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Die Rektorin der Gesamtschule und der Direx des Gymnasiums treffen sich heimlich? Und das, obwohl die beiden Schulen bis aufs Blut verfeindet sind. Merle und ihre Insight-Redaktion wittern eine heiße Story! Doch damit sind sie nicht allein. Leon, der Herausgeber des Konkurrenzblatts, ist ebenfalls an der Geschichte dran. Merle versucht cool zu bleiben und schmiedet einen Plan, der Leon ein für alle Mal in den Schatten stellen soll ...

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Autorenvita

Autor

© Franz Hamm

Rasende Reporterin für eine Tageszeitung, Studium der Germanistik und Anglistik, ein Volontariat beim Verlag und mehrere Jahre als angestellte Lektorin – Martina Sahlers Leben drehte sich immer schon ums Schreiben und um Bücher. Heute arbeitet sie als freie Lektorin, Ghostwriterin und Autorin von Jugendbüchern. „Mein Traum“, wie sie sagt, „weil das junge Mädchen in mir noch sehr lebendig ist und ich mich manchmal in einen Rausch hineinschreibe, der mich selbst überrascht."

Auf die Frage, wie sie zu ihren Stoffen kommt, antwortet Martina Sahler lachend: „Ich komme nicht zu Stoffen – sie kommen zu mir. Ich höre sehr genau hin, wenn Leute Geschichten von sich erzählen – und spinne sie auf meine Art fort.“

Fürs Schreiben selbst braucht die Autorin absolute Ruhe: „Kein Rufen im Haus, kein Rasenmäher vor dem Fenster, keine Musik aus den Boxen. Nur das Getacker der Tastatur ist zu hören, wenn ich arbeite.“

So wirft die Muse ihr einen Kuss zu, an dem dann monatelang gearbeitet, gefeilt und geschliffen wird, bis Martina Sahler mit dem Ergebnis zufrieden ist.

Sie trifft genau das Lebensgefühl ihrer Leserinnen, wie ihr ein Fan bestätigte: „Ein Mädchen wollte nicht glauben, dass ich schon über 40 bin, weil ich mich nach ihrer Meinung so unglaublich gut in Jugendliche hineinversetzen könne.“

Ein Megaskandal?

Mark Thomsen ist der schnuckeligste Referendar auf unserem Planeten. Das ist Fakt. Aber ist das ein Grund, zu unserer ersten Redaktionssitzung zu spät zu kommen? Für mich nicht.

Für Celine schon.

Ich habe sie vor dem Lehrerzimmer gesehen, als ich über die Gänge gehetzt bin, um keine Sekunde von der Sitzung zu verpassen. Sie stand mit Thomsen zusammen und flötete ihn an wie eine Nachtigall. Dabei warf sie ihre eisblonden Elfenhaare von links nach rechts und fächerte die getuschten Wimpern auf und ab, als hätte ihr jemand eine Mehlwolke ins Gesicht gepustet. Ja, das dauert.

Unser Technik-Mann Lasse schaut aufs Handy. »Zehn nach neun. Wir sollten anfangen.«

Wir anderen schieben unsere Stühle um den Konferenztisch im Redaktionsraum, breiten Blätter und Laptops aus.

Ich bin die Chefredakteurin, ich darf die Besprechung eröffnen.

Zu Beginn des Arbeitstreffens ist alles immer hochoffiziell. Erfahrungsgemäß fliegen spätestens nach den ersten zehn Minuten die Fetzen. Dann achtet keiner mehr auf die Formalitäten.

Sobald ich mit meiner Ansprache gestartet bin, wird Celine auftauchen.

Wetten?

»Also, Leute, schön, dass ihr da seid, willkommen zu unserer ersten Redaktionssitzung für die Septemberausgabe der Insight. Wie ihr wisst, hatten wir mit der Augustausgabe die höchste Auflage ever. Angepeiltes Ziel: dieses Level halten. Die Reportage über Mobbing hat an unserer Schule eine Welle ausgelöst – wir müssten also auf jeden Fall einen Artikel darüber bringen, welche Angebote gegen Mobbing es inzwischen gibt. Die Beratungsstelle, die Schüler-Schlichtung etc. Ich schlage vor, dass einer von uns das alles zusammenfasst und übersichtlich darstellt …«

Die Tür fliegt auf. Auftritt Celine. Alle anderen drehen sich zu ihr. Großes Hallo, langes lärmendes Sorry.

»Hör mal, Celine, wenn du schon zu spät hier aufschlägst, dann schleich dich doch bitte so unauffällig rein, dass du nicht alle störst. Das wäre echt ein feiner Zug. Wir haben nur noch wenig Zeit und sollten die wesentlichen Punkte in dieser Freistunde klären.«

»Jetzt plustere dich mal nicht so auf«, gibt Celine im Flüsterton zurück. Sie lächelt dabei zuckersüß, sodass ich echt überlegen muss: War das jetzt zickig oder nicht?

Celine ist von allen Redaktionsmitgliedern am schwierigsten einzuschätzen.

Endlich sitzt sie, wendet sich mir – Kinn auf die Hände gestützt – mit Bambiaugen zu.

Wenn sie glaubt, dass ich wegen ihr noch einmal von vorne anfange: Fehlanzeige.

»Also, wer mag das übernehmen?«

Marvin hebt den Arm. Das tut er immer, auch wenn man noch gar nicht zu Ende gesprochen hat. Er überschlägt sich fast vor Eifer und Klugscheißerei. »Ich kann das machen. Wusstet ihr, dass 72 Prozent aller Schüler in Deutschland schon einmal Mobbing-Opfer waren, dass es aber nur an 15 Prozent aller Schulen …«

»Okay, Marvin, dann notieren wir das so.«

Celine beginnt mit Lasse zu tuscheln. Klar, die schnallt nicht, worum es geht, und lässt sich von ihm auf den Stand bringen.

Da platzt sie auch schon heraus: »Also noch mal das Mobbing zum Aufmacher pushen? Langweilig, wenn ihr mich fragt. Ich hab eine bessere Idee.«

»Von Aufmacher war nicht die Rede, und gute Ideen sind immer gefragt.« Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück und verschränke die Arme vor der Brust, während ich Celine fixiere.

Vor einem Monat lagen wir uns in den Haaren, weil sie als Gegenaktion zu dem Topartikel unseres Konkurrenzblattes, die das »attraktivste Mädchen in den Gesamtschulen am Park« gesucht haben, einen Sweetest-Boy-Contest durchziehen wollte. Wenn Celine eine »bessere Idee« hat, heißt das für mich: Alarm!

»Wir könnten die fünf Referendare vorstellen, die zurzeit an unserer Schule arbeiten. Das interessiert bestimmt viele. Und wir könnten ein Ranking ermitteln: Wer ist der Beliebteste?«

Marvin klappt der Kiefer herunter und auch Lasse starrt Celine mit offenem Mund an. Fotografin Ilona hat nachdenklich die Stirn gerunzelt.

Ich beuge mich vor. »Wieso fünf Referendare? Nach meiner Rechnung sind es acht. Hast du vergessen, dass auch drei angehende Lehrerinnen dabei sind?«

Über Celines Wangen zieht sich ein rosiger Hauch. Erwischt. »Äh, nee, is klar. Ich dachte nur, mal im Ernst, Mädels.« Sie blickt zwischen Ilona und mir hin und her, als wären wir sisters in mind. »Wann hatten wir jemals so niedliche Referendare bei uns? Sehen die nicht alle Zucker aus? Unfassbar, dass die tatsächlich Lehrer werden wollen, und dann noch bei uns, und …«

»Stopp, stopp!«, rufe ich und schüttle den Kopf. »Mal konkret: Was hast du vor mit den Referendaren? Willst du sie von Ilona nackt am See fotografieren lassen?«

Gelächter brandet auf, nur Lasse wischt sich mit der Handfläche vor der Stirn entlang, als zweifle er an unserem Verstand. Berechtigt, aber habe ich das Thema in diese Richtung gedreht?

»Natürlich nicht«, ruft Celine heiter. »Da machen die sowieso nicht mit, obwohl …« Sie tippt sich mit dem Bleistift grübelnd gegen die Lippe, als ziehe sie die Möglichkeit in Betracht.

»Jetzt komm mal runter von dem Trip«, meldet sich da zum Glück Ilona zu Wort. Es fällt ihr nicht leicht, in einer Gruppe ihre Meinung zu vertreten. Umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn sie mir beispringt. »Wir machen uns zu Deppen, wenn wir die Referendare nach ihrem Aussehen beurteilen.«

Celine schielt an die Decke zu den Neonröhren. »Wie prüde ihr mal wieder seid. Aber von mir aus, dann listet doch auf, was sie studiert haben und welche Abschlussnoten sie hatten, welche Fächer sie unterrichten werden und wie sie den Unterricht gestalten wollen. Ich frage mich nur: Wer will das wissen? Dagegen interessiert es mindestens die Hälfte aller Schüler – nämlich die weiblichen –, wer von denen am süßesten und ob er Single ist.«

»Ich glaube, du täuschst dich«, erwidere ich mit frostiger Miene, während Lasse und Marvin nun miteinander flüstern und vor sich hin grinsen. »Ich gehöre auch zu dieser Hälfte, und es interessiert mich nicht die Bohne. Ich stimme dir zu, dass es eine gute Sache ist, die Referendare und Referendarinnen vorzustellen. Gerne auch mit Fotos und ein paar privaten Infos, aber alles, was darüber hinausgeht, finde ich albern und unpassend.«

Celine schiebt die Unterlippe vor, als nun die anderen zustimmend murmeln und nicken.

»Willst du das dann übernehmen, Celine? Willst du den Artikel vorbereiten?«, frage ich, um sie wieder milde zu stimmen.

Ich hasse eigentlich Konflikte, aber manchmal lassen sie sich nicht vermeiden. Dann versuche ich gerne, den Streit so schnell wie möglich beizulegen.

Mein Handy vibriert. Während die anderen nun diskutieren, ziehe ich es aus meiner hinteren Jeanstasche. SMS von meinem Lieblingsfeind.

Leon!

Na? Schon einen Knaller für die Septemberausgabe gefunden?

Geht dich das was an?

Als ich fertig bin mit Lesen und Simsen, fasst Celine für mich zusammen: »Also, ich mach das. Bis zur nächsten Sitzung lege ich euch was vor.«

In meinem Bauch setzt sich ein ungutes Gefühl wie ein wachsendes Geschwür fest, aber vielleicht täuscht es. Vielleicht hat sie aus dieser Diskussion was mitgenommen. Einfach mal abwarten, wie Celine den Artikel schreibt. Wenn sie übers Ziel hinausschießt, müssen wir eben nacharbeiten.

»Damit hätten wir zwei gute Themen für die nächste Ausgabe«, erklärt Lasse mit Blick auf seinen Laptop-Bildschirm und den Fingern über der Tastatur. »Aber ich glaube, ich habe da noch ein ganz heißes Eisen …« Er senkt verschwörerisch die Stimme. Wir rücken alle näher mit den Köpfen heran. »Eines, mit dem wir der No Limits erneut zeigen, wo der Hammer hängt. Und dass wir die besseren Reporter sind.«

»Ja?« Wir haben alle Elefantenohren.

»Es ist kein Geheimnis, dass wir mit dem benachbarten Gymnasium verfeindet sind.«

Allerdings nicht. Wer wüsste das besser als ich? Das Schlimmste ist, dass die dort drüben ebenfalls eine Schülerzeitung herausbringen, die sie auch in unserer Gesamtschule auslegen. Das war nicht immer so, erst seit Beginn des neuen Schuljahres, und das hängt mit Leon Bergazy zusammen, dessen Vater ein international arbeitender Journalist ist. Leon ist alleiniger Herausgeber der No Limits. Klar, dass wir uns nicht ausstehen können. Wie soll ich auch jemanden mögen, der versucht, mir meinen Lebenstraum zu zerstören? Ich will später Journalistin werden und die Schülerzeitung betrachte ich als mein Praktikum, mit dem ich bei der Bewerbung an der Journalistenschule punkten kann. Neben einem – hoffentlich – guten Abitur. Wenn sich Leon mit seiner Zeitung so ins Zeug legt, dass sich keiner mehr für unsere Insight interessiert, kann ich einpacken.

Leon lacht nur über meine Bedenken und Ängste. Er sieht das alles ganz gechillt und findet, die Schulen am Park könnten auch zwei Zeitschriften verkraften. Ich solle mal einen Gang runterschalten und ein Date mit ihm klarmachen.

Darauf kann er warten, bis er schwarz wird. Unter anderen Umständen – vielleicht. Zugegebenermaßen ist Leon vom Aussehen her der süßeste Typ, den ich kenne. Aber was nützt mir das, wenn seine inneren Werte die Hölle sind?

»… habe ich gesehen …«

Ich reiße mich aus meinen Gedanken, um nicht zu verpassen, worauf Lasse hinauswill.

»… wie Dr. Biesenbach in Helma Hotters Auto gestiegen und mit ihr davongefahren ist. Dass sie sich nicht noch mit Küsschen begrüßt haben, war alles, echt.«

»Der Direktor vom Gym und unsere Schulleiterin?« Marvin reißt die Augen auf. »Sensationell. Allerdings gibt es eindeutig Statistiken, die belegen, dass Frauen und Männer ab vierzig …«

»Hammer«, flüstert auch Celine. »Der Hotter merkt man doch immer an, wie angepieselt sie von der Arroganz der Gymnasiallehrer ist, auch wenn sie es zu vertuschen versucht. Dass da jetzt ausgerechnet mit dem Direktor was laufen soll …«

»Ich verstehe gerade nur Bahnhof«, werfe ich ein. »Du hast also gesehen, Lasse, dass der Gymnasialdirektor mit Helma Hotter vom Schulparkplatz gefahren ist.« Ich breite die Arme aus, lehne mich zurück. »Kann es sein, dass er seine Autoschlüssel verloren hat oder dass mit seinem Wagen etwas nicht stimmte, und dass die Hotter so freundlich war, ihn heimzufahren? Sorry, aber ich sehe die Geschichte nicht.«

Lasse nickt mir zu. »Klar, kann voll harmlos sein. Aber es hat einen anderen Eindruck gemacht. Nicht wie eine kollegiale Geste. Eher so, als hätten sich die beiden verabredet.«

Schweigen legt sich über unsere Redaktion. Lasse ist von unserem Team derjenige, der soziale Zeichen am schlechtesten deuten kann. Er ist zwar ein Ass in Mathe und allen technischen Dingen, aber das menschliche Miteinander scheint für ihn ein Buch mit sieben Siegeln zu sein.

Und ausgerechnet er deutet eine möglicherweise zufällige Begegnung zweier Menschen als Skandal?

Hm. Chefreporterin, sei wachsam.

Ilona findet als Erste die Sprache wieder. »Also wenn die beiden zusammen etwas aushecken oder wenn die sich irgendwie ineinander verguckt hätten – das wäre schon ein Knaller.«

Ich hole tief Luft. »Um das jetzt mal klarzustellen: Wenn sie etwas austüfteln, was die Schulen betrifft – ja, das wäre spannend zu erfahren. Und es wäre ein guter Aufmacher. Aber: Wir sind kein Klatschblatt. Falls es wirklich so sein sollte, dass die privat was am Laufen haben, dann geht uns das einen feuchten Dreck an. Dann sollen sie knutschen, bis sie Sterne sehen – wir tun so, als hätten wir nichts mitbekommen und schweigen diskret.«

Marvin hat während meiner Worte erst gekichert, jetzt platzt er vor Lachen heraus und hält sich den Bauch. »Leute, ein Foto von einer mit Dr. Biesenbach fummelnden Helma, das wäre voll der Burner. Da sollten wir nicht unnötig anständig tun. In allen Blättern der Regenbogenpresse, die in der vergangenen Woche erschienen sind, gab es einen Anteil von 95 Prozent versteckt fotografierter … «

Ich werfe meinen Stift auf den Konferenztisch. »Brennt’s bei euch? Wir gehören doch nicht zur Regenbogenpresse. Wir machen seriösen Journalismus. Also, ein Knutschbild von den beiden erscheint nicht in unserer Zeitschrift, solange ich die Chefredakteurin bin.«

Celine legt ihre Hand auf meinen Unterarm, als wäre sie meine Pflegerin und müsse mich beruhigen. Es fühlt sich an, als wolle sie mich mit einem glühenden Bügeleisen versengen. Ich ziehe den Arm weg. »Es hängt davon ab, wie wir das aufziehen. Wir müssen es nicht als Sensation verkaufen. Wir können auch eine ganz objektive Meldung daraus machen, falls an der Sache überhaupt etwas dran ist.«

»Also ich halte jedenfalls die Augen offen«, sagt Marvin nun. »Kann nicht schaden.«

Die anderen nicken und stimmen ihm zu.

Ich finde das alles gerade zum Verzweifeln. Meiner Meinung nach war die Begegnung auf dem Schulparkplatz reiner Zufall. Da läuft nichts zwischen den beiden. Aber ich merke, dass die anderen es nun ganz genau wissen wollen. Und ich kann nur hoffen, dass die Story im Sande verläuft. Sonst habe ich ein echtes Problem, mich gegen die Übermacht meiner Redaktionskollegen zu behaupten.

Wieder signalisiert mein Handy, dass eine SMS eingegangen ist. Mein Herzschlag verdoppelt sich sofort. Manchmal schreibt Leon auch einigermaßen nette Sachen. Doch als ich aufs Display schaue, sehe ich nur, dass die SMS von ihm ist, und schaffe es nicht mehr, den Text zu lesen, denn der Mini-Bildschirm wird schwarz.

Mist, Akku leer.

Jetzt muss ich warten, bis ich zu Hause bin, um sie zu lesen. Hoffentlich finde ich in meinem Chaoszimmer das Aufladekabel … Ich glaube, das letzte Mal lag es hinter dem Schmutzwäschekorb. Wenn es da keiner weggeräumt hat, sollte ich es sofort finden. Der Trick, wenn man zum Chaos neigt, ist, ein gutes Gedächtnis zu haben. Sollen doch alle Freunde, Bekannten und Verwandten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen wegen meiner legendären Unordnung und Schusseligkeit – ich habe das im Griff!

Pech nur, dass der Schultag gerade erst begonnen hat.

Sechs Stunden lang warten und sich ausmalen, was er wohl diesmal geschrieben hat.

Wer ist hier verknallt?

In der nächsten Stunde haben wir Mathe. Ich sitze neben meiner liebsten Lotta, aber wir wechseln nicht ein einziges freundschaftliches Wort miteinander.

Loddar Gerstenberg hat uns beide im Visier und ruft sofort »Hey!« oder »Hoppala!« oder »Kuckuck!«, wenn wir quatschen. Mich guckt er immer ein bisschen strenger an als Lotta, was vielleicht damit zusammenhängt, dass ich für meine letzte Arbeit ein schwaches Ausreichend bekam und Lotta, wie üblich, die volle Punktzahl mit Sternchen erreicht hat.

Außerdem hat er in dieser Woche Verstärkung: In der letzten Reihe sitzt Mark Thomsen. Sobald ich mich umdrehe, sehe ich, wie er sich mit fünf Fingern die Föhnfrisur richtet und nach links unten schaut, wo sein Rucksack geöffnet steht. Hat er da einen Handspiegel versteckt?

Auch andere Mädels aus unserer Klasse drehen sich immer wieder um und stecken danach kichernd die Köpfe zusammen.

Vor Mark Thomsen liegt ein Notizblock. Ob er sich wohl, während er so tut, als protokolliere er die Stunde, einen Einkaufszettel für die Drogerie schreibt?

Aber auf die Gefahr hin, dass ihm Loddar den Auftrag gegeben hat, zu notieren, welche Schüler aufpassen und welche stören, richte ich meine Aufmerksamkeit lieber an die Tafel. Zumindest zum Schein.

Lotta und mir bleibt nichts anderes übrig, als auf die Pause zu warten, um quatschen zu können.

»Was ist los mit dir?«, fragt Lotta, als wir Seite an Seite auf den Schulhof spazieren.

»Hm?« Ich wende mich ihr zu wie aus einem Traum erwachend. Einem Albtraum. Schwach nehme ich wahr, dass Lotta irgendwie verändert wirkt. Ihre Haut scheint zu schimmern, ihre Augen zu glänzen. Oder stimmt mit meinem Sehvermögen etwas nicht? Brauche ich etwa eine Brille?

Vielleicht hängt es auch mit ihrem Geburtstag zusammen? Letzte Woche ist Lotta vierzehn geworden. Sie durfte zwar keine Party machen, aber gefeiert haben wir dieses Großereignis trotzdem in unserer Lieblingspizzeria San Marco.

Verändert man sich, bloß weil man ein Jahr älter wird?

Womit muss ich rechnen, wenn es bei mir in zwei Monaten so weit ist? Ich hätte nichts dagegen, so zu strahlen wie Lotta.

»Du bist völlig neben der Spur, Merle. Woran denkst du?« Lotta beißt in ihr Nutellabrot, was mich daran erinnert, dass ich meinen eigenen Pausensnack drinnen in der Tasche gelassen habe. Mist. Dabei habe ich bereits aufs Frühstück verzichtet. Mein Magen knurrt.

Lotta entgeht nichts. Oder gucke ich so verhungert? Sie greift in ihre Frühstücksbox und bietet mir die zweite Hälfte des Pausenbrotes samt einer Papierserviette an.

Lotta denkt an alles.

Lästermäuler könnten sie pingelig nennen, ich finde sie zum Knuddeln. Ich lächle sie schief an, bevor ich hineinbeiße – und prompt ein Stück von der Serviette erwische, das ich mir mit spitzen Fingern aus dem Mundwinkel zupfe. »Danke. Du bist meine Rettung.«

»Aber immer wieder gerne, Miss Chaos.« Lotta knufft mich in die Seite. »Jetzt erzähl schon. Wie war die Redaktionssitzung?«

Wir erreichen unseren Lieblingsplatz an der Mauer, die den Schulhof der Gesamtschule von dem des Gymnasiums trennt.

Amelie und Jenny, die zu unserem Freundinnen-Glückskleeblatt gehören, warten bereits auf uns und winken uns zu. Wir umarmen uns alle und verteilen Küsschen. In Mathe besuchen wir verschiedene Kurse. Warum ich in dem für die »besseren Schüler« sitze, ist mir selbst nicht ganz klar. Nach meinem Empfinden und nach der letzten Arbeit, die ich in den Teich gesetzt habe, passe ich eher in den für die durchschnittlich begabten, den auch Amelie und Jenny besuchen. Nur Lotta ist von uns vieren eine Überfliegerin, sie erreicht in allen Fächern Gymnasialniveau.

Diese verschiedenen Kurse für unterschiedliche Leistungen sind der Grund, warum wir vier alle einen individuellen Stundenplan haben. Nur wenige Fächer besuchen wir gemeinsam. Vielleicht auch ganz gut so. Fällt mir schon schwer, nicht ständig mit Lotta zu quatschen, statt aufzupassen. Mit Amelie und Jenny an meiner Seite käme ich wahrscheinlich im Unterricht gar nicht mehr mit.

»Es gab mal wieder Zoff in der Redaktion«, antworte ich mit einem Seufzen auf Lottas Frage.

Die anderen starren mich an und warten darauf, dass ich weiterspreche. Sie sollten es eigentlich besser wissen. Das meiste, was in der Redaktion besprochen wird, bleibt geheim. So haben wir es mal festgelegt. Ich halte mich fast immer daran.

Die Monatsausgabe der Insight soll für alle Schüler eine Überraschung sein. Die Themen dürfen sich nicht schon vorher herumgesprochen haben. Von Lotta weiß ich, dass sie nie etwas weitererzählen würde, aber bei Amelie und Jenny bin ich mir nicht sicher. Die quasseln beide für ihr Leben gern, ohne es wirklich böse zu meinen.

»Wieder einmal alle gegen Merle?« Amelie schiebt sich den Hut aus der Stirn, smilt mich an und knabbert an einem mit buntem Guss überzogenen Donut. Sie trägt meistens irgendeine Kopfbedeckung auf ihren kastanienbraunen Locken. Das passt perfekt zu ihren selbst geschneiderten Klamotten. Amelie hat ein Händchen für individuelles Design und Mode und wirkt auf dem Schulhof manchmal wie ein Papagei unter Pinguinen mit ihren indisch oder afrikanisch inspirierten Klamotten. Heute trägt sie eine Pluderhose in verschiedenen Gelbtönen, darüber ein froschgrünes hautenges Spaghettiträger-Top und auf dem Kopf eine kleine, mit Perlen bestickte Mütze. Ich finde ihren Mut bewundernswert, aber Amelie ist generell ein Adrenalin-Junkie. Am Wochenende spielt sie in brandgefährlichen Rollenspielen in den Bergischen Wäldern mit und schwingt beidhändig die Säbel.

»Wie sonst?«, gebe ich mit Galgenhumor zurück.

»Auch Lasse?«, meldet sich da Lotta zu Wort, die immer noch an der Rinde kaut, während ich das Brot, nachdem ich die Serviette entsorgt habe, mit drei Happs verschlungen habe.

Kreisrunde pinkfarbene Flecken haben sich auf ihren Wangen gebildet. Sie weicht mir aus und betrachtet die Brotrinde, als wüchsen darauf Kulturen.

»Ja, auch Lasse, wieso?«

Die Flecken auf ihren Wangen werden nun dunkelrot. Hallo? »Ich meine nur«, sagt sie und hüstelt. »Ihr habt doch sonst ähnliche Ansichten in Bezug auf Journalismus.«

»Haben wir das?« Ich verschränke die Arme vor der Brust. Lotta scheint sich zu winden. Was hat sie bloß?

Ich kann diesen Gedanken nicht weiterverfolgen, weil mir in der nächsten Sekunde der mit Guss überzogene Donut an den Kopf fliegt, während sich Amelie kreischend um sich selbst dreht und mit den Armen wedelt.

Das Teil bleibt an meiner Stirn pappen. Während ich es abpule, beginnen Jenny und Lotta, Amelie bei ihrem Irrentanz zu unterstützen. »Ist sie weg? Ist sie weg?« Amelie hyperventiliert und setzt sich den Hut wieder auf, der ihr bei dem Gezappel vom Kopf geflogen ist.

»Ja doch!«, ruft Jenny. »Entspann dich.«

Amelie kämpft gegen Riesen und Zwerge, Zauberer und Waldmonster, aber wenn eine harmlose Biene heransummt, rastet sie aus. Sie hat eine regelrechte Insektenphobie. Dies ist nicht der erste Donut, den ich abkriege. Ich reiche ihn ihr, leicht angematscht, aber noch genießbar.

Während sich Jenny und Amelie auf den Schreck eine Dose Eistee teilen, fällt es mir auf einmal wie Schuppen von den Augen.