Träume
Die geheimnisvolle Sprache
des Unbewussten
Patmos Verlag
Einleitung
Teil 1
Faszination Traum
Von Gilgamesch bis C. G. Jung:
Träume interessierten schon immer
Gilgameschs Albträume – Botschaften der Götter
Traumdeutung im Alten Ägypten und in der Bibel
Heilkraft und Ausdruck menschlicher Kreativität – Träume im Alten Griechenland
Träume bei den Dichtern und Philosophen der Neuzeit
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Träumen
Was ist ein Traum?
Traumwelt und Wachwelt vernetzen sich
Das Erinnern von Träumen
Der Traum als Erzählung
Warum habe ich von einem Krokodil geträumt?
Wozu sind Träume gut?
Die Funktion von Träumen – eine neurowissenschaftliche Perspektive
Hartmanns Hypothesen und die psychotherapeutische Praxis
Trauern
Angst
Regulierung der Emotionen durch eine Traumserie
Teil 2
Träume in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs
Die Traumtheorien von C. G. Jung
Erste Traumtheorie: Komplexe verursachen Träume
Emotionen und Komplexe
Was sind Emotionen?
Die Wirkkraft der Komplexe
Komplex, Symbol und Traum
Das Symbol bei Jung
Deutung auf der Objektstufe und auf der Subjektstufe: Träume ich von anderen oder von mir selbst?
Objektstufe oder Subjektstufe? Ein Traumbeispiel
Komplexe sind Beziehungsmuster
Therapeutische Implikationen
Komplexe sind die handelnden Personen unserer Träume
Ein Schamproblem – abgebildet und verarbeitet in Träumen
Wo kommt der Traum her? Wo geht er hin?
Zweite Traumtheorie: Träume kompensieren die bewusste Haltung
Was ist Kompensation?
Warum ist die Kompensation so interessant?
Schattenträume
Finalität: Was will der Traum?
Kausale Deutung – finale Deutung
Das kausale und das finale Verständnis eines Traums
Die prospektive Funktion des Traums
Das kollektive Unbewusste
Kompensation durch archetypische Bilder
Das Konzept der Archetypen – ein biologisches Konzept
Der Neurowissenschaftler und die inneren Bilder
Das Schöpferische und die Wirkung des Archetypus
Wie entsteht ein schöpferisches Werk?
Das Problem des Maßes
Archetypische Träume
Traum und Individuationsprozess
Der Individuationsprozess
Das Selbst als orientierungsstiftende Matrix
Ein Symbol des Selbst im Traum
Der therapeutisch induzierte Individuationsprozess
Individuationsprozess und die Sorge um sich selbst
Das Schöpferische im Individuationsprozess
Teil 3
Die schöpferische Kraft der Träume
Arbeiten mit Träumen in der psychotherapeutischen Praxis
Symbol und Imagination
»Denken Sie sich eine Fantasie aus …«
Der Albtraum
Arbeit an einem Albtraum mit Imagination
Initialträume – Träume am Übergang
Der Initialtraum als Weg
Initialtraum einer Frau
Die Ambivalenz in Initialträumen
Ein niederstrukturierter Initialtraum
Noch einmal: Die Subjektstufe, die Objektstufe und die Deutung dazwischen
Der Untreue-Traum: Mein Mann hat eine Geliebte …
Der Beziehungskonflikt und die Komplexkonstellation
Der Traum zwischen Analysand und Analytikerin
Träume, in denen die Analytikerin nicht vorkommt
Die kollusive Übertragung-Gegenübertragung und der Traum
Die kollusive Aufspaltung – symbolisch im Traum
Archetypische Träume: Übertragung und Gegenübertragung
Archetypische Resonanz: eine Anregung zum Arbeiten mit archetypischen Symbolen
Befreiung aus dem Vaterkomplex – eine klinische Vignette
Die hölzerne Maria
Einfach träumen
Dank
Anmerkungen
Literatur
Wenn man schläft, dann träumt man auch, man kann nichts dagegen tun. Meistens wollen wir auch gar nichts dagegen tun, denn Träume sind interessant und sie interessieren. Das Interesse an den Träumen ist groß und wächst in den letzten Jahren zunehmend: neue Traumjournale werden publiziert, Traumchat-Gruppen im Internet erfreuen sich großer Beliebtheit, und auch die Wissenschaft interessiert sich dafür: Die Neurowissenschaftler möchten herausfinden, was in unserem Gehirn vorgeht, wenn wir schlafen und wenn wir träumen, die psychologischen Traumforscher und Traumforscherinnen wollen wissen, ob Männer anders träumen als Frauen, ob wir im Alter mehr oder weniger träumen usw. Veranstaltungen, in denen man sich mit der Symbolik von Träumen und auch Mythen beschäftigt, sind gut besucht. Symbollexika werden immer wieder neu geschrieben und gekauft. Wie kann man dieses Interesse an den Träumen verstehen?
Seltsames ereignet sich im Menschen, während er schläft. Träume sind spannend, sind geheimnisvoll. Wir erwarten etwas von ihnen: Bestätigung, Anregung, Warnungen – so sagen Menschen, wenn man sie fragt, warum sie sich mit ihren Träumen beschäftigen wollen. Eine vage Sehnsucht soll Gestalt annehmen, Träume sollen den Weg weisen aus einer Bedrängnis heraus.
Für das neu entfachte Interesse an Träumen gibt es verschiedene Erklärungen: Wir haben im Leben nur noch wenig Orientierung, wir haben viel Freiheit, wir wollen aber unser Leben gut, richtig, glücklich leben – und die Hoffnung ist die, dass die Orientierung, wenn nicht aus äußeren Normen, dann aus den Träumen kommt. Das geschieht auch oft; aber diese Orientierung ist keine im Sinne von einfachen Regeln und ist auch keine, die billig zu haben ist. Sollen Träume uns Sinnerfahrung vermitteln, so können sie das nur, wenn wir immer wieder neu versuchen, ihre Bedeutung für unser gegenwärtiges Leben zu eruieren, wenn wir uns von den Bildern der Träume in unserer Imagination anregen lassen.
Eine weitere Erklärung, warum Träume heute so wichtig werden, stammt von Ernest Hartmann und Robert Basile1: Sie haben festgestellt, dass nach dem 11. September 2001 die Traumbilder der Träumer und Träumerinnen sich intensiviert haben. Da sie der Ansicht sind, dass Träume emotionale Erregung verarbeiten, gehen sie davon aus, dass die Menschen intensiver träumen, wenn mehr emotionale Probleme zu bewältigen sind. Das könnte vor allem dann so sein, wenn keine andere Emotionsregulierung, zum Beispiel durch religiöse Rituale, möglich ist.
Träume, so sind die meisten Menschen überzeugt, tragen etwas bei zur Selbsterkenntnis, helfen im Umgang mit sich selbst, sie sind hilfreich – sogar dann, wenn sie sehr unangenehm sind. Träume und der Versuch, ihre Bedeutung zu erfassen, können uns eine Erfahrung von Sinnhaftigkeit unseres Lebens geben. Sinn im Leben zu erleben ist ein Grundbedürfnis der Menschen. Es wäre fahrlässig, etwas, das zur Sinnstiftung beitragen kann wie die Träume, zu vernachlässigen.
In der Neurowissenschaft werden interessante Forschungen zum Thema des Träumens gemacht. In der Psychoanalyse Jung’scher Prägung spielen Träume, Imaginationen, archetypische Symbole eine große Rolle: sie werden als Wegmarken zur Konfliktbewältigung, aber auch zur Entwicklung der Persönlichkeit gesehen. Immer stehen Aspekte unserer Persönlichkeit aus – Themen, die auch gelebt werden könnten, werden vernachlässigt – und nicht selten machen uns die Träume darauf aufmerksam.
Können die Traumtheorien von C. G. Jung in Verbindung gebracht werden mit Ergebnissen der modernen Neurowissenschaft? Diese Traumtheorien stelle ich im Gespräch mit den Neurowissenschaften dar und zeige auf, welchen Einfluss die Theorie auch auf das Arbeiten mit Träumen hat, auch im Rahmen der Therapie.
Vor allem aber geht es mir in diesem Buch auch darum, dass wir zwar sehen, dass Träume, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, viel beitragen zur Selbsterkenntnis, auch sensibilisieren für das menschliche Zusammenleben, letztlich aber doch sehr geheimnisvoll bleiben. Sie beschäftigen uns immer wieder, können immer nur partiell verstanden werden. Und vielleicht ist es gerade das, was sie für uns so interessant macht. Geheimnisse haben die Menschen schon immer interessiert, sie lassen uns nach Lösungen suchen.
Die ersten schriftlichen Überlieferungen handeln von Träumen und deren Verständnis, und die Auseinandersetzung mit den Träumen ist bis heute ein Gebiet, das interessiert, das beforscht wird und dennoch immer noch mit vielen Geheimnissen behaftet ist. Das jeweilige Verständnis der Träume und die Auseinandersetzung damit sagt viel aus über die jeweils vorherrschende Kultur und deren Menschenbild.2
Der erste Traum, der uns schriftlich überliefert ist, stammt aus dem Gilgamesch-Epos, aus Babylon. Gilgamesch hatte böse Träume. Wie kam das? Gilgamesch, der König von Uruk, ein Drittel Mensch, zwei Drittel Gott – wurde anmaßend. Der vor Kraft strotzende König hatte nur das eigene Vergnügen im Blick. Er quälte tagsüber und nachts seine Untertanen mit viel Arbeit, die sie für ihn leisten mussten, vor allem die jungen Männer. Nachts nahm er ihnen zudem ihre Frauen weg. Die Paare konnten so nicht mehr zusammenkommen – und die Frauen beklagten sich bei Ischtar, der Göttin der Liebe, die auch die Stadtgöttin von Uruk war. Ischtar und auch die anderen Götter waren verärgert über Gilgamesch, der sie alle auch zu wenig respektierte. Sie forderten Aruru, die Muttergöttin, auf, ein Wesen zu schaffen, das dem üblen Treiben von Gilgamesch Einhalt gebieten konnte. Aruru erschuf Enkidu, der von den Wildtieren der Steppe großgezogen wurde und der Gilgamesch ebenbürtig war an Kraft und Mut. Dass bei den Göttern etwas vorging, das wurde Gilgamesch im Traum mitgeteilt – und auch Enkidu wurde darüber informiert, dass Gilgamesch bereits von ihm geträumt hatte. Es war demnach eine beschlossene Sache, dass er der Gefährte des Gilgamesch werden sollte.
Gilgamesch träumte zwei Träume, einen davon füge ich hier an. Er erzählte die Träume seiner Mutter, der Göttin Wildkuh – Ninsunna –, die ihm die Träume deutete. Sie kennt die Zukunft. Im Heiligtum der Ninsunna befand sich wahrscheinlich eine Traumorakelstätte.3
»O, meine Mutter, der Traum, den ich sah im Verlaufe
dieser Nacht:
Da erschienen mir die Sterne des Himmels.
Wie Brocken des Anum fallen sie immer wieder auf mich
hernieder.
Ich hob einen an, doch er war zu stark über mir.
Ich brachte ihn immer wieder zum Wanken, doch gelingt’s
mir nicht, ihn zu entfernen.«4
»Ich liebte ihn wie eine Gattin und liebkoste ihn.
Ich hob ihn hoch und warf ihn dann dir zu Füßen.
Du aber wirst ihn mit mir auf eine Stufe stellen.«5
Und die Wildkuh Ninsunna, seine Mutter, deutet ihm den Traum dahingehend, dass er einen starken Genossen bekommen werde, stark, wie die Brocken des Anum (des Himmelsgottes). Gilgamesch wird den Genossen lieben wie eine Gattin, der Freund wird ihn in vielen Situationen retten. Und sie, die Mutter, wird ihn wie einen Sohn behandeln.
Dieser Traum, und noch ein weiterer, den ich hier nicht anführe, wurden auf Tontafeln gefunden in der Assurbanipalbibliothek in Ninive. Es handelt sich dabei wohl um die ältesten, schriftlich überlieferten Träume. Im Moment gibt es zumindest Hinweise darauf, dass das Gilgamesch-Epos etwa 3000 vor Christus niedergeschrieben wurde. Es gibt aber immer wieder neue Erkenntnisse zu diesem faszinierenden Epos.
Die Träume sind dem Gilgamesch von den Göttern, vom Himmel, gesandt, und sie werden von ihm ernst genommen. Lösen sie vielleicht sogar etwas Angst aus? Sie sagen etwas aus über die Zukunft, kündigen an, was noch nicht eingetroffen ist, aber eintreffen wird. Bloß verstehen muss er diese Träume. Die Mutter als kundige Traumdeuterin hilft weiter. Träume werden nicht nur als eine so bedeutsame Erfahrung erachtet, dass sie aufgeschrieben werden, sie müssen auch gedeutet werden und geben so Anweisungen, wie mit Veränderungen im Leben umzugehen ist. Nicht bekämpfen soll Gilgamesch diesen Naturmenschen, sondern ihn lieben, dann wird er zu einem Gefährten, und auch seine Mutter adoptiert ihn gleichsam. Die geplagten Männer von Uruk erhofften sich Hilfe von Enkidu. Gilgamesch kämpfte mit ihm, konnte ihn aber nicht besiegen – und da fielen ihm sein Traum und die Deutung ein. Er hörte auf zu kämpfen und freute sich darüber, dass er nun einen Gefährten hatte. Es gibt nicht nur den Kampf, es gibt auch die Freundschaft, es gibt die liebevolle Verbindung. Doch diese Freundschaft hat ihren Preis: im Gilgamesch-Epos ist auch der erste Trauerprozess in der Menschheitsgeschichte beschrieben worden,6 den Gilgamesch durchleidet, als Enkidu, der ihm übrigens ebenfalls die Träume gedeutet hat, gestorben ist.
Gefunden hat diese Tontäfelchen Artemidorus von Daldis, der etwa 160 nach Christus das erste Buch zur Traumdeutung schrieb. Um Material für dieses Buch zu bekommen, reiste er durch die damals zivilisierte Welt und sammelte Traumtexte.
Auch bei den Ägyptern spielten die Träume eine große Rolle: So wie in der ägyptischen Mythologie die Sonnenbarke nachts den Ozean durchfährt und sich dabei regeneriert, so regeneriert sich der Mensch im Schlaf. Und im Schlaf wird ihm durch den Traum noch zusätzlich etwas offenbart. Auch die Ägypter verstanden die Träume als hilfreiche Zeichen, direkt von den Göttern gesandt. Dementsprechend wurden dem Serapis, dem ägyptischen Gott des Traums, Tempel gebaut, der berühmteste etwa 3000 vor Christus in Memphis. Das älteste erhaltene Traumbuch ist ägyptischen Ursprungs und auf dem Chester-Beatty-Papyrus überliefert, der im Britischen Museum aufbewahrt wird. Bei den Deutungen, die in diesem Papyrus erhalten sind, ging es unter anderem um die Aufdeckung von Hintergründen zu den jeweiligen Träumen und vor allem auch um das Bewusstmachen von in Träumen vorhandenen Wortspielen usw.
Sobald die Deutung im Mittelpunkt steht, geht es natürlich auch darum, wer die Deutungsmacht hat. Vor Scharlatanen, die die Menschen durch ihre Deutungen ängstigten, wurde schon damals gewarnt.
Aber nicht nur die Deutung der Träume war wichtig, sondern auch ihre unmittelbare Wirkung auf den Träumer. Träume wurden auch zur Heilung hinzugezogen. Wahrscheinlich waren die Ägypter die ersten, die die Trauminkubation praktizierten, im Namen von Imhotep, dem Gott der Heilkunst. Diese »Technik« wurde dann von den Griechen übernommen und ausgestaltet.7
In der Bibel werden sind uns einige ganz berühmt gewordene Träume überliefert. Sie werden direkt von Gott gesandt und weisen auf die Zukunft hin, indem sie den Heilsplan Gottes in symbolischer Form darstellen. Auch der Traumdeuter, wie etwa Joseph, der dem Pharao den Traum von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen deutet, in dem die mageren Kühe die fetten auffressen, ist mit dem Heilsplan Gottes verbunden. Deshalb ist er auch fähig, dem Pharao diesen Traum zu deuten. Seine Deutung ist genial: Nicht das Unglück sagt dieser Traum voraus, sondern er weist darauf hin, wie einem möglichen Unheil zu begegnen ist, nämlich, indem man vorsorgt, indem man mit den mageren Kühen, respektive der möglichen Hungersnot, rechnet. Träume, und das ist nicht nur im Verständnis der Bibel so, bewahren den Menschen nicht vor Unheil, aber indem sie es ankündigen, kann man sich überlegen, wie damit umgegangen werden könnte. Das Unheil kommt dann wenigstens nicht überraschend.
Die biblischen Träume gründen auf einem Heilsplan; durch die Träume kommen die Menschen mit diesem Plan Gottes in Kontakt, nehmen an ihm teil. Auch in der Bibel wird vor falschen Propheten und Traumdeutern gewarnt – ein Hinweis darauf, wie viele Traumdeuter es gibt, wie wichtig auch das Geschäft des Traumdeutens war.
Im antiken Griechenland wurde die heilende Kraft der Träume genutzt. Dem Asklepios, dem Gott der Heilkunst, waren etwa 300 Tempel gebaut worden, über ganz Griechenland verteilt, die Asklepieia. Diese hat man sich als Orte der Schönheit vorzustellen, mit Wasseranlagen, Tempeln usw. Heilung Suchende kamen nach einer langen, beschwerlichen Reise hier an. Um einen heilenden Traum zu bekommen, mussten sie ein Reinigungsritual über sich ergehen lassen und neue Kleider anziehen. Als weitere Vorbereitung auf den heilenden Traum gehörte das Vertrautwerden mit überlieferten Traumberichten und Heilungsgeschichten.8 Anschließend begaben sich die Heilung Suchenden in das Innerste des Tempels, an die geheiligte Stätte der Götter, wo es auch Schlangen gab, wo sie sich nach einem Schlaftrunk zum Schlafen auf den Boden legten (Inkubation heißt: auf dem Boden liegend)9. So vorbereitet – die Vorbereitungen deuten symbolisch bereits auf eine Wandlung hin – und im Wissen darum, welche Träume man bekommen konnte, wartete man nun auf den eigenen heilenden Traum oder gar auf eine Begegnung mit dem Gott Asklepios. Asklepios erschien dann auch den Träumenden recht oft, wenn man den Berichten glauben darf, mit einer Heilung verheißenden Botschaft. Es wird von Wunderheilungen berichtet. Es ist auch denkbar, dass die Menschen, die sich diesem Ritual unterzogen, so sehr darauf warteten, dass Asklepios ihnen erscheine und ihnen sage, wie es weitergehen könnte, dass sie diese »Träume« auch imaginiert haben. Das heißt nun aber nicht, dass diese Imaginationen nicht geholfen hätten, sondern viel mehr, dass auch über induzierte Imaginationen die Fantasien geweckt werden, die ein Mensch in einer bestimmten schwierigen Situation braucht.
Beeindruckend an diesen Berichten über den Inkubationsschlaf und den Traum ist die sorgfältige Vorbereitung auf Schlafen und Träumen.
Auch für die Pythagoreer war es wichtig, sich auf die Träume einzustellen, sich auf sie vorzubereiten. Im Schlaf zu träumen bedeutete für sie, mit der Welt des Göttlichen in Verbindung zu stehen, mit der jenseitigen Welt, der Welt des Todes, aber auch der Welt der Unsterblichkeit und der Welt der Wahrheit. Deshalb mussten sie sich auf den Traum mit Ritualen vorbereiten, mussten die Seele reinigen, damit sie mit dem Göttlichen in Verbindung treten konnten, vor allem aber auch, damit sie die Botschaften und die Wahrheiten der Götter verstehen konnten; auch bei den Pythagoreern wurden diese Botschaften der Träume als mehrdeutig erlebt. Unter diese vorbereitenden Rituale fallen bei ihnen etwa die Prüfung des Gewissens, aber auch das Hören von Musik, das Riechen guter Dürfte usw.10 Das Bemühen, durch die Vorbereitung auf die Träume mit dem Göttlichen in Verbindung zu treten, gehörte zum damals wichtigen, großen Thema der Sorge um sich selbst, der Selbstsorge, die auch später bei den Römern einen wichtigen Platz einnahm. Bei der Gewissensprüfung ging es nicht etwa darum, Schuldgefühle zu entwickeln, sich Vorwürfe zu machen oder sich zu verurteilen, sondern indem man erinnerte, was man auch an Üblem getan hatte am vergangenen Tag, erkannte man es und verbannte es – und man nahm sich vor, es nicht wieder zu tun.
Der Traum, so bei Pythagoras, aber auch bei Platon, verrät die Wahrheit über die Seele. Und so wird der Traum auch noch gesehen in der Psychotherapie. Nur würden wir heute sagen: eine Wahrheit über die Seele, und nicht: die Wahrheit.
Auch bei Plato sind Träume Hinweise der Götter auf Zukünftiges. Man hat sich entsprechend auf sie vorzubereiten und sie mit aller Sorgfalt zu beachten. So sagt Platon in der Politeia:
»[…] und nachdem er ebenso auch das Zornartige besänftigt und nicht etwa mit einem zum Unwillen gegen jemand aufgeregten Gemüt einschläft, sondern nachdem er die zwei Triebe [Begehren und Zorn] beschwichtigt und nur den dritten in Bewegung gesetzt hat, in welchem das Denken innewohnt, so sich zur Ruhe gibt, weißt du wohl, dass er in solchem Zustand mit der Wahrheit vorzüglich Verkehr hat und dann am wenigsten ruchlose Gesichter in Träumen zum Vorschein kommen?«11
Heute würden wir diese Hinweise nicht nur als Möglichkeit sehen, »weniger ruchlose Träume« zu haben, sondern auch als ein Hinweis darauf, wie man zu einem guten Schlaf finden kann.
Mit Aristoteles und mit Artemidor von Daldis folgt die Wende im Verständnis der Quelle des Traums: beide halten Träume im Allgemeinen nicht mehr für von Gott gesandt.12 Für Aristoteles sind Träume Ausdruck des Seelenlebens während des Schlafs. Sie sind ein intrapsychisches Phänomen, haben allenfalls noch etwas mit den inneren Organen zu tun und können deshalb auch einen Hinweis darauf geben, wie Krankheiten verlaufen. Auf jeden Fall sind sie keine Offenbarung einer überirdischen Instanz, und dennoch sind sie nützlich: man kann vorhersagen, wie man in gewissen Situationen reagieren wird, die Träume nehmen es vorweg. Und gerade weil man das weiß, kann man sich auch anders entscheiden. Aber kein Gott gibt einem die Träume ein – zu träumen, das ist menschliche Kreativität.
Artemidor von Daldis13 hat etwa 150 nach Christus ein fünfbändiges Werk zur Traumdeutung geschrieben. Wie schon erwähnt, versuchte er auf vielen Reisen, die damals existierende Literatur über Träume und das Träumen zusammenzutragen. Er war einer der vielen Traumdeuter der damaligen Zeit, für uns aber der Traumdeuter. Er bringt bei seinen Deutungen die Symbole der Träume mit dem Wesen des Träumers, mit dessen Lebensgeschichte, mit der Stimmung, in der der Traum geträumt wurde, in Verbindung. Das mutet uns recht modern an. Das Traumbuch ist aber auch voll von stereotypen Deutungen, wie etwa: »Der Rücken und alle rückwärtigen Körperteile gelten allgemein als ein Symbol des Alters. Deswegen bezeichnen sie einige zutreffend als den Bereich Plutos. In welchem Zustand sie also dem Träumenden erscheinen, dementsprechend wird es ihm im Alter ergehen.«14 Artemidor warnt aber gleichzeitig vor diesen stereotypen Deutungen und betont immer wieder, dass der Traum mit dem Träumer und seinem Wesen zu verknüpfen sei.15 Er unterscheidet unter anderem Träume, die die gegenwärtigen Affekte übersetzen, besonders die Begierden, von den Traumgesichten, den Oneiroi, die die Seele bilden, die Sprache des Seins verkörpern, auf die Seele wirken und auch die Zukunft voraussagen können. Diese Träume müssen gedeutet werden; sie sind notwendig, um für sich selbst und für seine Seele sorgen zu können. Interessant ist, dass Artemidor die sexuelle Thematik in den Träumen ausführlich behandelt, nach Foucault allerdings nicht um der Sexualität willen, sondern um gesellschaftliche Positionen anzudeuten, etwa: Wer oben ist, ist auch im Alltag oben. Das männliche Glied sieht er im »Schnittpunkt all der Spiele des Beherrschens«16.
Mit Aristoteles und Artemidor gibt es im Verständnis des Traums also eine Zäsur: nicht mehr das Schicksal ist entscheidend, nicht mehr die Götter, sondern die Person selbst. Der Traum gehört zur jeweiligen Person in ihrem Lebenszusammenhang. Die Träume bleiben aber zentral für den Menschen, der sich selber prüfen will. Ein Leben ohne Selbstprüfung ist nach Seneca kein lebenswertes Leben. Doch auch wenn jetzt die Träume vor allem auf das Seelenleben des Menschen zurückgeführt wurden, bleiben die früheren Ideen vom göttlichen Ursprung der Träume im Hintergrund weiter wirksam, zum Teil bis in unsere Zeit!
Am Ende der Spätantike tritt das Interesse an den Träumen etwas in den Hintergrund. Die Kirchenväter beschäftigten sich mit den Träumen, allen voran Augustinus, der, nachdem er seine sexuellen Ausschweifungen aufgegeben hatte, von ihnen träumte. Das ließ ihn etwas verzweifelt fragen, ob man für die eigenen Träume verantwortlich sei. Heute würde man ihm antworten, er sei nicht für die Träume verantwortlich, wohl aber dafür, dass er seine sexuellen Bedürfnisse derart verdränge.
Wirklich in Vergessenheit geriet die Beschäftigung mit Träumen allerdings nicht.
An prominenter Stelle tauchen die Träume bei René Descartes auf, in seinem »Traumargument«. Descartes fragt nach dem Fundament der Wahrheit, nach etwas, worauf er sich verlassen kann, nachdem er festgestellt hat, wie viel Falsches er in seinem Leben bereits gelernt hat. Das ist für ihn Ansporn, unumstößliche Grundlagen zu finden, auf die man sich verlassen kann. Er zweifelt: Im Traum erscheint uns die Welt ja auch als wirklich und erst beim Aufwachen wird sie unwirklich, wie kann man da ganz sicher sein, dass man im Wachen nicht bloß träumt, dass man tatsächlich wach ist? Denn oft träumen wir ja auch im Traum, dass wir aufgewacht sind. Es gibt Grund zu zweifeln. Aber nicht nur: Bei aller Ungewissheit ist gewiss, so seine Lösung, dass ich derjenige bin, der träumt.17
Eine große Wiederbelebung erfährt das Interesse an Träumen in der Romantik. Diese kurze Periode im deutschen Geistesleben wird etwa zwischen 1790 und 1830 angesetzt und mit den Namen Tieck, Schlegel, Herder und vor allem Novalis verbunden. Der Traum wird in der Romantik vor allem verstanden als eine Gegenwelt zum vorherrschenden rationalen Verständnis der Welt. Die äußere Welt lassen die Romantiker nicht als die einzige wirkliche Welt gelten: die innere Welt ist für sie ebenso wirklich. So postulieren sie eine zweite, tiefere Schicht des Menschen, nennen diese die Natur oder das Unbewusste. Dieses Unbewusste geht weit über die Existenz des Einzelnen hinaus. Der Traum wird gesehen als eine Möglichkeit, mit diesem Unendlichen in sich, das auch die eigene Welterfahrung bei weitem überschreitet, in Verbindung zu treten. Dieser Gedanke kehrt wieder im Konzept des kollektiven Unbewussten bei C. G. Jung, einem Unbewussten, das bei allen Menschen in gleicher Weise vorhanden ist und zu unserer biologischen Grundausstattung gehört.
Haben in der Antike die Götter die Träume geschickt und diese dadurch mit dem Himmel in Verbindung gebracht, kommen jetzt diese Träume aus der Tiefe – es entsteht eine Verbindung mit etwas, das weit über den Einzelnen hinausgeht und das dann mit dem Unbewussten gleichgesetzt wird. Durch die Sicht des Traumes als eine Verbindung mit dem Unendlichen wird der Traum überhöht und auch idealisiert. Man fragt sich, was die Romantiker etwa mit peinlichen Träumen gemacht haben dürften.
Auch die Philosophen haben sich mit Träumen auseinander gesetzt. Schopenhauer (1788–1860) hat sich mit vielen psychologischen Fragestellungen beschäftigt. So hat er eine noch heute beeindruckende Theorie des Lächerlichen verfasst.18 Er hat sich auch mit Sexualität sowie mit Geistersehen beschäftigt, und außerdem eine interessante Abhandlung über den Traum geschrieben. Auch ihn interessierte die Unterscheidung von Träumen und Wachen – und er kommt zu dem Schluss: »Das allein sichere Kriterium zur Unterscheidung des Traumes von der Wirklichkeit ist in der Tat kein anderes, als das empirische des Erwachens […].«19 Aber auch über die Entstehung der Träume hat er sich Gedanken gemacht, die recht modern anmuten:
»Da nun also bei der Entstehung der Träume, sei es unter dem Einschlafen oder im bereits eingetretenen Schlaf, dem Gehirne, diesem alleinigen Sitz und Organ aller Vorstellungen, sowohl die Erregung von außen, durch die Sinne, als die von innen, durch die Gedanken abgeschnitten ist; so bleibt uns keine andere Annahme übrig, als dass dasselbe irgendeine rein physiologische Erregung dazu, aus dem Innern des Organismus, erhalte.«20
Er unterscheidet auch Träume, die man im tiefen Schlaf träumt von denen beim Einschlafen und beim Aufwachen. Für das Deuten der Träume hält er sich an Artemidor, aus dessen Büchern man wirklich die Symbolik des Traumes kennen lernen könne, »zumal aus seinen zwei letzten Büchern, wo er an Hunderten von Beispielen uns die Art und Weise, die Methode und den Humor fasslich macht, deren unsere träumende Allwissenheit sich bedient, um, wo möglich, unserer wachenden Unwissenheit einiges beizubringen«21. Interessant ist nicht nur, wie genau Schopenhauer Artemidor zu kennen scheint, sondern auch die Idee, die Träume als »träumende Allwissenheit« zu bezeichnen und das Bewusstsein mit Unwissenheit gleichzusetzen.
Im Werk von Friedrich Nietzsche (1844–1900) gibt es unzählige Hinweise auf Träume und auch auf das Unbewusste, und dies zeitlich vor dem bahnbrechenden Werk zur Traumdeutung von Sigmund Freud. Da werden Träume geträumt, erzählt, gedeutet. In seiner Biografie erzählt er eigene Träume. Sie sind ihm wichtig. So stammt von Nietzsche die wichtige Aussage: »Im Schlaf und im Traum machen wir das Pensum früheren Menschentums noch einmal durch.«22 Oder:
»Im Schlaf ist fortwährend unser Nervensystem durch mannigfache innere Anlässe in Erregung […] und so gibt es hundert Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach Gründen dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstellen der Ursachen für jene erregten Empfindungen, das heißt der vermeintlichen Ursachen.«23
Er fragt sich dann, warum der Geist im Traum manchmal so fehlgreife, wo wir doch im Wachen so kritisch seien, im Traum aber so geneigt, dem Traum einfach zu glauben. Er löst das Problem, indem er sich sagt, der Traum bringe uns »ferne Zustände der menschlichen Kultur zurück«24. Auch über das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem finden wir wesentliche Hinweise. »Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: Jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrößte Teil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft.«25
Aber nicht nur Dichter, Schwärmer und Philosophen beschäftigten sich mit den Träumen, in denen das Unbewusste sichtbar wurde, es gab auch einen wissenschaftlichen Zugang dazu. Carl Gustav Carus (1789–1869) schrieb viel über das Unbewusste.26 Er vertrat die Idee, der Körper verwirkliche die Seele, diese nehme die Kräfte aus dem Unbewussten und dem Schlaf und entfalte so verschiedene Stufen des Bewusstseins. Der Schlüssel zur Erkenntnis des bewussten Seelenlebens aber, so meinte er, liege in der Region des Unbewussten.
Charcot (1825–1893), Janet (1859–1947) und andere – sie alle beschäftigten sich mit Gehirnanatomie, mit dem Nervensystem, mit Hypnose. Und dadurch ergab sich natürlicherweise auch eine neue Auseinandersetzung mit dem Träumen. Charcot, bei dem Freud gelernt hatte, vertrat die Idee, die Suggestion und die Hypnose nützten eine im Unbewussten bereits vorhandene Dynamik. Die Träume andererseits würden diese Dynamik auch ausdrücken.
Parallel zu dieser Strömung, die viel Interesse auf das Unbewusste verwendet, gibt es die Forschungen von Sir Francis Galton (1822–1911). Er gilt als der Begründer der freien Assoziation zur Untersuchung des Denkens.27 Ihn interessierte, wie der Geist funktioniert. Galton:
»Ich wollte zeigen, wie ganze Bereiche geistiger Leistungen, die normalerweise dem Bewusstsein entgehen, sich ans Licht bringen, aufzeichnen und statistisch untersuchen lassen. […] Wahrscheinlich der stärkste Eindruck, den diese Experimente hinterlassen, betrifft die Mannigfaltigkeit der Arbeit des Geistes in einem Zustand der Halb-Unbewusstheit. Sie liefern zudem guten Grund zur Annahme noch tieferer Schichten geistiger Tätigkeiten, die völlig unter die bewusste Ebene geistiger Leistungen gesunken sind, die möglicherweise für diejenigen geistigen Phänomene verantwortlich sind, die wir anders nicht erklären können.«28
In den Jahren um etwa 1880 studierte Galton kleinste Gedankenfetzen: wie sie auftauchten, warum sie auftauchten, wie sie wiederum verschwanden, von anderen Gedanken abgelöst wurden. Er verfasste eine Liste von Wörtern und untersuchte, welche neuen Wörter ihm zu diesen einfielen – auch maß er die Zeit, die er benötigte, bis ihm etwas einfiel. Diese Forschungen sind die Grundlage des Wortassoziationstests, der auf Wundt, Kraepelin und Aschaffenburg zurückgeht und schließlich von Jung am Burghölzli weiterentwickelt wurde.29
Die Versuchsanordnung des Assoziationsexperiments von Wundt, die von Jung übernommen wurde, war und ist einfach: Der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin nennt ein Wort, die Versuchsperson reagiert mit dem Begriff, der ihr als erstes einfällt: zum Beispiel grün – Wiese. Man versucht also herauszufinden, welche Vorstellung durch ein Wort, ein Reizwort, in einem Menschen ausgelöst wird. Gesucht wurden bei diesen Studien ursprünglich Regeln des Assoziierens, die mögliche Unterscheidung verschiedener intellektueller Typen beim Assoziieren, der Unterschied zwischen den Assoziationen Kranker und Gesunder, die Bedeutung der Aufmerksamkeit für die Assoziation usw. Kraepelin und Aschaffenburg ermüdeten die Versuchspersonen und stellten dabei fest, dass sich die Arten der Assoziationen unterschiedlich gebildeter Menschen bei Ermüdung anglichen, während sie normalerweise untereinander differieren: so nahmen zum Beispiel die Klangassoziationen (Kuh – Muh) zu. Eine Zunahme der Klangreaktionen war aber auch, so stellten Jung und Riklin fest, bei Menschen auszumachen, die einen starken Affekt erlebt hatten. Überhaupt fanden sie heraus, dass nicht immer ohne weiteres assoziiert werden konnte, obwohl die Sprache das erlaubt hätte. Es gab Reaktionen, die von Kraepelin als »Fehler« bezeichnet und für die Untersuchungen nicht weiter beachtet wurden.
Diese so genannten Fehler indessen interessierten Jung und Riklin. Sie studierten zum Beispiel Assoziationen, die erst nach langer Reaktionszeit erfolgten oder die im Reproduktionsversuch nicht erinnert werden konnten. Sie fragten sich, auch beeinflusst von den Forschungen von Freud30, welche »Reminiszenzen« hinter einer solchen Reaktion, einem so genannten »Fehler«, verborgen sein konnten. Sie stellten fest, dass es eine bedeutsame affektive Erinnerung war, die auch durch verschiedene Wörter angesprochen werden konnte. Die verdrängte Reminiszenz – so schlossen sie daraus – besteht aus einer mehr oder weniger großen Anzahl einzelner Vorstellungen, die durch den Affekt »zusammengehalten« werden.31 Wo nicht glatt assoziiert werden konnte, so Jung und Riklin, bezog sich das Reizwort auf eine »peinliche persönliche Angelegenheit«.32 Diese peinliche persönliche Angelegenheit nannten sie Komplex und stellten fest, dass hinter diesen Komplexen jeweils ein emotionales Problem zu finden war. Das Thema dieser emotionalen Probleme erschließt sich, so Jung und Riklin, wenn man zu den Wörtern, die den Komplex ausgelöst haben, assoziiert. Deshalb bevorzugte Jung auch später bei der Deutung von Träumen die »gebundene Assoziation«: Das heißt, er kehrte immer wieder zu den einzelnen Traumsymbolen zurück und fragte nach neuen Einfällen dazu. Er verband die Bewegung des Geistes, wie Galton sie genannt hätte, immer wieder mit dem Bild, das diese Bewegung angestoßen hatte. In der »freien Assoziation«, die Freud bevorzugte, wird beobachtet, wohin der Fluss der Assoziationen führt, ohne dass man immer wieder zum auslösenden Bild zurückkehrt.
Das erneute Interesse an den Träumen, aber auch die Techniken der Traumdeutung entstanden nicht im luftleeren Raum: Verschiedene Strömungen haben sich verbunden und in der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie C. G. Jungs ihren Ausdruck gefunden und damit das Denken im 20. Jahrhundert maßgebend beeinflusst.
Das Interesse am Unbewussten und an den Träumen verband sich mit Galtons Interesse am Assoziieren – daraus entstanden das Interesse an Träumen und die Technik des freien Assoziierens, die Freud in seinem Standardwerk als Grundlage für die Traumdeutung33 erachtete. Alle Traumdeutung, die in der Psychotherapie des 20. Jahrhunderts enorm wichtig geworden ist, beruht auf den Techniken, die im Standardwerk von Freud beschrieben wurden und die dann von den einzelnen Schulen oder auch Therapeuten und Therapeutinnen, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss des jeweiligen Zeitgeists, modifiziert wurden.34 Die Modifikationen von C. G. Jung bestehen vor allem darin, dass er ein persönliches Unbewusstes vom kollektiven Unbewussten unterscheidet, und darüber hinaus, dass er den Traum als Narrativ ernst nimmt. Ich werde dies später näher ausführen.
Aktuell ist es die Neurowissenschaft, die sich heute mit dem Traum beschäftigt und erneut wieder die Frage stellt, woher der Traum denn komme, was er denn sei. Näf meint, im Rahmen der Hirnforschung hätten wir es heute mit einer »historisch neuen Form der Traumdeutung«35 zu tun, die allerdings auch eine Abwendung von den Trauminhalten mit sich bringe. Nun ist das sicher nicht die einzige Form der Traumdeutung, die gegenwärtig aktuell ist. Der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms36 beschäftigt sich unter anderen eingehend mit dem Phänomen Traum. In seinen Studien weist er nach, dass ein gewisses Maß an Erregung im Bereich der Hirnaktivität nötig ist, damit Träume ausgelöst werden. »Ohne Erregung dieser Bewusstseinsquelle [des Kernbewusstseins, V. K.] kann man nicht träumen.«37 Woher die Erregung stammt, scheint unwichtig zu sein. Beim Einschlafen wohl von dem so genannten »Tagesrest«, also von dem, was uns noch betrifft und vielleicht auch umtreibt. Der REM-Schlaf, der lange als der Verursacher der Träume galt, ist ein zuverlässiger Traumauslöser. Er aktiviert Erregung in regelmäßigen Intervallen während des Schlafs. Den eigentlichen Traumvorgang scheint aber das »Suchsystem« des Gehirns38 einzuleiten.
Das Suchsystem wird von Panksepp als ein unspezifisches Motivationssystem beschrieben, das ständig nach etwas sucht, was die Bedürfnisse befriedigt, was interessant ist, aber es weiß selbst nicht eigentlich, wonach es sucht. Ist dieses System geschädigt, träumen die Menschen nicht mehr, sie haben aber auch keine Motivation mehr, werden uninteressiert, apathisch. Dieses Suchsystem wird auch »Belohnungssystem« genannt und ist mit dem Vergnügungs-Lust-Subsystem verbunden.39 Wird das Lustsystem aktiviert, so schaltet sich das Suchsystem aus: Ist Lust erlebbar, dann muss vorübergehend nicht weiter gesucht werden. Das Suchsystem könnte den dopaminergen Mechanismus in Gang bringen, der die Traumaktivität erzeugt. »Der REM-Zustand ist aber nur einer von vielen möglichen Auslösefaktoren, die diesen Mechanismus ebenfalls zu aktivieren vermögen.«40 Wir kennen ja auch die Träume kurz nach dem Einschlafen, wenn wir uns unmöglich schon in einem REM-Zustand befinden können.
Die verschiedenen Mechanismen, die Träume auslösen können, zeichnen sich dadurch aus, dass sie alle »einen Zustand gesteigerter cerebraler Erregung (arousal) im Schlaf hervorrufen.«41 Diese Erregungen können aber nur dann Träume auslösen, wenn sie das Motivationssystem in den Frontallappen des Gehirns aktivieren. Im Schlaf ist die Absicht und die Fähigkeit zum Handeln blockiert, eine Ursache dafür, so Solms, dass der Traumprozess weg von den motorischen Systemen und hin zu den Wahrnehmungsprozessen führt.42 »Die notwendige und die hinreichende Bedingung für das Träumen sind (1) die Vorderhirnerregung und (2) die Integrität der okzipito-temporo-parietalen Verbindung [spielt eine wichtige Rolle bei der Erzeugung der visuell-räumlichen Vorstellung, VK] und der limbischen weißen Substanz des Vorderhirns.«43
Dass das Suchsystem das Antriebssystem für das Träumen sein könnte, schließen Solms und Turnbull auch aus einer Untersuchung, die Hartmann um 1980 gemacht hat.
»Er verabreichte neurologisch und psychiatrisch normalen Patienten kurz nach der ersten REM-Phase entweder L-Dopa oder ein Placebo – mit sofortigen und dramatischen Folgen. Die Probanden, die das L-Dopa erhalten hatten, produzierten sehr viel mehr Träume, die zudem lebhafter, emotional intensiver und bizarrer waren als gewöhnlich.«44
Die REM-Phasen wurden dadurch nicht beeinflusst. Auch das wird von Solms und anderen als Hinweis darauf verstanden, dass das dopaminerge Suchsystem die primäre Antriebskraft hinter dem Träumen sein könnte. Er weist weiter darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Träumen, dem Suchsystem und der Psychose geben muss.45
Die Schlüsse von Solms für die Psychotherapie: Wenn wir Therapeuten und Therapeutinnen uns mit Träumen beschäftigen, dann haben wir einen guten Grund dafür, denn das Motivationssystem, das Suchsystem des Menschen, springt nur dann an, wenn etwas geschieht, das für das Individuum wichtig, interessant, bedeutsam ist, uns emotional anspricht. Träume sind also nach diesem Stand der Forschung wichtig, interessant, emotional bedeutsam.
Es ist interessant zu wissen, was in unserem Gehirn abläuft, während wir träumen, aber die Frage bleibt: Was erschließt sich uns in unseren Träumen? Wozu sind sie gut? Wie erklären wir die Träume heute?
Ein Traum ist erst dann ein Traum, wenn wir aus ihm erwachen. Ein Traum ist ein eindrückliches Erlebnis im Schlaf, das wir im Wachen einigermaßen erinnern können, das etwas über unsere im Moment zentrale emotionale Lebenssituation aussagt und zu mannigfaltigen kognitiven und emotionalen Verbindungen anregt, das Veränderung bewirkt. Es ist ein Ausdruck unseres Selbst im Schlaf – unsere ganz eigene Schöpfung, es gibt wenig Einfluss von außen.46 Jung sagt: »Der Traum ist ein Stück unwillkürlicher psychischer Tätigkeit, das gerade so viel Bewusstheit hat, um im Wachzustand reproduzierbar zu sein.«47
Der Traum entstammt unbewussten psychischen Prozessen. Deshalb konnte die Traumdeutung auch als der »Königsweg zur Erkenntnis des Unbewussten«48 von Freud bezeichnet werden. Diese unbewussten Prozesse sind aber dennoch von Bewusstsein begleitet; insofern ist der Traum auch sehr interessant für die Untersuchung der Frage, was denn Bewusstsein ist,49 und er könnte auch im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Kreativität neue Fragestellungen ergeben.