Lewis Carroll
Alice hinter den Spiegeln
(neu aus dem Englischen übersetzt)
Copyright © 2014 Der Drehbuchverlag, Wien und Jan Zenker
2. Auflage, 13. Februar 2016
Übersetzer: Michael Gebhardt
Alle Rechte vorbehalten
eBook: Alice hinter den Spiegeln (neu aus dem Englischen übersetzt)
ISBN: 978-3-99041-985-4
Kapitel 1 – Das Spiegelhaus
Eines stand fest: Das weiße Kätzchen hatte nichts damit zu tun. Es war ganz allein die Schuld des schwarzen Kätzchens. Schließlich leckte Dinah dem weißen Kätzchen schon seit einer Viertelstunde das Gesicht sauber, es konnte also gar nicht in die Sache verwickelt sein.
Das schwarze Kätzchen aber war schon am frühen Nachmittag gewaschen worden und hatte somit genug Zeit gehabt, wild mit Wollknäuel zu spielen, während Alice im großen Armsessel gedöst und hin und wieder mit sich selbst gesprochen hatte. Da lagen nun die Fäden, völlig durcheinander über dem Kaminvorleger, das Kätzchen war mittendrin und jagte seinen eigenen Schwanz.
„Oh, du böses Ding!“, rief Alice, hob das Kätzchen hoch und küsste es, um ihm zu zeigen, dass es sich schämen sollte. „Dinah hätte dir bessere Manieren beibringen sollen! Ja, das hättest du, Dinah, das hättest du!“ Sie warf der alten Katze einen strengen Blick zu. Dann setzte sie sich zurück in den Armsessel, mit dem Kätzchen und der Wolle, die sie nun von neuem aufzuwickeln begann. Die Arbeit ging nur langsam voran, Alice redete ununterbrochen, mal zu sich selbst, mal zu dem Kätzchen, das nun auf ihrem Knie saß und hin und wieder eine Pfote auf das Knäuel legte.
„Weißt du, was morgen für ein Tag ist?“, fing Alice an. „Du wüsstest es, wenn du mit mir aus dem Fenster gesehen hättest. Aber Dinah hat dich sauber gemacht, deshalb konntest du nicht. Ich habe die Jungen Feuerholz sammeln sehen. Für das große Feuer morgen. Dafür braucht man eine Menge Holz! Es hat zwar geschneit, aber mach dir keine Sorgen, Kätzchen, wir werden uns das Feuer morgen ansehen!“ Alice wickelte zwei Fäden um den Hals des Kätzchens, um zu sehen, ob ihm das stand. Das Kätzchen aber wehrte sich, das Knäuel fiel zu Boden und die Wolle wurde wieder entrollt.
„Weißt du, ich war so wütend, Kätzchen“, sagte Alice, als sie es sich wieder gemütlich gemacht hatte, „als ich das Chaos gesehen habe, das du angerichtet hast. Fast hätte ich das Fenster geöffnet und dich hinaus in den Schnee geworfen! Du hättest es verdient, mein schlimmer Liebling! Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen? Unterbrich mich jetzt nicht!“ Sie hielt einen Finger hoch und fuhr fort: „Ich werde dir deine Vergehen vortragen. Nummer eins: Du hast zweimal gequiekt, als Dinah dir das Gesicht gewaschen hat. Das kannst du nicht leugnen, Kätzchen, ich hab dich gehört! Was sagst du da?“ Sie tat, als ob das Kätzchen etwas sagte. „Sie ist dir mit der Pfote ins Auge gefahren? Nun, du bist selbst schuld, wenn du deine Augen offen lässt. Hättest du sie geschlossen, wäre nichts passiert. Keine Ausreden mehr, hör mir jetzt einfach zu! Nummer zwei: Du hast Schneeglöckchen am Schwanz von ihrem Napf weggezogen, als ich ihr die Milch eingegossen habe. Wie? Du warst durstig? Woher weißt du denn, dass sie nicht auch durstig war? Nun zu Nummer drei: Du hast das gesamte Knäuel aufgelöst, als ich nicht hingesehen habe. Das sind also drei schlimme Vergehen und du wurdest noch für kein einziges bestraft. Ich hebe mir deine Bestrafungen alle für Mittwoch in einer Woche auf. Hörst du, wie der Schnee gegen die Fensterscheiben fällt? Wie weich sich das anhört! Als ob jemand das Fenster von oben bis unten abküsste. Ich frage mich, ob der Schnee die Bäume und Felder liebt und sie deshalb so sanft küsst? Und dann hüllt er sie ein, in eine kuschelige weiße Decke. Vielleicht sagt er ja: ‚Schlaft ein, meine Lieblinge, schlaft, bis der Sommer wiederkommt.‘ Und wenn sie dann im Sommer aufwachen, Kätzchen, ziehen sie sich grün an und tanzen, wann immer der Wind weht. Oh, das ist schön!“ Alice ließ das Knäuel fallen, um zu klatschen. „Ich wünschte, es wäre wahr. Ich könnte schwören, der Wald sieht müde aus, wenn der Herbst kommt und die Blätter braun werden. Kätzchen, kannst du Schach spielen? Schau nicht so, ich meine es ernst! Als wir gespielt haben, hast du zugesehen, als ob du dich auskennen würdest. Und als ich Schach gerufen hab, hast du geschnurrt. Nun, das war ein toller Zug von mir und ich hätte auch gewonnen, wenn dieser gemeine Springer nicht gewesen wäre. Kätzchen, lass uns so tun, als ob …“
Jetzt würde ich euch gerne erzählen, was Alice so alles einfiel, wenn sie „Lass uns so tun, als ob“ sagte. Vor kurzem erst hatte sie mit ihrer Schwester gestritten, denn sie hatte vorschlagen, so zu tun, als ob sie Könige und Königinnen wären. Ihre Schwester, die immer sehr genau war, hatte gemeint, das würde nicht gehen, denn sie wären ja nur zu zweit. Alice hatte geantwortet: „Gut, du kannst eine Königin sein und ich bin alle anderen!“ Ein anderes Mal hatte sie ihrem alten Kindermädchen Angst gemacht, weil sie ihr ohne Vorwarnung ins Ohr geschrien hatte: „Lass uns so tun, als ob ich eine hungrige Hyäne wär und du ein Knochen!“ Aber zurück zu Alice’ Gespräch mit dem Kätzchen.
„Lass uns so tun, als ob du die rote Dame wärst. Ich glaube, wenn du dich aufsetzt und deine Arme verschränkst, siehst du genauso aus wie sie! Versuch es!“ Alice holte die rote Dame vom Tisch und stellte sie vor das Kätzchen, damit es sie nachahmen konnte. Aber das wollte nicht so recht klappen, vor allem, weil das Kätzchen seine Arme nicht richtig verschränkte. Zur Strafe hielt Alice es vor den Spiegel, damit es sehen konnte, wie mufflig es war. „Wenn du nicht sofort brav bist“, fügte sie hinzu, „steck ich dich ins Spiegelhaus. Wie würde dir das gefallen? Nun, wenn du zuhörst und nicht so viel redest, werde ich dir vom Spiegelhaus erzählen. Zuallererst gibt es da diesen Raum, den du im Spiegel sehen kannst. Der ist genauso wie unser Malzimmer, nur dass alles verkehrt ist. Ich kann den gesamten Raum sehen, wenn ich mich auf einen Stuhl stelle. Nur die Stelle hinter dem Kamin nicht. Ich wünschte, ich könnte dorthin sehen. Ich wüsste so gerne, ob sie im Winter ein Feuer haben. Man kann das einfach nicht wissen. Es raucht zwar auch bei ihnen, wenn von unserem Feuer Rauch aufsteigt, aber vielleicht wollen sie es nur so aussehen lassen, als hätten sie ein Feuer. Nun, die Bücher sind wie unsere Bücher, nur die Wörter stehen verkehrt herum. Das weiß ich, denn ich hab schon einmal ein Buch vor dem Spiegel hochgehalten und dann halten sie auch eines im anderen Raum hoch. Wie würde es dir gefallen, im Spiegelhaus zu leben, Kätzchen? Ich frage mich, ob sie dir Milch geben würden. Vielleicht schmeckt Spiegelmilch nicht besonders gut. Oh, Kätzchen! Jetzt kommen wir zum Gang. Man kann nur etwas in den Gang des Spiegelhauses spähen, wenn man die Tür unseres Malzimmers weit aufmacht. Er sieht unserem Gang sehr ähnlich, wie du siehst, aber weiter hinten kann er auch total anders sein. Oh, Kätzchen, wie schön wäre es, wenn wir durch den Spiegel in das Spiegelhaus könnten! Ich bin sicher, es ist voll mit wunderbaren Sachen! Lass uns so tun, als ob es einen Weg gäbe, dahin zu kommen. Lass uns so tun, als ob der Spiegel ganz weich wäre und wir hindurchgehen könnten. Oh, es sieht so aus, als würde er gerade sehr weich werden. Es müsste einfach sein, jetzt hindurchzugehen.“ Sie saß auf dem Kaminsims, als sie das sagte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie dahin gekommen war. Der Spiegel aber schmolz wirklich davon, wie heller, silbriger Dunst.
Im nächsten Moment war Alice durch den Spiegel hindurch in das Spiegelhaus gesprungen. Zuerst sah sie nach, ob ein Feuer im Kamin brannte und fand zu ihrer Zufriedenheit eines, das genauso loderte wie das, das sie zurückgelassen hatte. „Also wird mir hier genauso warm sein wie im alten Zimmer“, dachte Alice, „wärmer sogar, denn es wird mich niemand vom Feuer wegscheuchen. Oh, wie lustig das sein wird, wenn sie mich im Spiegel sehen werden und nicht zu mir kommen können.“ Dann sah sie sich um und bemerkte, dass alles, was man vom anderen Zimmer aus sehen konnte, recht gewöhnlich und uninteressant, der Rest aber so unterschiedlich wie nur möglich war. Das Bild an der Wand neben dem Feuer zum Beispiel schien lebendig zu sein und die Uhr am Kaminsims (von der man im Spiegel nur die Rückseite sehen konnte) hatte das Gesicht eines alten Mannes und lächelte sie an.
„Sie halten diesen Raum nicht so sauber wie den anderen“, dachte Alice, denn sie sah einige Schachfiguren in der Asche des Kamins liegen. Dann rief sie „Oh!“ und beugte sich nieder, denn die Figuren marschierten, in Zweierreihen.
„Da sind der rote König und die rote Dame“, flüsterte Alice, damit sie niemanden erschrecken würde, „und der weiße König sitzt mit der weißen Dame am Rand der Schaufel … die zwei Türme gehen Arm in Arm … Ich glaube nicht, dass sie mich hören können. Und anscheinend können sie mich auch nicht sehen. Ich fühle mich, als wäre ich unsichtbar.“
Da fing etwas auf dem Tisch hinter Alice zu schreien an, sie drehte sich um und sah einen weißen Bauern. „Das ist die Stimme von meinem Kind!“, rief die weiße Dame und eilte am König vorbei, sodass er in die Asche fiel. „Lily, mein Schatz! Mein königliches Kätzchen!“ Sie fing zu klettern an. „Königlicher Geigenbogen!“, sagte der König und rieb sich die Nase. Er hatte das Recht, auf die Dame böse zu sein, denn er war von oben bis unten mit Asche voll.
Alice wollte unbedingt helfen, und da die arme kleine Lily sich die Seele aus dem Leib schrie, griff sie nach der Dame, hob sie hoch und setzte sie auf den Tisch neben ihre Tochter. Die Dame keuchte und setzte sich hin. Die schnelle Reise durch die Luft hatte ihr die Luft aus den Lungen genommen, sie konnte Lily zunächst nur umarmen. Als sie wieder zu Atem gekommen war, rief sie dem König zu: „Achte auf den Vulkan!“
„Welcher Vulkan?“, fragte der König und sah ängstlich zum Feuer, als vermutete er dort am ehesten einen. „Hat mich … rauf… geblasen“, keuchte die Dame. „Komm doch … herauf … auf … normalem Weg!“