musse-frontcover-800px.jpg

1329.png

Vom Glück des Nichtstuns

Muße statt Pädagogik

Ulrich Klemm

Bertrand Stern

Einleitung

Um den deutschen Begriff Muße können uns so manche Menschen beneiden: Für diese eigenartige und eigenständige Kategorie der Betrachtung des Lebens und des Menschen gibt es längst nicht in allen Sprachen ein entsprechendes Wort! Umso erstaunlicher ist es, daß sich, wenn in der deutschen Sprache von »Muße« die Rede ist, oft drei denk- und merkwürdige Assoziationen einstellen: Wo die einen die Muße mit der gottähnlichen, die Kunst beflügelnden Muse verwechseln, drängt sich für andere bei der Muße das Müssen auf, während noch andere hier spontan an den lasterhaften Müßiggang denken. Sollte der Wandel von der Muße zum Müßiggang typisch sein für die Verfremdung einer Zivilisation, die bemüht ist, alles Lebendige einer zielorientierten, zweckhaften Absicht zu unterwerfen? Dann könnte gerade der besondere Begriff »Muße« eine im Bekenntnis zum Nichtstun begründete Einstellung zum Leben ausdrücken – und damit einen Widerstand gegen zivilisatorische Versuche der Vereinnahmung und Verfremdung anzeigen. Ist es nicht ebenso beneidenswert wie wunderbar, daß wir in der deutschen Sprache eine für sich selbst stehende Lebensqualität so umschreiben können?

Nach Vorliegen der zwei ersten Essays dieses Bändchens fiel mir auf, daß das Thema meines Vortrags: »Kreativität: Zauberwort? Falle? Chance? Was wird aus dem kreativen Menschen gemacht?« (dessen Gestaltung ich beibehalten habe) unserer beider Absichten bestens ergänzen würde, kann doch das Kreative gewissermaßen als eine Konkretion der Muße betrachtet werden. Den Zusammenhang von Muße und Kreativem möge das folgende Bild veranschaulichen: Die in einer Oase wachsenden grünen Palmen bedürfen, um in der unwirtlichen Umwelt der Wüste zu gedeihen, des Wassers; nun vergleiche ich das Kreative mit den Palmen – und das Wasser des Lebens mit der Muße. Wo der Müßiggang und die Kreativität verfremdende Umkehrungen des Eigentlichen sind, wohnt der Muße die Chance inne, dem Arbeitswahn durch ein Bekenntnis zum Nichtstun zu begegnen, zumal diese Rückbesinnung auf die Muße die Potenz des darin verwurzelten Kreativen birgt!

Heutzutage ist die Hoffnung üblich geworden, zur erhofften Lösung von bestehenden Problemen auf die Macht des Pädagogischen zu setzen. Die Sackgasse solcher erzieherischen Ambitionen wird besonders deutlich, wenn es um solche Urpotenzen geht wie das Nichtstun. In seinem Beitrag veranschaulicht Ulrich Klemm die Sackgasse solcher Versuche und Versuchungen. Dient das Erkennen, daß aus der Muße kein erzieherischer Stoff zu machen ist, nicht der Erlösung aus dem zum Trauma werdenden Traum einer intendierten Pädagogisierung des Nichtstuns?

Eine technische Kleinigkeit: Gewiß wird sich die eine oder der andere wundern, weshalb ein Autor im Jahr 2010 noch die alte Rechtschreibung benutzt. Die alte Schreibweise ist sozusagen Ausdruck seines gesellschaftspolitischen Protestes gegen die »Neue Schlechtschreibreform«, die er als logisches Ergebnis einer verfehlten Verschulung betrachtet. Weshalb sollten freie Menschen sich diesem staatspädagogischen Diktat unterwerfen?

Das vorliegende Bändchen verstehen wir, seine Autoren, als Anregung zur Reflektion und zur Diskussion. In diesem Sinne freuen wir uns über kritische Rückmeldungen. Und nun, werte Leserin, werter Leser, gilt es nicht etwa, sich dem Nichtstun anzuvertrauen, sondern vielmehr sich der Auseinandersetzung mit der Muße zu widmen…

Bertrand Stern