Herzinfarkt gekriegt und ich kann ab hier schreiben, was ich will.
Was man so über Verlags-Lektoren hört, ist nämlich alles wahr. Man reicht ein hoffnungsfrohes, innovatives Manuskript ein, das von einer Irrenanstalt handelt, in der sich alle für griechische Götter halten. Im Laufe der Handlung stellt sich raus, dass die Insassen vielleicht tatsächlich Götter sind und in Wirklichkeit alle außerhalb der Anstaltsmauern spinnen. Man mag von der Geschichte halten, was man möchte, ich bin offen für Kritik – am liebsten, wenn sie sich nicht gegen mich richtet. Aber wisst ihr, was der Lektor einer renommierten Berliner Literaturagentur dazu meinte?
„Eine schöne Geschichte, aber könnte man da nicht was ohne Götter draus machen? Das wirkt so konstruiert …“