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Prosa bei Lektora

Band 10

Sebastian 23

Ein Kopf verpflichtet uns zu nichts

ganz ohne Musik von Arthur Schopenhauer
dafür mit Vorwort von Lars Ruppel

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Zweite Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten
Copyright 2008 by

Lektora GmbH

Cover: Karsten Lampe
Satz: Ludger Stücke, Paderborn

ISBN: 978-3-95461-012-9

Lachen soll man und zugleich philosophieren.

Epikur

Ich wollte glücklich sein. Also fuhr ich zur Müllkippe nach Ossendorf.

Peter Licht

Voll die Zuckerwatte

Ich habe Sebastian einen Schlüssel zu meinem Haus gegeben. Ich kann nur jedem raten, mir gleich zu tun. Denn dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass er mal vorbeikommt. Seine Schritte schallen durch das Treppenhaus und sein Rücken biegt sich ächzend unter seinem schweren Rucksack. Die Wohnungstür öffnet sich und ein „Hallo ihr Süßen!“ zuckert durch den Raum. Bald brüht Kaffee und er hat Kekse aus fernen Bundesländern mitgebracht. Seine Fingerkuppen tragen Furchen von Gitarrensaiten und erzählen von gegriffenen Akkorden. Seine Lippen sind ständig spröde, denn er spricht sehr viel, benutzt aber nie wohltuende Pflegeprodukte. Seine Kleider riechen nach Rauch und Mikrofon, nach ICE-Toilette und Ferne.

Ich kenne niemanden, der so unstet, so ungreifbar ist wie diese notorisch kurzhaarige Pottsau. Und doch ist er mein beständigster Freund. Was ich schon immer sagen wollte: Huld! Huld! Klasse-Typ, dieser Sebastian.

Viele der hier abgedruckten Texte habe ich noch nie vorher gelesen. Dabei schnuppere ich oft in seinen Sachen herum und meinte, einen Überlick über sein Schaffen zu haben. Pustekuchen. In seinem Zimmer muss es eine unentdeckte Schublade von der Größe eines Ponys geben. Ich bin nun seit 6 Jahren mit ihm unterwegs und habe durch Beobachtung gelernt, dass er immer besser wird. Und wenn ihn nicht der Blitz beim Joggen trifft, wird er noch lange mit einem Mikrofon im Gesicht auf der Bühne stehen und Spaß bei der Ausübung seiner Leidenschaft haben. Mit einem feisten Grinsen füllt er die Wörter mit Leben, die wir nun auf Papier gebändigt in der Hand halten. Dabei behandelt der ausgebildete Philosoph die ganz großen Themen mit einer unverwechselbaren sprachlichen Unbeschwertheit. Seine Texte fordern auf, dem Leben Besseres abzugewinnen, loszugehen und Berge zu besteigen.

Man fühlt sich für die Länge eines Gedichtes sehr gut. Ich finde, die Länge eines Gedichtes‘ ist eine tolle Maßeinheit. Es hört sich an wie die richtige Dauer für guten Sex und die exakte Kochzeit eines mittelharten Eis. Kann schon sein, dass sich diese Redewendung durchsetzen wird, denn durch Poetry Slammer, wie Sebastian einer ist, verbreitet sich eine neue Freude an der Poesie in den Sinnen der Menschen. Das ist eine ganz hervorragende Entwicklung und sie verdient es gewürdigt zu werden. Da ist einer, der lässt durch seine Gedichte heere Mengen Zuschauer toben. Wenn er will, dann weinen seine Zuhörer zweimal am Abend. Ganz im Sinne von Rudi Carells Vater einmal vor Lachen und einmal vor Rührung. Das kann er beides sehr gut.

„Ja ja ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Es werden wieder Lyrik-Bände gedruckt“ heißt es in einem unter Slammern vebreiteten Lied. Wenn sich viele Menschen Bücher wie dieses hier kaufen und ihren Freunden daraus vorlesen, dann swingt fortan der (geistige) Aufschwung fröhlich durch die Köpfe der Menschen. Da bin ich fest von überzeugt, auch wenn ich den Titel des Buches nicht verstehe.

Lars Ruppel

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins – Die Sonne ist der Untergang des Abendlandes

Die Welt ist doof

Identität

Der Mann auf dem Mond

Online sein

Prank und Lutzusch

Das Fernsehgleichnis

Auf dem Dach

Marie-Antoinette

Hinauf

V.G.A.

Teil Zwei – Erdmännchen

Warmer Regen

Interview mit einem Nihilisten

Meine Generation

Interview mit keinem Nihilisten

Wittgenstein

Wenn man

At the end of the longest line

Leid des Lyrikers

Rapide Rapante

Pronk und Litzisch

Gemischte Gefühle

Siegel

Freihändig

Wie ich mir vorstelle, 60 zu sein, und mir dabei vorstelle, 16 zu sein

Alter Ego

Die Geschichte der Zahlen-Kombie-Nation

Hinauf 2

Teil Drei – Das Tal im Berg

Manchmal

Nachtschattengewächse

Für eine Sekunde

Fallen lassen

Gipfelgymnastik

Teil Vier – Reflektierte Melone

Antwort

Ich lüge immer

Eine wie Heinos

Argumentative Geschichte

Auflösung

Wenn alles einfach wäre

Unter der Oberfläche

Der Mythos von Chaos und Ordnung

Wie ich mal ins Radio kommen wollte

Prenk und Letzesch

Der Himmel unter Berlin

Duisburg Hauptbahnhof

Horst

Teil Fünf – Molche und Elche

Molchige Kontaktaufnahme

Höfe und Häfen

Karibik

Kaffee mit reingedrehtem Bas

Zum Teufel

Übertrübungen

Underground im U-Bahnhof

Revolution von Unten

13,7 Milliarden Jahre Universum

Weiß

Ärger die Monotonie

Teil Eins

Die Sonne ist der Untergang des
Abendlandes

Bete, dass es irgendwo im Weltraum intelligentes Leben gibt, denn hier auf der Erde gibt es nur Arschlöcher.

Monty Python

Die Welt ist doof

(Eine urdeutsche Motivationsrede)

Es ist manchmal schon schwierig, mein Freund, aber du solltest versuchen, immer negativ zu denken.

Konzentrier dich einfach darauf, jeder Situation etwas Schlechtes abzugewinnen! Sonst gerätst du in einen Teufelskreis aus Glück und guter Laune, aus dem du nur ganz schwer wieder rauskommst!

Auch wenn grade die Sonne scheint, besinne dich, dass es bald schon wieder regnen wird und stürmen und hageln und schneien, und riesige Brocken Kotze werden vom Himmel fallen!

Auch wenn es grade gut läuft mit dir und deiner Freundin, konzentrier dich darauf, dass sie bald fremdgehen wird und schwanger werden wird vom Anderen, aber das sagt sie dir nicht sofort, sondern wartet bis nach der Geburt und verlässt dich dann und lässt dich Alimente zahlen. Und dann erzählt sie allen die Sache mit deinem Du-weißt-Schon.

Auch wenn dein Job grade o. k. ist, glaube daran, dass du bald rausfliegst, weil nämlich dein Chef derjenige ist, der deine Freundin geschwängert hat, und jetzt muss er immer, wenn er dich sieht, so lachen, dass er sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren kann.

Auch wenn du grade eine schöne Wohnung hast, denke fest daran, dass du sie ohne Job nicht bezahlen kannst. Und dann musst du wieder zu deinen Eltern in den Keller ziehen und all die Popel, die du früher dort in die Ritzen geschnippst hast, starren dich an und rufen: „Loser, Loser!“

Auch wenn du grade gesund bist, glaube an das Schlechte, bald schon wird dir eine Zyste am Auge wachsen und dann fault dir die ganze Rübe ab und dir bleibt nur der Hals mit einer kleinen Öffnung zur Ernährung, in die du dann immer Magermilchpulver kippst, weil du mittlerweile gegen alles andere allergisch geworden bist.

Auch wenn du grade schön bist und klug, das vergeht und zwar zackig. Bald schon bist du nur noch ein faltiger Haufen Haut, der sabbernd über die Pferde schimpft, weil die den Eseln alle Arbeitsplätze wegnehmen.

Lache nicht, mein Freund, senke deine Mundwinkel!

Die meiste Zeit seines Lebens verbringt der Mensch damit, sich Gedanken über Probleme zu machen, die er niemals haben wird.

Und warum macht der Mensch das? – Damit es ihm schlecht geht!

Und was für alle schlecht ist, kann für dich doch nicht gut sein. Also nimm dir ein Beispiel!

Sei nicht einfach immer grundlos glücklich!

Sag: „Chaka! Ich bin Scheiße!“

Identität

Im tiefen, klaren Ozean

schwimmt ein gestörter Pavian!

Er leugnet dreist sein Affentum

und sucht nun bei den Fischen Ruhm!

Er hat sich einfach kahlrasiert,

ein Schuppenmuster tätowiert,

und gleitet so durchs weite Blau:

Er träumt von einer Thunfisch-Frau!

Jedoch die Fische, die er trifft,

wirken auf ihnen wie bekifft!

Er gibt sich ernst, doch was er macht:

Er wird vom Fischvolk ausgelacht!

Der Grund dafür ist leicht erraten,

er wird ihn nie los, den Primaten,

und imitiert den Hochseehecht

Zwar leidenschaftlich, aber schlecht!

Frustriert kehrt er zurück an Land

und zahlt so seiner Gene Pfand!

Doch ziemlich schnell findet er raus:

Jetzt lacht man ihn hier auch noch aus!

Die Schuppen-Tatoos geh’n nicht ab:

Er bleibt ein Halb-Fisch bis zum Grab!

Verloren zwischen beiden Welten,

kann für ihn ein Ziel nur gelten!

Er hebt voll Zuversicht die Arme

Und fängt zu Flattern an

Und fliegt zur Sonne, in das Warme

Als ein Vogel-Pavian!

Der Mann auf dem Mond

Kugelrund und bleich und gelb schwebt er an der umgedrehten Himmelsschüssel. Er ist der treue Begleiter, der alte Weggefährte, der uns im Dunkeln nicht alleine lässt mit unseren Träumen.

Sein Zu- und Abnehmen, sein Auf- und Abgehen, sein Leuchten, nein, sein Beleuchtet-Werden, alles ist uns so vertraut, dass wir es gar nicht wahrnehmen, wenn wir nachts durch die Gassen unserer Städte irren.

Seine Krater, seine Furchen, seine Narben: Sie erzählen die Geschichte seines langen und schwierigen Lebens. Und unsere Phantasie malt uns darin vertraute Gesichter, verwunschene Märchengestalten und schließlich finden wir unser eigenes Spiegelbild, so, wie er das Licht der Sonne spiegelt.

So sehen die Menschen den Mond von unten und so habe ich selbst ihn als Kind immer betrachtet, als wäre er ein großer Magier, der über seinem Publikum fliegt und sich in alle möglichen Dinge verwandelt.

Heute aber sehe ich ihn mit anderen Augen.

Ich sitze hier an einem Kraterrand auf dem staubigen Boden in meinem glänzenden Raumanzug und am Horizont geht langsam die Erde auf. Ich sehe ihr dunkles Blau, ihr Grün, ihr Gelb, umspült von watteweißen Wolken, die wirbelnde Kreise ziehen.

Sie haben mich hier oben vergessen.

Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Und wenn ich den Funksprüchen aus dem Apollo-Raumschiff glauben kann, haben auch die anderen keine Ahnung, wie das passieren konnte. Es tut ihnen, so sagen sie mir immer wieder, wirklich leid.

Aber in einer Landefähre gibt es nun mal niemanden, der nachzählt, ob alle da sind. Das ist schließlich eine Mondmission und keine Kindergartengruppe.

Ich kann euch sagen, es geht einem einiges durch den Kopf, wenn man grade Bodenproben genommen hat, sich umdreht und sieht, wie die Landefähre sich vom Boden hebt und sich im Dunkeln auflöst!

Sorry, Buzz, sagen sie, aber ich müsse verstehen, dass sie nicht genug Treibstoff hätten, um noch einmal zu landen und mich abzuholen. Und so sitze ich hier auf dem Boden, die Fahne, die Armstrong kurz zuvor in den Boden gerammt hatte, ist alles, was mir jetzt noch bleibt. Und selbst die hängt lustlos an ihrem Mast runter wie ein erhängter Matrose.

Heute ist wirklich nicht mein Tag. Erst darf dieser Lackaffe Armstrong als Erster raus, klaut auch noch meinen schönen Spruch und dann vergisst er mich hier! Von wegen großer Schritt für die Menschheit! Ich denke, der Menschheit geht langsam die Luft aus. Aber vielleicht schließe ich da nur wieder von mir auf alle anderen …

Die Erde hat sich mittlerweile ganz über den Mondhorizont gehoben. Gar nicht so groß, wie man immer denkt. Von hier aus gesehen ist sie auch nur ein bunter Mond.

Ihr Zu- und Abnehmen, ihr Auf- und Abgehen, ihr Leuchten, nein, ihr Beleuchtet-Werden, alles ist uns so vertraut, dass wir es gar nicht wahrnehmen, wenn wir nachts durch die Gassen unserer Städte irren.

Sie ist kugelrund und bleich und schwebt an der umgedrehten Himmelsschüssel. Sie ist die treue Begleiterin, die alte Weggefährtin, die uns im Dunkeln nicht alleine lässt mit unseren Träumen.

Online sein

(Nein, ich möchte keinen Problembericht an Microsoft senden!)

Ich bin online.

Ich bin so online, dass ich Liebesbriefe in HTML schreibe. Und Lieder in Leet.

Ich bin so online, dass mein Avatar mir ähnlicher sieht als mein Spiegelbild.

Ich bin so online, ich klicke meine Freundin zweimal an, wenn ich Sex möchte. Hab ich Freundin gesagt? Ich meinte Maus.

Ich bin so online, ich lach nicht mehr, ich sage LOL.

Ich bin so krass online, ich sitze @ Schreibtisch und klaue Texte @ Lars.

Ich bin so voller Internetsprache, dass Kommunikation mit meiner Oma unmöglich geworden ist.

„Junge, möchtest du einen Keks?“

„ROFL. Yeah, ihr Noobs, Oma owned euch alle @ Keksbacken.de!“ Doppelpunkt, Klammer zu.

Egal.

Denn ich bin so online, ich hab eine Flatrate beim Pizzataxi und der Gegenwert meines Flaschenpfandes macht meine Wohnung zum postmodernen Bernsteinzimmer.

Ich bin so online, ich kann mein E-Mail-Passwort schneller tippen als meinen Namen.

Ich bin so online, ich bin ein Diener des Servers. Serve of the Servants somehow.

Ich bin so online, ich kann grade noch von 0 bis 1 zählen …

Ich bin so newsletter, ich weiß weit und breit über jeden Scheiß Bescheid.

Ich bin so Secondlife, dass die Realität bei mir die zweite Geige spielt.

Ich bin so Counterstrike, ich hab gar keine Zeit mehr in die Schule zu gehen und Amok zu laufen.

Ich bin so google, dass ich den Sinn des Lebens gegoogelt und gefunden habe. Ja, das geht.

Ich bin so ICQ, dass ich sogar das fiese Nebelhorn beim Hochfahren liebe.

Ich bin so flickr, weil mich die flackernden Bilder auf lodernden Bildschirmen locken.

Ich bin so MySpace, ich hab über tausend Freunde. In echt.

Ich bin so Popup-Werbung … Plöpp. Herzlichen Glückwunsch! Sie sind der 1.000.000ste, der mich fragt, warum ich ausgerechnet Sebastian 23 heiße. Sie gewinnen einen nagelneuen genervten Gesichtsausdruck. Fenster schließen.

Ich bin so youtube, denn youtube killed the video star.

Ich bin so StudiVZ, nenn mich Gruscheltier.

Ich bin so gmx, komm, lass uns den eh schon fast toten Postboten töten.

Internet-Männer haben keine Gefühle. Internet-Männer haben Smilies.

Und ich bin so up to date, ich weiß natürlich, dass es längst nicht mehr Smilies heißt, sondern Emoticons. Ich kann sogar das Papst-Emoticon: +<:-) Ich hab nur die Mail noch nicht geschrieben, in der ich das verwenden könnte. Aber eines Tages!

Ich bin so online, ich sage euch, die Realität ist überbewertet. Was ich an der Wirklichkeit bewundere sind höchstens die hohe Auflösung und die Farbtiefe. Was benutzt dieser Gott-Typ für eine Grafik-Karte? Echt krass.

Ich bin ganz heftig online! Yeah!

Und ihr?

Wer von euch hat keinen mp3-Player?

Wer hat keine Digitalkamera?

Wer weiß jemanden, der keine E-Mail-Adresse hat?