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Inhaltsverzeichnis

Widmung
Vorwort
Warum gibt es so wenig Literatur über Erstgeborene?
Das Lob der Geschwistergruppe
Meine Schwester und ich
Die Erstgeborene aus der Sicht der Jüngeren
Wie die Erstgeborene dem Nachkömmling begegnet
Die Rolle der Eltern
Tendenz zur Verharmlosung
Eltern sind nicht für alles verantwortlich
Das besondere Schicksal der Erstgeborenen
Erstgeboren – Privileg oder Fluch
Beim ersten Kind sind die Eltern meist noch unsicher
Das verlorene Königreich
Die Chancen zur Bewältigung des Traumas
Welche Rolle spielen das Alter des Kindes und der Altersunterschied zu den Geschwistern?
Max, der kleine Physiker mit autistischen Zügen
Caroline, Essprobleme (Bulimie) und eine problematische Beziehung zur Mutter
Verarbeitungsmöglichkeiten bei größerem Altersunterschied
Herr Konrad, der angepasste Vater eines kleinen Tyrannen
Hildegard, die liebe alte Dame voller Schuldgefühle
Je nach Geschlecht lässt sich die Krise unterschiedlich bewältigen
Wenn die erste Stelle verloren wird
Marcel, vom Prinzen zum schwarzen Schaf
Gabriele, im »ödipalen Viereck«
Opfer von systemischen Verstrickungen
Warum musste sich Gabrieles Mutter so beharrlich an ihren Sohn binden?
Robin, ein Erstgeborener, der zum missratenen Playboy wird
Bernadette und ihr problematischer Stiefvater
Nadine, Inzest in der Familie
Harry: Wenn die Mutter mit dem Sohne
Dirk, der Kämpfer an Vaters Seite
Katharina, die ihre Eltern »beeltern« muss
Fabian, ein unechter Erstgeborener
Empfehlungen für die Erziehung der Erstgeborenen
Literaturhinweise
Copyright

Literaturhinweise

Amendt, Gerhard: Vatersehnsucht. Annäherung in elf Essays. Universität Bremen, Bremen 1999

Bank, Stephen P./Kuhn, Michael: Geschwister-Bindung. dtv, München 1994

Dunn, Judy/Plomin, Robert: Warum Geschwister so verschieden sind. Klett-Cotta, Stuttgart 1996

Franz, Marie Louise von: Der ewige Jüngling. Kösel, München 1987

Härtling, Peter: Große, kleine Schwester. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998

Hellinger, Bert: Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. Auer, Heidelberg 1998

König, Karl: Brüder und Schwester. Geburtenfolge als Schicksal. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995

Leman, Kevin: Geschwisterkonstellationen. Die Familie bestimmt Ihr Leben. mvg, München 1998

Mayer, Norbert J.: Der Kain-Komplex. Neue Wege systematischer Familientherapie. Scherz für Integral, Bern 1998

Petri, Horst: Geschwister – Liebe und Rivalität. Die längste Beziehung des Lebens. Kreuz, Zürich 1998

Prekop, Jirina: Hättest du mich festgehalten ... Grundlagen und Anwendung der Festhalte-Therapie. Kösel, München 1995

Dies.: Schlaf, Kindlein – verflixt noch mal! Ein Ratgeber für genervte Eltern. Kösel, München 1997

Dies.: Der kleine Tyrann. Welchen Halt brauchen Kinder? Kösel, München 1997

Dies.: Von der Liebe, die Halt gibt. Erziehungsweisheiten. Kösel, München 2000

Prekop, Jirina/Hellinger, Bert: Wenn ihr wüsstet, wie ich euch liebe. Wie schwierigen Kindern durch Familien-Stellen und Festhalten geholfen werden kann. Kösel, München 1998

Prekop, Jirina/Schweizer, Christel: Unruhige Kinder. Ein Ratgeber für beunruhigte Eltern. dtv, München 1997

Dies.: Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen. Ein Elternbuch. Kösel, München 1998

Sulloway, Frank J.: Der Rebell der Familie. Geschwisterrivalität, kreatives Denken und Geschichte. Siedler, Berlin 1997

Toman, Walter: Familienkonstellationen. Ihr Einfluß auf den Menschen. Beck, München 1996

Gesellschaft zur Förderung des Festhaltens e.V.

Adressen der von der GFH anerkannten Festhaltetherapeuten in Ihrer Nähe erhalten Sie über die

 

Gesellschaft zur Förderung des Festhaltens
als Lebensform und Therapie e.V.
c/o Birgit Lang
Rotmoosstr. 4 a
88131 Lindau

 

Weitere Informationen finden Sie auch im Internet unter www.festhalten-prekop.de

Warum gibt es so wenig Literatur über Erstgeborene?

Ein Entsetzen ergreift mich, wenn ich bedenke, dass ich mein Verständnis für meine Schwester und die Liebe zu ihr nur gewinnen konnte, weil mir ein langes Leben gegönnt wurde. Trotz meiner reichen Lebenserfahrungen und trotz meines intensiven Berufslebens als Kinderpsychologin war ich gegenüber den Erstgeborenen taub und blind. Solange ich mich persönlich betroffen fühlte, da ich von klein auf zum Gegenangriff gegen diese bedrohliche Übermacht bereit war, konnte ich keine objektive Einsicht gewinnen. Mein Herz war nicht frei.

Ist vielleicht diese frühe Verblendung auch für andere Autoren der Grund dafür, warum bis heute niemand ein Sachbuch über Erstgeborene geschrieben hat und auch die Beziehung zu den nachfolgenden Geschwistern oft zu kurz kommt? In seinem Buch über Geschwister Brüder und Schwestern. Geburtenfolge als Schicksal stellt Karl König eine ähnliche Frage. Er staunt darüber, dass »noch niemand versuchte, das soziale Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe ins Auge zu fassen ...«. Er meint, dass man die Antwort auf die Auswirkungen der Geburtenfolge auf einer falschen Fährte gesucht hat. Man dachte irrtümlicherweise an Unterschiede der Intelligenz und der Charaktere. Die wesentlichen Unterschiede aber ergeben sich in den sozialen Einstellungen. »Ja, ein erster Sohn ordnet sich sozial ganz anders als ein zweites Kind«, stellt König fest. Eine einfache Tatsache, an welcher die meisten Forscher vorbeigehen, ganz so, als hätten sie Scheuklappen gegen das Naheliegende aufgesetzt. Scheuklappen, die dem Herzen das Sehen nicht gestatten. Wie sagt der Fuchs in Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry? »Man sieht nur mit dem Herzen gut.«

Ist das vielleicht die besondere sozial-emotionale Sichtweise, die eher den Zweitgeborenen als den Erstgeborenen zum Schreiben eines Buches über die Geschwistersituation anspornt und diese durch die Brille des Zweitgeborenen sehen lässt? Höchstwahrscheinlich ging es Alfred Adler, dem zweitgeborenen Sohn, nicht anders, als es mir früher erging. Er war in dem Widerstand gegen seinen erstgeborenen Bruder gefangen (und in der Nachfolge auch gegen Sigmund Freud, den erstgeborenen Muttersohn), sah die vielen Vorteile, die Spätgeborene hatten, und deutete die Erstgeborenen eher als die Unfreien und Machthungrigen, als würden sie ein potentielles Kainzeichen auf der Stirn tragen. Von ihm stammt auch die verletzende Metapher von der »Entthronung« des Erstgeborenen.

Erst nachdem ich meine eigenen Scheuklappen ablegen und Verständnis für die Situation der Erstgeborenen entwickeln konnte, war ich in der Lage, die Beschwerden derjenigen Mütter und Väter, die in ihrer Ursprungsfamilie selbst spät geboren waren und sich in die Not ihres erstgeborenen Kindes nicht hineinversetzen konnten, zu verstehen. Die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Ältesten riefen allzu oft den alten Groll gegen das eigene ältere Geschwister in Erinnerung. Als selbst Leidgeprüfte können sie sich gut in die Betroffenheit des Jüngeren einfühlen und ihm die Stange halten. Bereits am Telefon erkenne ich mittlerweile an der Stimme, worum es geht: »Mein ältester Sohn weigert sich, dem kleinen Brüderlein sein Spielzeug zu leihen. Wie soll ich ihm helfen?« – »Wem eigentlich?«, frage ich scheinbar naiv zurück. »Die Wievielte sind Sie selbst in ihrer Geschwisterreihe?«, frage ich weiter, obwohl ich die Antwort meist ganz genau weiß. Denn meistens klagt die kleine Schwester über ihren großen Bruder. »Kann es überhaupt sein, dass das erste Kind völlig anders als das zweite wurde, obwohl es die gleichen Eltern hat?«, fragen manche Eltern, als könnten sie nicht sehen, dass jedes Kind in eine andere Lage hineingeboren wird.

Das erklärt vielleicht auch die seltene Nachfrage nach Büchern über Erstgeborene. Über alle möglichen psychologischen Themen gibt es Bücher. Über die bösen Mädchen, die überall hinkommen, über die Frauen, die zu viel lieben, über die Männer, die sich lieben lassen, und über solche, die schweigen und und und. Und all diese Bücher werden mit Interesse gelesen, obwohl sie manchmal weit davon entfernt sind, was den jeweiligen Leser in seinem Leben bewegt. Das Schicksal der Erstgeborenen jedoch spricht fast jeden Mensch an. Nur die Einzelkinder bilden eine gewisse Ausnahme. Aber auch sie berührt das Thema, denn es ist durchaus möglich, dass ein Elternteil in seiner Ursprungsfamilie der Erstgeborene war oder unter dem Einfluss des Erstgeborenen aufwuchs und dementsprechend in seinem Verhalten geprägt wurde. So gibt es niemanden, den das Thema der Erstgeborenen nicht berührt. Entweder weil sie selbst Erstgeborene sind oder jahrelang die Konfrontation mit dem erstgeborenen Geschwister gelebt haben. Wie kommt es dennoch, dass das Interesse an diesem Thema so gering ist?

Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht. Ich kann nur spekulieren. Wuchs vielleicht der Erstgeborene in seine Rolle so selbstverständlich hinein, dass er sie für etwas völlig Normales hält? So gesehen würde niemand ein Buch über die Haut, in der er steckt, schreiben oder lesen. Er wäre höchstens rein sachlich daran interessiert, wie die Haut beschaffen ist und wie er sie pflegen kann. Es wird ihm aber nicht einfallen darüber nachzudenken, ob diese Haut für ihn vorteilhaft oder ungünstig ist und wie es wäre, wenn er keine Haut hätte. Er steckt in dieser Haut und diese Haut ist sein Schicksal und er kann sie nie loswerden. Auch an der Tatsache, dass einer erstgeboren ist, lässt sich nichts ändern. Dieser Zustand ist definitiv. Wenn er diese Haut in Frage stellen würde, müsste er nicht auch das Auseinanderbröckeln seiner Identität riskieren? Seiner Identität, die ihm so kostbar ist?

Ich kenne so gut wie keinen Erstgeborenen, der es auf Dauer bedauert hätte, vom Schicksal die erste Stelle bekommen zu haben, und der mit dem Jüngeren gerne tauschen würde. Sicherlich haben Sie bemerkt, dass ich »auf Dauer« betont habe. Vorübergehend kommen diese Wünsche häufig schmerzhaft hoch, wie ich später berichten möchte. Dagegen kenne ich viele Spätgeborene, die sich benachteiligt fühlen und den Neid auf das erstgeborene Geschwister ihr ganzes Leben lang mit sich herumtragen. Der Erstgeborene nimmt sein Los als Selbstverständlichkeit hin. Mit allen Vor- und Nachteilen, mit Ehre und Opfer. Wozu sollte er sich also mit Büchern befassen, die sein Los kritisch analysieren? Warum sollte er an seiner unveränderbaren Position rütteln? S.P. Bank und M. Kahn betonen in ihrem Buch Geschwister-Bindung, eine Erklärung für die überwiegend irrationalen Elemente in der Geschwisterbeziehung sei äußerst schwierig.

Unsere Märchenwelt hingegen hat zahlreiche Geschwisterschicksale thematisiert. Denken wir an die erstgeborenen Töchter aus der ersten Ehe des Vaters, an Schneewittchen und Aschenputtel, die einen Opfergang für die nicht geehrte verstorbene Mutter antreten und von den Stiefschwestern geplagt werden. Von zwei Brüdern ist der Ältere meist der Klügere, der in jeder Situation einen Rat weiß. Der Jüngere hingegen erscheint dumm und ungeschickt, letzten Endes aber gewinnt er. Merkwürdigerweise bleibt der Erstgeborene so, wie er ist, während sich die märchenhafte Verwandlung um das Wunder des Lebensglücks beim Jüngeren abspielt. Ähnlich wird in der Bibel von zwei Schwestern gesprochen: Die ältere Martha ist die fleißige, pflichtbewusste, verantwortungsvolle, sachlich sorgende Schwester. Während sie sich mit vielen Diensten plagt, setzt sich die jüngere Maria Jesus zu Füßen und hört ihm zu. Wie gewohnt bemüht sich Martha, ihre jüngere Schwester zu erziehen. Aus diesem Grunde verpetzt sie diese bei Jesus. »Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein dienen lässt? Sag ihr doch, dass sie mit mir zufasst.« Doch Jesus deutet Marias Verhalten nicht in Marthas Sinne als Faulheit, sondern als »den gewählten guten Teil, der ihr nicht genommen werden soll«.

Genauso entsetzt war auch der erstgeborene Bruder, als sein jüngerer Bruder, der das Erbe nicht schätzte, sondern heillos verschleuderte und deshalb verloren ging, nach seiner Reue vom Vater liebevoll in den Arm genommen wurde. Wenn wir die Bibel aufschlagen, fällt auf, dass das Problem der Erstgeborenen zum Vorzeichen der ganzen Menschheitsgeschichte gesetzt wurde: Kain, das erste Kind von Adam und Eva, und der zweitgeborene Abel. Der Entwurf des Urdramas, ein prägendes Muster: Ein Kind wird weniger als das andere geliebt, obwohl es sich bei den Eltern um Anerkennung bemüht. Es plagt sich mit dem Schmerz des Unrechts und der Eifersucht, und die Eltern scheinen den Schmerz gar nicht wahrzunehmen. Obwohl jeder von den beiden nach seinen Möglichkeiten ein Opfer darbringt – Kain opfert als Ackerbauer von den Früchten des Feldes und Abel als Schafhirt das Fett von den Erstlingen seiner Herde –, »schaute Jahwe gnädig auf Abel und sein Opfer. Auf Kain und sein Opfer aber schaute er nicht. Deshalb wurde Kain sehr zornig.« Als er dann auch noch von Jahwe getadelt wird, nimmt Kain den bevorzugten Rivalen Abel aufs Feld mit und tötet ihn. Von Jahwe wird er verflucht und vertrieben. Er muss jedoch nicht mit dem eigenen Tode sühnen, wie es die alttestamentarische Ordnung und das normale Gerechtigkeitsgefühl nahe legen würden. Jahwe entscheidet völlig anders: Kain darf von niemandem getötet werden. Um von jedem erkannt zu werden und damit ihn nicht jeder, der ihn fände, töte, bekommt Kain stattdessen auf die Stirn ein Merkmal als Schutzmarke. So soll er »unstet und flüchtig auf Erden sein«, im Grunde eine lebenslängliche Plage. Unmittelbar darauf folgt jedoch das Kapitel über den reichen Kindersegen, über die Nachkommenschaft Kains. Nicht nur die Mörder stammen von ihm ab, auch die tüchtigen Erz- und Eisenschmiede und die sanften Zither- und Flötenspieler. So beschreibt das Alte Testament den segensreichen Weg Kains Urenkel. Er wurde einer unserer Stammväter, nicht Abel, der kinderlos starb. Wir sind Nachkommen von Kain und seiner noch später geborenen Geschwister. Besonders durch Kain wird der Weg der irdischen Mühsal nachvollzogen, der den Menschen bei der Verbannung aus dem Paradies zugleich als Pfad zur Erlösung ausgewiesen wurde. Seit Kain wird dann jede Familie ein erstgeborenes Kind bekommen.

Welches besondere Schicksal haben nun die Erstgeborenen? So wie jede Position in der Geschwisterreihe hat auch die des Erstgeborenen ihre spezifischen Vor- und Nachteile. Kain selbst ist das beeindruckendste Beispiel dafür. An ihm offenbart sich nämlich die Gnade: Die Krisen werden zu Chancen.

Die Vor- und Nachteile treten zwar bei jedem Erstgeborenen auf, allerdings nicht in gleichem Maße. Ich möchte das Plus und Minus nicht messen und werten. Vielmehr möchte ich die vorgeschaufelten Energiebahnen, die typischen Tendenzen betrachten, um den Eltern ihre Einsicht für ihr erstgeborenes Kind zu verfeinern und diesem Kind unnötige Plage zu ersparen. Es geht mir dabei nicht darum, das Kind vor Krisen zu schützen, sofern sie in eine Chance verwandelt werden können. Unter der unnötigen Plage meine ich Störungen, die zum lebenslänglichem Tragen von Scheuklappen führen und das Reifen der eigenen Identität verhindern.

Das Lob der Geschwistergruppe

Geschwister haben den großen Vorteil, ihre ganze Kindheit hindurch in den Genuss zu kommen, miteinander soziale Verhaltensweisen zu trainieren. (Einzelkinder können dies nur mit Kindern aus anderen Familien praktizieren.) Je nachdem, an welcher Stelle sie geboren sind, lernen sie, sich dem anderen anzupassen, sich gegen ihn zu behaupten, ihn zu erdulden, mit ihm zu teilen, Schläge zu erleiden, aber auch sich zu wehren, gegen ihn oder auch mit ihm gegen gemeinsame Feinde zu kämpfen, sich hinter ihm zu verstecken oder ihn zu vertreten und zu verteidigen, sich mit ihm zu solidarisieren. Sie lernen, die eigene Stelle in der Rangordnung mit allem Drum und Dran anzunehmen und eigene Strategien zur Selbstbehauptung zu entwickeln. Dabei wird die eigene Kraft gefördert, denn die Eltern sind nicht immer dabei. So muss jedes Kind schauen, wie es sich verhält, wenn es sein Bruder piesackt. Es muss die Nächte durchstehen, wenn im Nebenbett das Geschwister in seinen wilden Träumen um sich schlägt. Niemand unterstützt den Erstgeborenen dabei ausreichend, wenn die kleineren Geschwister viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als er selbst und er sich dadurch benachteiligt fühlt. Er muss seinen eigenen Weg finden, um ebenfalls Bestätigung zu bekommen. Und obwohl sie ihren Bruder nicht mag, spielt seine Schwester vielleicht mit ihm »Mensch ärgere dich nicht«, an einem verregneten Sonntag sogar stundenlang. Wenn die Eltern immer noch nicht zu Hause sind und die kleine Schwester weint, schlüpft der ältere Bruder vielleicht in die Rolle seiner Eltern und lenkt die Schwester irgendwie ab, tröstet sie und findet für sie in der Schublade Gummibärchen.

Dieses soziale Training ist durch nichts zu ersetzen. Ein Ferienlager für ein Einzelkind ist nur ein kleiner Ersatz. Es lernt hier zwar ein gemeinsames Zelt zu teilen und auch die Decke in kalten Nächten und die Kekse mit den anderen, aber das Kostbarste, nämlich die Eltern, muss es nicht teilen. Das Miteinander, das die Geschwister jahrelang üben müssen, ist damit nicht vergleichbar, denn nach dem Ferienlager kann das Einzelkind wieder aufatmen und alles für sich genießen.

Geschwister können das ganze Leben lang von der gemachten Erfahrung profitieren. Sie übertragen das Gelernte auf die Partnerwahl, auf die Ehe, auf die Erziehung der eigenen Kinder sowie auf den Arbeitsplatz. Gelernt ist gelernt. Was das Hänschen gelernt hat, wird der Hans so schnell nicht vergessen. Jedoch nicht nur die positiven Erfahrungen, sondern auch die negativen.

Den prägendsten Einfluss hat natürlich die eigene Geschwisterposition. Frank Sulloway hat sich damit ausführlich in seinem Buch Der Rebell der Familie befasst. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dabei den Spätgeborenen. Doch weil diese im Vergleich zu den Erstgeborenen untersucht werden, erfahren wir auch über sie viel Interessantes. Sulloway stellt fest, dass »der Einfluss der Geburtenfolge auf die Persönlichkeitseigenschaften fünfmal bis zehnmal größer ist als auf die akademischen Leistungen und auf den Intelligenzquotienten« (S. 93). Konkret wirkt sich das so aus, dass die Erstgeborenenen häufig tüchtiger als die Spätgeborenen sind, ohne dass sie dies einem höheren IQ zu verdanken haben, und dass manche Spätgeborenen es im Leben deshalb nicht weit bringen, weil sie dümmer wären, sondern weil sie sich nicht anstrengen. Ferner sagt der Autor, »dass der Einfluss der Geburtenfolge auf geschlechtsspezifische Charakteristika um etwa zwei Drittel stärker ist als der Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit selbst«. Dies wirkt sich beispielsweise so aus, dass in allen Geschwisterpaaren die Erstgeborenen meist »männlicher« im Sinne von Dominanz, Aggression und Ehrgeiz sind. Dies gilt nicht nur für Brüder von Brüdern und für Brüder von Schwestern, sondern sogar für erstgeborene Schwestern von Brüdern. Die jüngeren Brüder von Schwestern wirken dagegen oft »weichlich« (S. 96 f.).

Manchen Leser mag es stutzig machen, dass Sulloway von typisch männlichen Verhaltensweisen spricht. Er kann sich dies trauen, auch wenn diejenigen, die die Geschlechter gleichschalten möchten, damit ihre Probleme haben. Doch wissenschaftlich gesicherte Quellen zeigen, dass auch Primaten in ihren Geschwistergruppen zu ähnlichen Verhaltensweisen neigen. Die erstgeborenen Alpha-Männchen in Primatengruppen trachten nach Status und Macht und sind dementsprechend dominant, aggressiv, ehrgeizig und eifersüchtig. Unter diesem Druck neigen wiederum die jüngeren Primatengeschwister zu Rebellion, aber auch zu Anpassung und Unterwerfung.

Hier wird schon deutlich, dass die Persönlichkeit innerhalb der Familie, aber auch durch Beziehungen zu anderen geformt wird und darüber hinaus noch von vielen weiteren Umständen abhängt. Die Veranlagung zu einem bestimmten Typus bringt die Seele bereits mit. Und ob ein Kind in einer bedrohlichen Lage mit Angriff oder Flucht reagiert, hängt auch von seinem Temperament und von seinem Mut ab. Die extrovertierten Kinder, die mit ihrer Energie nach außen gehen und für viele Kontakte offen sind, tendieren eher zur Beherrschung der anderen und auch zur Aggression. Dagegen gehen die introvertierten Kinder mit ihrer Energie nach innen, sie brauchen kein großes Publikum, sondern einige wenige, dafür tiefe Bindungen. Wenn diese scheitern, weil beispielsweise die Mutter ein zweites Kind auf die Welt bringt, neigt das introvertierte Kind viel mehr zum Rückzug, ja sogar zur Depression. Auch Altersunterschiede, Begabungen und Behinderungen, besonders die Vorliebe der Mutter oder des Vaters für ein besonderes Kind, Verstrickungen im familiären System und noch vieles andere bilden das Netzwerk, das die Persönlichkeiten der einzelnen Geschwister und ihre Beziehungen zueinander formt.

Gelobt seien aber auch alle Krisen, die der Mensch durchsteht! Wenn man niemals ins Dunkle gerät, schätzt man auch das Licht nicht. So wie nach jeder Nacht ein neuer Tag kommt und man erst dann einatmen kann, wenn man ausgeatmet hat, so haben alle Krisen, die der Mensch in seinen familiären Beziehungen erlebt, einen Sinn. An jedem Leid kann der Mensch reifen.