Petra Stuiber

KOPFTUCHFRAUEN

Ein Stück Stoff, das aufregt

Federschwert

Petra Stuiber

KOPFTUCHFRAUEN

Ein Stück Stoff, das aufregt

Czernin Verlag, Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien,
Wissenschafts- und Forschungsförderung (MA 7)

Stuiber, Petra; Kopftuchfrauen – Ein Stück Stoff, das aufregt / Petra Stuiber
Wien: Czernin Verlag 2014
ISBN: 978-3-7076-0496-2

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Für

Kopftuchträgerinnen,

Kopftuchbefürworterinnen,

Kopftuchgegnerinnen,

Verkopfte, Kopfgesteuerte und Kopfwehgeplagte

und für alle starken Frauen, die täglich mit dem Kopf durch die Wand wollen,

sowie für Florian und Dominik, denen ich möglichst viele dieser interessanten Frauen in ihrem Leben wünsche.

VORWORT

Am Anfang war Unbehagen. Ein durchaus professionelles Unbehagen, um genau zu sein. 2007 hatte ich die Leitung des Chronik- und Wien-Ressorts im »Standard« übernommen – eine anspruchsvolle Aufgabe, die ein reiches Bouquet an Themen umfasst: Taifune in Amerika, Überschwemmungen in Südostasien, Hochwasser in Österreich und Deutschland, die Katastrophe von Fukushima, Kriminalfälle, Asylproblematik, Gesundheitsfragen, Kommunalpolitik, Menschenrechts- und Gleichstellungsfragen, und: das breite Thema Migration und Integration. Immer wenn es dabei um Frauen geht, stehen Journalisten vor einem Bebilderungsproblem: Gibt man im hauseigenen elektronischen Fotoarchiv »Muslimin« ein, erhält man als Ergebnis oft Marktszenen mit stark verhüllten, altmodisch gekleideten Frauen, die erkennbar um billigere Ware feilschen. Oder man findet alte Frauen in wallenden Gewändern auf den Bänken der städtischen Parks. Oder man sieht Frauen mit Kopftuch, die sich im Sprachkurs abmühen. Wie man es auch dreht und wendet, wo man auch sucht und versucht – immer poppt vor allem und zuallererst das Klischeebild auf.

So gesehen waren die unsäglichen Sprachbilder, die Thilo Sarrazin in seinem viel diskutierten und kritisierten Türken-Bashing-Buch »Deutschland schafft sich ab« bemühte, nicht so weit hergeholt. Türke ist gleich Gemüsehändler bzw. Kopftuchfrauen bzw. kleine Kopftuchmädchen bzw. schlicht bzw. ungebildet – so lauten die Gleichungen und so sieht auch das Bild aus, das sich die Öffentlichkeit von Frauen mit Migrationshintergrund macht, besonders wenn sie Musliminnen sind, vor allem wenn sie Kopftuch tragen.

Wer genauer hinblickt, dem bietet sich ein differenzierteres Bild der »Kopftuchfrauen«: Da gibt es die Aufsteigerinnen und jene, die den Anschluss verlieren; es gibt eine wachsende Anzahl an Akademikerinnen mit Migrationshintergrund und das (wachsende) Problem, dass junge Männer aus der »Community« in Sachen Bildungsaufstieg zunehmend zurückbleiben. Es gibt die Traditionalistinnen und die radikal Modernen, die Komplizierten und die einfach Gestrickten, die Konservativen und die Progressiven.

Zugleich stellt man überrascht fest, dass es im eigenen Bekanntenkreis zwar durchaus Menschen mit Migrationshintergrund gibt – aber keine einzige Frau mit Kopftuch. Man fragt sich warum, schließlich hält man sich selbst für aufgeklärt und tolerant. Man fragt herum: überall dasselbe Bild. Nicht nur die gesellschaftliche Durchmischung von alteingesessener und Migrationsbevölkerung funktioniert nur zögerlich. Offenbar bleiben die Katholiken, selbst wenn sie längst aus der Kirche ausgetreten sind, genauso unter sich wie die Muslime. Es gibt zwar den institutionalisierten Dialog zwischen den Konfessionen, aber privat findet er nur selten statt.

Dieses Buch ist der Versuch, die Frauen hinter dem Klischee zu zeigen. Es soll nicht nur die aktuelle »Kopftuchdebatte« in Deutschland und Österreich einordnen, es will Menschen in ihren konkreten Lebenssituationen beschreiben und aufzeigen, dass die Kopfbedeckung nicht das bestimmende Element im Umgang miteinander sein darf. Im Gegenteil – wie die Begegnungen im Zusammenhang mit diesem Buch zeigen, die alle ähnlich verliefen: Erst wurde über das Thema »Kopftuch« gesprochen, doch sobald die Unterhaltung tiefer ging, wurde dieses völlig nebensächlich. Am Ende debattierten wir über Politik, Film, Musik, Kunst im Allgemeinen, Religion, Kindererziehung und die eigene Familie – und immer wieder »Frauenfragen«. Und wir stellten spannende Parallelen und Unterschiede fest, deren Erörterung befruchtend war.

Gleichzeitig erinnerte ich mich an meine Großmütter, die beide auf dem Land gelebt und im Alltag immer Kopftuch getragen hatten: weil es windig war, damit kein Haar in der Suppe oder im Strudelteig landete, weil es der Herr Pfarrer in der Kirche gerne sah, weil einfach keine Zeit war zum Friseur zu gehen – oder weil man gerade vom Friseur kam und die neue »Welle« möglichst lange bewahren wollte. Das Kopftuch war im Österreich der frühen 1970er-Jahre weit verbreitet. Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, zumindest in der Alltagskultur, gewandelt, doch fremd ist unserem Kulturkreis, der sich für so aufgeklärt hält, die Bedeckung des weiblichen Haares beileibe nicht.

So entstand die Idee, das muslimische Kopftuch mit dem nicht-muslimischen zu verknüpfen – und es gleichwertig und gleichberechtigt als eine Form der Bekleidung zu zeigen, für die sich Frauen entscheiden. Auf diese Weise entstanden zehn spannende Porträts von Frauen, gläubigen und »ungläubigen«, prominenten und weniger bekannten, jüngeren und älteren, die außer ihrem Geschlecht eigentlich nur eines gemeinsam haben: dass sie im Alltag ständig oder zumindest häufig Kopftuch tragen (oder eine Zeitlang trugen).

Das Ziel dieses Buches ist, Vorurteile zurückzudrängen und möglichst Viele dazu zu bewegen, die Sache der Frauen als eine zu betrachten und dafür zu arbeiten, zu argumentieren, zu kämpfen – über alle Grenzen hinweg.

Alle vorliegenden Texte wurden nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und die Fakten gecheckt. Sollten sich dennoch Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, bitte ich dies zu entschuldigen. Es handelt sich nicht um einen wissenschaftlichen Titel zum Thema, im Mittelpunkt stehen die persönlichen Geschichten und Hintergründe, die einen Blick hinter die Theorie gewähren sollen.

Zu den Gesprächen mit den in diesem Buch porträtierten Kopftuchträgerinnen hat mich die kluge junge Fotografin Katharina Roßboth begleitet, die wunderbare, einfühlsame und sensible Frauenbilder herstellte. Dafür meinen innigsten Dank – ohne ihre Kunst wären meine Frauen-Geschichten halb so interessant.

Meine besondere Dankbarkeit gilt aber den porträtierten Frauen selbst. Sie haben außerordentlichen Mut bewiesen, indem sie ihr Leben, ihre Gedanken und ihre Werthaltungen vor einer Öffentlichkeit ausbreiten, deren Reaktion im Voraus nicht abzuschätzen ist. Sie haben sich geöffnet und ihr Innerstes (und damit Verletzlichstes) gezeigt. Nicht viele Frauen, zumal wenn sie nicht beruflich bedingt regelmäßig in der Öffentlichkeit stehen, sind dazu bereit. Ich verneige mich vor so viel Courage und bin nicht sicher, ob ich diese, umgekehrt, bewiesen hätte. Ich danke auch jener Frau, die ihren Namen nicht im Buch lesen wollte, weil ihr bei dem Gedanken, was ihre Familie und ihre Freunde sagen könnten, doch mulmig wurde.

Ich wünsche allen, die an »Kopftuchfrauen« beteiligt waren, alles Gute, auch den wunderbaren Frauen im Czernin Verlag, die ein anfangs etwas konfuses Konzept zum Leben erweckt haben. Und ich danke meinem Mann und meinen Kindern, die – jeder auf seine Weise – am Entstehen dieses Buches einen wesentlichen Anteil hatten.

Ihnen allen sei mein Lieblingssatz von Barbara Frischmuth gewidmet: »Ich möchte meine eigene Version von Wirklichkeit haben und riskieren, dass ich mich irre, und zulassen können, dass mich etwas berührt, an dessen Vorhandensein ich eigentlich nicht glaube.«

(aus: »Kopftänzer«)

Petra Stuiber

Wien, Frühjahr 2014

DAS KOPFTUCHEIN »AUFREGENDES« STÜCK STOFF?

Über Kopftücher, Schleier und Verhüllung

Ein Glossar zur textilen Aufregung

Wenn zwei über »das Kopftuch« sprechen, kann es sein, dass sie von völlig unterschiedlichen Bedeckungen des weiblichen Haupthaares sprechen.

Wikipedia, das selbst ernannte Internet-Lexikon, liefert eine höchst puristische Definition: »Ein Kopftuch ist ein dreieckiges oder zu einem Dreieck gefaltetes Stück Stoff, mit dem der Kopf bedeckt wird. Es kann auf verschiedene Arten, unter dem Kinn, im Genick, unter dem Kinn gekreuzt und im Nacken geknotet (oder auch ohne Knoten) auf dem Kopf getragen werden. Für das Tragen eines Kopftuches gibt es vielfältige Gründe: Schutz vor der Witterung (Kälte, Hitze, Wind, Sonne), aus religiösen bzw. kulturellen oder hygienischen Gründen (Letzteres vor allem in Küchen und Krankenhäusern), damit die Haare bei der Arbeit nicht stören (teilweise auch als vorgeschriebener Arbeitsschutz), um diese vor Verschmutzung (durch Staub etc.) zu schützen, zur Abdeckung der Haare, als Zierde oder als modisches Accessoire. Zu vielen Frauentrachten gehört ein Kopftuch.« Wikip edia merkt an: Meist werden Kopftücher von Frauen und Kindern getragen, aber es gibt auch Kopftücher für Männer.

Damit, das bemerkt auch Wikipedia, kommt man nicht weit. Man muss also der Sache ein wenig auf den Grund gehen und etwas genauer auf und unter das Tuch schauen. Da gibt es zum einen die Unterscheidung zwischen dem muslimischen und dem nicht-muslimischen Kopftuch. Darüber muss man sich, will man darüber streiten, schon einmal einigen. Auch beim nicht-muslimischen Kopftuch gibt es eklatante Unterschiede – etwa in der Form, wie es gebunden wird: unter dem Kinn oder hinten, im Nacken? Dann muss die Frage geklärt werden: Wie viele Zipfel? Handelt es sich überhaupt um ein Trachten-Kopftuch, in bäuerlicher Tradition? Oder gar um eine Mode-Erscheinung, die in den 1960er-Jahren sehr en vogue war und heute noch von einigen Frauen gerne gelegentlich getragen wird.

Fragen über Fragen – und da sind wir noch gar nicht beim muslimischen Kopftuch. Das gibt es in erst recht unterschiedlichen Varianten: als relativ locker gebundenes Tuch, das lässig Schultern und Hals bedeckt; als strengere Verschleierung, mit üppigem »Dutt«, gar einer Haube darunter, die jeglichen Haaransatz verbirgt; kombiniert mit lockerer, westlich-moderner Kleidung oder mit engem Kleid, getragen über knallengen Jeans, kombiniert mit High Heels oder Plateausohlen; oder kombiniert mit Tunika und Pluderhose, fast bodenlangem Kleid oder dem Tschador; bis hin zur Burka – die man in Österreich freilich fast nie zu sehen bekommt. Dazu kommen regionale Traditionen und unterschiedliche Bezeichnungen, welche die Streiterei um ein Stück Stoff auch nicht wirklich einfacher machen.

Die meisten Musliminnen tragen ein Kopftuch, das Schultern und Hals bedeckt und keinen Haaransatz zeigt. Es kann aus Baumwolle, Seide oder Kunstfaser sein, es wird von einigen nur zu speziellen Anlässen, an hohen Feiertagen und beim Betreten der Moschee getragen, andere wiederum tragen das Kopftuch auch im Alltag, als Ausdruck ihrer Religiosität oder aus Schicklichkeitsgründen.

Prinzipiell spricht man von Hidschab (englisch Hijab), das hat im Arabischen die Bedeutungen Hülle, Vorhang, Schleier, Schirm. Im Koran kommt der Begriff Hidschab an verschiedenen Stellen vor und hat unterschiedliche Bedeutungen. Einmal bezieht er sich auf die Frauen des Propheten, die mittels Hidschab von fremden Männern abgeschirmt werden. Viele aufgeklärte Muslime verweisen auf diese Textstelle und dass sie sich ausschließlich auf die Ehefrauen Mohammeds bezieht – und dass »Hidschab« in diesem Zusammenhang nicht »Ganzkörperschleier«, sondern schlicht »Vorhang« bedeute, hinter dem sich die Frauen verbergen dürften, ohne von fremden Männern gestört zu werden.

Im Koran finden sich keinerlei Regeln, wie ein Kleidungsstück auszusehen hat, das dem Verhüllungsgebot entspricht. Rechtsgelehrte des Islam, Ulama, haben Regeln aufgestellt, welche Körperteile der muslimischen Frau in Gegenwart von Männern bedeckt sein müssen. Nach Konsens konservativer Gelehrter soll der Hidschab den gesamten Körper bis auf Gesicht und Hände bedecken. Er sollte einfach gearbeitet und nicht »reizvoll« sein, sodass Männer darauf nicht aufmerksam gemacht werden.

Verschiedene islamische Gemeinschaften legen den Hidschab aber unterschiedlich streng aus. So verzichten Aleviten komplett auf ihn, da sie aus den entsprechenden im Koran angeführten Stellen keine Pflicht für den Hidschab ableiten können. Andere Rechtsgelehrte vertreten hingegen einen noch strengeren Standpunkt. Nach ihrer Ansicht müssen auch Gesicht und Hände bedeckt werden.

Der Niqab ist ein Gesichtsschleier. Meist wird er in Verbindung mit einem Tschador (der moderneren Form des traditionellen schwarzen bodenlangen Gewandes) oder einem anderen schwarzen, langen Kleidungsstück getragen. Ursprünglich entstammt er der Beduinenkultur auf der arabischen Halbinsel, wo Männer und Frauen schon in vorislamischer Zeit Tücher verwendeten, um sich vor Sonne und Staub zu schützen. Der Niqab ist traditionell vor allem auf der Arabischen Halbinsel verbreitet. In Saudi-Arabien und im Jemen trägt die große Mehrheit der Frauen einen Gesichtsschleier. Aber auch in Ägypten, Syrien, Jordanien, im Irak sowie in nordafrikanischen Ländern wird Niqab getragen. Damit er nicht verrutscht, wird bei dem Gesichtsschleier an einem der schmalen Enden an beiden Seiten jeweils ein etwa 20 cm langes Band angenäht, das die schmale Kante verlängert. Mit Hilfe dieser Bänder wird das Tuch hinter dem Kopf befestigt. Dabei kann der Niqab oberhalb oder unterhalb der Augen angebracht werden. Je kleiner das Feld sichtbarer Haut ist, desto mehr ähnelt der Niqab der Burka.

Die Burka (in Pakistan auch Barqa) ist ein Kleidungsstück, das die vollständige Verhüllung des weiblichen Körpers bewirkt. Die Burka ist vor allem unter muslimischen Frauen in Afghanistan und Pakistan verbreitet. Die afghanische Burka besteht aus einem großen Stofftuch, in dem oben eine flache Kappe vernäht ist. Im Bereich der Augen befindet sich ein Sichtfenster, in dem eine Art Gitter aus Stoff oder Rosshaar eingesetzt ist. Das Gesicht ist bei der afghanischen Burka vollständig bedeckt. Der asymmetrische Stoff fällt hinten bis auf den Boden und vorne bis zur Hüfte. Das Kleidungsstück entstand aus der Verbindung eines Körperschleiers mit einem Gesichtsschleier. Afghanische Burkas sind heute meist blau, werden aber auch in anderen Farben (schwarz, grün, orange oder weiß) gefertigt und sind teilweise kunstvoll bestickt. Ursprünglich wurde die afghanische Burka nur in der Stadt getragen. Im Dorf war die Verschleierung unüblich. Bevor die Taliban das Tragen der Burka allgemein zur Pflicht machten, war blau eine eher seltene Farbe. Die (ursprünglich teurere) blaue Burka entwickelte sich für die Afghaninnen unter den Taliban zu einer der wenigen Möglichkeiten, sozialen Status durch Kleidung auszudrücken. Diese Mode wurde bald auch von weniger wohlhabenden Frauen nachgeahmt, sodass diese Farbe jetzt dominiert. Nach dem Ende der Taliban-Regierung im Dezember 2001 wurde die Burka-Pflicht aufgehoben, dennoch wagen nach wie vor nur wenige Frauen, das Haus ohne Burka zu verlassen, vor allem aus Sorge um ihre persönliche Sicherheit und ihren Ruf. Auch ist die Burka ein willkommenes Mittel, die eigene Mittellosigkeit zu verschleiern. Die Burka wird auch aus religiösen Gründen und traditionellem Stammesdenken getragen. Pakistanische Burkas lassen zumindest die Augen frei.

Çarşaf ist die türkische Form der Totalverschleierung mit Niqab und ähnelt dem iranischen Tschador. Wörtlich übersetzt bedeutet Çarşaf »Betttuch«. Der Çarşaf ist für gewöhnlich schwarz. Wie beim iranischen Tschador wird beim Çarşaf normalerweise der untere Teil des Gesichts dadurch verdeckt, dass das Tuch unter der Nase mit einer Stecknadel zusammengehalten wird. Manchmal wird das den unteren Teil des Gesichts verdeckende Tuch auch seitlich festgesteckt. Im Gegensatz zum Tschador besteht der Çarşaf meist aus zwei Teilen, einem oberen, der bis über die Hüfte herabhängt und einem unteren, der wie ein weiter, bodenlanger Rock geschnitten ist. Der Çarşaf ist keine traditionelle islamische Frauenbekleidung, er kam erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Regierungszeit von Abdülhamid II. (1876–1908) auf, um westliche Einflüsse abzuwehren, und setzte sich von dort vor allem in entlegenen Landesteilen des damaligen Osmanischen Reiches, wie im Jemen, durch, wo er noch heute verbreitet ist. Die traditionelle islamische Frauenbekleidung im Osmanischen Reich war nicht so streng wie der Çarşaf.

Von »kleinen Kopftuchmädchen« und »unterdrückten Frauen«

Warum die Kopftuchdebatte so emotional geführt wird

Als Thilo Sarrazin, (ehemaliger) linker Politiker und Spitzenbanker, 2010 sein Buch »Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen« veröffentlichte, lag er damit voll im Trend der aktuellen politischen Diskussion.

Seit den Golfkriegen in den 1990er-Jahren, der zunehmenden Entwicklung des religiös gelenkten Iran in Richtung einer totalitären Diktatur und erst recht seit den Terroranschlägen von 9/11 hatte sich die latent vorhandene Skepsis gegenüber »dem Islam« zunehmend in offene Ablehnung gewandelt. Dabei wurde, publizistisch und politisch, grob vereinfacht, zugespitzt und schwarz-weiß gemalt. Eine Debatte über »den Islam« wurde zu einer über »den Islamismus«, womit man gleich bei Terrorismus und der »Achse des Bösen« war.

Anerkannte Intellektuelle wie der niederländische Schriftsteller Leon de Winter gaben der zunehmenden Abgrenzung der (westlichen) Christen gegenüber Muslimen einen argumentativen Rahmen. De Winter titulierte den Islamismus als den »Faschismus des 21. Jahrhunderts«, den er in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel mit Terrorismus gleichsetzte: »Nach dem linken Faschismus der Sowjets, nach dem rechten Faschismus der Nazis, ist der Islamismus der Faschismus des 21. Jahrhunderts.« Dass solche provokanten Aussagen nicht nur als Kampfansage gegen einige radikale Wirrköpfe interpretiert werden können, sondern auch von politischen Populisten und Nationalisten als Sanktionierung ihrer grundsätzlichen Ablehnung gegen alles »Fremde«, liegt auf der Hand. In der Folge wurde die Stimmung gegenüber Muslimen in Europa ablehnender. »Ich hatte nach 9/11 ein ungutes Gefühl, wenn ich auf die Straße ging oder die U-Bahn betrat«, sagte eine der porträtierten, Kopftuch tragenden Frauen zur Autorin, »ich hatte das Gefühl, ich werde ständig ängstlich bis feindselig beobachtet.«

Jene, die vermeinten, nach den Terroranschlägen von Al-Kaida sich von »dem« Islam distanzieren zu müssen, übersahen dabei freilich (und sie tun es immer noch), dass man damit der riesengroßen Mehrheit der Muslime Unrecht tut. Die Terroristen von 9/11 haben den Muslimen am meisten geschadet – weil es ihnen gelungen ist, die Segregation in eine »wir«- und eine »die da«-Gesellschaft voranzutreiben.

Eine der vielen Folgen war die wieder aufkeimende »Kopftuch-Debatte«. Mit einem Stück Stoff als »Kronzeugen« sollte vielfach belegt werden, dass Zugewanderte in westliche Demokratien (so sie islamisch gläubig sind) weder fähig noch willens sind, sich in eine Gemeinschaft mit der nicht-muslimischen Mehrheitsbevölkerung einzugliedern. Pauschal wurden Frauen, Männer, Kinder, aber auch »linke Gutmenschen« und »blauäugige Multi-Kulti-Träumer« abqualifiziert. Dass die Reihe der globalen Terror-Akte aus politisch-fundamentalistischen Motiven nicht aufhörte, machte die Sache für die mittelbar Betroffenen nicht besser.

Unmittelbar nach Thilo Sarrazin veröffentlichte Alice Schwarzer ihr Werk gegen das islamische Kopftuch, »Die große Verschleierung«, in der sie flammend »für Integration, gegen Islamismus« wetterte, der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky stieß ins selbe Horn. Feministinnen wie Elisabeth Badinter, Djemila Benhabib, Gabriele Vensky und Necla Kelek schreiben und sprechen im selben Tenor: Das Kopftuch sei kein Kleidungsstück wie jedes andere. Es sei das Symbol der Unterdrückung der Frauen durch die Religion/den Islam, es sei sichtbares Zeichen dafür, dass Frauen, die es tragen, akzeptieren, dass sie dem Manne untertan seien.

Wochenlang wurde das Thema im deutschsprachigen Feuilleton und in den elektronischen Medien heiß diskutiert, ein Stück Stoff entfachte ein ideologisches Feuer, das offenbar seit Langem unter der Oberfläche schwelte. Auf erstaunliche Weise trafen sich emanzipatorische Argumente linker Feministinnen mit den sozialdarwinistisch-neoliberalen linker oder nach rechts gerückter Populisten. Sarrazin argumentierte im Prinzip, dass Deutschland in Zukunft ein entscheidender Wettbewerbsnachteil drohe, weil die »falschen« Menschen die meisten Kinder in die Welt setzten, die Zuwanderung aus muslimischen Ländern der deutschen Volkswirtschaft nichts bringe, weil die Integration der bereits Zugewanderten versagt habe und sie nur minderwertige Jobs ausübten. Dazu komme noch der seiner Meinung nach völlig ungeordnete und überbordende Familiennachzug. Und von diesen, nachgezogenen, Frauen und Kindern, werde die Eingliederung in die deutsche Gesellschaft nicht einmal mehr erwartet. Die Kombination von Kinderreichtum der »falschen« Bürger plus mangelnder Integration plus wachsender Unterschicht-Phänomene mache aus der bisher so fleißigen, ökonomischen starken deutschen Gesellschaft eine faule, wirtschaftlich schwache Misch-Gesellschaft (mit zu vielen Türken, auch das ist im Buch implizit). Er warnt sehr deutlich vor »Überfremdung« und beschreibt seine »Albträume«: Dass verfallene christliche Kirchen im ausgehenden 21. Jahrhundert großzügig von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung (Mehrheit dank höherer Fruchtbarkeit und nachgezogener »ostanatolischer Bräute«) renoviert werden – allerdings mit dem Zusatz, dass diese dann statt des Kreuzes den Halbmond zu tragen hätten. Ferner fürchtet er Repressionen gegen »Andersgläubige« und Atheisten, da sich »der Islam« so stark ausgebreitet haben werde.

Diese Thesen aus Deutschland erinnern frappant an österreichische Bierzelt-Reden von Jörg Haider und Heinz-Christian Strache vor grölendem, Alkohol ausdünstendem Publikum – und sie hatten auch dieselbe Wirkung auf Sarrazins Kritiker. Die Ablehnung war breit und heftig, Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, meinte sogar, Sarrazin habe »dem Gedankengut von Göring, Goebbels und Hitler alle Ehre« erwiesen.