Eine Geschichte vom Überleben
Aus dem Englischen
von Beate Schäfer
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel All Fall Down
bei Marion Lloyd Books, an Imprint of Scholastic Children’s Books, London.
Die Übersetzung des Gedichts von Geoffrey Chaucer stammt von Hans Feist und ist dem Band Englische Dichtung: Von Chaucer bis Milton, hg. v. Friedhelm Kemp und Werner von Koppenfels, entnommen, erschienen im C.H. Beck Verlag, München.
ISBN 978-3-446-24565-5
© Sally Nicholls 2012
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2014
Umschlag: Maren von Stockhausen, unter Verwendung von Bildelementen von artant – Fotolia.com
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Unser gesamtes lieferbares Programm
und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Zoe Owlett,
die mit Sicherheit
besonders cool ist.
INHALT
ERSTES BUCH – INGLEFORN
1 Morgen
2 Die Romanze von Vater und Alice
3 Sonntagsmesse
4 Die Flüchtlinge
5 Grenzen
6 Prozession
7 Die Pest
8 Johannisfeuer
9 Freie und Unfreie
10 Kleine Edith
11 Was recht ist, was schlecht ist
12 Wunderglauben
13 An wen wir uns erinnern und wen wir vergessen
14 Der Priesterjunge
15 Küsse gegen die Nacht
16 Ein schlimmer Tod
17 Liebevolle Freundlichkeit
18 Emma Baker
19 Ernte
20 Tote und Teufel
21 Mein Bruder Geoffrey
22 Ein Festtag, ein Feiertag
23 Heute
24 Mein Bruder Edward
25 Bei Kerzenlicht
26 Isabel allein
27 Durch Rauch atmen
28 Im Haus
29 Der Jüngste Tag
ZWEITES BUCH – YORK
30 Thomas
31 York
32 Das Haus Gottes
33 Die andere Familie
34 Matilda
35 Zetermordio
DRITTES BUCH – DAHEIM
36 Noch mal Thomas
37 Robin im Mondlicht
38 Am Leben sein
39 Zum Stern
40 Abschiednehmen
41 Aus offenem Grab
42 Finis
Historischer Hintergrund
Glossar
ERSTES BUCH
INGLEFORN
Mit eigenen Händen bestattete ich meine fünf Kinder in einer Grube. Es läuteten keine Glocken mehr, und niemand weinte. Dies ist das Ende der Welt.
Agnolo di Tura
1348
In dem Jahr, als ich dreizehn wurde, regnete es vom Mittsommerfest bis Weihnachten ununterbrochen. Graue, nasse Schafe standen dicht zusammengedrängt auf den Feldern, bekamen die Viehseuche und starben. Hafer, Gerste und Roggen hatten staksige und schwache Stängel, wenn sie überhaupt wuchsen. Vor dem Mahlen musste man grünlichen Schimmel von den Körnern kratzen. Wir litten die meiste Zeit über Hunger, und in den Dörfern weiter oben im Tal starben Leute.
Reisende, die von York her durch Ingleforn kamen, erzählten von seltsamen Vorkommnissen in weit entfernten Ländern. Dort gab es Erdbeben und Vulkanausbrüche und eine neuartige Krankheit, die die Stadtbewohner befiel und keine Menschenseele am Leben ließ. Die meisten Reisenden amüsierten sich scheinbar über diese Katastrophen.
»Ein schlechtes Jahr für die Franzmänner«, sagten sie zum Beispiel. Oder: »Paris liegt offen da für König Edward, er muss es sich nur nehmen.«
Sogar die umherziehenden Geistlichen, die Einsiedler und Ordensbrüder, die Prediger und Ablasshändler schienen angetan von den Verwüstungen auf der andern Seite des Meeres.
»Gott hat seine Engel ausgesandt, die Frevler vom Antlitz der Erde zu fegen!«, riefen sie, und die Dorfbewohner nickten und seufzten und waren wie die Geistlichen der Meinung, in Kastilien, Aragon und Frankreich müsse es wirklich furchtbar viele Frevler geben.
Doch im Jahr des Herrn 1348 änderten sich die Geschichten. Die Krankheit sei nach Bristol gekommen, erzählten manche. Erst war es nur ein Gerücht; aber als immer mehr Reisende das Gleiche sagten, begannen wir es zu glauben. Dann kam die Krankheit – die Pest – bis nach London. London!
Jetzt erzählten die Prediger und Ablasshändler, Einsiedler und Ordensbrüder eine neue Geschichte.
»Das Ende der Welt ist nah!«, sagten sie, die Augen glühend vor Rechtschaffenheit, die Haare ungebärdig und wild. »Buße, tut Buße!« Die Dorfbewohner standen in Grüppchen zum Reden beisammen, und ein paar Wohlhabendere – die Besitzer kleiner Güter, die Freisassen und Yeomen* – sprachen davon, ihr Land zu verkaufen und Richtung Norden zu ziehen, nach Duresme oder in die wilden Gegenden noch weiter nördlich, vielleicht sogar bis Schottland, als könnten sie sich dort vor dem Zorn Gottes verstecken. Die meisten aber schüttelten die Köpfe und bissen die Zähne zusammen. Ihnen fehlten die Mittel, sie konnten nicht fliehen. Oder sie waren Leibeigene von Sir Edmund wie wir und hatten sowieso keine Wahl.
Schon damals wussten wir, das Jahr 1349 würde entsetzlich werden.
Aber wie groß das Entsetzen wäre, konnte sich keiner von uns ausmalen.
* Historische Begriffe und ungebräuchliche Namen werden im Glossar am Ende des Buches erklärt.
Sonntag, früh am Morgen, Anfang Juni. Noch ist es dunkel, das aschgraue Licht kurz vor Sonnenaufgang. Unten weint mein Bruder Edward, unser Baby. Neben mir drückt Ned sein Gesicht ins Kopfpolster und stöhnt, aber ich liege da und lausche. Alice klettert aus dem Bett, ich höre es knarren. Einen Augenblick später läuft sie über den Lehmboden. Ich drücke mich auf die Ellbogen, tue den Vorhang beiseite und spähe nach unten. Alice hat nur ein wollenes Unterkleid an und die Schlafhaube auf. Ihre strohblonden Haare sind ganz zerzaust, wie immer am Morgen. Sie lässt sich auf einen Schemel sinken und öffnet das Unterkleid. Ich sehe ihre schweren, fleckigen Brüste. Edward schreit nicht mehr, sondern fängt an zu saugen. Alice merkt, dass ich ihr zuschaue, und hebt den Blick. Sie lächelt.
»Bist du wach?«, fragt sie. »Zieh dich an und weck die andern, ja? Jemand muss Wasser holen.«
Ich habe eine große Familie. Vier Brüder, zwei von ihnen älter, zwei jünger als ich, und eine kleine Schwester. Meine großen Brüder wohnen nicht mehr bei uns. Richard hat für sich und seine Frau Joan eine Kate gebaut, am andern Ende vom Dorf. Nach Richard kommt Geoffrey, mein Lieblingsbruder. Mit elf ist er in die Abtei von St. Mary gezogen. Er will Priester werden.
Danach komme ich, dann Ned, neun Jahre alt und mit roten Haaren, und dann Margaret, die Kleine in der Familie, trotz Baby Edward. Die beiden liegen zusammengerollt neben mir auf der Matratze. Ich schüttele Ned.
»Nedkin, Zeit zum Aufwachen.«
Ned seufzt und rollt sich noch fester zu einem kleinen, warmen Ball aus Ellbogen und Knie.
Margaret schläft noch, mit einer strohblonden Haarsträhne im Gesicht. Wachwerden fällt ihr leicht, sie klappt ihre blauen Augen auf und strahlt mich an.
»Ist jetzt Morgen?«
»Ja. Komm, zieh die Kleider an.«
Vater hat den Zwischenboden für uns eingezogen, eine Holzbühne unter dem Dreieck des Hausdachs. Der Boden hat genau die richtige Größe für unsere Matratze aus Sackleinen und Heu. Im Winkel zwischen Dachschräge und Boden sind Getreidesäcke, Talglichter und aufgerollte Seile verstaut. Keine Ecke bleibt ungenutzt.
»Ned!« Ich schüttle meinen Bruder noch mal. »Mach schon!«
Ich ziehe mir den Kittel über und klettere barfuß die Leiter hinunter. Maggie kommt mit ihrem Kleiderbündel hinterher. Ich helfe ihr, die Schuhe zuzumachen, und zerre den Kamm durch ihre Haare. Sie jammert.
»Das tut weh!«
»Schon gut.«
Alice nimmt mir den Kamm aus der Hand und macht sich geduldig an Maggies wildem Haarschopf zu schaffen. Ich hocke mich auf die unterste Stufe der Leiter und streife im Dunkeln meine Hose über. Alice hat noch kein Feuer gemacht, und die Läden vor den schmalen Fenstern sind geschlossen. Ich zittere in der Kälte.
Die Herdstelle ist in der Mitte. Alice’ Krüge und Töpfe und Becher stehen auf Borden hoch über dem Tisch, damit die Tiere nicht drankommen. Alles, was wir sonst jeden Tag brauchen, ist an den Wänden aufgereiht – Eimer und Sicheln und Säcke mit Gerste, außerdem ein halb volles Fass Dünnbier und Alice’ Webstuhl mit einem angefangenen Tuchballen. Der Verschlag unter unserm Zwischenboden ist mit einer Decke zugehängt, die Vater an den Querbalken genagelt hat. Dahinter ist das Bett von Vater, Alice und Edward.
Hinter der Flechtwand am andern Ende wacht langsam das Vieh auf. Unsere Kuh Beatrix schnaubt mich an. Wir haben zwei Ochsen für den Pflug, eine Kuh, ein Schwein, acht Hühner und einen jungen roten Hahn. Vater sagt immer, er will einen Kuhstall bauen, tut es aber nie. Mir macht das nichts. Ich finde es gemütlich, dass wir alle zusammen schlafen, ich mag das eigenartige Schnauben und Atmen der Tiere in der Nacht und ihre Wärme im Winter. Ihr kräftiger, erdiger Geruch passt gut zu den andern Gerüchen im Haus, zu Holzrauch und Stroh und zu Thymian und Rosmarin.
Ich heiße Isabel. Ich bin vierzehn Jahre alt und kann mir nicht vorstellen, jemals ein anderes Leben zu führen als das hier.
Wie furchtbar falsch ich damit liege.
»Fertig«, sagt Alice, und Mag auf ihren Knien lehnt sich zurück. »Du siehst aus wie ein Mädchen, das Wasser holen will. Ned? Schläfst du immer noch? Am Ende steht die Sonne früher auf als du, dabei wissen wir alle, was die für ein Langschläfer ist! Komm schon.«
Aber die Sonne ist schneller als Ned und taucht die zerzausten Wolkenfetzen in ein blasses Frühmorgenrosa. Der Sommer kommt. Das spüre ich, als ich auf dem Weg zum Brunnen den leeren Eimer hin und her schlenkere. Bald kommen Sonnenschein und Erntezeit, bald gehen wir im Fluss bei der Kirche schwimmen. An einem Morgen wie heute scheint die Krankheit weit weg zu sein.
Unser Haus steht am Rand des Dorfangers im Schatten von zwei großen Hainbuchen, etwas abseits von den andern Gebäuden im Dorf. Bis zum Brunnen ist es nicht weit. Ich laufe übers Gras, vorbei an den Dorfhäusern. Bei der Wassermühle, um den Anger herum und beim Fluss stehen die Häuser dicht an dicht, aber je weiter man sich von der Kirche entfernt, desto mehr Platz gibt es zwischen ihnen. Die Kirche liegt in der Mitte von Ingleforn. Hier sind auch die Schmiede und das Backhaus und die Dorfeiche, wo der Verwalter von Sir Edward dreimal im Jahr Gericht hält. Auf der andern Seite vom Friedhof liegen die Schießstände, an denen alle gesunden Männer das Bogenschießen üben müssen. Wobei Sir Edward es nicht weiter schlimm findet, wenn sie es manchmal vergessen, vor allem in der Erntezeit oder wenn Heu gemacht wird.
Die Straße aus York läuft, so weit wie ich ihr gefolgt bin, immer am Fluss entlang. Über die Brücke bei der Wassermühle kommt sie ins Dorf und führt an der Kirche und dann vor unserm Tor vorbei. Fast jeden Tag sind Fuhrleute unterwegs, und im Frühling ziehen Pilger zum Grab des heiligen William von York, außerdem gibt es Wanderprediger, Kaufleute, Aussätzige, Verrückte und heilige Narren.
Die beiden großen Dorffelder – das bei den drei Eichen und das am Hügel – liegen vor unserer Tür, das eine rechts, das andere links. Vater bestellt fast eine ganze Landhufe, aufgeteilt zwischen beiden Feldern. Auf der Rückseite vom Haus liegen ein Wäldchen und dahinter das Herrenhaus von Sir Edward. Zu den Weihnachtsfeierlichkeiten gehen wir hin, sonst halten wir uns lieber fern. Die Reichen sollst du nicht stören, dann stören sie dich auch nicht. Sir Edward hat in Devon noch ein Anwesen, das größer ist, und dazu ein geräumiges Haus in London, dort lebt er die meiste Zeit des Jahres. Gott schütze ihn.
Hinter dem Herrenhaus ist das nächste Dorf, Great Riding, und hinter den entlegensten Feldern von Great Riding liegt die Abtei, in der mein Bruder Geoffrey lebt. Hinter der Abtei kommt Riding Edge und dann immer weiter Ackerland – eine flache, fruchtbare Landschaft, ideal zum Pflügen. Sie breitet sich bis nach York hin aus, das zwei Tagesmärsche von hier entfernt liegt. In York war ich noch nie. Alice sagt, es ist den weiten Weg nicht wert.
»Hier sein ist besser, Isabel. Hier sein ist besser!«
Am Brunnen sind schon viele Frauen und Kinder. Sie nicken mir zu, alle noch schläfrig und zerzaust. Die pummelige Amabel Dyer mit den Kupferhaaren lächelt mich an. Sie ist ungefähr so alt wie ich, und wir verstehen uns gut.
Die Frauen stehen zusammengedrängt und reden.
»Jetzt ist sie schon in York!«
»York!«
»Fünfzig sind tot, hab ich gehört.«
»Hundert, heißt es.«
»Mein Mann sagt, die Straße aus York ist voll von Leuten, die Richtung Norden wollen. Auf Pferden und Ochsenkarren, und Reiche in ihren vornehmen Sänften, die sich von Dienern tragen lassen, statt zu laufen.«
Amabel Dyer und ich sehen uns an.
»Stimmt das mit York?«, flüstert sie. »Weiß Geoffrey was?«
Mein Bauch wird hart.
»Nie im Leben«, verkünde ich. »Das ist doch bloß Gerede.«
Aber von der Freude dieses schönen Morgens ist nichts mehr übrig.
York ist nicht mal einen Tagesritt entfernt.
York ist so gut wie hier.
Alice ist meine Stiefmutter und einer der liebsten Menschen auf der Welt, finde ich. Die Geschichte, wie Vater und sie sich gefunden haben, klingt wie aus einem Spielmannslied. Meine Mutter ist bei der Geburt von Maggie gestorben, und danach wollte Vater keine andere Frau mehr. Maggie hat er zu Robins Mutter gegeben, und um Geoffrey, Ned und mich musste sich mein Bruder Richard kümmern. Der war damals fünfzehn und konnte das nicht besonders gut. So mussten wir uns an schmutzige Kleider und angebrannten Eintopf, an abgestandenes Dünnbier und qualmende Feuer mit nassem Holz gewöhnen.
Die Dorffrauen schüttelten die Köpfe und brachten uns vors Gericht, wo Sir Edwards Verwalter anordnete, Vater müsse innerhalb von drei Wochen wieder heiraten. Wenn nicht, würde er eine Frau für ihn bestimmen. Vater kümmerte das nicht. Er nickte bloß und machte so weiter wie vorher. Als der Verwalter Ned und Geoffrey und mich das nächste Mal anschaute, mit unsern roten Augen und zerzausten Haaren, befahl er Vater, Agnes mit der Hasenscharte zur Frau zu nehmen, noch vor dem Mittsommertag.
Schlimm für Vater! Und schlimm für uns. Agnes mit der Hasenscharte ist nämlich ein alter Hausdrachen. Sie ist Spinnerin, macht Garn für die Frauen der Freisassen in Ingleforn und Great Riding und wohnt in einer sauberen kleinen Hütte, in der alles immer genau so ist, wie es sein soll. Sie betrachtete Richard und Geoffrey und Ned und mich mit blankem Entsetzen. Vater presste nur die Lippen zusammen und sagte nichts. Aber am Tag darauf machte er sich Hände und Gesicht sauber, und auch mich hat er gewaschen und gekämmt. Dann sind wir zum Haus von Agnes’ Vater gegangen.
Vater klopfte an die Tür, und Alice machte auf. Ich kannte sie da schon ein bisschen und mochte sie gern. Ihr strohblondes Haar war hinten am Kopf zu einem Knoten zusammengeschlungen. Aber ein paar lange Strähnen waren entwischt und spielten ihr um die Ohren. Ihre großen Hände waren voll Malz, und in ihren Augen war lauter Lachen und Freundlichkeit.
»Ist dein Vater da?«, fragte Vater, und Alice sagte: »Nein, aber komm doch auf einen Happen herein mit dem Kind.«
Drinnen war alles ordentlich gefegt, und die kleinen Brüder und Schwestern von Agnes und Alice tollten ums Feuer herum. Alice gab uns Eintopf, Vater fragte sie nach den Kindern, und ich saß da und wünschte mir ein Zuhause wie dieses.
Nach einer Weile sagte die Mutter von Alice, die Wäsche würde sich nicht von alleine waschen, sie müsse sich jetzt verabschieden. Mit einem letzten Blick auf Alice ging sie nach draußen. Dann saßen Alice und Vater einfach nur mit ihren Essschalen da und guckten ins Feuer.
»Deine Familie ist groß«, meinte Vater, und Alice sagte, ja, mit drei kleinen Geschwistern, und dazu käme ja noch ihre ältere Schwester, nämlich Agnes.
»So gefällt mir das«, sagte sie. »Ein Haus ohne Kinder wär nichts für mich.«
»Bei uns gibt es vier«, erklärte Vater. »Und das Baby. Mehr Arbeit für eine Frau, als man irgendwem antragen kann.«
»Agnes sicher nicht!«, lachte Alice. »Wenn ihr mich fragt: Der dumme Fettsack hat keine Ahnung, welche Last sie für euch wäre.«
»Wärst du denn für die Kinder da?«, fragte Vater. Alice schaute ihn an und war gar nicht überrascht.
»Ich möchte aber auch ein eigenes«, sagte sie, und Vater nickte.
»Gut.«
»Na dann«, sagte sie, und das war’s. Nach der nächsten Messe wurden sie an der Brauttür verheiratet. Und bald hatten wir Alice alle ins Herz geschlossen, nur Richard nicht, der war nämlich eifersüchtig, weil er der Älteste war. Aber immerhin musste er jetzt nicht mehr auf uns aufpassen.
Bevor Edward kam, hat Alice schon dreimal beinahe ein Baby zur Welt gebracht. Zweimal war das Kind viel zu früh da. Einmal bekam sie ein kleines Mädchen, das nur einen Tag gelebt hat. Aber letztes Jahr kam Edward, und er ist bei uns geblieben.
»So heiß ich doch schon!«, hat Ned protestiert, als wir das Baby zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Und das stimmt, Ned heißt in Wirklichkeit Edward, genau wie sein Taufpate Edward Miller, aber der ist eben auch der Pate von Baby Edward. Wenn die beiden älter sind, können sie als Lehrlinge zu Edward in die Mühle, hofft Vater.
Richard kann Alice nicht leiden. Ihr Baby hasst er. Je mehr Kinder Vater und Alice haben, umso weniger Land bleibt später für jeden Einzelnen übrig, und ohne Land gibt es nichts zu essen.
»Vielleicht heiratet Edward ja die Tochter von einem Lord und füttert uns alle durch«, sage ich zu Richard, aber der guckt bloß finster auf die Krippe und überlegt, wie viele Morgen Land Baby Edward ihm wohl wegnehmen wird.
Die Kirche ist voll, aber keiner hört auf das lateinische Geleier von Sir John, unserm Pfarrer. Die Nachrichten aus York gehen allen durch Mark und Bein, knistern in der Luft wie Wetterleuchten im Sommer. Alle reden nur von der Krankheit.
»In London wird keiner mehr begraben, die Leichen liegen auf der Straße. Wer kann, ist schon raus aus der Stadt.«
»Und die, die nicht können?«, fragt John Dyer leise. Kurz ist es still, alle schweigen, dann setzt das Gemurmel wieder ein.
»Man kann nicht weglaufen. Die Krankheit kommt mit. Hab von einem Mann aus Lynn gehört, der geflüchtet ist. Zu seiner Schwester. Der dachte schon, er hätte’s geschafft. Hatte keine Krankheitszeichen. Zwei Wochen später war er tot. Genau wie die Schwester und alle ihre Kinder.«
»Im Süden gibt’s Gegenden, da lebt keiner mehr. Lauter kleine Dörfer und Häuser, alles leer …«
»York!«
Amabel und ich stehen mit Robin zusammen und lauschen.
»In London sind doch nicht alle tot, oder?«, fragt Amabel.
»Das kann gar nicht sein«, sagt Robin. »Wie viele von den Männern sind in London gewesen? Alles bloß Geschichten.«
»Aber York …«
Wenn ich erwachsen bin, heirate ich Robin. Wir sind schon unser Leben lang verlobt. Meine Mutter war mit seiner Mutter befreundet und auch mit seinem Vater, der an der Halsbräune gestorben ist, als Robin noch klein war. Robin erbt sein Land, wenn er einundzwanzig ist.
Der Klang der Kirchengespräche hat sich verändert. William vom Wald redet laut mit Vater. Er geht weg aus dem Dorf, verkauft sein Land an seinen ältesten Sohn.
»Auf keinen Fall bleib ich da und seh zu, wie Gott meine Kinder dahinrafft«, erklärt er. »Morgen geht’s nach Norden.«
»Und dann?«, sagt Vater. »Wo willst du hin?« Ich schließe die Augen und male es mir aus: William vom Wald hoch oben im wilden Norden, wo keiner ihn finden kann. Bestimmt macht er sein Glück, indem er Bänder und Katzengold verkauft, und seine Töchter kommen als hohe Damen oder Prinzessinnen zurück, mit Hermelinmänteln und weißer Haut.
William spuckt aus und schüttelt den Kopf. »Hoch nach Newcastle«, sagt er. »Dann Schottland. Ist ein raues Land da oben – dort sind wir sicher, denk ich mir. Ich an deiner Stelle würd nicht bleiben, Walt. Pack zusammen, solang’s noch geht.«
Jetzt ändert sich das Bild vor meinen Augen. Robins Familie und meine, unser Hausstand auf dem Rücken von Stumpy und Gilbert, unsern Ochsen, wie wir auf geschwungenen, grasbewachsenen Wegen hoch zu den verrückten Schotten ziehen. In Herbergen schlafen und vor der Pest wegrennen.
Aber Vater holt nur tief Luft.
»Kann sein«, sagt er, und ich weiß, wir brechen nicht auf. Wir können unser Land so wenig verlassen wie Geoffrey das Kloster. Unterwegs wären wir nichts als Bettler oder höchstens Tagelöhner, wenn es gut geht.
»Dann viel Glück«, sagt William und wendet sich ab.
»Glaubst du denn«, fragt Amabel, »dass die Krankheit wirklich bis hierher kommen kann?«
»Nein«, sage ich und meine es auch so. Ich weiß genau: Seuchen und regnende Frösche und Donnerkeile und Belagerungen, bei denen alle sterben, all das gibt es wirklich. Ich bin Leuten begegnet, die haben das mit eigenen Augen gesehen. Aber so was passiert nur weit weg, in fremden Ländern, wo lauter Heiden sind und keiner den Namen von Jesus Christus kennt. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie solches Unheil hier passiert – hier in Ingleforn! –, aber ich schaffe es einfach nicht.
Vorne beim Altar spielen die Musiker die ersten Töne eines Kirchenlieds. Der Chor – mein Bruder Ned ist auch dabei – fängt an zu singen. Ich schließe die Augen. Ich glaube fest, dass Gott die Bösen straft, und ich glaube auch, dass Er durch einen brennenden Dornbusch zu seinen Getreuen sprechen und Gelähmte allein durch die Kraft Seines Wortes heilen kann. Das alles glaube ich.
Aber dass es hier passieren könnte, das kann ich einfach nicht glauben.
Nach der Messe bleiben wir da, um das neue Gemälde an der Kirchenwand zu bewundern. Das heilige Bild soll Gottes Zorn besänftigen, hofft Sir John, und wir werden ihm nicht widersprechen. Ein junger Künstler hat Noah gemalt, der in seiner Arche steht und mit gnädiger Anteilnahme zuschaut, wie die Sünder von der Flut verschlungen werden und ertrinken. Viel sieht man nicht von den Sündern, bloß ihre wedelnden Arme, die Köpfe sind schon unter Wasser.
»Welches ist das frömmste unter Gottes Geschöpfen?«, fragt Sir John.
Emma Baker antwortet: »Der Pelikan.«
»Der Pelikan«, erklärt Sir John, »der sich das eigene Fleisch aus der Brust reißt, um seine Jungen zu füttern:
Gleich einem Pelikane starbst du, Jesus mein;
Wasch in deinem Blute mich von Sünden rein.
Schon ein kleiner Tropfen sühnet alle Schuld,
Bringt der ganzen Erde Gottes Heil und Huld.«
Maggie gefällt das neue Bild, mit dem Elefanten und dem Fabelwesen, die ihre Köpfe aus der Arche strecken, aber Ned findet das an der andern Wand besser, auf dem die Sünder in der Hölle brennen und die Teufel sie mit Mistgabeln stechen.
»Reißt sich der Pelikan wirklich sein Fleisch raus?«, will er von Alice wissen. »Warum?«
»Für die eigenen Kinder tut man das«, sagt Alice. Sie presst Edward an ihre Brust, dessen Kopf aus den Windelbändern guckt. Er macht den Mund auf und sabbert ihr die Schulter voll.
»Du auch? Für Edward?«
»Wenn ich müsste.« Alice ist anders als Noahs Frau im Mysterienspiel, die, als man sie auf die Arche trägt, immer nur jammert und klagt. Wenn ihre Kinder in Gefahr wären, ginge Alice nach draußen und würde Bäume fällen und Bretter sägen, schneller als der Regen fällt.
»Und für mich auch?«, fragt Mag. Alice lacht und fährt ihr durchs Haar.
»Ein großes Mädchen wie dich?«, sagt sie. »Dich würde ich losschicken, einen Pelikan für den Topf holen. Pelikangulasch, klingt nach einem Festmahl, oder?«
Nach der Kirche gehen Robin und ich zum Holzholen in den Wald.
»Stell dir William in Schottland vor!«, sagt Robin. »Meinst du, Robert Bruce macht Kleinholz aus ihm? Ich finde ja, wir sollten auch weg, aber Mutter meint, wir bekämen nicht genug für unser Land, und außerdem will sie Großmutter die Mannsteuer nicht aufbürden.«
»Du würdest aus Ingleforn weggehen?« Schon von dem Gedanken wird mir schwindlig. Ich kenne nichts außer Ingleforn – die Hügel hinter uns, den Wald beim Dorf, das komische Kirchlein mit der verbogenen Turmspitze. Schon als ich noch kleiner war als Maggie jetzt, habe ich auf Vaters Acker mitgeholfen, bin den Schnittern gefolgt und habe die heruntergefallenen Gerstenhalme aufgeklaubt. Wie kann Robin so leichten Herzens ans Weggehen denken?
Robin grinst mich an. »Du guckst schon wieder wie ein Bauer.«
»Wie ein Bauer?«
Er spitzt die Lippen und legt die Stirn in Falten. »Robin, wieso machst du dir nichts aus dem Hafer? Schau mal, die Bohnen, wie schön! Vater hat vier Morgen dazugekauft, da haben wir dieses Jahr noch mehr Arbeit, ist das nicht herrlich?«
Ich schubse ihn. »Besser als dein Gesicht.« Dabei hat Robin ein liebes Gesicht, immer in Bewegung, immer mit lachendem Mund, aber jetzt spiele ich Robin, die Schlafmütze, lasse den Kopf baumeln, die Zunge raushängen und klappe die Augen zu.
»Ach je … gibt’s Arbeit? Warum macht … das nicht … Isabel? Ist so … gemü-ü-ütlich hier …«
»Klingt doch gut«, sagt Robin, zugleich bückt er sich aber und hebt einen Ast auf. Mein Beutel ist fast voll. »Ja, ich würde weggehen. Ich wär lieber arm und am Leben als hier und tot. Hast du von dem Nonnenkloster gehört …«
»Ja, hab ich!« Was im Nonnenkloster passiert sein soll, ist die schlimmste Geschichte von allen – in diesem Jahr voller Schrecken, mit den vielen Berichten über Dörfer, in denen nur noch Tote sind, über Leichen auf den Straßen, die verrotten und von Raben und Schweinen gefressen werden, über verhungernde Kinder neben Feldern voller Korn, das niemand mehr erntet, über Leute, die ihre Angehörigen alleine sterben lassen, sodass keiner mehr da ist, der die Totenglocken läutet oder eine Messe liest.
»Ich glaub nicht mal die Hälfte von dem, was die Leute erzählen«, sage ich zu Robin. »Außerdem kannst du nicht weg. Du gehörst Sir Edmund, genau wie ich, wenn du deine Großmutter nicht für deine Freiheit büßen lassen willst. Also bleiben wir hier. Wozu das Grübeln?«
Ich dränge mich an Robin vorbei und laufe den Hang hoch, der Beutel mit Holz schlägt mir gegen den Rücken, und die Stöcke bohren sich mir ins Fleisch wie Fragen, die keiner hören will. Vielleicht kommt die Seuche nicht bis zu uns. Kann doch sein.
Ich trete aus dem Wald. Und erstarre.
Ein langer Trupp von Leuten zieht aus York die Straße entlang. Außer in kalten Wintern ist die Straße nicht besonders gefährlich, trotzdem reisen die wenigsten Leute allein, denn in den Wäldern gibt es Wegelagerer und Geächtete. Aber einen so großen Zug wie den hier habe ich noch nie gesehen. Menschen und Vieh, Rufe und Stimmengewirr, schrilles Quieken von Schweinen, heulende Kinder. Da sind Reiter, die nichts weiter dabeihaben als das, was in ihre Satteltaschen passt, Packpferde, die mit den Besitztümern ganzer Familien beladen sind, sogar ein Gefährt, das wie ein Heuwagen aussieht und auf dem sich Bettzeug und Möbel türmen, da sind Hühner in Käfigen und launisch herumspringende Gänse, Menschen allein und Menschen in Gruppen, Spielleute und Geistliche, Aussätzige und Bettler neben Familien mit Bediensteten, und da ist sogar eine von zwei Pferden getragene überdachte Sänfte, die gefährlich kippelt, als sich die Pferde durch Matsch und Löcher kämpfen.
Ich höre Robins Schritte hinter mir. Ihm stockt der Atem, er kann nur noch keuchen.
»Wo wollen die hin?«, sage ich, ohne den Blick von der Straße zu lösen. Robin beugt sich vor, stützt die Hände auf die Knie. Er atmet tief durch.
»Duresme. Schottland. Hierher.«
»Doch nicht hierher!« Das geht nicht. Ich weiß, wie sich die Krankheit ausbreitet. Sie wohnt in den Häusern der Armen und Elenden. Übertragen wird sie durch Miasmen – üble Dünste. Wer den Pesthauch von Kranken einatmet, wird selbst auch krank. Um verschont zu werden, muss man die tote Luft mit Lavendel und Rosmarin und Rosenblüten und andern lieblichen Düften abwehren.
»Die bringen die Krankheit her!«, sage ich.
Robin schüttelt den Kopf. »Die wissen Bescheid. Schau da!«
Er zeigt auf zwei Männer aus unserm Dorf, die mit denen aus dem Zug reden. Trotz der Entfernung erkenne ich Gilbert Reeve, den Schultheiß, und Philip de Coverley, den Büttel. Die beiden sprechen mit einem kleinen Knäuel von Männern und zeigen die Straße entlang.
»Die schicken sie weg«, sagt Robin, aber …
»Sie sollen zum Kloster!«
Die Abtei von St. Mary liegt etwa drei Meilen östlich von Ingleforn. Die Mönche werden die Reisenden nicht abweisen. Sie geben allen Obdach – Soldaten, Bettlern, einmal haben sie sogar einen Boten von König Edward bei sich aufgenommen. Aber …
»Aber da ist Geoffrey!«
Robin schaut weg, zurück zur Straße. »Wird schon alles gut gehen, Isabel, ganz bestimmt.«
Doch er denkt an die Geschichte vom Nonnenkloster. Genau wie ich. Eine Truppe von Spielleuten, die im Frühjahr durch Great Riding gezogen ist, hat sie erzählt. Großes Grausen hatte sie erfüllt über ein Kloster in Frankreich, in dem alle Nonnen außer einer die Pest bekamen und starben.
»Man sagt, die Nonnen hätten’s mit Teufeln getrieben«, behauptete der Flötenspieler, worauf die Trommlerin den Kopf schüttelte.
»Sie haben die Kranken aus dem Dorf gepflegt«, sagte sie. »Daran sind sie gestorben.«
»Alle außer einer tot«, staunte Alice.
Die Trommlerin antwortete: »Nur eine war noch da, die Toten zu begraben und ihre Namen in das große Klosterbuch zu schreiben. Danach hat sie sich im Fluss ertränkt.«
Das ist die Geschichte, die uns so viel Unbehagen bereitet. Nonnen – gute Frauen, die den Kranken halfen und Fremde bei sich aufnahmen, wie Gott es von ihnen verlangt. Gerade weil sie so fromm waren, hatten sie sterben müssen. Und die letzte von ihnen hatte sich ertränkt. Ihre offenen langen Haare waren im Wasser getrieben, wie die einer wahnsinnigen Selbstmörderin, und ihre Seele war zur Hölle gefahren.
Das ist die allerschlimmste Geschichte.
Will Thatcher wendet mir den Rücken zu und schaut, wie Gilbert Reeve, der Schultheiß, und Radulf, der Gerichtsdiener, in ihren Pergamenten herumkramen. Er steht kerzengerade, aber sein Helm sitzt schief, und sein Bein ist hinten von oben bis unten voll Matsch. Einer von Edward Millers Hunden schnüffelt an seinen Stiefeln. Will guckt starr geradeaus und tut, als würde er nichts merken.
»Er mag dich«, wispert mir Amabel Dyer zu.
»Psst! Das hört er doch«, wispere ich zurück, ein bisschen zu laut, und wir kichern beide.
Will Thatcher ist sechzehn und einer von Sir Edmunds Soldaten. Er hat bei der Schlacht von Crécy in Frankreich mitgekämpft, im Tross von König Edward. Jetzt bewacht er nur noch das Herrenhaus von Sir Edmund, trotzdem haftet ihm wegen Crécy immer noch ein bisschen Glanz an. Er ist einer der besten Bogenschützen im Dorf und ziemlich hübsch, aber immer wenn er mich sieht, wird er knallrot, und ich muss einfach kichern. Wenn er doch ein bisschen mehr reden würde. Oder überhaupt den Mund aufbekäme.
Alle aus dem Dorf sind auf dem Anger versammelt, unter der Gerichtseiche. Sir Edmund ist natürlich nicht da – er wohnt in London. Ich bin ihm nur einmal begegnet, da war ich noch ganz klein. Mir ist nicht viel in Erinnerung geblieben. Er saß in einem Pelzmantel auf einem großen kastanienbraunen Zelter, und er und sein Verwalter redeten in einer seltsamen Sprache miteinander. Wie Vater mir später erklärte, war das Französisch.
Der Tisch aus der Zehntscheune steht heute unter der Gerichtseiche. Dahinter sitzen Gilbert und Radulf, sie reden im Flüsterton mit unserm Pfarrer, Sir John. Sir John hat Schreibfeder und Tinte aus dem Skriptorium in der Zehntscheune vor sich und fährt unentwegt mit den Fingern über die Feder. Radulf und Gilbert streiten sich – Gilbert fuchtelt mit den Händen. Ich bekomme nicht mit, was sie sagen, aber Radulf schüttelt den Kopf und brummelt vor sich hin. Alice funkelt die beiden böse an.
»Wer ist gestorben und hat die zwei da zum König gemacht?«, murmelt sie und rückt Edward auf ihrer Hüfte zurecht. Edward streckt sein Händchen aus und will an ihrem Schleier ziehen, aber sie schiebt es gereizt beiseite.
»Halb Europa«, antwortet Vater trocken.
Ned legt sich die Hände um den Hals und japst, als wäre er kurz vorm Ersticken. »Und Schultheiß Gilbert – wird – der Nächste –«
Wir sind nicht so viele, wie wir sein sollten. Vier oder fünf Familien sind schon weg. Sie haben ihr Land verkauft, um nach Norden zu ziehen, wie die Leute aus York, die Robin und ich gesehen haben.
Kann die Pest wirklich bis nach York gekommen sein?
Sir John, der Pfarrer, steht auf.
»Man erzählt sich, die Pest ist in Felton«, verkündet er, und ein Angstschauder läuft durch die Menge. Felton ist nur einen Tag weit weg. Ich drehe mich zu Alice um, sie ist blass geworden. Leise betet sie ein Pater Noster.
»Uns bleibt nur die Hoffnung, dass der Herr uns verschont«, sagt Sir John mit lauter Stimme, um den Tumult zu übertönen. »Wir müssen unsere Sünden bereuen und den Herrn demütig um Verzeihung anflehen.«
Dann redet er über zusätzliche Messen und Gebete und Barfußprozessionen. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was ich bereuen könnte. Mir tut leid, dass ich garstig zu Alice war. Mir tut leid, dass ich Ned und Mag angeschnauzt habe. Mir tut leid, dass ich Alice um ihre strohblonden Haare beneide und überhaupt so viel nachdenke über meine Haare, die viel zu schlapp und kupferrot sind. Und mir tut leid, dass ich mich über die Sommersprossen auf meiner Nase gräme und mich frage, wie es wäre, von Will Thatcher geküsst zu werden.
Das klingt nicht nach viel.
Jetzt erhebt sich Gilbert. Als Schultheiß ist er die Hand und die Stimme von Sir Edmund hier im Dorf. Er sorgt dafür, dass wir alle zur rechten Zeit auf den Feldern sind und unsere Pacht zahlen, und den Hauptfall, wenn jemand stirbt. Und er kauft alles, was Sir Edmund für das Gut braucht – Pflüge und Zuggeschirre und Wagenschmiere, Nägel, Hämmer, Hacken und Hobel. Radulf, sein Gehilfe, ist ein großer Mann mit wächserner Haut, einem langen, trübsinnigen Gesicht und hängenden Wangen und einer Frau mit bösem Mundwerk und spitzen Ellbogen, die in alles ihre Nase steckt und gerne Leute kneift. Trotzdem mag ich Radulf. Er redet kaum etwas, aber für Maggie und Edward hat er immer ein freundliches Wort übrig.
Gilbert streicht sich über den Bart, als wüsste er nicht recht, wie er anfangen soll.
»Also«, sagt er. »Nun ja. Ihr wisst alle, warum wir hier sind. Es muss was passieren – jawohl. Great Riding, hört man, igelt sich ein und schickt alle Reisenden weg. Wir denken – äh –, wir sollten das hier auch tun.«
Radulf hält den Kopf gesenkt und zieht die Mundwinkel nach unten. Ich schiebe mich dichter an Robin.
»Schau dir Radulf an! Warum ist er so bekümmert?«
»Weißt du’s nicht?« Amabel hört Gilbert auch nicht zu. »Radulfs Schwester wohnt in York«, verkündet sie. »Gestern erst hat er Mutter gesagt, er findet, wir sollten die Flüchtlinge aufnehmen. Der Mann würde glatt die Pest hier einschleppen und uns allen den Tod bringen.«
»Er kann doch seine Schwester nicht wegschicken«, sagt Robin, und Amabel ärgert sich.
»Er darf sie nicht nach Ingleforn holen!«, erklärt sie. »So selbstsüchtig kann doch keiner sein, die Krankheit hierherzubringen. Die soll in York bleiben und uns zufrieden lassen!«
Robin dreht sich unbehaglich hin und her, aber die andern Dorfbewohner sind anscheinend der gleichen Meinung wie Amabel. Die Männer beratschlagen, wie sie sich in Gruppen zusammentun und alle Straßen ins Dorf bewachen können.
»Die Leute stehlen auch Vieh«, behauptet ein Kaplan. Erstaunlich, was er alles weiß. Schließlich haben wir die Flüchtlinge gestern zum ersten Mal zu Gesicht bekommen.
»Und was ist mit der Christenpflicht der Gastfreundschaft?«, fragt Robin. Er wirft Alice einen Blick zu, aber die steht stocksteif da und sagt nichts. »Die Leute sterben, wenn keiner sie aufnimmt.«
Alice schlingt den Arm fester um Baby Edward, der wieder seine dicke kleine Faust ausstreckt und an ihrem Schleier zerrt. Alice ist frommer als irgendwer sonst in meiner Familie, von Geoffrey abgesehen, doch diesmal weicht sie Robins Blick aus.
»Die meisten von denen sterben sowieso«, sagt sie. Mir wird klar, dass sie Angst hat.
Der Abt führt die Prozession an. Er schwingt im Laufen ein Gefäß mit brennendem Weihrauch und versucht mit lateinischen Psalmen die Dämonen zu verscheuchen und die guten Erdgeister anzulocken. Oder die Engel. Wahrscheinlich eher die Engel.
Die andern Mönche folgen ihm in dichten Reihen und mit gesenkten Köpfen. Ich zähle einunddreißig kahle, warzige Köpfe, was hinkommt, denn acht Mönche sind schon zu alt für eine Prozession, und der Krankenbruder und sein Gehilfe sind in der Abtei geblieben. Mein Bruder Geoffrey läuft ganz hinten, nicht in den Reihen der Mönche und nicht mit den Leuten aus dem Dorf. Armer Geoffrey, nicht dies und nicht das. Er ist hochgeschossen im letzten Jahr und erinnert mich an Unkraut, das im Dunkeln wächst und die Sonne sucht. Sein strohblonder Haarschopf fällt ihm seltsam über die Ohren, die runde Tonsur mitten auf dem Kopf ist sonnenverbrannt vom heißen Wetter der letzten Tage. Geoffrey ist kein Mönch. Er ist noch zu jung dafür – gerade mal eineinhalb Jahre älter als ich. In der Abtei ist er, um Latein und Französisch und die Geschichten aus der Bibel zu lernen und alles, was er sonst noch wissen muss, um Priester zu werden.
Es ist ein kalter Tag, einer von den düsteren, windigen Tagen, wie es sie mitten im Sommer manchmal gibt, und als der Abt die vierzehnte Bibelstelle vorliest, fängt es zu regnen an. Mag wimmert.
»Mir ist kalt. Ich will meine Schuhe.«
Ich zittere und ziehe meinen Umhang enger um mich.
Wir beten zu Gott, er möge der Pest ein Ende bereiten. Uns verschonen. Wir bitten Ihn um Vergebung für alle Sünden, die wir begangen haben. Barfuß und voller Reue werfen wir uns vor Ihm in den Staub und flehen Ihn an, Seine Krankheit von unsern Türen fernzuhalten. Und von den Türen derer, die wir lieben. Bitte lass uns davonkommen, bitte, bitte. Schick Deinen göttlichen Zorn zu den Leuten, die wirklich böse sind, in York und in London oder auf der andern Seite des Meers.
In manchen Gegenden hat das gewirkt, in Cornwall und in Devon. An ein paar Dörfern ist die Pest einfach vorbeigezogen, so wie die zehn ägyptischen Plagen die Häuser der Israeliten verschonten. Aber Geoffrey behauptet, der Papst selbst hätte die Prozessionen in Avignon geleitet und seine Leute trotzdem nicht retten können.
Nach der Prozession hängt mir der Matsch schwer und klobig an den Füßen, wahrscheinlich fallen sie mir nur deshalb trotz der Kälte nicht ab. Geoffrey und Robin und ich gehen zum Füßewaschen runter an den Fluss. Robin hat unter den Jungen aus dem Dorf nicht viele Freunde – meistens hält er sich an mich und Amabel und an Alison Spinner. Aber mit Geoffrey hat er sich schon immer gut verstanden, auch als wir noch klein waren.
Ich bin Geoffrey gegenüber ein bisschen schüchtern, was immer so ist, wenn ich ihn lange nicht gesehen habe. Dann fällt mir alles Mögliche an ihm auf, das ich vergessen habe. Wie groß er ist. Dass er sich in den fünf Jahren, die er schon bei den Mönchen lebt, einen normannischen Akzent angewöhnt hat. Wie ihm sein strohblondes Haar ins Gesicht fällt und wie er den Kopf zurückwirft, um es aus den Augen zu kriegen.
»Geht’s dir gut?«, frage ich ein bisschen nervös. »Kommst du zum Mittsommerfest? Habt ihr wirklich allen Leuten aus York ein Bett gegeben?«
Bei der letzten Frage verzieht Geoffrey das Gesicht. »So vielen wie möglich. Den Rest lassen wir in der Scheune schlafen. Mach dir keine Sorgen, Isabel. Erzähl mir lieber, wie es dir geht – und Vater – und Ned und Maggie.«
»Uns geht’s gut«, sage ich. »Edward hat schon drei Zähne! Und er kann sich umdrehen – und klatschen und –«
»Tüchtiger Junge«, sagt Geoffrey, aber er kennt Edward kaum und macht sich nicht viel aus ihm. Wie seltsam, einen Bruder zu haben, den du nicht kennst und auch nicht lieb hast! Das kann ich kaum begreifen, genauso wenig, wie ich mir vorstellen kann, wie es wäre, wenn Alice nicht zu uns gehören würde und uns nicht lieb hätte oder wir sie nicht.
»Ich glaub nicht, dass ich zum Mittsommerfeuer kommen darf«, sagt er. »In der Abtei ist so viel zu tun, jetzt, wo all die Leute da sind.Ich habe mich mit Galen befasst. Ich wüsste gern, ob er so was wie diese Pest je erlebt hat.«
»Galen?«, frage ich. »Ist das der Krankenbruder?«
Geoffrey lacht. »Das ist einer der Väter der Medizin«, erklärt er. Anscheinend sieht er mir an, wie verwirrt ich bin. »Galen hat vor Hunderten von Jahren gelebt, Isabel.«
»Ah.« Geoffrey weiß immer mehr als ich, egal worum es geht. »Wirst du also Krankenbruder?«
Geoffrey lässt den Kopf über seine Stiefelschnalle hängen. Ohne aufzusehen, sagt er: »Könnt ihr ein Geheimnis bewahren?«
»Klar«, sage ich. Robin nickt.
»Noch ist es nicht beschlossen – erzähl also Vater nichts –, aber vielleicht werde ich früher geweiht.«
»Früher? Aber warum denn?«
»Was glaubst du wohl?«, gibt Geoffrey zurück, der im Geist schon wieder zur Antwort springt, während ich noch nicht mal die Frage richtig verstanden habe. Ist doch klar, warum: Weil so viele Priester gestorben sind, unten im Süden, wo die Pest schon angekommen ist. Weil die Priester in die Pesthäuser geschickt werden, wo sie die faulige Luft einatmen und die Sterbenden von ihren Sünden freisprechen. Weil Geoffrey genau dafür in eine fremde Gemeinde geschickt werden soll, wo der Pfarrer tot ist und jeder im Ort die Krankheit hat.
»Machst du das?«, fragt Robin. »Wenn sie sagen, du sollst?«
»Ich will«, sagt Geoffrey, guckt aber immer noch auf seine Stiefel. Ich glaube ihm nicht. Geoffrey ist wegen der Bücher und Wörter ins Kloster gegangen und weil er die Namen von Steinen und Sternen und von Heiligen und Knochen lernen will. Er ist nicht hingegangen, um neben Sterbenden zu sitzen. Ich würde ihm gern sagen, er soll das nicht tun, er soll nicht gehen. Aber wenn jemand stirbt, ohne dass ihm ein Priester die Beichte abgenommen und ihn von seinen Sünden freigesprochen hat, muss er in die Hölle. So viele Menschen – gute Menschen: Mönche, Nonnen, Christenleute – brennen jetzt im Höllenfeuer, weil ihr Pfarrer gestorben ist und nicht rechtzeitig ein neuer kam. Falls Geoffrey gebeten wird, als Priester seine Pflicht zu tun, kann ich ihm nicht sagen, er soll es nicht tun. Ich kenne meinen Bruder. Falls sie ihn fragen, dann macht er es.
Seine Stimme klingt, als wollte er, dass wir nachfragen, wie er das meint. Ich will gar nicht wissen, was sich hinter seinen Worten verbirgt, aber Robin sagt: »Wieso? Ihr habt doch nicht die Pest dort, oder?«
»Habt ihr doch nicht, oder?«, sagt Robin. »Geoffrey! Ihr habt sie nicht!«
Vater ist mir egal. Der Abt eigentlich auch. Mein Herz beginnt zu rasen, und mein Kopf ist dumpf und schwer und voller Angst. Die Pest ist in der Abtei. Die Pest ist drei Meilen weg. Die Pest ist in der Krankenstube, in der mein Bruder Geoffrey arbeitet.
Ich krieche zu ihm, wobei ich mir die Röcke mit Matsch verschmiere, und schlinge ihm die Arme um den Hals. Er umarmt mich, und ich atme seinen Geruch ein. Er riecht nach Weihrauch und Tinte, dazu ein bisschen nach Matsch und Stroh und der feuchten Luft über dem Fluss.
Geoffreys lange, knochige Arme halten mich fest. Ich denke an das, was die Bibel über Standhaftigkeit und Gottvertrauen und Pflicht sagt und wie egal mir das alles ist, wenn es bedeutet, dass mein Bruder zurück an einen Ort muss, wo die Pest wütet. Aber Geoffrey sagt bloß: »Isabel, sie kommt auch hierher«, und da weiß ich, dass nicht einmal der kleine Schutz, den ich ihm geben kann, irgendetwas nützt.