Biografie
Der 1974 geborene André Wiesler lebt zusammen mit seiner Frau Janina und seinem Sohn Lorenz in Wuppertal. Schwarzes Land ist sein fünfzehnter Roman, darunter Werke wie der Das Schwarze Auge-Roman König der Diebe, die Mystery-Trilogie Die Chroniken des Hagen von Stein und diverse Bücher der Shadowrun-Reihe.
Neben der Schriftstellerei arbeitet er als Übersetzer, Spieleentwickler, Redakteur und tritt als Lese-Komiker auf. Darüberhinaus organisiert er als ein Teil der Wuppertaler Wortpiraten Poetry-Slams und gibt Schreibkurse und leitet Schreibwerkstätten.
Weitere Informationen zu André Wiesler finden Sie auf seiner Internetseite:
www.andrewiesler.de
André Wiesler
Schwarzes Land
Die Rose der Unsterblichkeit III
Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge©
Originalausgabe
Impressum
Ulisses Spiele
Band 11093EPUB
Titelbild: Melanie Maier
Karte: Markus Holzum
Lektorat: Michael Fehrenschild
Buchgestaltung: Ralf Berszuck
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers
Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.
Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.
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Print-ISBN 978-3-86889-393-9
E-Book-ISBN 978-3-86889-892-7
Widmung
Gewidmet meinem Vater Wilhelm –
wir hätten die Zeit besser nutzen sollen.
Danksagung
Mit großem Dank an meine Frau Janina, die das Rückenfreihalten zu einer ganz neuen Kunstform erhoben hat; meinen Sohn Lorenz, der eine große Karriere als Nerd vor sich hat; an meine treuen Testleser: Bojana, die sich eine Das Schwarze Auge-Welt ohne Ferkeleien wünscht; Anne, der ich für ihre Nachtschichten sehr dankbar bin; Johannes, dem es nie genug Beschreibungen sein können; Inga, die dann jetzt auch mal »sowas« gelesen hat; Eevie für Zuckerbrot und Zuckerbrotentzug; Marie für fremde Zungen; an alle Leser und Leserinnen, die mir ihre Meinung zur Rose der Unsterblichkeit mitgeteilt haben.
Die Rose der Unsterblichkeit I:
Schwarze Perle
Was bisher geschah
Anfang des Jahres 1027 bricht eine alanfanische Flotte von 11 Schiffen auf, um den sagenumwobenen Südkontinent Uthuria zu entdecken und für Al’Anfa als Kolonie in Besitz zu nehmen. Teil der Armada ist das von der Familie Kugres ausgesandte Schiff Stolz des Raben. An Bord dieses Schiffes befinden sich unter anderem:
Karas Kugres, ein Grandensohn und Lebemann
Alrik Blutsäufer, ein ehemaliger Gladiator
Efferia, eine Geweihte des Meeresgottes Efferd aus dem Mittelreich
Marfan, ein Gelehrter der Universität zu Al’Anfa
Borodine Randter, eine Priesterin des Todesgottes Boron
Treusorg Wasserträger, ein alter Diener
Wahelahe, eine mohische Sklavin
Nele, eine Grandentochter
Die Flotte versammelt sich aus Gründen der Geheimhaltung bei den Südmeerinseln. Während die Stolz des Raben auf den Rest der Flotte wartet, kommen sich Alrik und Anira, die Hauptfrau der Seesoldaten der Stolz näher. Marfan gerät bei den kannibalischen Mohas der Insel in Gefangenschaft, weil er bei einem »Forschungsausflug« ein Tabu verletzt, und muss gerettet werden.
Als die Flotte zum Aufbruch bereit ist, wird bei Feierlichkeiten zum Beginn der Expedition an Bord des Flaggschiffs Amir Honak ein feuerspeiendes Geschütz ausgelöst und setzt ein anderes Schiff in Brand. Man vermutet Sabotage, kann aber keinen Schuldigen finden. Die Überlebenden des Brandes werden auf die anderen Schiffe verteilt. So finden auch die Magierin Alisande und ihre Zofe Simeria ihren Weg an Borde der Stolz. Tatsächlich handelt es sich bei Letzterer um eine horasische Spionin.
Kurz nachdem die Flotte Kurs nach Süden gesetzt hat, wird sie von Meeresungeheuern angegriffen. Es stellt sich heraus, dass die Kreaturen durch ein mit mohischen Zeichen besetztes Artefakt angelockt wurden – vermutlich stecken die Mohas von Porto Amira dahinter, die sich rächen wollten.
Auf der weiteren Fahrt nach Süden vertiefen sich die Beziehungen an Bord. Anira und Alrik kommen zusammen (sehr zur Verärgerung von Aniras früherem Gefährten, dem Seesoldaten Hegor), ebenso Simeria und Karas, und überraschenderweise findet die Magierin Alisande großen Gefallen an dem kauzigen Marfan.
Nele, die als Schiffsmädchen unter dem Schutz von Treusorg an Bord ist, verfällt langsam den Einflüsterungen einer dämonischen Stimme in ihrem Kopf.
Schließlich muss die Stolz bei einer abgelegenen Insel erneut Wasser aufnehmen. Dort möchte der Kapitän jagen gehen, wird dabei aber von einer blutrünstigen Wütechse getötet. Der Seesoldat Hegor überlebt nur knapp, ist aber für den Rest seines Lebens entstellt. Karas Kugres ernennt sich daraufhin selbst zum Kapitän, ist aber in seiner leichtfertigen und auf das eigene Wohl ausgelegten Art nur schlecht für diesen Posten geeignet. Dennoch gelingt es ihm, die durch den gewalttätigen ersten Maat Orlen hervorgerufene schlechte Stimmung mit einem Fest aufzubessern.
Kurz darauf gerät die Flotte jedoch in einen heftigen Sturm, und als sich das Unwetter legt, ist die Stolz allein auf weiter See, vom Rest der Flotte keine Spur.
Die Rose der Unsterblichkeit II:
Schwarze Segel
Was bisher geschah
Man beschließt nicht umzukehren, sondern weiter nach Süden zu segeln und darauf zu hoffen, dass man die Flotte wiederfindet oder Uthuria allein erreicht. Borodine sendet mit göttlicher Hilfe eine Nachricht an die Amir Honak, aber ob sie ankommt, weiß man nicht.
Man gerät in die Sargassosee, eine Region voller Algenteppiche und unheiligen Einflüssen, in der Flauten vorherrschen und aus der man nicht mehr herausfindet. Hier trifft man nicht nur eines der Schiffe der Flotte mit verdorrter Mannschaft an, sondern wird auch noch von einem dämonischen Hai angegriffen und verfolgt.
Die Mannschaft zettelt nach Wochen in der Sargassosee eine Meuterei an, die weitgehend ohne Blutvergießen abläuft, unter anderem, weil Karas sich umgehend ergibt. Gerade als er abgedankt hat, wird Efferia nach langen Tagen der Meditation von Efferds Segen erfüllt und erfährt, welcher Kurs die Stolz aus dem verfluchten Gebiet herausbringen kann. Zur Verwunderung aller bleibt Karas durch die neu erwachte Hoffnung doch Kapitän.
Bevor man aber das offene Meer erreichen kann, greift eine Seeschlange das Schiff an. Es gelingt, Dämonenhai und Seeschlange aufeinanderzuhetzen, dabei stirbt jedoch Anira.
Der Verlust seiner ehemaligen Gefährtin treibt den Seesoldaten Hegor endgültig in die Fänge der Dämonen, dessen Knecht an Bord der Stolz eifrig am Werk ist.
Als man die Sargassosee verlässt, erreicht eine Antwort Borodines Geist und man kann sich wieder mit der deutlich dezimierten Flotte vereinen.
Man erreicht Uthuria im Hesinde 1028 BF und siedelt sich in den Ruinen einer alten, vermutlich echsischen Stadt an, beschließt später sogar, die erste alanfanische Siedlung genau hier zu gründen. Sie wird Porto Velvenya getauft und man beginnt mit dem Aufbau. Dadurch macht man jedoch auch die wilden Stämme der Umgebung auf sich aufmerksam und gerät mit ihnen aneinander.
Alrik beginnt merkwürdige Träume zu haben, die mit seinem kemischen Erbe zusammenzuhängen scheinen – und die ihn unter anderem davor warnen, dass der Dämonenknecht den Borontempel schänden will. Der Dämonenknecht opfert daraufhin Hegor als Sündenbock, um selbst entkommen zu können.
Intrigen entspinnen sich unter den Mächtigen der Stadt, die Liebesbeziehungen werden ernster, nur Efferia fühlt sich fehl am Platz. Das ändert sich erst, als sie auf einem Ausflug auf die Asdarba trifft, ein das Meer und den Meeresgott Nominoru verehrendes Volk, bei dem sie sich sehr zu Hause fühlt.
Die wilden Stämme sammeln sich und es droht ein Großangriff. Man entsendet einen Unterhändler, der nicht gut ankommt. Von dem Begleittrupp überlebt nur Wahelahe, schwer verletzt und misshandelt. Es wird klar: Ein Krieg ist unausweichlich.
Unterdessen stiehlt Simeria, die horasische Spionin, in Vorbereitung ihrer Rückreise ein magisches Artefakt von der Ehrenvollen Reise, das ihre Flotte sicher nach Uthuria leiten soll.
Die Stadt wird von den Wilden angegriffen. Sie können zurückgeschlagen werden, aber unter großen Verlusten. Man wird sich bewusst, dass man Verbündete braucht. Efferia, die ihre neuen Freunde, die Asdarba, eigentlich vor den kolonialistischen Al’Anfanern schützen wollte, weiht ihre Freunde ein. Gemeinsam ziehen sie los, um das Meeresvolk um Hilfe zu bitten. Erst sieht auch alles gut aus. Doch dann stiehlt der Dämonenknecht der Priesterin der Asdarba die verjüngende Essenz der Rose der Unsterblichkeit und lässt es so aussehen, als sei es Efferia gewesen.
Die Freunde müssen fliehen, ein Gespräch ist nicht mehr möglich. Dabei fällt auf, dass Nele und Marfan fehlen. Man eilt ihnen nach Porto Velvenya nach, wo sich herausstellt, dass der vorgeblich trottelige Marfan der Dämonenknecht ist und Nele den düsteren Kräften endgültig verfallen ist. Es kommt zum Kampf, in denen die Freunde nur siegreich sind, weil der Gott aus Alriks Träumen ihn mit einem Wunder segnet.
Kapitel 1: Blutiges Wasser
Porto Velvenya, 20. Ingerimm 1028 BF
Es riecht nach dem Meer, dachte Efferia mit einem Lächeln und hielt die Augen noch einen Augenblick geschlossen. So erwachte sie am liebsten, wenn ein Sturmwind das Seewasser bis in den Kanal vor ihrer kleinen Unterkunft getrieben hatte oder eine vom Meer kommende Brise ihr Efferds Duft in die Nase trug.
Doch vor ihren Augen war es dunkel, zwischen den Wimpern sickerte kein Licht hindurch. Es war noch Nacht. Ein leises Scharren ... Efferia riss die Augen auf. Eine kleine Gestalt mit großem, rundem Kopf, stürzte auf sie zu, vom Licht des Mondes schimmernd erhellt. In ihrer Hand zeichnete sich weiß eine Hornwaffe ab.
Efferia keuchte auf und rollte sich aus dem Bett. Die Waffe traf das Kissen, nicht ihren Kopf und ohne darüber nachzudenken trat Efferia zu, kaum dass sie hart auf dem Boden landete. Ihr nackter Fuß traf auf ein wulstiges, mit Schuppen bedecktes Knie.
Die Risso!, erschrak Efferia. Ihr Tritt und die Wucht des Schlages hatten den Fischmenschen aus dem Gleichgewicht gebracht, aber er stützte sich auf dem Bett ab und fing sich schnell wieder. Efferia sprang auf und rannte auf die Tür zu, doch da trat ihr ein zweiter Risso in den Weg. Die leuchtend roten Kämme an seinem Kopf klappten auf und vibrierten drohend. Er hielt einen Dreizack mit bösartigen Widerhaken auf ihren Bauch gerichtet.
Ihr dünnes Nachthemd würde der Waffe keinen Widerstand bieten. Und mein Fleisch auch nicht. Sie sprang zurück und entging einem ersten Stich, doch da legte sich ein starker Arm um ihren Hals. Efferias Schreckensschrei erstarb, als ihr die Luft abgedrückt wurde. Sie rammte den Ellenbogen nach hinten und traf auf harte Muskeln unter rauer, feuchter Schuppenhaut. Die Risso waren klein, aber Efferia war nicht viel größer. Trotzdem brachte ihr der Hieb genug Freiheit, um sich einen tiefen Atemzug zu erstreiten. Sie packte den Arm um ihre Kehle und warf sich nach vorn. Gemeinsam mit dem Gegner kugelte sie wenig elegant über den Boden.
Der zweite Risso stieß ein wütendes Gurgeln aus, konnte aber keinen Stich riskieren, solange Efferia mit seinem Kumpan über den Boden rollte. Der Risso war deutlich stärker als sie, aber was er an Kraft voraushatte, machte Efferia durch Verbissenheit wett. Sie wand den Kopf und biss in den Arm, der noch immer an ihre Wange drückte. Zuerst schmeckte es wie roher Fisch, dann schoss heißes Blut in ihren Mund.
Sie hat tatsächlich ihre Knechte geschickt, mich zu töten!, erkannte Efferia und die Wut gab ihr zusätzliche Kraft. Sie riss erneut an dem Arm und der Schmerzenslaut des Risso verwandelte sich in einen Schrei.
Nudara, die Frau, in der sie einst eine Seelenverwandte wähnte, eine gleichgesinnte Schwester, so wie ihr Gott der Bruder Efferds war, hatte eine Mördertruppe auf sie angesetzt. Seit mehreren Wochen hatte Efferia einen Weg gesucht, mit ihr in Kontakt zu kommen, ihr zu erklären, dass sie alle vom gleichen Dämonendiener verraten und betrogen worden waren, aber es war ihr nicht geglückt.
Und jetzt das! Efferia ließ den Arm nicht los, wand sich hin und her, warf den Kopf zur Seite, um einem ungelenk geführten Hieb mit der Hornklinge zu entgehen. Die gezahnte Waffe drang in das weiche Holz des Bodens ein und blieb stecken.
Efferia keuchte wütend und rollte den Gegner von sich herunter. Im Aufstehen trat sie ihm gegen den Kopf und schrie auf. Ihre Zehen trafen schmerzhaft auf die harten Knochen und als sie den Fuß wieder aufsetzte, knickte sie um.
Sie stürzte auf den Risso, der sich eben wieder erheben wollte, und drückte ihn erneut auf das Holz. Das rettete ihr das Leben. So glitt der Stich des anderen Gegners nur über ihren Rücken, zerschnitt das Nachthemd und ritzte ihre Haut.
Oh Efferd, hilf mir!, dachte sie, und da kam sie endlich auf die Idee, um Hilfe zu rufen. Sie rollte sich beiseite und schrie so laut, wie sie konnte. Doch der Schrei erstarb, als der Risso mit dem Dreizack auf ihren Brustkorb stampfte, sie so festnagelte und mit der Waffe ausholte.
Alrik absolvierte seine morgendlichen Übungen und genoss das leichte Brennen, das sich dabei in seinen Muskeln ausbreitete. Seit er Hauptmann der Wache war, stand ihm eigentlich ein eigenes Haus in der Nähe des Anwesens des Gubernators zu. Aber er verbrachte seine Abende lieber mit seinen Freunden – auch wenn deren Zahl zusehends schrumpfte – oder in der Schenke mit einigen seiner Wachleuten, als an der Tafel des Granden. Also hatte er die Sondererlaubnis erwirkt, in einer der kleinen Hütten zu wohnen, die Karas für seine Freunde errichtet hatte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber da er seine Wachen in der Kaserne mit Vorliebe beim ersten Sonnenstrahl weckte – vor allem, damit die Nachtwache zeitig abgelöst wurde – stand er früh auf. Hauptmann der Wache, dachte er und schüttelte den Kopf. Wenn ihm das jemand noch vor zwei Monaten erzählt hätte ...
Eben machte Alrik Liegestütze auf zwei Fingern, da hörte er ein Kratzen unter seinem Fenster. Vorsichtig ließ er ein Knie auf den Boden sinken und lauschte.
Ein leises Plätschern, das über dem Rauschen des Flusswassers im Kanal vor seinem Fenster kaum zu hören war. Dann wieder das Kratzen. Das klingt nicht nach einer Klopferspinne. Die neugierigen Tiere verirrten sich immer mal wieder in Wohnhäuser und wurden dort meist schnell umgebracht. Zum einen mochte kaum jemand Spinnen, zum anderen gab es noch immer ein Kopfgeld von einem Silbertaler für die fortpflanzungsfreudigen Gesellen.
Aber das ist keine Spinne. Leise erhob sich Alrik und schlich neben das Fenster. In der kleinen Hütte war wenig Platz für einen Hinterhalt, aber für einen Überraschungsmoment sollte es reichen. Ein runder, grünlich schimmernder Kopf schob sich durch den Rahmen, ein kleiner, kompakter Körper mit einem handhohen Rückenkamm und einem Stummelschwanz folgte.
Ein Fischmensch, erkannte Alrik. Dann beschloss er, das Denken einzustellen. Warum, woher und wie waren Dinge, die er später ergründen konnte. Darum packte er den Eindringling im Nacken, gerade als der die Beine auf den Fensterrahmen zog, und rammte das unnatürlich flache Gesicht mit den großen, schwarzen Augen in den Boden, um auch die letzte Unebenheit anzugleichen. Bodendielen und Genick brachen knackend. Alrik beugte sich aus dem Fenster, um nach weiteren Angreifern Ausschau zu halten. Kaum schob sich sein Kopf über den Fensterrahmen, schlang sich ein dünnes Seil um seinen Hals. Zwei weitere Risso hielten sich an den Steinwänden des Kanals unter ihm fest und einer von ihnen hatte eine Art Lasso über ihn geworfen, dessen Schlinge sich zuzog. Alrik spannte die Nackenmuskeln an, um weiterhin atmen zu können, und stemmte sich mit den Händen rechts und links gegen den Rahmen. Doch jetzt hängte sich auch der zweite Risso an das Seil und beide ließen die Mauer los. Der Sog des im Kanal strömenden Wassers vervielfachte ihr Gewicht. Dann brach der Rahmen splitternd aus der Wand und Alrik wurde mitsamt den Trümmern hinabgerissen. Er tauchte unter, prallte mit der Schulter auf den Boden des Kanals und wurde dann in Richtung Hafenbecken gespült. Verdammt, dachte er, vielleicht hätte ich doch ein bisschen denken sollen.
Simeria wusste nicht, was sie geweckt hatte. Sie streckte den Arm aus und tastete nach Karas. Seine Seite war leer.
Natürlich ist sie leer, dachte sie mit einem schmerzhaften Stich. Sie seufzte und richtete sich auf. Da hörte sie Tumulte aus den Hütten hinter dem Haus, in denen Alrik, Alisande, Wahelahe und Efferia wohnten.
Sofort war sie hellwach, sprang, nackt wie sie war, aus dem Bett und hatte im Nu ihr Kurzschwert in der einen und ein Wurfmesser in der anderen Hand. Eilig stürmte sie aus der vereinsamten Schlafkammer in die Vorhalle.
Keinen Augenblick zu früh, denn jetzt kam um die Säule beim Eingang eine gedrungene Gestalt mit weit abgespreizten Kämmen an den Kopfseiten und am Rücken auf sie zugestürmt. Die Gestalt holte aus, Simeria ebenfalls. Kaum hatte das Wurfmesser ihre Hand verlassen, ließ sie sich fallen. Der Speer mit klobiger Steinspitze sauste über ihren Kopf hinweg und landete polternd und schlitternd hinter ihr im Saal. Simeria vollendete ihre Ausweichbewegung mit einer Rolle und kam wieder auf die Füße. Ihr Messer steckte in der Schulter des Wesens. Offenbar in der richtigen, denn es bemühte sich, mit der anderen Hand an das Gehänge seines Hornschwertes zu gelangen. Simeria wartete nicht ab, sondern rannte auf ihn zu. Jetzt hatte das Wesen das Schwert herausgezogen und riss es zu einer Parade hoch, die ihm mühelos gelang.
Das lag jedoch weniger an seiner Kampfkunst, als daran, dass Simeria den Angriff nur zur Ablenkung geführt hatte. Ihr eigentliches Ziel war ein anderes. Sie streckte Ring- und Zeigefinger der anderen Hand aus, presste sie fest zusammen und rammte sie in eines der großen, dunklen Augen des Wesens. Es fühlte sich an, als hätte sie in eine noch nicht ganz feste Sülzwurst gestochen.
Der Risso kreischte auf, ließ sein Schwert fallen und versuchte mit der Hand des intakten Arms sein auslaufendes Auge zu retten. Simeria ersparte ihm die Mühe und rammte ihm das Kurzschwert in die Kehle.
Alisande sah zu dem Risso, der sie von ihrem Fensterrahmen aus anstarrte. Der Blick seiner dunklen Augen schweifte durch den Raum, verharrte dann wieder auf ihrem Gesicht. Langsam glitt er in den Raum, hinterließ feuchte Abdrücke auf den hellen Bodendielen. Er hielt ein gezacktes Messer aus einer Art geschliffenem Perlmutt in der Hand.
»Du bist gekommen, mich zu töten«, stellte Alisande ruhig fest.
Der Risso legte den Kopf schief, öffnete das runde Maul mit den kleinen, spitzen Zähnen und zischte.
Alisande wartete ab. Sie verspürte keine Lust, gegen den Meeresbewohner zu kämpfen. So wie sie in letzter Zeit wenig Lust zu irgendwas hatte. Ihre Hand wanderte zu ihrem Bauch, aber er war flach und leer und würde es bleiben. Nichts war ihr von Marfan geblieben, es würde kein Kind entstehen, das sie an den wahren, den unverdorbenen Marfan erinnern würde. Aber es würde auch keine Dämonenbrut in ihr heranwachsen.
Nur die kurzen Momente, wenn sie ihn in ihren Träumen sah, blieben ihr. Und dort verwandelte er sich regelmäßig in ein dämonisches Abbild seiner selbst.
»Nun?«, fragte sie und machte eine einladende Geste. Der Risso wich geduckt zurück, wusste oder spürte vielleicht, dass sie über magische Kräfte gebot.
Der Risso glitt seitwärts durch den Raum, ließ sie nicht aus den Augen, bis er die Tür erreicht hatte. Dann riss er sie auf und stürmte nach draußen.
Alisande sank auf ihrem Bett zusammen. Dann eben nicht, dachte sie und zog sich die Decke über den Kopf.
Nele erwachte mit einem wilden Schrei. Sie wusste selbst nicht, ob es ein Freuden- oder Angstschrei war. Sie stemmte sich in ihre Gurte, warf sich hin und her, denn sie spürte, dass Diener ihrer Herrin in der Nähe waren. Wie Ameisen unter der Haut, wie Egel im Gedärm spürte sie ihre Anwesenheit, und sie wollte zu ihnen.
Aber die Gurte hielten sie. Und jetzt trat Treusorg in ihr Blickfeld. Der alte Mann wirkte übernächtigt und kniff die Augen zusammen. Missbilligend? Besorgt?
»Was ist, Kleines? Böse Träume?«
Nele schüttelte den Kopf, Tränen liefen ihr über die Wangen, die Treusorg mit der Linken wegwischte. Der rechte Arm endete knapp unter dem Ellbogen in einem Holzstumpf. Die eiserne Klammer am Ende konnte er um Gegenstände biegen, aber er wollte sie ihr offensichtlich nicht ins Gesicht halten.
Nele schmiegte die Wange an seine raue, alte Haut. Dann warf sie den Kopf zur Seite und versuchte, ihm das unnütze Fleisch von den Knochen zu beißen. Ihre Zähne schlugen laut aufeinander, als der alte Mann seine Hand blitzschnell in Sicherheit brachte. »He, Vorsicht!«, mahnte er bemüht scherzhaft. »Ich habe nur noch die eine!«
»Es tut mir leid!«, krächzte Nele.
»Ach, Kind«, seufzte Treusorg und strich ihr über den Schopf. Dann packte er sie an den halblangen Haaren und schob mit der Klammer die Lederschnalle über die Stirn, die ihren Kopf auf der Pritsche hielt. Sie wehrte sich nicht.
»Warum ist es denn heute wieder so schlimm?«, wollte ihr Freund und Wärter wissen.
»Etwas ...« Nele runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, was sie vorhin gedacht hatte. Sie spürte, wie die Unruhe wieder stärker wurde. »Etwas ist in der Stadt, sie ...«
Nele brüllte vor Wut und warf sich erneut in ihre Fesseln. »Sie werden euch alle töten, ertränken, und dich, Alter, du verdorbenes Schwein, werde ich persönlich in die Tiefe ziehen!«
Treusorg stand auf, ging zum Tisch, der an der Wand der kleinen Zelle stand, und kam mit einer neunschwänzigen Peitsche zurück. Dabei pochte sein Holzbein bei jedem Schritt auf den Grund.
Und ich bin schuld, dass er so verstümmelt ist. Wäre ich nicht gewesen, hätte Marfan ihn nie in den Boden versinken lassen können.
»Bete mit mir, Nele!«, forderte Treusorg.
Sie spuckte ihm ins Gesicht, bevor sie sich daran hindern konnte.
Treusorg ließ die Peitsche hart auf ihren Oberschenkel knallen. Der Schmerz durchzuckte ihre Glieder und zwang ihren Geist aus der dunklen, mit fauligen Algen durchtriebenen Ferne in ihren Körper.
»Die Dunkelheit erfreut mein Herz, in ihr zu ruhen fällt nicht schwer, denn Sorgen, Leid und Leibes Schmerz, nimmst du von mir, o gnäd’ger Herr.«
Treusorg stimmte mit ein und gemeinsam beteten sie. Die vertrauten Worte beruhigten Nele soweit, dass sie erkennen konnte, was in der Stadt war. »Fischmenschen, Treusorg, Fischmenschen greifen die Stadt an.«
Treusorg nickte verständig, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Darum wird sich schon jemand kümmern. Lass uns weiterbeten!«
Alriks Lungen brannten und während die Risso mühelos durch das aufgewühlte Wasser des Kanals schossen, nahm er gefühlt jede Kante und jedes Trümmerstück auf dem Weg mit.
Plötzlich raste einer der beiden auf ihn zu. Oder eher: wartete auf Alrik, der auf ihn zugetrieben wurde. Auf jeden Fall stieß der Fischmensch ihm einen Speer entgegen. Im dunklen und trüben Wasser erkannte Alrik wenig, musste raten, wo der Speer begann. Prompt fasste er in die Klinge, rutschte daran entlang und bekam dann den Schaft zu fassen. Er nutzte den Halt, um den Risso heranzuziehen und ihm einen Unterschenkel in den Nacken zu legen. Den anderen schob er dem Gegner, der an seinem Speer zerrte, unters Kinn. Und dann presste er kräftig und warf seinen Unterkörper hin und her, bis der Griff um den Speer erschlaffte.
Alrik wollte umgreifen, aber die Waffe entglitt ihm, als er mit dem Rücken gegen einen verkanteten Baumstamm schlug. Er drehte sich um die eigene Achse und sein Blickfeld wurde bereits enger, schwarze Ränder krochen aufeinander zu.
Der andere Risso zog ihn noch immer wie einen Hund am Riemen durch die Kanäle. Alrik zwängte erst seine Finger, dann beide Hände unter das Seil an seinem Hals und presste den letzten Atem mit einem gewaltigen Ruck heraus. Das Seil riss und Alrik stieß sich vom Boden des Kanals ab, sog die Nachtluft erleichtert ein.
Dann tauchte er wieder unter, um sich erneut, noch stärker abzustoßen. Er schoss aus dem Wasser, bekam die Kante des Kanals zu fassen und zog sich hoch. Der Risso schien ihn abgeschrieben zu haben, auf jeden Fall tauchte er nicht wieder auf.
Alrik holte noch zweimal tief Luft, dann brüllte er: »Alarm!«
Wahelahe nahm Anlauf und sprang gegen die Tür. Der Riegel im Inneren bot ihr wenig Gegenwehr, aber dann traf das Blatt auf Widerstand und federte zurück. Wahelahe drehte sich in der Luft, schlug ein Rad durch den Spalt der sich wieder schließenden Tür und sah sich in der dunklen Hütte um.
Ein Risso wand sich am Boden und umklammerte seine Schulter, die in einem ungesunden Winkel abstand. Keine Gefahr. Ihr Blick ruckte herum. Ein zweiter Gegner richtete sich gerade, von der Tür aus dem Gleichgewicht gebracht, wieder auf.
Ihren Speer hatte der Risso, der dumm genug gewesen war, in ihre Hütte einzudringen, mit sich aus dem Fenster gerissen. Er würde nicht viel Freude damit haben, hatte er doch zu diesem Zeitpunkt aus seiner Brust geragt. So blieb Wahelahe nun aber nur noch ihr langes Buschmesser.
Der Risso starrte sie aus glänzenden schwarzen Augen an. Er schien abzuwägen, ob er genug Zeit hätte, Efferia zu erstechen und seine Waffe für eine Parade zu heben. Wahelahe ließ ihn den Gedanken nicht zu Ende führen, sondern sprang los, schwang sich mit der Linken an einem Deckenbalken über den eiligen Stoß des Gegners hinweg und landete mit den Knien auf den Schultern des Risso.
Noch während sie gemeinsam stürzten, der Risso rückwärts, sie vorwärts, rammte sie ihm das Messer bis zum Heft in den Kopf.
Der Risso prallte wie ein Sack Mehl auf den Boden, Wahelahe verwandelte den Sturz in eine Rolle und kam wieder hoch. Sie sprang über Efferia hinweg, schob den Fuß unter den Dreizack, schleuderte ihn zu ihren Händen hoch und rammte ihn dann in den Rücken des anderen Risso, der gerade auf das Fenster zutaumelte. Zwei der drei Zacken bohrten sich in sein Fleisch, genug, um auch ihn zu Boden zu schicken.
Wahelahe glitt zu ihm, riss den Dreizack heraus und rammte ihn erneut in den zuckenden Gegner. Diesmal stellte sie sicher, dass der mittlere Zacken im Rückgrat und die anderen beiden in der Lunge landeten. Das Zucken erstarb und Wahelahe atmete tief durch.
Als sie sich umdrehte, stand Efferia schon wieder und suchte nach Worten. »Bist du verletzt?«, kam ihr die Moha zuvor. Die Geweihte schüttelte den Kopf.
Wahelahe nickte, riss den Dreizack erneut hervor und hielt ihn der kleinen Mittelreicherin hin. »Willst du den? Passt zu deinem Kleid.«
Sie wies auf die Perlmuttstickereien auf der Robe der Geweihten, die über einen Stuhl gelegt war. Dabei entdeckte sie einen Rest Muskelfleisch, der an einem der Haken hing. Wahelahe zupfte ihn ab und warf ihn aus dem Fenster. Efferia verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann erbleichte sie noch weiter und sprang zu ihrem Schrank, wühlte darin herum, bis sie etwas wiedergefunden hatte und erleichtert aufseufzte. »Ich muss sie besser verstecken«, murmelte sie vor sich hin und presste ein kleines Ledertäschchen an ihre Brust.
»Dann verschenke ich ihn«, beschied Wahelahe und ließ Efferia stehen. Die Leichen konnte Ihre Gnaden schön selbst wegräumen. Als sie hinaus in die späte Nacht trat, erklangen Alarmrufe und Gongschläge.
»Sei so gut, meine Schöne, und leihe mir deinen makellosen Körper vorerst nicht für süße Küsse, sondern um diese vermaledeite Tür aufzuschieben. Sie klemmt schon wieder.« Karas tätschelte den prallen Hintern der jungen Dame, die er kurz nach seiner letzten Partie Boltan und vor seinem letzten Sternenplätzchen kennengelernt hatte. Aus einem noch immer ungewohnten Gefühl der Treue heraus hatte er beschlossen, sich der Erkundung ihrer Wonnen nicht alleine zu widmen, sondern sie mit nach Hause zu nehmen, um Simeria daran teilhaben zu lassen.
Nun lehnte sich die feuerhaarige Schönheit, vom Rauschkraut schwankend wie er selbst, ebenfalls an die Tür und sie schwang auf. Gemeinsam taumelten sie in sein Haus und schafften es tatsächlich, sich aneinander festzuhalten.
Die Frau kicherte und Karas stimmte ein. »Ein wilder Ritt von Anfang an, wie ich es Euch versprochen habe, süße Frucht!«, flüsterte er durch ihr duftendes Haar in das wohlgestalte Ohr.
»Karas!«, rief Simeria und Karas befreite sich nicht ohne Mühe aus der rotgoldenen Lockenpracht, bis er seine Geliebte vor sich sah. Nein, meine Frau. Fast bin ich versucht zu sagen ... »Meine holde Gattin!«, rief er erfreut.
Simeria verzog missbilligend das Gesicht. »Es geht dir gut.« Fast klang es, als sei ihr das nicht recht. »Warst mal wieder in den Schenken unterwegs?«
Karas ahnte, dass etwas im Argen war, aber er wollte verdammt sein, wenn er sich damit jetzt beschäftigte. Vor allem, wenn es darauf hinausliefe, dass Simeria ihm erneut eine Standpauke halten würde, in der so unsinnige Worte wie »Verantwortung« oder »Ehre« vorkamen.
Darum sagte er leichthin: »Du bist wach, das ist gut! Und nackt, das ist noch besser. Wie du siehst, habe ich uns einen bezaubernden Zeitvertreib mitgebracht.«
Als er auf Simeria zugehen wollte, stolperte er über etwas, das am Boden lag. Er konnte sich eben noch an eine Säule retten und warf einen verärgerten Blick zurück. Im Dunkeln konnte er nicht recht erkennen, was es war, das ihn beinahe zu Fall gebracht hatte. Dem Schimmer nach ein riesiger Fisch, vermutlich das Essen für morgen.
»Und so ... aber was machst du denn?«
Simeria ging an seinen ausgebreiteten Armen vorbei und packte sein Mitbringsel am Ellenbogen. Ohne auf die matten Proteste zu achten, zischte sie: »Du gehst lieber nach Hause, Mädchen. Dieser Mann reitet Vollblutstuten, keine Mühlpferde!«
Mit diesen Worten hatte sie die Frau hinausbugsiert und die Türe hinter ihr geschlossen.
Mühlpferd ... wohl, sie war nicht der Schlanksten eine, aber das geht doch zu weit. Außerdem: »Ihre Haare. Ihre Ohren!«, beschwor Karas Simeria, aber die schob ihn nun vor sich her in Richtung Bett.
»Seit wann bist du so kleinlich und willst nicht teilen?«, fragte er verwundert.
»Seit du jede Nacht eine andere anschleppst und deinen Stolz am Boden eines Weinkruges suchst.«
»Da habe ich ihn oft genug gefunden! Und Glück dazu!«, protestierte Karas, ließ sich aber auf das Bett werfen und sich die Stiefel ausziehen. Vor allem, weil Simeria dabei sein Bein zwischen ihre klemmte und sich vorbeugte.
»Und seliges Vergessen«, fügte er leiser hinzu, als sein Blick zwischen seiner Stiefelspitze und Simerias Schenkeln hindurch auf den Durchbruch zum Keller fiel. Dort unten hatten Marfan und Alisande ihn mit ihrer Forscherei um den Schlaf gebracht. Meinen Schlaf würde ich sofort eintauschen, wenn ich den alten Marfan wiederbekäme, dachte er und musste schwer schlucken.
»Gibt es denn hier keinen Wein für den Hausherrn?«, rief Karas laut.
»Ich habe dem Personal frei gegeben«, sagte Simeria, nun schon versöhnlicher, und glitt neben ihn aufs Bett.
»Auch den Sklaven?«, wunderte sich Karas.
»Auch den Sklaven.«
»Warum?«
»Ich wollte mit dir allein sein. Aber du warst nicht da.«
»Oh ...«, sagte Karas und mehr fiel ihm nicht dazu ein.
Simeria zog seinen Kopf an ihre Brüste und er schmiegte sich daran. »Du tust mir wohl«, sagte er leise.
Simeria seufzte schwer, dann war Karas eingeschlafen.
Porto Velvenya, 30. Ingerimm 1028 BF
Borodine blickte auf den rot-gelben Matsch, der auf der silbernen Platte in der Mitte des großen Ratstisches stand. Weiße Fäden mit dicken, grünlichen Sporenknollen darauf durchzogen das Fruchtfleisch des uthurischen Kürbisses.
»Und ihr sagt, dieser Schimmelpilz habe dämonische Anteile?«, fragte der Gubernator mit einem Hauch von Sorge in der Stimme. Die scharfen Gesichtszüge von Salpico Yuan Diamantes Karinor-Honak waren gefasst und ernst, wie es seiner Herkunft geziemte.
Mehr als einen Hauch Sorge gönnt er sich nicht, dachte Borodine und schwor sich, es ihm gleich zu tun, obwohl ihr die Sache ein sehr, sehr ungutes Gefühl bescherte. Ausgerechnet auf dem Land, das Shandra Florios von Karas Kugres gepachtet hatte, brach ein dämonischer Schimmelpilz aus und ruinierte die erste Ernte ihrer Kürbisse vollständig. Der Bogenschluss zu Marfans und Neles dämonischem Treiben lag nahe.
»Magister Ilfirri hat es herausgefunden. Ich bin sicher, dass dieser Dämonenfreund Kugres etwas damit zu tun hat!«, keifte die Grandessa nun prompt und wies anklagend auf Borodine. »Oder das Ketzerbalg, das im Tempel verwahrt wird, statt es zu verbrennen, wie es sich gehört.«
Die verhärmten Züge der Florios wirkten noch verkniffener als üblich. Ihre störrischen schwarzen Locken hatte sie unter eine edelsteinbesetzte Haube gezwängt, deren Rot und Blau sich in dem protzigen Ring an ihrem anklagenden Zeigefinger wiederfand.
»Jede gerettete Seele ist dem Herrn Boron ein Wohlgefallen«, erwiderte Borodine ruhig. »Und wo Hoffnung ist, da ist auch ...«
Die Florios sprang auf und ihre Stimme wurde noch schriller. »Sind ihm auch verhungerte Al’Anfaner ein Wohlgefallen? Davon werden wir nämlich bald eine ganze Menge haben!«
»Verzeiht die Frage«, meldete sich Kassim ben Omar zu Wort. Er sprach selten, hielt sich im Hintergrund, und so gelang es Borodine immer wieder zu verdrängen, dass der Rastullahgläubige sich einen Sitz im Rat erpresst hatte. »Sind noch andere Früchte auf dem Acker von dem Pilz befallen?«
Die Grandessa ließ die anderen, nicht minder üppig beringten Finger hochschnellen und winkte ab. »Das tut doch nichts zur Sache!«
»Um eine vollständige Aufklärung dieser Frage zu erreichen ...« Wilciano Karinor ließ den Satz unvollendet und zuckte verhalten mit den Schultern.
Shandra blickte zum Gubernator, der nickte.
»Nein. Die anderen Pflanzen wachsen gut. Aber die Kürbisse ...«
Nun war es an Borodine, die Frau zu unterbrechen: »Greift der Pilz um sich?«
»Nein, aber ...«
»Dann sehe ich das Problem nicht«, fuhr nun auch Argana Bonareth der Granden ins Wort. »Verbrennt die Ernte und baut anderes an, lasst den Acker meinetwegen segnen. Dieser Kontinent ist voller unheiliger Umtriebe, wenn wir da jedes Mal so ein Geschis...«
»Irgendjemand muss dafür bezahlen!«, kreischte die Florios und hieb mit beiden Fäusten auf den Tisch.
Amüsierte Blicke wurden verhalten unter den Ratsmitgliedern getauscht. Es war den Schlangen eine besondere Freude, wenn jemand seine Fassung verlor. Sie labten sich an der offensichtlichen Schwäche des Gegenübers. Und ich bin da keine Ausnahme, dachte Borodine und erlaubte sich noch einen Augenblick der Schadenfreude.
Aber Shandra war eine erfahrene Streiterin auf dem Parkett der Granden, nahm sich umgehend wieder zusammen und setzte ruhiger nach. »Immerhin habe ich einwandfreies Ackerland zu einem guten Preis gepachtet.« Sie steckte eine entfleuchte Locke unter das Haarnetz zurück und setzte sich. »Da ist ein Schadensersatz nur recht und billig.«
»Mir scheint, liebste Shandra, du hast einfach Pech gehabt. Bevor ein Jahr herum ist, wird sich die Hälfte von uns in diesem niederhöllischen Loch etwas eingefangen haben, und das Pantherfieber wird da womöglich nicht das Schlimmste sein. Warum also nicht auch dein Kürbis?«
Shandras Hände verschwanden unter dem Tisch, wo sie fast unbemerkt geballt werden konnten und mit zuckersüßer Stimme sagte sie: »Guter Clevaro. Offensichtlichkeiten zu erkennen war nie deine Stärke, aber dünkt es nicht sogar dich ein wenig seltsam, dass wir hier«, sie wies wie zufällig in Borodines Richtung, als sie die eine Hand hob, »dämonische Umtriebe haben und dort«, sie hob auch die andere Hand, »dämonische Saat?«
»Wiewohl ich Eure Sorge und auch den Schluss verstehen kann, Grandessa Florios«, zog der Gubernator die Aufmerksamkeit wieder auf sich, »hat Marfan uns doch alle getäuscht. Das ist der Dämonen Art. Doch wir haben ihn entdeckt, bevor er Ärgeres erreichen konnte, und Karas Kugres und sein Personal waren maßgeblich daran beteiligt, den Schurken zur Strecke zu bringen. Selbst wenn also der Unheilige etwas mit dem Pilz auf Euren Feldern zu tun hatte, ist es Herrn Kugres nicht anzulasten. Es wird also keinen Schadensersatz geben.«
Kurz dachte Borodine, die Florios würde erneut aufspringen, aber dann knirschte sie nur mit den Zähnen und nickte abgehackt.
»Dennoch wiegt der Verlust in unserer jetzigen Lage schwer«, fuhr der Gubernator fort. »Was haben die Truppen erreicht?«
Wilciano Karinors Augenringe sorgten dafür, dass seine nächsten Worte noch trübseliger klangen: »Wenig. Alle Dörfer in der näheren Umgebung wurden in unsere Obhut genommen.«
Also überfallen, geplündert und zu Tributzahlungen gezwungen, übersetzte Borodine die Ratssprache für sich. Sie fand daran nichts Schlimmes. Den Mutigen und Starken standen schließlich die Götter bei.
»Aber es brachte nur für wenige Wochen Entlastung. Die Speicher sind leer. Wir haben begonnen, im Südwesten der Stadt weitere Felder anzulegen, aber bis sie Ernte tragen, heißt es noch mehr Fisch für die wichtigen Personen der Stadt und schmale Kost für den Rest.« Karinor zuckte mit den Schultern.
»Meine Leute werden krank und schwach vom dauernden Fischfressen«, beschwerte sich Argana Bonareth. »Und das sind Seeleute, die Arges gewohnt sind. Sind wir Risso?«
Der Gubernator nickte gewichtig. »Wir werden darüber nachdenken müssen, den Kreis unserer Schutzbefohlenen weiter auszudehnen. Bis dahin möchte ich, dass sich die Gelehrten und erfahrene Bauern zusammensetzen und nach schnell wachsenden Nährpflanzen der Gegend Ausschau halten.«
»Ihr meint so etwas wie den uthurischen Kürbis?«, fragte die Florios bissig und rammte ein Messer in die morsche Schale des Ausstellungsstücks.
»Und was unternehmen wir in Sachen wilde Bedrohung?«, fragte Paligan.
»Im Moment verhalten sie sich ruhig«, winkte Kapitänin Bonareth ab.
Während der Gespräche über das Essen pflegte Borodine sich zurückzuhalten, immerhin wurde der Tempel durchgängig gut versorgt. Jetzt aber gab sie zu bedenken: »Zweifelsohne die Ruhe vor dem Sturm.«
Kriegslager der Hujanii, 30. Ingerimm 1028 BF
Jagt-mit-List erwachte, als sich einmal mehr ein Häuptling lautstark über die Fremden beschwerte, die sein Dorf überfallen, die Vorräte geraubt und ihm Abgaben auferlegt hatten. Er beschwor Singt-zu-den-Geistern, seinem Stamm zu helfen, sie zu beschützen.
Gleich lacht sie wieder, dachte Jagt-mit-List, setzte sich auf und nahm sich einen halb abgenagten Knochen aus einer Schale, die noch vom Abend herumstand. Und tatsächlich, jetzt lachte die kleine, faltige Frau dem stolzen Häuptling ins Gesicht.
»Bist du ein Kind, dass du um Hilfe schreist? Seit wann sind die Beherrscher-der-tiefen-Senke solche Maden, dass sie unter den harten Fußkleidern der Fremden hervorkriechen, nur um sich dann unter meine nackte Sohle zu schmiegen?«
Der Häuptling griff nach seiner Axt, aber Zerbricht-den-Speer stieß ein drohendes Knurren aus. Sie hat es bis zur Leibwache geschafft, dachte Jagt-mit-List verärgert. Vielleicht sollte ich aufhören, ständig die Traumbrühe zu trinken. Er schüttelte den Knochen, bis die meisten Käfer abgefallen waren, dann biss er hinein. Hm, Weichschnauze! Lecker!
»Ich bin nicht gekommen, um mich schmähen zu lassen«, sagte der Häuptling ärgerlich.
»Du bist gekommen, um dich an meinen Saum zu hängen, wie ein Kind, das sich angeschissen hat und den Weg zum Bach nicht findet.«
Nun zog der Häuptling seine Axt und schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Hör auf, mich zu beleidigen!«
Singt-zu-den-Geistern machte eine beruhigende Geste zu Zerbricht-den-Speer und die Kriegerin ließ das Schwert sinken, das sie aus der Stadt der Fremden mitgebracht hatte. »Ich höre auf, dich zu beleidigen, wenn du aufhörst, zu betteln. Schick mir deine Krieger, und wir fegen die Eisenhäute gemeinsam ins Meer. Lass es, und jammere erst unter ihrer und dann unter unserer Herrschaft.«
Der Häuptling blickte sich um. Singt-zu-den-Geistern hob eine Hand und die versammelte Kriegsschar brach in einen Tumult der Schreie, des Bellens und Heulens aus. Jagt-mit-List stimmte mit vollem Mund ein.
Der Häuptling blickte sich um und man sah, wie ihn die Macht dieses großartigen Heeres erfüllte. Endlich riss auch er seine Axt in die Luft und brüllte.
Das Gebrüll verstummte schlagartig, als ein Schemen durch den Rauch des großen Feuers glitt, mit dem Rauschen gewaltiger Schwingen landete und in das Zelt der Schamanin glitt. Obwohl es helllichter Tag war, hatte Jagt-mit-List nur einen schwarzen Schatten erkennen können, so schnell bewegte sich Gesandter-der-Lederschwingen. Und Jagt-mit-List war froh darüber, denn er hatte den Mörder oft genug gesehen. Allein die Erinnerung an das mit Hauern versehene Gesicht und die unendlich tiefen Augen ohne jede Gnade ließ ihn erschaudern.
»Schicke deine Krieger«, erklärte sie dem Häuptling, der ungläubig auf das Zelt starrte.
»Es ist wahr«, stammelte er, während Singt-zu-den-Geistern sich erhob und auf ihr Zelt zuging. »Ihr habt den Segen Derer-die-Gold-fordern.«
Statt einer Antwort lachte die Schamanin wieder nur.