cover

INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks aus der Essay-Reihe Intelligent leben

» Weitere eBooks von Kein & Aber

 

 

 

 

 

» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Milo Rau, geboren 1977 in Bern, arbeitet als Regisseur, Autor und sozialer Plastiker. Zuletzt erregte er viel Aufmerksamkeit mit seinen Inszenierungen der »Moskauer« und der »Zürcher Prozesse«. Der Tages-Anzeiger nannte ihn den »meistbegehrten Regisseur dieser Tage«, der Freitag den »umstrittensten Theaterregisseur seiner Generation«.

MILO RAU

ÜBER DAS BUCH

Seit 1989 hat sich das Linkssein fundamental geändert. Wird man nach einer Definition gefragt, denkt man kaum mehr an Weltrevolution – sondern eher an entnervend kleinteilige Tagespolitik.

Milo Rau skizziert eine kritische Geschichte des revolutionären Denkens durch die Wirrnisse der Postmoderne. Und sein Schluss ist klar: Aufklärerische Politik ohne Utopie ist nicht möglich.

WAS TUN?

INHALTSVERZEICHNIS

PROLOG: MOSKAU, ZÜRICH, AVIGNON

KRITIK DER POSTMODERNEN VERNUNFT

EPILOG: WAS TUN?

PROLOG:
MOSKAU, ZÜRICH, AVIGNON

Es muss irgendwann Ende März gewesen sein, als mich das unerfreuliche Gefühl überkam, auf verlorenem Posten zu stehen. Ich war gerade erst aus Russland in die Schweiz gereist, um die »Zürcher Prozesse« vorzubereiten, einen dreitägigen, ausschließlich mit realen Akteuren besetzten Verhörmarathon um die Zeitung Die Weltwoche. Im gerade abgeschlossenen Vorgängerprojekt »Die Moskauer Prozesse« hatte ich unter anderem den Fall gegen die Punkband Pussy Riot neu verhandeln lassen. Was mich dabei erstaunt hatte, war der zutiefst postmoderne Charakter der Priester und nationalistischen Demagogen – und insbesondere Maxim Schewtschenkos, dem Staatsanwalt. Er verquirlte kommunistische, religiöse, antikapitalistische, nationalistische und anarchistische Floskeln zu einem Diskurs, mit dem er problemlos ein zapatistisches Manifest hätte verfassen können. Pussy Riot, und überhaupt alle von der Verteidigung aufgerufenen Aktionskünstler und Linksintellektuelle, verachtete er als kleinbürgerliche »Agenten der Massenkultur«, die im Zuge der Globalisierung die authentische russische Kultur nach und nach auslöschen und durch eine Welt aus Plastik und Coca-Cola ersetzen würden. No pasarán, schrie einer von Schewtschenkos Experten im Zeugenstand und reckte die linke Faust in den Himmel. Die Sache endete mit einem unerwartet knappen Freispruch für Pussy Riot.

Eigentlich hatte ich gehofft, mich im Rahmen der »Zürcher Prozesse« intellektuell ein wenig von den russisch-orthodoxen Nationalisten zu erholen. Ja, ehrlich gesagt, machte ich mir sogar Sorgen um die Journalisten der als Wasserträgerin der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei verschrienen Weltwoche. Egal, wie die Sache ausging, zweifellos würden sie im Lauf der drei Tage von ihren Gegnern zerrieben werden. Doch schon die Aufgabe, linke Intellektuelle überhaupt auf die Bühne zu kriegen, erwies sich als schwierig. Einige teilten mir mit, sie würden »nicht einmal symbolisch an einem Prozess gegen eine Zeitung teilnehmen«. Andere fürchteten sich vor der Rache der Weltwoche und ihren Kolumnisten. Wieder andere hatten einfach keine Lust, überhaupt noch über all diese ewig gleichen populistischen Wahnvorstellungen und Pseudo-Tabubrüche zu diskutieren. Falsch verstandene Moral und elitärer Dünkel: Trotz aller Anstrengungen der Ankläger reichten diese linken Tugenden aus, dass die Weltwoche mit sechs zu einer Stimme freigesprochen wurde. Das Schlussplädoyer des Verteidigers der Zeitschrift bestand in einem Lob der pluralistischen Medienlandschaft, und der Angeklagte, gespielt von einem Redakteur der Weltwoche, verglich sich in seinem letzten Wort mit Hannah Arendt. Die Zuschauer aus dem Ausland glaubten sich – wie ich selbst kurz zuvor in Russland – in einem surrealistischen Film.

Was war los mit diesen »Linken« – die doch ansonsten keine Gelegenheit ausließen, sich über die Populisten lustig zu machen und deren idées fixes von Nation bis Religion zu dekonstruieren? Warum bestand die Strategie von Pussy Riot darin, sich als bessere Russen darzustellen und auf ihrer künstlerischen Freiheit zu beharren, anstatt einfach offen und ehrlich auf die Religion, auf Russland und all die damit verbundenen Gemeinheiten und Lügen zu pfeifen? Was hatten sie überhaupt noch zu bieten, »die Linken«, außer einem seltsam utopielosen Anything goes und einer völlig inhaltsleeren Tugendhaftigkeit? War der eigentliche Grund, warum sie die direkte Konfrontation mit den Populisten mieden, vielleicht sogar der, dass sie sowieso verlieren würden in der Arena der postmodernen Mediendemokratie? Weil die Rechten nicht nur die besseren, krasseren, brutaleren Modernisten gewesen waren, sondern jetzt auch noch die fieseren Postmodernen? »Links«, das hatte für mich immer geheißen, dass man jeden Kampf annahm und sich auch in der aussichtslosesten Situation nur eine Frage stellte, eben die Frage des berühmten leninistischen Manifests: Was tun? Was tun für eine bessere, für eine gerechtere Welt? Was tun, um all diese Idioten aus dem Feld zu schlagen im Ringen um die Diskursmacht? Nun schien es eher, als hieße »links«, dem politischen Kampf aus dem Weg zu gehen und indes in feuilletonistischen Begleitdebatten recht zu behalten. Wo war Lenin, wo war der Kommunismus geblieben? Was war verdammt noch mal los mit dem Osten unserer Seele?

Kurzum, ich war ein wenig verwirrt, als ich einige Wochen später ans Festival d’Avignon fuhr. Wer sich der Illusion hingibt, es gäbe keine Hippies mehr, der soll zur Festivalzeit nach Avignon reisen, dort gibt es Tausende – eine davon war meine Inspizientin. Ich kam mit ihr ins Gespräch, weil ich sie vor dem Theater sitzen und Foucault lesen sah. Sie erzählte mir, sie habe in Paris Soziologie studiert, sei dann aber von der Uni genervt gewesen, habe eine Zeit lang bei der Libération gearbeitet und sei schließlich beim Theater gelandet – die übliche Karriere. Ich erzählte ihr ein wenig von Moskau, und schließlich kamen wir auf die Frage der Homo-Ehe: Warum in Frankreich Hunderttausende wegen diesem belanglosen Detail auf die Straße gingen? Ob es nicht wichtigere Probleme gäbe? Die Foucault-Schülerin antwortete: Es ginge ja nicht um die Homosexuellen, und ihres Erachtens würde es auch in Russland nicht um sie gehen. Worum es gehe, sei, dem Kapitalismus ein klares No pasarán! ins Gesicht zu schleudern – Stopp der Zerstörung aller Traditionen und aller Werte, Stopp der gnadenlosen Globalisierung. Denn in Wahrheit sei dieser Kampf gegen die im Einzelfall natürlich irrelevanten religiösen Werte und Traditionen keineswegs antiideologisch, nicht einmal aufklärerisch. Nein, es sei reinste Ideologie, es sei genau das, was man in einem früheren Wissenssystem Satanismus genannt hätte: kein kollektiver spiritueller Fortschritt mehr, sondern bloß noch die Steigerung der privatisierten Umsätze, des jeweils individuellen Instant-Glücks.

Ich wusste nicht genau, was ich darauf antworten sollte; und gleichzeitig hatte ich auch keine Lust, wieder einmal richtige von falscher Kapitalismuskritik zu unterscheiden und der Foucault-Schülerin einen postmodernen Denkfehler nachzuweisen. Kurz: Es ging mir wie den Schweizer Linken, über die ich mich gerade aufgeregt habe.

Der folgende Essay ist der Versuch, ein wenig klarer über den Weg zu werden, der uns auf die Stufen dieses Theaters in Avignon geführt hat. Es ist ein Essay über eine intellektuelle Rat- und Lustlosigkeit, die auch meine eigene ist. Eine Sache will ich deshalb vorausschicken: Wenn ich den postmodernen Pluralismus und den Interkulturalismus als sterilisierte Schwundformen linker Utopiefähigkeit beschreiben werde; wenn ich einen Typus verspotten werde, den ich den »linken Geschichtslehrer« nenne, dann handelt es sich nicht um Boshaftigkeit (zumindest nicht ausschließlich), sondern um Polemik aus Liebe zum Gegenstand selbst. Die im Folgenden vorgetragene Kritik ist die Kritik an einer intellektuellen Fassade, die Gefahr läuft, endgültig ideell entkernt zu werden. Denn »links« heißt in meinen Augen, dass es auf Ideen überhaupt noch ankommt, ja: dass es noch eine Form von Geschichte gibt, die nicht bloß in der Rezeption der eigenen Vergangenheit und der Verhinderung zukünftiger Katastrophen besteht.

Im Übrigen weiß ich sehr wohl, dass wir in einer unvollkommenen Welt leben, in der es bereits heroisch zu nennen ist, wenn man sich hartnäckig gegen die täglichen Zumutungen des Kapitalismus sträubt. Ich weiß, wie mühsam es ist, auch nur die banalsten symbolpolitischen Vereinbarungen immer und immer wieder gegen die blöde und verlogene Traditionsseligkeit der Neo-Konservativen zu verteidigen. Dass Linkssein heute kein fröhliches Bad in allen möglichen Utopien, sondern eher das geduldige Wiederaufstellen der immer gleichen zivilisatorischen Bausteine bedeutet, ist eine Tatsache, die mir schmerzlich bewusst ist. Doch trotzdem: Wie der Abergläubische, der sich ein Hufeisen über die Tür hängt, obwohl er weiß, dass es ihn vor nichts schützen wird – so hänge ich den Namen von Lenins Manifest Was tun? über den viel kleinlicheren und natürlich viel zutreffenderen Titel der Kritik der postmodernen Vernunft.

Geschrieben wurden die folgenden Überlegungen im August 2013 nahe Draguignan, einer Provinzstadt im Süden Frankreichs, berühmt für seinen gewaltigen Truppenübungsplatz. Während ich schrieb, drang durch den Wald das Schießen der völlig sinnlosen, aber dekorativen französischen Armee an meinen Tisch, der sogenannten Force de Frappe, die der gewöhnliche Draguignaner Bürger aber ironisch Force d’Attrape nennt. Sie wird für mich wohl immer ein Symbol der postmodernen Vernunft bleiben.

KRITIK DER
POSTMODERNEN VERNUNFT

1.

Ist man mit linken Intellektuellen zusammen, spürt man manchmal eine Art Einsamkeit. Es fehlt nicht nur das klassische revolutionäre Subjekt, sondern auch die revolutionäre Situation: die Spannung, die uns sagt, dass es auf das, was wir tun, ankommt. Und dass es jetzt, jetzt gleich geschehen muss.

Über eineinhalb Jahrhunderte hinweg bezeichnete »links« eine Art nicht therapierbare Hoffnung, einen durch und durch dogmatischen Glutkern, resistent gegen alle Enttäuschungen. Wü»«üüßäßßöüü仫öäüü