Impressum

Martin Meißner

Elitepartner und Omatyp

ISBN 978-3-95655-023-2 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Foto Hille

 

© 2014 EDITION digital®
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Vorwort

Am 21. 3. 2013 stellte die Volksstimme Magdeburg ihre Kolumne ein. War es eine Art von schlechtem Gewissen, dass der Vorhang mit einem Beitrag von Martin Meißner fiel : „Autoren wie Pilze“? Immerhin hatte Meißner über 10 Jahre lang mit seinen Kolumnen eine gewisse Leserschaft bei der Stange gehalten, wie mal ein Redakteur im Überschwang bemerkte. Oder reiner Zufall nur?

140 der 200 Beiträge hat der Autor in diesem Band zusammengefasst, damit diese nicht das Schicksal schnellen Vergessens von Zeitungsartikeln erleben, sondern sich einschleichen, wenn nicht gleich in die unsterbliche so doch haltbare Existenz richtiger Literatur. Dabei muss man sich bei einigen Beiträgen nicht einmal Gewalt antun. Sie kommen Geschichten gleich, Kurzgeschichten, ungetrübt von strenger Reflexion, die die Kolumne an sich eher behäbig macht.

„Meißners Kolumnen sind Satiren im besten Sinne. Ohne sarkastisch zu sein, greifen sie menschliche Schwächen und Missstände in der Gesellschaft an. Sie sind spannend und unterhaltsam. Meißner tritt als Weltverbesserer auf, der wie alle Weltverbesserer scheitert. Man muss ihn einfach mögen.“

Karl-Heinz Reck Kultusminister Sachsen-Anhalt a.D.

„Ihre Kolumnen sindbemerkenswert. Die seltsame Mischung zwischen Hochsprache und Alltagssprache erzeugt einen unglaublichen Humor. Die Geschichten sind komisch. Ich muss lachen und freue mich, wenn Meißner in der Zeitung an der Reihe ist.“

Susanne Hergesell (facebook)

Unkrank

Warum ich mir über die Gesundheitsreformen ständig Gedanken machte, fragte meine Frau. Hätte einer wie ich gar nichts mit zu tun.

„Du hast doch die Natur eines Ochsen!“

Sie stellte das fest in einem Ton, als fügte ich mit meinem robusten Körper anderen einen Schaden zu.

Da ich gesellschaftliche Vorgänge stets hellwach verfolgte, wollte ich auch persönlich teilhaben an den Auswirkungen einer so einschneidenden Reform. Die Position des Außenseiters akzeptierte ich nicht gern.

So tat ich alles, dass mein Gesundheitszustand nicht überbewertet wurde. Die braune Gesichtsfarbe zum Beispiel legte ich ab, indem ich die Sonne gänzlich mied. Außerdem unterließ ich den Sport, verzichtete auf Obst und Vollkornbrot und aß süß und fett.

Meinen Körper beobachtete ich intensiv, um ebenfalls Gebrechen zu entdecken. So atmete ich auf, wenn mein Hals rau wurde und ein Husten wohl nicht mehr lange auf sich warten ließ.

„Ich befürchte, eine Erkältung ist im Anzug“, sagte ich dann zu meiner Frau mit entsprechendem Kratzen in der Stimme.

„Habe ich jeden Tag“, hielt sie ihr Mitleid zurück.

Und als ich sagte, dass sie immer kränker sein wollte als ich, legte sie mir sofort das Fieberthermometer hin. Obwohl sie wusste, dass ich niemals Fieber bekam. In meiner Körperfunktion war eine solche Überhitzung nicht vorgesehen.

Meine Theorie, es kommt allein und geht allein, musste ich endgültig begraben. Wenn ich die Medizin nicht nahm, die meine Frau vor mir aufhäufte, sagte sie: „Dann geht es dir noch nicht schlecht genug.“

Zum Glück war ich aber eines Tages von der Leiter gefallen und hatte mir wohl den Arm gebrochen. Ich schrie und blieb auch unter der Leiter liegen.

„Was schreist du denn so?“, fragte meine Frau, die erst noch ein Telefonat beendete, ehe sie dann nach draußen kam

„Ich habe mir meinen Arm gebrochen, falls dich das interessiert“, sagte ich und fasste mir mit schmerzverzerrter Miene an den Arm.

„Und?“, wollte meine Frau wissen. „Warum liegst du dann auf der Erde, wenn du doch gesunde Füße hast?“

Noch verzögerter erschien meine Tochter an der Unglücksstelle. Ob sie mir das Fieberthermometer holen sollte, fragte sie nicht ohne Hintersinn.

Festgestellt wurde einhellig, dass ich unbedingt ins Krankenhaus müsste. Und meine Frau packte einen Koffer für einen längeren Aufenthalt.

„Ich lege den Roman von Dan Brown mit hinein“, sagte sie. “Jetzt hast du endlich Zeit, dass du ihn zu Ende liest.“

Meine Angehörigen gaben mich in der Anmeldung ab. Sie verzichteten auf einen langen Abschied, da die Gelegenheit günstig war. In dieser Stadt gäbe es ein Einkaufszentrum mit einem Bombenangebot.

Gebrochen wäre nichts, diagnostizierte der Röntgenarzt. Und auch nicht angebrochen. Eine Prellung vielleicht. Die aber auch von eher minderer Art.

Meine Bitte, trotzdem einen Gipsverband anzulegen, belustigte ihn, und sein Interesse an mir war wie weggeblasen. Er sprach mit der Schwester schon über den nächsten Fall.

Als ich zu Hause anrief, um wieder abgeholt zu werden, ging keiner ans Telefon. Ich nahm mir ein Taxi. Traf aber dann auf ein leeres Haus. Gegen Mitternacht erst polterte es in der Tür. Frau und Tochter kehrten in ziemlich ausgelassener Stimmung heim. Sie kicherten und tanzten wohl sogar durch den Korridor. Der kranke Vater in der Klinik war ihnen einerlei.

Als sie mich vor dem Fernseher entdeckten, war die Enttäuschung groß.

„Wir denken, du bist im Krankenhaus“, sagte meine Frau eingeschnappt. „Jetzt bist du ja wieder hier. Nicht zu fassen. Du bist richtiggehend unkrank. Hab ich doch immer gesagt, dass du niemals umzubringen bist. Dass du die Gesundheit von einem Ochsen hast. Du bist einer, von dem ein Gesundheitsminister nur träumen kann.“

Die Entdeckung des Nichts

Mitternachtssonne!

Um diesem Naturschauspiel beizuwohnen, das es in meiner Heimat nicht gab und auch niemals geben würde, hatte ich mit meiner Frau und der Tochter eine lange Reise auf mich genommen. Wir hatten uns diesen Wunsch erfüllt und standen nun endlich auf dem hohen Felsen des Nordkaps, 71° nördlicher Breite, 10’ und 21’’.Geduldig schauten wir auf das kalte Meer, um etwas zu sehen, was man aber nicht sah.

Es war die Stunde der Stunden gekommen - 24 Uhr. Und wie erwartet taghell, dass man noch im Reiseführer gut lesen konnte. Von der versprochenen Sonne aber keine Spur. Dafür sorgten ein grauer bedeckter Himmel und zusätzlich ein schwarzer Wolkenberg. Unsere Stimmung war entsprechend gedrückt. Genau wie die der anderen aus den Bussen und Wohnwagen, die zu Hunderten vor dem Touristenzentrum der Nordkaphallen abgestellt waren.

„Meinst du wirklich Norden?“, fragte ich bald vorsichtig meine Frau, da ich mir eine Sonne jetzt und hier nicht richtig vorstellen konnte. Immerhin stammte von ihr die Idee der Reise zur Mitternachtssonne.

Ich erinnerte mich an meinen Heimatkundeunterricht und die Merksätze, dass die Sonne im Osten aufging, im Süden ihren Mittagslauf hielt und im Westen unterging. Norden kam in diesen Sprüchen nicht vor. Auch unsere Tochter meldete nun Zweifel an. Von der langen Fahrt an den Fjorden entlang, durch baum-, strauch- oder gänzlich pflanzenlose Tundra sowieso schon ziemlich gestresst. Unterstützt wurde sie von einem kleinen Mädchen in unserer Nähe, das immer heftiger quengelte und ihre Eltern mit der wiederholten Frage löcherte: „Wo ist die liebe Sonne denn? Ich will die liebe Sonne sehen!“

Darauf aber nahte die große Stunde meiner Frau. Als Astronomielehrerin spürte sie Verantwortung für das Geschehen am Himmel vor und über uns. Entschlossen stellte sie sich neben das stählerne Gerippe des monumentalen Globus und gab ihrer Familie Erläuterungen, wie man es aus ihrer Klasse kennt. Als das noch nicht richtig anschlug, hockte sie sich hin, griff einen Stein und ritzte Linien und Kreisbögen in den Fels.

Während sie die Schrägstellung der Erdachse ins Bild brachte und darstellte, wie die Sonne die Polkappe ganztägig beschien, wurden immer mehr der zahllosen Besucher aufmerksam und schoben sich heran. Bildeten einen Kreis. Das Interesse an dem grauen Horizont erlosch.

Alle hatten nur noch das Schaubild und meine Frau im Blick. Dabei blieb der Wissensdurst nicht auf Deutsche beschränkt, die nur am Anfang in der Überzahl waren. Touristen aus aller Herren Länder drängten sich. Aber sie hielten noch respektvoll Abstand.

Erst als das quengelnde Mädchen an meine Frau herantrat, sie an die Schulter fasste und fragte:„Tante, wo ist sie denn die liebe Sonne? Ich will die liebe Sonne sehen!“ war das Eis gebrochen. Nun zuckten die ersten Blitzlichter. Und mir wurde klar, wie zahlreich Japaner den nördlichsten Punkt Europas in ihr Herz geschlossen hatten. Schüchtern und beinahe demütig traten sie an meine Frau heran und baten mit Gesten um ein gemeinsames Bild. Wie sie sich vorher wechselweise vor dem stählernen Globus ablichteten, taten sie es nun zusammen mit der deutschen Lehrerin.

Und bald schlug allgemein die Stimmung um. Erstes Lachen erklang. Die missmutigen Gesichter hellten auf. Kaum einer noch schien die Sonne zu vermissen. Die Idee, dass es sie gäbe, obwohl man sie nicht sah, war den Leuten genug.

„Seht ihr! Hat sich doch gelohnt“, sagte meine Frau auf unserer Fahrt durch die taghelle Nacht zum Hotel.

„Hast recht“, stimmte ich ihr zu.

Der alte dumme Mann

Da ich sehr interessiert war, besuchte ich gern Vorträge. Und gerade diese eher positive Gewohnheit wurde mir zum Verhängnis. Führte zu einer Niedergeschlagenheit, zu einer Depression, die in eine regelrechte Lebenskrise zu münden versprach.

Die Bevölkerungsentwicklung meines Bundeslandes in den nächsten 20 bis 70 Jahren war das interessante Thema. Wurde vergleichsweise gut besucht. Dabei überraschte es mich, wie tief die Liebe zur Statistik und besonders zur Demografie im allgemeinen Volk verankert war.

Dass Geburten, Sterbefälle, Zuzug und Abwanderung die Bevölkerungsstruktur und Zahl eines Bundeslandes bestimmten, hatte ich mir schon gedacht. Aber an den Einzelheiten mangelte es mir noch und so war ich froh, das endlich zu erfahren.

Mit den jungen hübschen Frauen begann der Referent und ihrem dramatischen Rückgang. Es fehlte nicht mehr viel und man hielte vergeblich Ausschau nach dem letzten verbliebenen Exemplar. Vergleichbar nur den Auerhennen im Harz. Um das zu beweisen, entrollte der Mann ein Schaubild, auf dem symbolisierte Superweiber an fetten Pfeilen entlang nach Westen und Bayern rannten.

Als nächstes verpissten sich, wie er es besonders volkstümlich rüberbrachte, die kräftigen jungen Männer. Die aber schon weniger als die übermobilen Frauen, da sie von Natur aus bodenständiger waren, also ziemlich bequem. Außerdem kriegten sie ihr Gesäß von Mamas Tisch nicht weg.

Die letzte Tendenz aber machte dem Referenten sichtbar Kopfschmerzen. Und er zögerte, mit einer scheinbar sehr ungeliebten Tatsache herauszukommen. Mehrfach nahm er ein Taschentuch und wischte sich die Stirn. Bei den Kindern war er angekommen, die rasend weniger wurden. Was den Kindergärten und Schulen leicht anzumerken war. Zusammen hing das mit denen, erläuterte der Experte. Er zeigte noch einmal zu den Superweibern auf dem Schaubild, die nicht nur attraktiv waren, sondern gebärfähig auch.

Aber noch etwas wollte uns der Mann mitteilen, wusste aber nicht recht wie. „Die verbleibenden Kinder werden immer ...“, druckste er.Größer würde der Anteil der ... Wie sollte man es sagen, ohne jemanden persönlich weh zu tun. Jedenfalls war nicht zu übersehen, dass es nur eine Schulform gab, die boomen würde. Und die Statistik wäre eben schonungslos und könnte sich kein übertriebenes Taktgefühl leisten. Da nahm ihm ein Zuschauer seine Seelenqualen ab. Ein ziemlich grobschlächtiger und unsensibler Typ, den ein Feingeist nicht gern zum Spießgesellen hätte. „Sprechen Sie es doch aus“ platzte er hervor. „Die Nachzucht wird immer dümmer.“

Entsetzt schauten alle auf diesen Mann. Besonders der Referent; der aber umgekehrt auch irgendwie erleichtert war, dass es nicht von ihm kam. Dass die schlimme Wahrheit nicht seine Lippen verließ. Ich persönlich schämte mich für diesen Grobian.

Als ich zu Hause davon erzählte, hielt sich die Empörung meiner Familie allerdings in Grenzen. Im Gegenteil, statt mich emotional zu unterstützen, verwendeten meine Lieben die Botschaft gegen mich.

„Gut, dass wir es nun wissen“, sagte der eine. Und der andere fügte hinzu, froh zu sein, den zukünftigen Bewohner unseres Landes nun zu kennen. Statistisch gesehen und überhaupt war er alt, männlich und im Kopf nicht besonders hell. Auf den Punkt gebracht also: Der Prototyp des Bewohners unserer Region in der Zukunft war der - alte dumme Mann.

Ich ließ es mir nicht anmerken, aber das schadenfrohe Gelächter der Familie kränkte mich schon.

Für mich jedenfalls wurde eines klar: Mein Bedarf an Vorträgen war erst mal gründlich gedeckt.

Idealgewicht

In unserem Kleiderschrank hing eine Vielzahl von Männerhosen. Weit mehr als sie üblicherweise in einem mitteleuropäischen Haushalt vorhanden waren. Diese Beinkleider gehörten mir, hatte die meisten aber lange nicht mehr getragen. Jahrzehnte, behauptete meine Frau. Trotzdem zögerte ich, mich von ihnen zu trennen.

„Lass ruhig hängen“, wehrte ich mich, wenn meine Gattin mal wieder mit ihren Röcken und Blusen zur Altkleidersammlung fuhr und meine Hosen mit einbeziehen wollte.

Ich konnte mich von diesen Kleidungsstücken nicht trennen, in der Hoffnung, dass sie mir eines Tages wieder passen müssten; spätestens nach der nächsten Diät.

Damit war ich bei meinem Problem – einem deutlich erhöhten Bodymaßindex. Ich war also ein wenig zu kräftig in den Hüften, einfach zu fett.

Dieses Leiden verfolgte mich eigentlich schon von Kindesbeinen an. Obwohl ich eine schöne Kindheit hatte, macht der Gedanke an den Sportunterricht wieder alles kaputt. Manchmal kam es mir vor, als hätte meine Schulzeit überhaupt nur aus Sportstunden bestanden. Aus Übungen am Reck. Aus diesem Feldaufschwung, bei dem der Lehrer zwei Mitschüler heranwinken musste, die mir, mein Gesäß nach oben schiebend, gemeinsam assistierten. Klar, welche Spuren das Hängen an diesem Foltergerät bei einem sensiblen Jungen hinterließ.

Später analysierte ich oft die Gründe für mein Übergewicht. Als Hauptübeltäter erkannte ich die Gene, denen ja im Nachhinein nicht mehr beizukommen war. So beruhigte es mich zum Teil, wenn ich im Familienalbum einen fetten Urahnen sah. Worin mich meine Frau aber nur verhalten bestärkte. „Quatsch Gene!“, sagte sie. „Du isst einfach zu gerne. Und viel zu viel.“

Um wieder an Attraktivität zu gewinnen, kniete ich mich richtig rein. Las Zeitschriften und ganze Bücher über Wunderdiäten und wandte sie auch versuchsweise an. Aber schon der Anblick von Rohkost bereitete mir extreme Übelkeit, die nur noch beim Verzehr von Körnern aus dem Bioanbau übertroffen wurde. Einleuchtend, dass ich alle Energie zum Durchhalten bald wieder verlor.

Mein letzter bedeutender Anlauf bestand nun im Besuch eines Vortrages, den ein Ernährungswissenschaftler in der Volkshochschule hielt. Vor einem großen Publikum übrigens, das aus zwei säuberlich getrennten Fraktionen bestand. Den Übergewichtigen wie mir einerseits, die man ja hier erwartete und die beim Erscheinen verschämt die Bäuche einzogen und rasch Platz nahmen. Die andere Abteilung stolzierte laut herum und wollte sich erst gar nicht setzen, damit man ihre heruntergehungerten Leiber auch lange genug sah.

Der Professor aber präsentierte sich bald als Genie. Jedenfalls für meine Fraktion. Die ganzen Wunderdiäten wären ein Unfug, wetterte er. Scharlatanerie! Und sie machten nur die Zeitschriften und Autoren reich. Milliarden für gedruckte unwirksame Ernährungstipps.

Welches Tier richtete seine Nahrungsaufnahme nach Büchern aus? Man brauchte Hunger und Durst und einen klaren Kopf. Und über die Schädlichkeit von Rohkost wollte er gar nicht erst reden. Wenn man nur bedachte, wie sich fast jede Pflanze dagegen schützte, dass sie ein Tier vertilgt. Mit Gift nämlich. Mit Unmengen schädlicher Substanz!

Kein Wunder, dass durch diesen Professor für mich die Wende kam.

Zur Überraschung meiner Frau steuerte ich schon am nächsten Tag die Kleiderkammer an. Wozu war klar.

„Ich habe das Idealgewicht“, erklärte ich.

„Seit wann?“, fragte sie und wanderte mit ihrem Blick an meiner Hüfte entlang.

„Schon immer“, sagte ich. „Das Idealgewicht eines jeden ist genau das, das er gerade hat.“

Seitdem ich dies nun wusste, fühlte ich mich ganz leicht. Richtig schwerelos.

Das schöne Geschlecht

Als wir bei Freunden zu Besuch waren, blickten wir vom Frühstückstisch auf ein eingezäuntes Wiesenstück. Dort sah man Hühner. Eine muntere Herde dieser Eier legenden Tiere. Dazu zwei Hähne.

Der eine von den beiden war ein ausgesprochenes Prachtexemplar. Hoch von Wuchs, in einem schillernd bunten Federkleid. Dazu ein Kamm, flammend rot. Naheliegend, dass solch ein Wesen weltweit dem Feuer als bildhaftes Gleichnis dient. Dem Ganzen setzte er mit einem unerhörten Kikeriki die Krone auf.

Diesen eindrucksvollen Gesellen bewunderten die Frauen am Tisch. Brachte sie zu der Überlegung, dass männliche Vertreter dem Schönheitsideal am nächsten kamen. Um ihre Theorie weiter zu untermauern, führten sie andere Tierarten an, bei denen das Männchen dem Weibchen im Aussehen überlegen ist. Von Löwe über Hirsch zu Bison reichte die Galerie. Und spätestens, wenn einer mal einen Auerhahn bei der Balz gesehen hat, begreift er, zu welcher Eskalation an Schönheit die Natur in der Lage ist. Was sogar dazu führt, diesen Tieren den Namen des männlichen Teils zu geben, als wären die Hennen eine Art Unterschicht. Wozu dieser ganze Aufwand diente, lag auf der Hand. An einer optimalen Fortpflanzung war alles orientiert. Schöne Nachkommen waren das Ziel, dazu erfolgreich und stark. Schöner starker Vater – schönes starkes Kind. Ein simpler Gedankengang.

Dass mir diese Ansicht gefiel, ließ sich denken. Und verstohlen versuchte ich mein Spiegelbild in einer Glastür zu erkennen. Aber mein Anblick musste mir nicht gut getan haben. Dennanstatt mich zu strecken, meine Schultern breit zu machen, um mich in die Galerie der Bisonbullen, Keiler und Auerhähne einzureihen, sackte ich eher zusammen und mein Gesicht wurde traurig und blass.

Als ob die Frauen meine leidvollen Gedanken erahnten, wendeten sie plötzlich das Blatt. Das Gesagte gelte natürlich nur für das Tierreich, verständigten sie sich. Bei den Menschen sei das umgekehrt. Brauchte man ja nur die bunten Zeitschriften aufzuschlagen oder den Blick zu werfen auf einen Opernball. Warum sonst nannte man die Frau das schöne Geschlecht?

Was alles für mich nur sehr bedingt zum Trösten geeignet war.

Viel besser war etwas anderes. Die Unterstützung von einer Seite kam, von der es am wenigsten zu erwarten war. Von dem zweiten Hahn da draußen.

Der nun das ganze Gegenteil von dem ersten war. Dem genannten Schönheitsideal weniger entsprach. Der war deutlich kleiner. Und in seiner Entwicklung ein wenig verkümmert. Oder von seiner Rasse her viel bescheidener orientiert. Aufkurzen Beinen tappend, mit einem Kamm, der an eine Missbildung denken ließ, krähte er noch dazu wie eine quietschende Tür.

Aber diesen Kleinen nun gerade schienen die Hennen zu lieben. Schoben sich in seine Nähe, umschwänzelten ihn. Nahmen ihn in die Mitte. Paarten sich ganz und gar mit ihm. Näherte sich ihnen aber der andere, dieser Ausbund von Schönheit und Stattlichkeit, wichen ihm die Hennen aus und pickten sogar nach ihm und schlugen ihn in die Flucht.

Ich weiß nicht, ob das auch die Frauen beobachteten. Mir jedenfalls gefiel das sehr und offenbarte, zu welcher Gerechtigkeit die Natur bei aller darwinschen Auslese in der Lage ist.

Goldener Schnitt

Ich habe die Idealfigur!

Das sagte ich am Frühstückstisch.

Wer mich schon mal gesehen hat, versteht, warum sich meine Tochter verschluckte und erst nach ein paar Schlägen auf den Rücken wieder zu sich kam.

Dabei muss man wissen, dass ein gewisses Übergewicht Zeit Lebens mein ständiger Begleiter war, seit ich als pummliges Baby das Licht der Welt erblickte.

Da dieser aussichtslose Kampf mit dem Gewicht im gesellschaftlichen Bewusstsein tief verankert und jede bunte Zeitung beständig ein Thema hat, gibt es von meiner Seite nichts Neues hinzuzufügen. Außer vielleicht ein Hinweis auf meinen Kollegen Georg, der eine rechte Bohnenstange war. Und zu Spruchweisheiten neigte. Wie: Ein Dicker ist dick. Oder: Einmal dick immer dick!

Dieser Georg liebte es außerdem, mich in der Frühstückspause zu foltern. Während ich auf meiner rohen Möhre kaute, nahm er ein Stullenpaket heraus. Einen überdimensionierten Packen, der eine Unzahl großer Schnitten enthielt. Belegt mit gekochter Mettwurst. Was schon am Geruch zu erkennen war. Und in mir ein beißendes Hungergefühl erzeugte, da gekochte Mettwurst mein Ein und Alles war.

Absicht oder nicht, jedenfalls erreichte Georg es, dass ich mich bald wieder umstellte und zur herkömmlichen Nahrung zurückkehrte. Mit dem optisch bekannten Resultat.

Nun aber trat unerwartet doch noch die Rettung ein.

Die Magdeburger Otto-von Guericke-Universität lud zum 2. Magdeburger Mathe-Nachts–Traum ein, wobei unsere Landeshauptstadt sinnigerweise Matheburg genannt wurde. Ohne die ernste Wissenschaft der Mathematik zu verballhornen, wurde auf dieser Veranstaltung trotzdem versucht, dem ernsten und von Schülern eher ungeliebten Wissenschaftszweig etwas Volkstümliches abzugewinnen.

„Darf ich Zahlen?“, war das Buch, aus dem ein berühmter Mathematikprofessor las. Der nicht so sehr auf das Buch selbst stolz war, als vielmehr auf die Tatsache, dass er es in Raabs Sendung vorstellen durfte. Was die eigentliche Bedeutung das Werkes auszumachen schien.

Er die Sendung mitgeschnitten hatte und so die Anwesenden an seinem innigen Verhältnis zu dem Raab teilhaben ließ.

Ein anderer Professor analysierte mathematische Aspekte in der Simsonserie. Was mir persönlich bestätigte, dass nicht jeder für die Rechenkunst geboren war. Da ich schlicht den Professor nicht verstand.

Besser ging es mir dann mit den kleinen Experimenten, von Studenten durchgeführt.

So konnte sich der Besucher vermessen lassen. Anhand seines Körpermaßes ermitteln, wie weit der Bürger dem Idealmaß nahe kam. Dem goldenen Schnitt, dem Leonardo da Vinci als Erster in seiner Darstellung des menschlichen Körpers Rechnung trug.

Da nur Armlänge und Beinlänge ins Verhältnis zum Gesamtköper gesetzt wurden und Bauchumfang und Poausmaß nicht relevant waren, hatte einer wie ich plötzlich unerwartet eine Chance. Und heimste neben den günstigen Werten noch das anerkennende Nicken der messenden hübschen Studentin ein.

„Kann sich sehen lassen“, war ihr Kommentar zu meinem sonst eher gescholtenen Körperbau.

Dass sich mein skeptisches Verhältnis zur Mathematik gewandelt hat, liegt auf der Hand.

Noch mal durchstarten

Wir müssen nun noch mal richtig durchstarten. Das sagte ein alter Schulfreund von mir, der genau wie ich ins Rentenalter eingetreten war. Was er damit meinte, wurde nicht ganz klar. Aber wie er es sagte, imponierte mir. Es klang, als hätte er etwas ganz Großes vor.

So versuchte auch ich zu ergründen, wie denn durchstarten ging und was für meine eigene Person in Frage kam.

Als ich meiner Frau von solchen Plänen erzählte, sagte sie, das passe ja gut. „Du kannst gleich mal mit dem Durchstarten beginnen und den Keller aufräumen. Gestern bin ich über was gefallen, das da nicht hingehört.“

Als ich die Arbeit im Keller hinter mir hatte, war ich sicher, dass mein alter Schulfreund dies nicht gemeint hatte. Sein Durchstarten besaß eine völlig andere Dimension.

Welche, begann ich zu ahnen, als ich hinter einem jungen Mädchen in die Straßenbahn stieg. Die ihren Hosenbund weit unten hatte und eine Art Schlüpfer bestehend aus einer Schnur sehen ließ. Mich sofort an mein Durchstarten erinnerte und Gedanken frei machte, die aber nichts für die Öffentlichkeit sind.

Da ich es bei meinen Vorstellungen und Wünschen beließ, zumal mir das Mädchen den freien Platz anbot und sich nicht verkniff, ‚setz dich mal hin Opa‘, zu sagen, musste was anderes her.

Wassergymnastik für Senioren bot sich an. Ein Sport, auf den mich Frauen des Umfelds und meines Alters brachten. Ein Tun, das sie mit großer Ernsthaftigkeit betrieben, mit Pünktlichkeit und Gründlichkeit und graziler Verrenkung, wovon ich mich bei einem Schnupperbesuch überzeugen konnte. Mir anzeigte, dass hier längst durchgestartet war, aber ohne Chancen für einen Nachzügler wie mich.

Da sich das Durchstarten für mich in der Wassergymnastik verschloss, besann ich mich auf die Herkunft des Begriffs und überlegte mir, dass es im ursprünglichen Sinne dem Autofahren entliehen war.

So überprüfte ich meinen Fahrstil. Stellte fest, dass ich sehr verhalten fuhr, defensiv, wie man es nennt. An die Einmündungen heran rollte, so dass die Bremsbeläge extrem geschont wurden. Schaute nicht nur nach links und rechts, sondern im Rückspiegel auch nach hinten und nach vorn sowieso. Und wenn ich das hinter mir hatte, wurde es schon wieder Zeit, das Ganze neu zu beginnen; also Blick nach links und rechts ...

Höchste Eisenbahn, mein Fahrverhalten zu verändern und das Gaspedal dazu zu nutzen, wozu ein Gaspedal erfunden war.

Bis ich nach einem halben Jahr erneut auf meinen alten Schulfreund traf. Der auch gleich wieder mit der Aufforderung loslegte, wir müssten jetzt erst mal richtig durchstarten. Womit er offenbar noch immer nicht begonnen hatte. Vielleicht war ihm etwas dazwischen gekommen. Oder er wusste genau wie ich nicht recht, was dieses Durchstarten denn eigentlich war.

Ich bin schon durchgestartet, sagte ich.

Und?

„Ich habe keinen Führerschein mehr“, erklärte ich. „Zwei Auffahrunfälle und 70 Stundenkilometer im Fußgängerbereich. Waren der Polizei wohl zuviel.“

Was mein alter Mitschüler dachte, weiß ich nicht. Bewunderung in seiner Miene aber allemal und vor allem auch Neid, dass da mal aus unserer Generation noch einer aus dem Trott des Alltags ausgebrochen und zünftig durchgestartet war.

Die Zunge hat keinen Knochen

Die Zunge hat keinen Knochen!

So heißt es in der Türkei. Die Zunge ist locker, will der Türke sagen. Man kann sie biegen. Der Mensch vermag seine Meinung schnell zu ändern. Setzt seine Worte zum eigenen Nutzen ein. Redet heute so und morgen ganz anders. Auch Taten lassen sich verschleiern, vertuschen und später erscheinen sie im neuen Licht. Dass auch üble Nachrede gemeint ist oder einfach Klatsch im Treppenhaus und über den Gartenzaun, bietet sich an. Auch, dass die Zunge ständig in Bewegung ist. Niemals ruht und vieles gesagt wird, das ungesagt enorm an Wert gewann. Und wenn es denn einmal raus ist, fängt man es nicht wieder ein. Hätte er sich doch lieber auf die Zunge gebissen, heißt es dann.

Natürlich ist bei dieser Betrachtung immer die Zunge der anderen gemeint.

Aber wie steht es, wenn es um einen selber geht? Traut man immer der eigenen Zunge über den Weg? Oder sieht man sie mitunter und vielleicht zunehmend als ein untaugliches, unkontrollierbares Werkzeug an?

Beobachten kann man das. Wenn einer zum Beispiel sagt, dass er telefoniert hat oder es will, dann sind ihm Worte nicht genug. Dann unterstützt er seine Rede noch mit der Hand. Als reichte es zu sagen nicht aus, einen Gedanken auf den Gesprächspartner zu übertragen. Man macht sehr unbeholfen eine Art Faust, nimmt aber den kleinen Finger und den Daumen nicht mit an. Spreizt sie ab und hoch. Und als reichte das nicht, führt man diese deformierte Faust noch in Richtung Ohr. Damit auch dem letzten Gesprächspartner klar ist, dass von Telefonieren die Rede ist. Dass einfache Gemüter zu diesem Hilfsmittel greifen, geht ja noch an. Aber immer mehr sieht man diese Geste im Fernsehen und auch bei Leuten, bei denen es nicht gern gesehen ist.

Jedem fallen weitere Beispiele sprachbegleitender Handbewegungen oder das Mittun anderer Körperteile ein. Obwohl selten etwas so komisch aussieht wie diese Geste, die auf das Telefonieren verweist.

Viel logischer eigentlich sind ja Bewegungen, die die Sprache nicht begleiten, sonder sie ersetzen. Was bei großem Lärm nötig erscheint oder wenn die Gesprächspartner durch eine Scheibe etwa hörtechnisch voneinander getrennt sind.

Fußballtrainer haben im Lärmen und Getöse der vollen Zuschauerränge aus der Not ein ganzes Areal von Bewegungen entwickelt. Wobei man staunt, wie ein entfernt stehender Spieler diese optischen Anweisungen überhaupt richtig sehen kann. Ganz zu schweigen, sie zu deuten, wenn er gleichzeitig rennt und außer dem Trainer noch Ball und Gegner im Auge haben muss. Dabei stelle ich fest, dass die Gesten der Trainer immer mehr an Bedeutung gewinnen. Und die Fernsehkamera fängt verstärkter die hampelnden und grimassenschneidenden Trainer ein als das Fußballspiel an sich.

Dass Handbewegungen auch in anderen Lebensbereichen zunehmen, kann man im Straßenverkehr beobachten. Dabei ist die Frage, ob ein Tippen an die Schläfe oder das Hin und Her der flachen Hand vor der Stirn nicht einem unzimperlicher groben Spruch vorzuziehen ist.

Die Tatsache bedenkend, dass die Zunge keinen Knochen hat.

Kein Foto

Einmal im Jahr kriege ich mit, dass sich die Welt verändert. Und vor allem, dass die Menschen anders werden. Eine Urlaubsreise ist die beste Gelegenheit.

Das beginnt schon bei der Vorbereitung, wenn auch meine Frau auf den modernen Zug aufspringen möchte. Dieses Jahr sollte es unbedingt ein neuer Fotoapparat sein. Eine digitale Kamera, wie sie es nannte. Ein Apparat, bei dem man angeblich keinen Film mehr brauchte und bis zu tausend Aufnahmen schoss. Abgesehen davon, dass ein Fotoalbum später überflüssig war.

Obwohl ich ziemlich viel mitmachte und nicht als hinter dem Mond gelten wollte, prallte meine Frau in diesem Fall gehörig bei mir ab. Man sollte nicht übertreiben. Unser Fotoapparat war noch immer gut genug gewesen. Und wer zeigte denn voller Stolz die schönen Urlaubsfotos rum? Na also! Kein Grund, dass sich das änderte. Ein Fotoapparat, der tausend Bilder schoss, ohne dass du zweimal Luft holen musst, kam mir nicht in die Tüte. Und so reisten wir in den Süden Afrikas ausgerüstet mit unserer bewährten Kamera.

Wie vernünftig das war, bemerkten wir bald. Digitale Kameras, wohin man sah. Fotografiert wurde auch früher. Und zu Hause später war leicht zu merken, wie man auch damals schon ein bisschen übertrieb. Aber dies war nichts gegen das, was sich zwischen Kap der guten Hoffnung und Krüger–Nationalpark abspielte. Anstatt sich staunend an den Flusspferden zu erfreuen und auf dem Tafelberg den Blick genießend über das Kap schweifen zu lassen, hatten die Leute diesen kleinen Apparat vor dem Gesicht. An Stelle des Originals guckten sie sich Tiere und Landschaft auf einem winzigen Bildschirm an. Immer wieder knipsend. Sich zwischendurch vergewissernd, ob die Aufnahme denn perfekt genug war oder ein weiterer Schnappschuss noch Verbesserung versprach. Da das Ganze auch im Gehen stattfand, musste man sich wundern, wie selten einer gegen einen Laternenpfahl lief oder einen Abgrund hinunter fiel. Sehr beliebt war die Methode, mit lang vorgestrecktem Arm das eigene Gesicht abzulichten mit einer Sehenswürdigkeit im Hintergrund. Wobei man sich ersparte, wie meine Frau und ich noch immer, mal einen Passanten um die Gefälligkeit einer Aufnahme zu bitten.

Alles in allem wurde mir wieder klar, dass der technische Fortschritt viel Unfug zu Tage bringt, auf den man beruhigt verzichten kann.

Ein Höhepunkt unserer Reise war der Besuch einer Raubtierfarm. Besonders für mich, da man dort in einem Gehege einen ausgewachsenen Leoparden streicheln konnte. Um den lieben Angehörigen daheim seine Tapferkeit zu beweisen, nahm man seinen Fotoapparat mit rein. Gab ihn einem Pfleger, der das Bild dann schoss. Meinen Apparat nun drehte der Mann erst noch vor den Augen herum, neugierig, was das denn war und ob das überhaupt zum Fotografieren ging. Fand sich nach einem Hinweis dann aber zurecht.

Dass eine gute Absicht jedoch nicht reichte, wenn der Film gerade alle war, merkten wir dann zu Haus, als wir die Urlaubsbilder aus der Drogerie holten. Das letzte Bild war nur halb.

Ein Leopard zwar noch da, gefährlich und hoch aufgerichtet. Mehr dann aber nicht. Der Rest schwarz wie die Nacht, wie es vorkommt, wenn der Film zu Ende ist.

„Der Vater sah so tapfer aus“, sagte meine Frau zu den Kindern. „Zu dumm, dass man es nicht sehen kann.“

Schadenfreude hörte ich nicht heraus.

Schönheitsoperation

Der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier war, dass der Mensch denken konnte und das Tier eben nicht. Lernte man in der Schule schon.

Ich aber hatte einen anderen Unterschied entdeckt, der wesentlich stärker ins Auge fiel.

Das Tier war mit seinem Aussehen zufrieden, während den Menschen sein Leben lang der Zweifel plagte. Joschka Fischer, sagte eine Politikerin zum Beispiel, wäre lebenslänglich mit seinem Körper uneins und bekämpfte ihn permanent. Mit welchem Auf und Ab war ja bekannt.

Die Sonderstellung des Menschen bewies schon allein die Tatsache, dass er den Spiegel erfunden hatte, während keiner anderen Kreatur soviel an der Überprüfung seines Äußeren lag. Außerdem bedeckten wir den Körper mit Kleidung, damit nicht alles zu sehen war.

In der Natur gab es außer uns kein Lebewesen, das sein Aussehen in Frage stellte.

Wenn in der Paarungszeit der Streit um das beste Weibchen oder ein Weibchen überhaupt losging, zweifelte kein Bock an sich selbst. Sondern jeder stürzte sich auf seinen Konkurrenten oder baute sich auf und bewies, wie attraktiv und unwiderstehlich er war. Anders beim Menschen, den die Natur mit gravierenden Fehlern ausgestattet hatte.

Wie Joschka Fischer hätte auch ich mich fragen können, warum einem die Natur so zusetzte und man mit seinem Äußeren nie zur Ruhe kam.

Als Baby standen die Ohren ziemlich ab. Der Mutter zum Trost sagten alle, man wäre ein besonders neugieriges Kind. Aber dann zeigte sich die Natur freundlich: Ließ Haare üppig sprießen, so dass dies Übel bald nicht mehr zu sehen war. Aber kaum war alles im Guten geregelt, legte die Natur nach, und die Haare fielen rasant wieder aus. Die Lauscher kehrten in voller Größe zurück. Bis einer im Supermarkt bemerkte, in der Schlange stände ein Kunde, der Ohren wie Salatschüsseln besaß.

So begann meine Karriere als Schönheitspatient; indem ich mir die Ohren dichter an den Kopf herannähen ließ. Und da das wenig Schmerzen bereitete und meinen Erfolg bei Frauen nachweislich steigerte, blieb ich dran. Zumal sich die Natur jetzt über meinen Bauch hermachte und ihn anschwellen ließ.

Da ich endgültig ein Freund der Schönheitsoperationen war, hatte ich wenig Skrupel und ließ mal eben Fett absaugen. So ersparte man sich schweißtreibende Läufe durch den Wald und das ewige schlechte Gewissen beim Verzehr von Eisbein und Frankfurter Kranz. Wieder war ich recht zufrieden und überlegte schon, welchem weiteren Teil meines Körpers eine kleine Korrektur nicht schaden könnte.

Da aber lauschte ich heimlich einem Gespräch meiner Frau. Eine Freundin fragte, was bloß mit ihrem Mann los wäre. So ein dünner Hering plötzlich. Dabei hätte sie meine Frau immer beneidet um diesen stattlichen Kerl. Jetzt aber, und man hätte sich gern verhört, riet sie ihr, sich mal frisch in der Männerwelt zu orientieren. Noch wäre es nicht zu spät.

Da war ich ganz durcheinander. Ich beneidete den hässlichen Ziegenbock im städtischen Tierpark, der sich vor den Geißen aufbaute und keine Ahnung hatte, wie unansehnlich er in Wirklichkeit war.

Der Mensch unterschied sich darin vom Tier, dass er mit seinem Aussehen unzufrieden war. Vielleicht kam daher ein Teil des Elends dieser Welt.

Generation Wischlappen

Mir ist ein Buch in die Hand gekommen, das berühmte Persönlichkeiten der Weltgeschichte vereint. Das Lexikon der Idole. Es ist eine eigentümliche Aneinanderreihung von Persönlichkeiten, wie sie verschiedener nicht gehen kann und denen allenfalls gemeinsam ist, dass man sie kennt. Selbstlose Menschen wie Albert Schweitzer und Mutter Teresa hat man in die gleichen Buchdeckel wie den Superganoven Al Capone gequetscht, dazu Marilyn Monroe, ein Sexidol. Genau wie es ein Rätsel bleibt, was der Fußballspieler Franz Beckenbauer in einem Werk gemeinsam mit Albert Einstein zu suchen hat.

Total aus dem Grübeln kam ich aber nicht mehr heraus, als ich auch noch Alice Schwarzer fand.

Alice Schwarzer hat eine Generation von Männern geprägt, die nicht begriff oder jedenfalls viel zu spät, dass diese Frau ihnen nicht wohlgesonnen war. Dass wir ihr auf den Leim gegangen sind. Haben uns für unsere Vorgänger geschämt und hatten den festen Willen, alles wieder gut zu machen. Mit Feuereifer haben wir uns in die Hausarbeit gestürzt. Hausputz sowieso, Wäsche- und Geschirrreinigung. Backen und Kochen. Babypflege. Und ließe uns nur die Natur die Chance dazu, hätten wir auch noch das Gebären zu unserer Aufgabe gemacht. Wenn bei einer Fete, wie damals noch die Party hieß, unsere Frauen mit dem ersten Gast schon mal einen Cocktail nahmen, war einer wie ich noch mit dem Windeleimer auf der Treppe unterwegs. Stellte im Vergleich zu der Generation Golf oder Generation Doof die Generation Wischlappen dar.

Den Frauen kam diese gewandelte Männerschaft nicht ungelegen, zumal sie den Ehrgeiz entwickelte, es ihren Müttern nicht nur gleich zu tun, sondern die Hausarbeit noch immer weiter zu perfektionieren.

Aber eines nehme ich ihr übel. Diese Kämpferin für die Emanzipation hat uns Männern was verheimlicht. Vielleicht wusste sie es nicht oder behielt es mit purer Absicht für sich.

Die Träume unserer Frauen hat sie uns nicht mitgeteilt. In den Träumen bei Nacht, in den Wünschen bei Tag und in ihren Gesprächen am Kaffeetisch kamen wir modernen Heimchen nicht vor. Da hatten andere Platz. Kerle mit kantigem Kinn und unrunden Wangen, die ihren Wert kannten, deren Intelligenz sich hinter Schweigsamkeit bedeutungsschwer in Deckung hielt. Die es sich leisteten, Frauen abperlen zu lassen, anstatt ihnen Wunsch auf Wunsch von den Augen abzulesen. Männer ohne Wischlappen in der Hand.

Zum Glück für die uns nachfolgende Generation ist Alice Schwarzernun wie ein böser Flaschengeist eingesperrt in einem Buch Und die Frauen von heute besinnen sich längst wieder darauf, das zu erfüllen, wozu die Natur sie geschaffen hat. Nur wir Männer der Generation Wischlappen lernen nicht mehr um. Was auch etwas Gutes haben kann. Die jungen Mütter unserer Familien vertrauen uns gern mal ihr Baby an.

„Der Opa macht das schon“, sagen sie. Als gäbe es kein größeres Glück auf Erden, als den Inhalt einer Windel zu betrachten und nicht zurückzuschrecken vor seinem charakteristischen Duft.

Schullaufbahn

In unserer weitläufigen Verwandtschaft gab es großen Ärger. Einige Zweige des Familienbaumes sprachen nicht mehr miteinander. Luden sich auch zu den beliebten Festen nicht länger ein.

Schuld an dem Dilemma war der Kultusminister. Sein Schulgesetz nämlich, welches verfügte, dass sich die Schüler mit der 5. Klasse für das Gymnasium qualifizierten. Oder eben nicht. Die Basis war die Empfehlung der Grundschullehrer. Und wenn die nicht erteilt wurde, konnte man es auf dem Umweg einer Prüfung doch noch erreichen; was nur mit einem perfekten Nervenkostüm zu bewerkstelligen war.

In unserer Familie nun gab es zwei Kinder, die von dieser Einsortierung betroffen waren. Eckbert, kurz genannt Ecki, und Lynn Celine, deren Mutter darauf Wert legt, dass der Doppelname ungekürzt zum Einsatz kam.

Das Drama begann damit, dass beiden Nachkommen der steinige Weg einer Nachprüfung auferlegt wurde, was den Clan um Lynn Celine sowieso schon außer sich brachte und von Schiebung und Korruption sprechen ließ.

Voll war das Maß endgültig, als sich Ecki in der Nachprüfung qualifizierte, während für Lynn Celine nur die Schmach der Sekundarbeschulung übrig blieb.

Um die Aufregung völlig zu verstehen, musste man wissen, dass Ecki in der Familie immer ein dödelhaftes Image besaß. Dass er noch auf dem Daumen nuckelte, als Lynn Celine schon das erste Casting für einen Fernsehauftritt hinter sich hatte.

Eckis Erfolgsgeheimnis lag in einer unaufgeregten Art; dass er vielleicht gar nicht checkte, worum es eigentlich ging und sein wortkarges Wesen sowieso immer Sympathie erzeugte. Während Lynn Celine vor lauter Nervenflattern die Herbstastern zu den Frühblühern zählte und unserem Kultusminister den Namen der Kanzlerin gab.

So war guter Rat teuer, den Familienfrieden wieder herzustellen. Wie häufig ruhte die Hoffnung aller auf mir. Aus irgend einem Grund dachten sie, ich hätte einen besonderen Draht zum Kultusministerium. Man glaubte an die heilende Kraft der Parteischiene, ohne zu bedenken, dass ich gar nicht in der Partei des Kultusministers Mitglied war.

Zum Glück aber besuchte ich dienstlich immer wieder einen Kindergarten. In der Krippenabteilung nun machte ich eine fundamentale Entdeckung. Die Kleinen, fand ich heraus, unterschieden sich deutlicher, als man herkömmlich glaubte. Eine Entdeckung mit weitreichender Konsequenz.

Alles war noch unverfälscht, und es herrschte Chancengleichheit. Das Lernpotenzial des Nachwuchses lag offen wie ein aufgeschlagenes Buch. Man brauchte nur darin zu lesen. Und sofort konnte man die Spreu vom Weizen trennen. Hier der Kopf des zukünftigen Atomphysikers und dort eher die Hand, die später einen Besen über den Fabrikhof schob; falls nicht gerade wieder Jobsuche angesagt war.

Ich wollte also dem Kultusminister dringend empfehlen, die Schullaufbahn nicht erst in der fünften Klasse zu bestimmen. Viel zu spät! Der ideale Zeitpunkt war der Grenzbereich, wenn das Kind den Krippenteil hinter sich hatte und in die Kindergartenabteilung überging.

Für den Zweifelsfall entwickelte ich persönlich den ST 1, den Schnürsenkeltest. Mit dem Kriterium, ob der Proband weiterhin beim Klettverschluss verharrte oder schon den anspruchsvollen Schnürschuh zu beherrschen begann.

Nicht ernst nehmen dagegen konnte ich die weitergehende Forderung meines Freundes, der sowieso zur Übertreibung neigte, die Auswahl schon in den Mutterleib vorzuverlegen. Das wäre eindeutig zu früh.

Falls sich mein Vorschlag durchsetzte, wäre dem Frieden unserer Familie zwar nicht gedient, aber Heerscharen anderer Eltern würden mir mehr als dankbar sein.

Lynn Celines Eltern blieb wohl weiter nichts übrig, als mit ihrer Tochter nach Schweden auszuwandern oder in ein anderes Entwicklungsland, wo man von der höheren Bildung erst mit Achtzehn abgenabelt wird.

Die Steinewerfer von Menorca

Wenn ich auf Reisen bin, freue ich mich auf zu Hause. Am meisten freue ich mich auf die Zeitungen, die unsere Nachbarin aus dem Kasten nimmt und sammelt. Ich bin gespannt auf die Presse, weil ich endlich mal wieder erfahre, was in meinem Ländchen so alles passiert ist. In diesem Bundesland, das einem aus der Ferne ein bisschen winzig erscheint. Aber wenn man wie wir in diesem Jahr eine Woche auf der Insel Menorca verbringt, dann kommt einem Sachsen-Anhalt schon beinahe wieder endlos vor.

Das typische Merkmal von Menorca sind die Steine. Wenn sie nicht den Boden selber bilden, sind sie zu brusthohen Mauern aufgeschichtet. Jede Wiese, jedes Gehöft, jedes Feld wird damit umgeben. Straßen und Wege werden zusätzlich auf diese Art begrenzt. Ein Netz von 20 000 Kilometern Steinwall ist über die kleine Insel gelegt. Eine Mauer von dort bis Australien, wie ein Reiseführer sagt. Aber die Steine wurden nicht nur zu Schutzwällen aufgetürmt. Sie dienten auch als Waffen. Besonders wenn sie kopfgroß und noch etwas größer waren. Näherten sich die Römer oder andere Aggressoren der Insel, so wurden ihre Schiffe von einem Steinhagel empfangen. Und so drehten sie schleunigst wieder ab. Diese Steinkugeln wurden natürlich auch mit Hilfsmitteln geschleudert. Aber meistens von den kräftigen Inselbewohnern mit der Hand geworfen. Die menorcinischen Steinewerfer waren berühmt. Und die Römer warben sie für ihre Truppen an. Das waren gut bezahlte Söldner. Und jede Familie schätzte sich glücklich, wenn sie einen kräftigen und zielsicheren Steinewerfer hatte. Der hatte für seine Zukunft ausgesorgt und auch für die Eltern und Geschwister fiel noch etwas ab. Schon im Kindesalter bereitete man die Buben auf diese Aufgabe vor. Anstatt ihren Sprösslingen das Essen auf den Tisch zu stellen, hängten es die Mütter in die Bäume. Erst ein gezielter Wurf auf ein Grillhähnchen etwa, ansonsten ging es hungrig zu Bett.

Dass mir solch eine kernige Vorbereitung auf das Leben gefiel, versteht sich. Und ich erinnerte mich sofort daran, als ich wieder zu Hause war und die Zeitungen durchblätterte. Auch in unserem Ländchen gab man sich mit der Erziehung und Ausbildung der Jugend die größte Mühe, las ich. Ein paar neue Bestimmungen waren während meiner Abwesenheit an die Schulen gegangen. Hausaufgaben würden nicht mehr zensiert und deshalb kaum noch gemacht. Aber etwas Anderes erinnerte mich noch mehr an die jungen Steinewerfer. Die Leistungen sollten sich sprunghaft verbessern. Jedenfalls die Zensuren dafür. Was bislang eine Fünf ergab, reichte nun zur Vier oder unter Umständen beinahe für die Drei. Möglich wurde das nicht durch fleißiges Lernen oder einen plötzlichen Geistesblitz, sondern durch ein Ausdeuten und Herumschieben von Prozenten.

Ich versuche nun eine Beziehung herzustellen zwischen den Müttern der jungen Steinewerfer und dem, was Schule bei uns heute dem Nachwuchs abverlangt.

Ich muss noch länger darüber nachdenken. Die wichtigste Frage ist: Lebten die kleinen Steinewerfer heute und sie träfen nicht, was dann? Würde das Mittagessen einfach um einen Ast tiefer nach unten gehängt oder gingen sie weiter hungrig zu Bett?

IdS–Syndrom

Carlo war ein Ekel. Diese Feststellung stammte nicht von mir. Jedenfalls hatte ich sie nicht ausgesprochen, weil ein Pädagoge einen zwölfjährigen Jungen keinesfalls ein Ekel nennen durfte.

Erstens verbaute so was von vornherein einen erfolgversprechenden pädagogischen Eingriff.

Zweitens fand sich kein Vorgesetzter mit einer derartigen Entgleisung ab.

So überließ ich es den Müttern im Wohngebiet, den alten Frauen vor dem Supermarkt und den älteren Herren auf der Bank, laut auszusprechen, was auch ich dachte: Dass Carlo ein richtiges Ekel war. Zumal diesen Bürgern nicht die staatliche Schulaufsicht im Nacken saß.

Was Carlo alles anstellte, um im Viertel diesen hohen Bekanntheitsgrad zu besitzen, war insofern sehr schnell aufgezählt, als keine Untat denkbar war, die er nicht schon ausprobiert hatte. Dass er schwächeren Kindern ihre Roller und Mountainbikes einfach aus der Hand nahm und wie von der Tarantel gestochen zwischen den Frauen mit den Einkaufsbeuteln herumkurvte, gehörte zu den minderen Delikten. Schwerer wog dann schon, dass er diese Fahrzeuge, anstatt sie nach seinen halsbrecherischen Fahrten den Geschädigten wieder in die Hand zu geben, sie so abstellte, dass sie der Besitzer garantiert nicht allein erreichen konnte. Er hängte sie mit den Laufrädern an Bäume. Legte sie auf der kleinen Teichinsel ab. Oder er brachte sie zum städtischen Fundbüro, wo man sie erst wieder nach umständlichen Amtshandlungen zurückbekam.

Am unangenehmsten gab sich Carlo dann, wenn sich jemand schlichtend einmischte oder ihn zur Rede stellte.

„Ist doch nur Spaß“, war die immer wiederkehrende Bemerkung des Jungen, wenn er gerade einen Spielkameraden im Schwitzkasten hatte und ihn blau anlaufen ließ. Oder einem anderen die Pudelmütze wegnahm, sie auf einen Ast spießte und fliegen und in einer Regenpfütze landen ließ. Und um zu bekräftigen, wie spaßig die Aktion angelegt war, grinste er breit und frohgemut über das ganze Gesicht. Und noch radikaler wurde alles, wenn der Schikanierte dann vor lauter Angst bestätigte, dass es tatsächlich nichts als ein harmloses Späßchen war.

Aber in der öffentlichen Beurteilung des ungezogenen Jungen war eine plötzliche Wendung eingetreten. Seine Mutter hatte, von drei empörten Frauen etwas rabiat angesprochen, durchblicken lassen, dass ihr Junge etwas hatte. Er litt dauerhaft an einer spaßologisch bedingten Störung. IdS. Ist – doch - nur- alles Spaß – Syndrom. Da sollten die Frauen mal schön glücklich sein, dass ihre Enkel und Kinder von so was nicht betroffen waren.