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ÜBER DEN AUTOR

Roger Schawinski, geboren 1945 in Zürich, ist Journalist, Unternehmer und Gründer diverser Medienunternehmen – u.a. des ersten privaten Radios und Fernsehens in der Schweiz. Er war Geschäftsführer von Sat.1 und schrieb zudem Bücher über die Wirtschafts- und Medienwelt, u.a. Wer wird Milliardär?, Der Börsenhype und seine Macher und bei Kein & Aber Die TV-Falle (2007). Roger Schawinski lebt in Zürich.

ÜBER DAS BUCH

Seit Jahrzehnten beginnt Roger Schawinski seine Talksendungen mit der Frage aller Fragen: »Wer sind Sie?«. Nun hat er den Blickwinkel gewechselt und fragt sich selbst »Wer bin ich?« – und gibt dabei sehr persönliche Einblicke in sein berufliches und privates Leben.

Der Gründer des ersten privaten Radios und Fernsehens der Schweiz begegnete zahlreichen der heute etablierten Medienschaffenden schon zu Beginn ihrer Laufbahn – und weiß brisante Anekdoten über sie zu erzählen. Zudem führt ihn sein Weg nach Hollywood, als Sat.1-Chef nach Berlin und sogar in den Dunstkreis der Mafia. Roger Schawinski schreibt aber auch zum ersten Mal über seine jüdische Herkunft, seine Familie, seine Jahre als Student und Reiseleiter, seine drei Ehen und über seine größten Schicksalsschläge. Und er verrät, womit er seine Medienunternehmen zum Erfolg brachte, wie er mit Geld umgeht und welcher Lebensstil im offiziellen Rentenalter für ihn denkbar ist.

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»Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer
besser und besser.«

Leitspruch meines Vaters nach Émile Coué,
dem Begründer der bewussten Autosuggestion

Einleitende Worte

Immer wider wird mir eine Frage gestellt, auf die ich keine Antwort habe und über die ich mich je länger je mehr wundere. »Was ist Ihr nächstes Projekt?« Knapp vor meinem 70. Geburtstag wird also weiterhin erwartet, dass ich mit neuen, überraschenden Projekten auftreten werde. Mein Image als Medienpionier hat sich in der Schweizer Öffentlichkeit offenbar so stark verfestigt, dass man mich auch heute noch darauf festlegen will.

Dabei hatte ich noch nie einen konkreten Plan. Strategisches Vorgehen ist mir fremd. Es waren eher Eingebungen, Gedankenblitze, die mich vorantrieben. Plötzlich war eine Idee da, die mich innerhalb eines Sekundenbruchteils packte. Und je mehr ich mich mit ihr zu beschäftigen begann, desto schneller nahm sie Gestalt an.

Viele dieser Ideen ließen sich dann nicht mehr verscheuchen. Und in einige verliebte ich mich. Das waren die gefährlichsten. Denn wer holde Gefühle entwickelt, der verdrängt die rationalen Argumente, weil sie eine Bedrohung für die emotionale Zuwendung sind. Einige Male konnte ich noch rechtzeitig die Reißleine ziehen, bei anderen bin ich in Dinge geraten, für die ich schwer bezahlen musste. Dies geschah sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld, über beides werde ich ausführlich und möglichst ungeschminkt berichten.

Auch die Idee für dieses Buch entstand auf diese Weise. Im letzten Sommer wurde ich von Weltwoche-Chef Roger Köppel aufgefordert, zum 1. August einen Essay über mein Verhältnis zur Schweiz zu schreiben. Da ich jedoch keine jener salbungsvollen, inhaltsleeren Traktate abliefern wollte wie bei Nationalfeiertagen üblich, lehnte ich ab. Dennoch setzte sich die Frage fest. Bald erkannte ich, dass ich diese Aufgabe nur ernsthaft angehen kann, indem ich gleichzeitig die Geschichte meiner Familie erzähle. Deshalb schrieb ich einen längeren Text mit persönlichen Einblicken. Ich erläuterte mein politisches und emotionales Verhältnis zur Schweiz auf der Basis der geschichtlichen Wurzeln meiner Existenz. Zu meiner Verblüffung erhielt ich auf diesen Artikel mehr Reaktionen als jemals zuvor auf eine meiner vielen öffentlichen Äußerungen. Häufig wurde mir zurückgespielt, dass mein Text »berührend« sei.

Einige Wochen später, als der Fluss dieser für mich ungewohnten Feedbacks noch immer nicht abriss, war wieder mal eine Idee innerhalb des üblichen Sekundenbruchteils da: Ich würde eine Autobiografie schreiben. Ja, ich würde dieses Wagnis in Angriff nehmen. Und ich würde mich dabei auch der Kritik stellen, dass ich es aus bloßer Eitelkeit mache, weil eine solch persönliche Herangehensweise bei uns, anders als in den USA, noch weitgehend unüblich ist. Ich schob diese Vorbehalte zur Seite. Denn Geschichtsschreibung ist meiner Meinung nach auch ein Konvolut möglichst vieler subjektiver Berichte, die zusammen ein Bild einer bestimmten Epoche ergeben. Dazu möchte ich mit meinen Erfahrungen einen Beitrag leisten.

Seit Jahrzehnten beginne ich meine Talksendungen mit der Frage aller Frage, nämlich mit »Wer sind Sie?«. Nun habe ich den Blickwinkel gewechselt und mich gefragt, wer ich selbst bin. Zu meiner Verblüffung bin ich bei dieser eingehenden Introspektion auf viele Antworten gestoßen, die ich nicht erwartet habe.

Dieses Buch ist mein nächstes Projekt geworden, das mich während Monaten fasziniert und besetzt gehalten hat. Dafür bin ich dankbar. Jede neue Euphorie bedingt das Eintauchen in eine Aufgabe, die nicht aus der Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung besteht. Es ist das Aufstoßen von unentdeckten, spannenden Türen, hinter denen sich Überraschungen und unerwartete Einsichten verstecken. Es ist mit einem Wort das Beste, was einem passieren kann.

Autobiografien werden zumeist in einem streng chronologischen Ablauf geschrieben. Ich versuchte es mit einem etwas anderen Ansatz, der mir verheißungsvoller erschien. Zwar folge ich weitgehend den einzelnen Lebensstationen. Daneben erzähle ich aber einzelne Geschichten in einem thematisch gefassten Zusammenhang, losgelöst von ihrer zeitlichen Abfolge. Dies mag stellenweise verwirrend wirken, weshalb ich am Buchende sowohl einen chronologischen Ablauf als auch ein umfassendes Personenregister angefügt habe.

Roger Schawinski

Zürich, im Januar 2014

Meine Familie

Ich stand mit dem Mikrofon in der Hand im Rondell des Bürkliplatz-Pavillons am See. Umringt von einer beinahe unübersehbaren Menge, die unserem Aufruf zur Rettung von Radio 24 gefolgt war. Der Schweizer Popstar Polo Hofer heizte zuerst mit dem Radio-24-Lied ein, das es bis auf Platz 2 der offiziellen Schweizer Hitparade geschafft hatte und das deshalb auch von unserem großen Konkurrenten DRS 1 gespielt werden musste. Es war der 5. Januar 1980, und ich hielt, ohne Manuskript, eine Brandrede, die in der Aussage gipfelte, dass die Regierungen von zwei Ländern – der Schweiz und Italien – gegen uns kämpften, nicht aber die Bewohner dieser beiden Nationen. Immer wieder wurde ich von der emotional aufgeputschten Menge mit »Roger, Roger«-Rufen unterbrochen, was ich mit ungelenken Bewegungen einzudämmen versuchte. Irgendwie ahnte ich schon in jenem Moment, dass mir diese unerhörte Heldenverehrung von den Journalisten auch viele Jahre später nicht verziehen würde. Etwas Einmaliges entwickelte sich vor meinen Augen, über das ich keine Kontrolle zu haben schien. Mir schossen die Worte meines Vaters über die Gefährlichkeit von aufgeladenen Menschenmassen durch den Kopf, und dass ich mich von solchen Anlässen fernhalten sollte. Und dass es für Leute, wie wir es waren, besser sei, sich nicht in den Vordergrund zu drängen. Und nun war ich nicht nur dabei, sondern – viel schlimmer – verantwortlich für alles und jedes.

Beginnen will ich die Suche nach mir jedoch viel früher: Eines Abends verkündete ich als Vierjähriger, dass ich erst um zehn Uhr zu Bett gehen werde, zwei Stunden später als üblich. »Kein Problem«, sagte mein Vater. Er setzte sich an den kleinen, runden Tisch im Wohnzimmer, damit wir unser Kartenspiel aufnehmen konnten. Um neun Uhr begann ich zu gähnen, um halb zehn bettelte ich inständig, ins Bett gehen zu dürfen. »Du hast gesagt bis zehn. Also bleibt es dabei. Ein Mann, ein Wort.« Ich konnte meine Augen kaum noch offen halten. »Lass ihn doch endlich schlafen gehen«, bat meine Mutter. »Sieh dir nur dieses arme Kind an.« Doch mein Vater wollte nichts davon wissen. Endlich, nach längerem Gezerre, gab er nach, und ich wankte überglücklich ins Bett. Damit war das leidige Thema Aufbleiben abgehakt.

In der ersten Klasse rebellierte ich eines Abends: »Nein, ich werde meine Hausaufgaben nicht machen, mir stinkt es.« Mein Vater blieb ungerührt. »Das musst du auch nicht. Dann wirst du eben Müllmann. Das ist ein wertvoller Beruf für unsere Gesellschaft. Ohne solche Leute funktioniert unser Leben nicht.« Stunden später sah er in meinem Zimmer Licht. Ich saß am Schreibtisch, vor mir mein Schulheft. Fragend blickte mich mein Vater an. »Ich will nicht Müllmann werden«, sagte ich stockend.

Die Erziehungsmethoden meines Vaters waren eben anders. Er übte nie Druck aus, wie es in anderen Familien üblich war. Sein psychologisches Einfühlungsvermögen ließ ihn eine andere pädagogische Richtung einschlagen. Deshalb behandelte er mich von Kindesbeinen an als vernunftbegabte Person, die nicht mit Zwang, sondern mit Einsichten auf den richtigen Weg gebracht werden sollte, was zu einem Reifeprozess führte, der es später auch nicht nötig machte, gegen meine Eltern zu rebellieren.

1958 hatte ich als Dreizehnjähriger mit knapper Not und nur dank der mündlichen Prüfung die Aufnahme ins Gymnasium geschafft und schrieb in der anspruchsvollen Probezeit gute Noten. Dann begann im Juni die Fußball-Weltmeisterschaft in Schweden. Zu jener Zeit hatten wir zu Hause noch keinen Fernseher. Aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite war das Café Kef, in dem sich jeden Abend ein größeres Publikum versammelte, um sich die zwei in körnigen Schwarz-Weiß-Bildern übertragenen Spiele anzusehen. Ich setzte mich immer dazu und versuchte, möglichst lange an der einen Cola, die ich mir gerade leisten konnte, zu nippen. Doch durch die überlangen TV-Stunden geriet die Schule in den Hintergrund, und meine Noten wurden immer schlechter. Als mein Vater mich einmal darauf ansprach, antwortete ich ihm: »Das Gymi kommt jedes Jahr. Die Weltmeisterschaft hingegen nur alle vier Jahre. Also ist doch klar, was wichtiger ist.« Als ich darauf prompt aus der Schule flog und meine Mutter mich zu trösten versuchte, hörte ich von meinem Vater nicht den geringsten Vorwurf. »Der Bub ist einfach noch nicht reif fürs Gymnasium«, meinte er ungerührt zu meiner Mutter – und hatte damit absolut recht.

Jahre später überdachte ich mein damaliges Verhalten und kam zum Schluss, dass ich nicht bloß unvernünftig gehandelt hatte. Nein, ich hatte bewusst Prioritäten gesetzt. Den siebzehnjährigen brasilianischen Wunderstürmer Pelé live erleben zu dürfen, hat mich über alle Maßen inspiriert und ist mir unvergesslich geblieben. Und die Geschichte mit der Schule war eine Lektion, die mich ebenfalls bereichert hat. Ich erfuhr, dass jedes Verhalten Konsequenzen hat und man bereit sein muss, sie zu tragen. Es war meine erste schwere Niederlage, auf die viele andere und noch viel schwerwiegendere folgen würden. Und jede einzelne hat mich in irgendeiner Form weitergebracht.

Mit fünfzehn verkündete ich, dass ich nun alles begriffen habe und von meinen Eltern keine Vorschriften mehr akzeptieren werde. Mein Vater nahm dies gelassen hin. Er hatte genügend Selbstbewusstsein, um dies nicht als Zurückweisung zu interpretieren, sondern als weiteren Schritt auf meinem Weg ins eigenständige Leben, auf dem noch viele Stolpersteine auf mich warten würden. Und natürlich war er dennoch immer für mich da, wenn ich ihn brauchte.

So auch kurz darauf, als ich in der Handelsschule aufgrund von mangelndem Interesse und wegen ungenügender Leistungen beinahe der Schule verwiesen wurde. »Du musst die Schule nicht fertig machen«, erklärte mir mein Vater. »Wie wäre es mit einer Banklehre? Ein Bekannter von mir ist Besitzer einer Bank. Ich stelle ihn dir vor.«

Also besuchten wir zusammen die kleine Privatbank, und ich erlebte zum ersten Mal die Atmosphäre eines muffigen Dienstleistungsbetriebs mit Leuten, die an ihren Arbeitstischen klebten, um irgendwelche Papiere zu bearbeiten. Das behagte mir überhaupt nicht, nein, hier fühlte ich mich nicht wohl. Im Vergleich dazu wirkte die Schulbank plötzlich wieder viel attraktiver. Einige Tage danach rief mich unser Klassenlehrer, der kleine und übergewichtige Herr Unterwegner zu sich, den wir als Lehrer für Stenografie (dreisprachig!) und Schreibmaschine allesamt nicht ernst nahmen. »Du bist nicht fähig für diese Schule«, kanzelte er mich ab. »Solche Leute wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Es ist wohl besser, wenn du irgendwo eine Lehrstelle annimmst.« Seine Tirade schien kein Ende zu nehmen und ich spürte, wie die Wut in mir hochkroch. Am Abend berichtete ich meinen Eltern von diesem grässlichen Vorfall. Dies nahmen sie interessiert, aber ohne besondere Reaktion zur Kenntnis. »Ich werde es diesem Idioten zeigen. Solche Beleidigungen akzeptiere ich nicht von diesem Typen.« Daraufhin veränderte sich meine Haltung zur Schule schlagartig, und mein nächstes Zeugnis zeigte ein erfreuliches Bild. Und von da an geriet ich nie mehr in Schwierigkeiten.

Jahre später gestand mir mein Vater, dass er meinen Klassenlehrer angestiftet habe, mich auf diese rüde Art zu provozieren. Der habe erst nach einigem Zögern zugestimmt. Dies sei die einzige Methode gewesen, die ihm als Vater eingefallen sei, um mich aufzurütteln. »Das hätte aber ins Auge gehen können«, warf ich ein. »Es war eben ein Risiko«, antwortete er. »Du warst aufmüpfig und wenig autoritätsgläubig. Auch kannte ich deine schlechte Meinung über deinen Klassenlehrer. Natürlich hoffte ich auf diese Reaktion, aber sicher war ich mir nicht. Ja, es hätte auch ganz anders ausgehen können.«

Meine Großeltern reisten genau vor 100 Jahren vom polnischen Kutno in die Schweiz, um so der quälenden Armut und dem virulenten Antisemitismus zu entfliehen. Der ältere Bruder meines Großvaters, der einige Jahre zuvor nach Basel gekommen war und sich dort schon recht gut eingelebt hatte, wollte seine ungebildeten, mittel- und orientierungslosen Verwandten nicht in seiner Nähe und empfahl ihnen, ins ferne Chur aufzubrechen, um sich dort eine Existenz aufzubauen. Zwei Jahre später wurde mein Vater geboren. In ihrer kargen Wohnung im damaligen Churer Armeleuteviertel an der Lukmaniergasse 6 musste die Familie in den ersten Jahren viele Entbehrungen auf sich nehmen, vor allem, als mein Großvater verstarb, nachdem er von einem Auto angefahren worden war und sich von seinen Verletzungen nicht mehr erholte. Eine Versicherung, die zahlte, gab es nicht. Deshalb wollten die Behörden meiner Großmutter, die kein Deutsch sprach, sich schriftlich nicht ausdrücken konnte und keinen Beruf erlernt hatte, die fünf Kinder wegnehmen, weil sie offensichtlich nicht für diese sorgen könne. Dagegen setzte sich die kleine Frau resolut zur Wehr, obwohl es für solche Fälle damals keine Sozialhilfe gab. Unterstützt wurde sie von ihrem noch nicht volljährigen ältesten Sohn, der die Verantwortung für die Familie übernahm, in der sich jeweils zwei Kinder ein Bett teilen mussten.

In der Rückschau erscheint dieser Verlauf der Ereignisse – mit Ausnahme des frühen Todes meines Großvaters – als eine unglaubliche Verkettung glücklicher Umstände. Denn nur wenige Wochen nach der Bahnreise in die Schweiz brach der Erste Weltkrieg aus und alle Grenzen wurden geschlossen. Eine spätere Ausreise aus Polen wäre unmöglich gewesen. Und das gewählte Reiseziel Schweiz war 25 Jahre später das einzige Land in Mitteleuropa, das nicht von Hitler überrannt wurde und wo die Juden nicht in Viehwagen in die Vernichtungslager geschickt wurden. In Polen wären mein Vater und seine unmittelbare Familie umgebracht worden, so wie der verbliebene Teil der Verwandtschaft. Und ohne die Reise in die Schweiz wäre ich im Juni 1945, nur einen Monat nach Kriegsende, nicht im unversehrten Zürich geboren worden. So verdanke ich meine Existenz und alles, was ich später erleben durfte, einer ganzen Reihe von glücklichen Zufällen. Und vor allem der Schweiz.

Mein Vater Abraham, der von allen Abri gerufen wurde, war ein hervorragender Schüler. In der ersten Klasse des Lehrers Mettier in Chur holte er sich jeweils eine 6 in Fleiß, Betragen und, wie man das damals nannte, Ziffernrechnen, nur etwas weniger gut waren seine Leistungen im Lesen, in der Sprache, im Schönschreiben und im Kopfrechnen.

Einer seiner Klassenkameraden erzählte viele Jahrzehnte später folgende Geschichte: »Ich wurde von den größeren Buben in unserer Klasse immer gehänselt und drangsaliert. Da hat mir Abri eines Tages gesagt: ›Du musst keine Angst haben, ich helfe dir.‹ Das hat mich riesig gefreut, aber glauben konnte ich es nicht. Als die Burschen am nächsten Tag wieder gegen mich loszogen, hat sich der kleine, quirlige Abri angeschlichen, die beiden Burschen von hinten in die Kniekehlen getreten und ist dann wie ein Wirbelwind zur Storchengasse gerannt. Die Burschen ließen sofort von mir ab und verfolgten Abri, doch sie erwischten ihn nicht. Nach diesem Zwischenfall hat das Schikanieren ein Ende gefunden.« Ich war gerührt, als ich diese Geschichte hörte. Anderen Menschen beizustehen war offenbar von frühester Jugend an ein großes Anliegen meines Vaters, deshalb träumte er wohl davon, Arzt zu werden. Aber natürlich gab es dafür keine Möglichkeit, weil die finanziellen Mittel für eine lange Ausbildung fehlten. Also begann er eine Lehre als Schneider, obwohl er diesem Beruf nichts abgewinnen konnte. Das brachte die paar dringend benötigten Franken in die Familienkasse.

Nach dem Tod meines Großvaters verließ die Familie Chur, lebte einige Jahre in Baden, um dann nach Zürich an die Ernastrasse im Kreis 4 zu ziehen. Diese enge Wohnung wurde während der folgenden Jahrzehnte das Zentrum der Familie. Jeden Samstagnachmittag pilgerten wir alle dorthin, um die Ereignisse der Woche zu besprechen. Nicht nur die vier Söhne und die eine Tochter waren da, sondern ihre Ehepartner und ihre Kinder, meine vielen Cousinen und mein Cousin Rolf. Noch heute ist es für mich ein Rätsel, wie wir alle in diesen klitzekleinen Raum gepasst haben, aus dem die Hauptperson, unsere Omama, bald in ihre kärgliche Küche flüchtete, um sich dem Getöse zu entziehen, während wir uns auf die Köstlichkeiten stürzten, die sie für uns zubereitet hatte. Da gab es nicht nur Backwaren nach alten Rezepten, sondern auch eingelegte Gurken nach polnischer Art, die sie lange auf ihrem Balkon lagerte. Dieses wöchentliche Ritual schweißte unsere Familie auf wundersame Weise zusammen und vermittelte allen ein Gefühl von Heimat.

Meine Omama hatte in jenen Jahren kein eigenes Einkommen und musste von ihren Söhnen finanziell unterstützt werden, was jeder nach seinen Möglichkeiten tat. Auch im hohen Alter war sie eine resolute Frau, die sich durch ein hartes Leben hatte kämpfen müssen. Deshalb ermahnte sie meinen Vater, wenn er mit seiner monatlichen Zahlung von 80 Franken wieder einmal in Rückstand geraten war, weil die Geschäfte gerade nicht so liefen, wie er es sich wünschte. Das ließ sie nicht gelten. Diesen unmissverständlichen Ermahnungen seiner Mutter versuchte mein Vater zu entgehen, denn er kannte seine Pflichten als Sohn. Meine klein gewachsene Omama hatte über das Alter von 70 hinaus pechschwarze Haare, führte ihren eigenen Haushalt bis 93 und verstarb mit 96 Jahren.

Schon früh begann sich mein Vater mit Psychologie zu beschäftigen und schleppte immer neue Fachbücher an. Er engagierte sich bald in der Coué-Bewegung. Der Begründer der bewussten Autosuggestion, der französische Arzt Émile Coué aus Nancy, hatte es ihm angetan. »Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht besser und besser«, war das Mantra dieser Lehre, das mein Vater unablässig zitierte. Er leitete Gruppen-Entspannungsübungen, die jeweils mit den Worten begann: »I möcht Sie bitte, d’Auge zschlüsse.« Es war eine Form der Meditation, bevor dieses Wort Mode wurde. Bald hielt mein Vater öffentliche Vorträge in mehreren Städten und wurde sogar Präsident des Vereins, obwohl ihm administrative Aufgaben und feste Strukturen nicht im Geringsten entsprachen.

Überall war er als Frohnatur beliebt, als Witzereißer und Sympathieträger. Jüdische Vereine engagierten ihn für ihre Festabende als Conférencier. An den damals in vielen Lokalen durchgeführten »Jekami«-Abenden – eine Art Castingshows – trat er in der halben Schweiz mit einer eigenen Nummer auf und holte dort meist den zweiten Preis. Sehr oft hörten wir ihn am Abend schon von Weitem, wie er laut singend das Haus betrat. »Dies ist der schönste Tag in meinem Leben«, war eines seiner Lieblingslieder, mit denen er unsere Dreizimmerwohnung zu unserer großen Freude betrat.

Mitgliedern seiner Coué-Vereinigung stellte er sich auch für Einzelsitzungen zur Verfügung, für die er nie Geld nahm. »Das sind Leute mit Problemen, da kann ich sie doch nicht noch bezahlen lassen«, beschied er meiner Mutter, die mit einem knappen Haushaltsbudget auskommen musste. Die Idee, diese Tätigkeit zu seinem Hauptberuf zu machen, wies er von sich. Nein, er wolle Menschen helfen, mehr nicht. Deshalb sprang er auch immer ein, wenn ihn Dr. Ott zu Hilfe rief, der neben unserer Parterrewohnung eine Arztpraxis betrieb. Wenn dieser bei einem psychisch besonders schwierigen Patienten nicht mehr weiterwusste, übernahm der Textilvertreter Abri Schawinski.

Im Gegensatz zu meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Jacqueline hielt ich Distanz zur Coué-Welt, was meinen Vater nicht zu stören schien. Er machte jedenfalls keinen ernsthaften Versuch, mich für seine Sache zu gewinnen. Erst viel später fiel mir auf, wie stark ich trotz meiner Ablehnung – die wohl eine bewusste Abgrenzung war – von diesem Gedankengut geprägt worden war. So war es folgerichtig, dass Jimmy Cliffs Song You can get it if you really want nicht nur zum Leitmotiv meines Radiosenders, sondern auch meines Lebens wurde. In diesem Song lautet die zweite, wohl noch entscheidendere Zeile: You must try, try and try, you’ll succeed at last. Eigentlich ist dies Coué pur.

Geld war bei uns immer knapp, denn mein Vater hatte kein geregeltes Einkommen. Auch war er als Lebenskünstler kein verbissenes Arbeitstier, sondern setzte sich bei schönem Wetter gerne einmal auf eine Bank am See in die Sonne und ließ den Herrgott einen guten Mann sein. Oder er besuchte die Nachmittagsvorstellung im Kino Kosmos, dem heutigen Club Plaza, wo immer ein Doppelprogramm mit einem Krimi und einem Western gespielt wurde. Solche Eskapaden musste er natürlich vor meiner Mutter verheimlichen.

Als Kinder hatten wir niemals das Gefühl, dass uns etwas Wichtiges fehlte. Unsere materiellen Ansprüche waren bescheiden und konnten irgendwie, wenn auch manchmal unter größeren Anstrengungen, erfüllt werden. Nach mehr strebten wir nicht, und unterprivilegiert fühlten wir uns schon gar nicht. Höhepunkte waren jene Abende, an denen mich mein Vater losschickte, um am Kiosk des gegenüberliegenden Bahnhofs Wiedikon eine Tafel Schokolade zu kaufen, einmal seine Lieblingsmarke Chocmel mit viel Honig, das nächste Mal eine Cailler Milch, die meine Mutter über alles liebte. Uns Kindern war das egal, wichtig war nur, dass wir zu unserem Nachtisch kamen. Die Tafel wurde jeweils gerecht unter uns vieren aufgeteilt, sodass jeder seine sieben Täfelchen erhielt.

In den ersten Jahren lebte auch unsere Großmutter, die Mutter unserer Mutter, bei uns in der Dreizimmerwohnung. Sie war im Elsass geboren und sprach immer noch jenen Dialekt, über den wir Kinder uns amüsierten. Den ganzen Tag über stand sie am Fenster, um das Geschehen auf der Straße zu beobachten. Jeden Abend wurde ihr Bett im Wohnzimmer aufgeschlagen, was unser Familienleben erheblich einschränkte. Später schlief meine Schwester dort, die selbst als junge Frau nie ein eigenes Zimmer in der elterlichen Wohnung hatte, während mir als dem Älteren das frühere Kinderzimmer zustand.

Eines Tages entschied meine Mutter, mit dem Rauchen aufzuhören und das bisher dafür gebrauchte Geld zu sparen. Sie weihte meine Schwester und mich in das große Geheimnis ein: Wir würden am Ende des Jahres unseren Vater damit überraschen, dass der völlig durchgetretene und beschädigte Läufer im Flur durch einen neuen ersetzt würde. Als der entscheidende Tag endlich kam, konnten wir die Anspannung kaum aushalten. Alle fieberten dem Moment entgegen, an dem mein Vater die Wohnung betreten würde. Was für ein Gesicht würde er machen? Was würde er sagen? Es wurde ein unvergesslicher Moment für unsere ganze Familie. Und nichts, was ich mir später leisten konnte – weder ein Auto oder ein Haus –, hat bei mir ähnliche Empfindungen auszulösen vermocht wie jener Teppich.

Mein Vater behielt seinen unvergleichlichen Humor bis ins Alter. An seinem achtzigsten Geburtstag, den wir im Beisein der ganzen Familie im ersten Stock des Restaurants Kronenhalle sehr vornehm feierten, hatte er seinen letzten Auftritt. Obwohl er körperlich bereits angeschlagen war, stieg er zur Überraschung aller auf seinen Stuhl und präsentierte uns eine seiner köstlichen Kabarettnummern.

Kurz darauf verstarb meine Mutter und mein Vater fiel im Altersheim in eine immer tiefere Depression. »Ich glaube, davor hatte ich mein ganzes Leben Angst«, gestand er mir. »Deshalb ging ich wohl zu Coué, um mich davor zu schützen. Darum spielte ich immer den August. Aber jetzt habe ich dazu nicht mehr genügend Kraft.«

Eines der letzten Fotos zeigt ihn mit der eben geborenen Enkeltochter Lea auf dem Arm. Er lächelt in die Kamera, doch sein Gesicht wirkt gequält. »Ich weiß, dass ich mich jetzt freuen sollte«, sagte er mir, »aber ich schaffe es einfach nicht. Solche Gefühle kommen bei mir einfach nicht mehr hoch.«

Als er starb, ging er leise. Sein ganzer Besitz hatte in einem kleinen Köfferchen Platz, das ich aus dem Spital nach Hause trug.

Meine Mutter entsprach dem archetypischen Bild der überbesorgten »jiddischen Mamme«, die alles für das Wohlergehen ihrer Familie opfert. Geboren war sie an der Freischützgasse im Zürcher Kreis 4 und machte die Lehre als Verkäuferin im damaligen Textilwarenhaus Frawa in der Innenstadt, dem heutigen C&A. Auch in späteren Jahren arbeitete sie dort, um das spärliche Einkommen meines Vaters aufzubessern. Sie wuchtete die Stoffballen mit solchem Elan von den Gestellen, dass sie sich damit zwar das Lob des Chefs, aber auch einen gewaltigen Rückenschaden einhandelte.

Für die hohen Festtage bereitete sie traditionelle jüdische Speisen zu, doch im Allgemeinen war sie keine besonders einfallsreiche Köchin. Als absoluten Höhepunkt führte sie eines Tages das Gericht Riz Casimir bei uns ein. Die Kombination von Reis, Fleisch und Früchten empfanden wir als sensationelle exotische Kombination und verlangten für Festessen immer wieder danach.

Meine Schwester und mich überschüttete sie mit ihrer Liebe und ihrer Aufmerksamkeit – und machte sich dabei pausenlos Sorgen um uns. Als ich mit zwölf Jahren mit einem Freund zum ersten Mal mit dem Fahrrad an den Türlersee fahren wollte, um dort im Zelt zu übernachten, protestierte sie heftig. Mein Vater war großzügiger und wollte mir diesen Ausflug gestatten. »Wenn etwas passiert, bist du schuld«, drohte sie ihm, um ihn umzustimmen. Er übernahm ungerührt die ihm übertragene Verantwortung.

Diese permanente Sorge meiner Mutter hat mich weder zurückgehalten noch zu besonders waghalsigem Verhalten gedrängt. Ich habe ihre Bedenken berücksichtigt, indem ich mich jeweils zuverlässig telefonisch gemeldet habe, wenn ich mit dem Fahrrad auf längere Reisen ging – einmal mit einem Schulkollegen sogar über den Schwarzwald bis nach Baden-Baden und Karlsruhe, wo ich die Zerstörungen des Krieges sah. So konnte ich sie beruhigen, ohne mich von meinen Ideen und Plänen abbringen zu lassen. Auch in späteren Jahren machte sie sich weiterhin Sorgen um mich, vor allem ging es nun darum, dass ich mich um meine Gesundheit kümmern sollte und nicht zu viel arbeite.

Damals wusste ich nicht, welch unvergleichliches Glück mir widerfahren war, dass sich meine Eltern bis ins hohe Alter tief liebten. Ebenso wichtig war, dass ich mich immer und ohne den geringsten Zweifel als geliebtes Kind fühlen durfte. Ich nahm dies als selbstverständlich hin und glaubte, dies sei in allen Familien üblich. Erst später wurde mir bewusst, dass die von mir erlebte unconditional love die Basis meines Selbstvertrauens bildet, etwas, das vielen Menschen, denen ich später begegnet bin, leider nicht beschieden ist, die sich in jahrelanger Therapie mit diesem Schmerz auseinandersetzen müssen.

Ebenfalls ganz im Gegensatz zu vielen jungen Menschen musste ich mich nie darum bemühen, die Erwartungen meiner Eltern zu erfüllen, um mir so ihre Liebe zu sichern. Sie stellten keine konkreten Forderungen an mich, und wohl gerade deshalb gelang mir vieles. So war ich der Erste in unserer Familie, der die Matura und anschließend sogar den Doktor machte. Und meine späteren materiellen Erfolge erreichten Bereiche, die für meine Eltern schlicht nicht mehr fassbar waren. Als ich ihnen das neu erworbene Haus mit dem großen Garten am Zürichberg zeigte, blickte mich mein Vater ungläubig an. »Sag, Roger, bist du eigentlich ein Hochstapler?«, fragte er mich allen Ernstes.

Während meiner langjährigen Tätigkeit als Moderator waren meine Eltern meine Fans Nummer 1 und Nummer 2. Sie hörten all meine Sendungen im Radio und verfolgten jede meiner Talkshows bei TeleZüri. Auf dem Heimweg rief ich sie jeweils aus dem Auto an für ein Feedback, das meist sehr wohlwollend ausfiel, außer wenn ich für ihre Begriffe etwas zu konfrontativ aufgetreten war. Als sie dann eines Tages nicht mehr da waren, empfand ich diese fehlenden Rückmeldungen als große Lücke.

Meine Mutter verstarb mit 87 Jahren. In einem letzten Höhenflug tanzte sie im Spital noch am Tag vor ihrem Tod kurz mit meinem Vater, ein für mich ergreifendes und unvergessliches Bild. Sie hatte zuvor eine schwere Herzoperation durchgemacht, von der sie sich nie mehr richtig erholte. Sie war nun müde, hatte zu viele Schmerzen erleiden müssen und war bereit zu sterben – mit einem erfüllten Leben hinter sich, wie sie sagte. In ihrer letzten Stunde waren meine Frau Gabriella und ich bei ihr. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen, als sie Gabriella als »mein Schätzeli« bezeichnete. Und zu mir sagte sie: »Du warst immer mein Sonnyboy«, etwas, das ich von ihr noch nie gehört hatte. Die Tränen kamen mir hoch, und sie tun es wieder, während ich dies niederschreibe.

So ging sie, die mir so unglaublich viel Liebe geschenkt hatte, und hinterließ ein unvergleichlich großes Geschenk, das mich seither erfüllt.