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Meinen Eltern

Übersetzung aus dem Amerikanischenn von Helmut Dierlamm, Hans Freundl und Norbert Juraschitz

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96820-1

© 2008 David King

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Vienna 1814. How the Conquerors of Napoleon Made Love, War, and Peace at the Congress of Vienna« bei Harmony Books, einem Imprint von der Crown Publishing Group, Random House, Inc., New York 2008.

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: www.bridgemanart.com

Abbildung Sitzung: Sitzung der Bevollmächtigten der acht an dem Pariser Frieden beteiligten Mächte in der Staatskanzlei. Kupferstich, 1819, von Jean Godefroy nach der Zeichnung von Jean-Baptiste Isabey. © Imago/Getty Images

Abbildung Maskenball: Maskenball im Redoutensaal der Hofburg. Radierung nach einer Zeichnung von Joseph Schütz. © Imago/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Sie sind im richtigen Moment gekommen. Wenn Sie Feste und Bälle mögen, hier gibt es genug davon. Der Kongress geht nicht vorwärts, sondern er tanzt.

Fürst de Ligne

Vorwort

4.Mai 1814

Die hohe, schlanke Fregatte HMS Undaunted glitt langsam auf den kleinen Fischereihafen zu. Zwei Dutzend erschöpfte Ruderer halfen dabei, das elegante Schiff an den hastig gebauten hölzernen Kai zu manövrieren. Eine Menschenmenge schrie sich heiser, und auf dem Wasser trieben Blumensträuße als Willkommensgrüße für die Fremden. An Bord des Schiffs war der neue Kaiser von Elba, absoluter Herrscher über jedes Fleckchen der 27 Kilometer langen Insel.

Alle versuchten neugierig, einen Blick auf den kleinen Mann mit dem alten grünen Mantel, den weißen Kniehosen und den leuchtend roten Stulpenstiefeln zu erhaschen. Sie erkannten ihn sofort an seinem Gang: gesenkter Kopf, leicht vorgebeugt, Hände auf dem Rücken ineinandergelegt, hektischer Schritt – wie »ein wildes Tier im Käfig«. Flocken von Schnupftabak klebten auf seiner Oberlippe, was sein zerzaustes, ungepflegtes Aussehen verstärkte.

Erst zwei Wochen zuvor hatte er versucht, sich mit einem giftigen Gemisch aus Opium, Belladonna und Weißem Germer umzubringen, das er in einer herzförmigen Phiole um den Hals getragen hatte. Die Dosis hätte durchaus tödlich sein können, doch das Gift hatte durch den strengen russischen Winter offenbar an Wirkung verloren. Nun aber schienen alle bösen Erinnerungen an diese katastrophale Zeit Welten entfernt. Natürlich war die Insel, die Napoleon jetzt durch sein Fernglas betrachtete, kein Korsika. Doch er hatte sich in sein Schicksal ergeben und stellte sich vor, was ihn in seinem sonnigen goldenen Käfig erwarten würde.

Denn Napoleon Bonaparte, der geniale Wahnsinnige, war schließlich doch aufgehalten worden, nachdem er den größten Teil des Kontinents erobert hatte. Zuvor war ein Staat nach dem anderen mit erstaunlicher Geschwindigkeit dem kühnen »Mann des Schicksals« unterlegen. Von Madrid bis Moskau war die französische Trikolore gehisst worden; stolze Mitglieder des Bonaparte-Clans hatten überall in seinem ausgedehnten Reich die Throne bestiegen. 1814 jedoch war das monströse Gebilde durch seine Übergröße und geschwächt durch zu viele militärische Katastrophen zusammengebrochen. Napoleon war geschlagen, sein Reich zerfallen, und das ganze Gefüge der internationalen Beziehungen war völlig in Unordnung geraten. Es war Zeit für den Wiederaufbau.

Könige und Königinnen, Fürsten und Diplomaten kamen im Herbst 1814 zur herbeigesehnten Friedenskonferenz nach Wien. Mehr als 200 Staaten und Fürstenhäuser schickten Vertreter, um die vielen ungelösten Probleme zu klären. Wie sollten die Siegermächte den kriegszerrütteten Kontinent wiederaufbauen? Wie würden die Millionen entschädigt, die Familienmitglieder verloren oder unter der napoleonischen Herrschaft gelitten hatten? Der Wiener Kongress bot eine Chance, begangenes Unrecht wiedergutzumachen und, wie viele hofften, die »beste aller möglichen Welten« zu schaffen.

Beobachter sagten voraus, dass die Verhandlungen in drei bis vier Wochen abgeschlossen wären. Selbst altgediente Diplomaten rechneten nicht mit mehr als eineinhalb Monaten. Doch die Delegierten feierten in freudiger Erwartung eines dauerhaften Friedens ein Fest nach dem anderen. Die Friedenskonferenz verkam schon bald zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten mit Maskenbällen, Turnieren mittelalterlichen Stils und großen offiziellen Banketten – zu einem »schillernden Chaos«, das die Ufer der Donau in festlichem Glanz erstrahlen ließ.

So schwanden die Hoffnungen auf eine rasche Lösung, während sich die Friedensstifter vergnügten, schnell dahin. Heimliche Intrigen, persönliche Abneigungen, erbitterte Feindschaften und eine Vielzahl weiterer unerwarteter Hindernisse sorgten dafür, dass sich die illustre Gesellschaft auf fast gar nichts einigen konnte. Die Delegierten mussten sich eingestehen: Um den Frieden zu ringen würde genauso schwer werden, wie Napoleon zu besiegen.

Nach sechs Monaten im »Wonnetaumel« brachte völlig überraschend ein Kurier eine mit der Aufschrift »Dringend« gekennzeichnete Depesche ins Außenministerium. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, und der österreichische Außenminister Klemens Fürst von Metternich war zu müde, um sich noch einer weiteren Angelegenheit zu widmen, die keinen Aufschub duldete. Er legte den Brief auf seinen Nachttisch und ging wieder zu Bett. Eineinhalb Stunden später öffnete er die Depesche, die vom kaiserlich-königlichen Generalkonsul in Genua (tatsächlich dem in Livorno) stammte. Sie lautete:

Der englische Commissär Campbell ist soeben in dem Hafen erschienen, um sich zu erkundigen, ob sich Napoleon zu Genua [eigentlich Livorno] nicht habe blicken lassen, denn von der Insel Elba sei er verschwunden; worauf infolge der verneinenden Antwort die englische Fregatte ungesäumt wieder in See gestochen sei.

Noch im Halbschlaf dämmerte dem übermüdeten Fürsten die schreckliche Wahrheit: Napoleon Bonaparte war entkommen, und niemand hatte eine Ahnung, wo er hinwollte. Danach kleidete sich der Fürst »in wenigen Minuten« an und gab die Nachricht an die Kongressteilnehmer weiter. Als an diesem Abend im Redoutensaal der Vorhang fiel, war die Jagd auf den »meistgefürchteten Kriegsherrn seit Dschingis Khan« eröffnet.

Der Wiener Kongress war tatsächlich völlig anders als jede andere Friedenskonferenz in der Geschichte. Er war die erste umfassende Friedensanstrengung seit 175 Jahren, und seine Bewertung ist bis heute umstritten. Abgesehen von den zahlreichen Problemen und Konflikten ist eines seiner faszinierendsten Merkmale die explosive Mischung der Delegationen, die in die dekadente Habsburgerhauptstadt entsandt wurden.

Die österreichischen Gastgeber wurden von dem eleganten, hochkultivierten und eitlen Fürsten von Metternich vertreten, einem »Don Juan« und brillanten Verführungskünstler. Frankreich entsandte nach Napoleons Niederlage und Verbannung einen mindestens ebenso geschliffenen und gewieften Diplomaten: Fürst Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Fast alle skandalösen Beschuldigungen, die gegen ihn erhoben würden, seien wahr, räumte Madame de la Tour du Pin ein, aber dennoch sei er der charmanteste Mann, den sie je kennengelernt habe. Mit seiner gepuderten Perücke, Samtjackett und roten Absätzen sah er aus wie der letzte Überlebende des Ancien Régime. »Ein Scheißhaufen in Seidenstrümpfen« war Napoleons Urteil.

Die launenhafteste und hitzigste Delegation jedoch war zweifellos die preußische. Der norddeutsche Staat war damals zu stark, um noch als Mittelmacht oder -staat zu gelten, aber noch nicht stark genug für den Großmachtstatus. Sein König, Friedrich Wilhelm III., war persönlich nach Wien gekommen und hatte die größte, gebildetste und fleißigste Delegation mitgebracht. Die Preußen verlangten eine Entschädigung, nachdem ihr Land von den französischen Invasoren ohne viel Federlesens aufgeteilt worden war.

Großbritannien wurde von seinem Außenminister Robert Stewart, Viscount Castlereagh, vertreten. Der reservierte und exzentrische Gentleman hatte in London als Mitglied des Parlaments einen Skandal verursacht, als er einen anderen Minister des Kabinetts zum Duell forderte, weil er dadurch ein bösartiges politisches Intrigenspiel beenden zu können glaubte. Nun jedoch widmete er sich ganz den strategischen Interessen seines Landes. Dabei war er sich sehr wohl bewusst, dass er eine starke Wirtschafts- und Seemacht repräsentierte.

Die vierte der in Wien vertretenen Großmächte war Russland, und Zar Alexander wenigstens zu Beginn der Star der Friedenskonferenz. Der große, blonde Mann in der grünen Uniform und mit dem breiten, schief sitzenden Hut war impulsiv und neigte zum Exzess. Sein sexueller Appetit war gewaltig und konnte sich durchaus mit dem seiner Großmutter Katharina der Großen messen. Außerdem neigte er zum Mystizismus und wurde immer unberechenbarer. »Wäre er eine Frau«, hatte Napoleon einst gesagt, »würde ich ihn vermutlich zu meiner Geliebten machen.«

Solcher Art waren die angesehenen und weltgewandten Staatenlenker, die sich für das unvergessliche neunmonatige Schauspiel des Wiener Kongresses versammelten: für die größte und aufwendigste Party der Geschichte. Sie intrigierten, schmiedeten Ränke, versuchten sich in Position zu bringen und konkurrierten in Staats- wie Herzensangelegenheiten leidenschaftlich miteinander. Ein Teilnehmer, der junge Liederdichter Comte Auguste de La Garde-Chambonas, schilderte das Geschehen wie folgt:

Auf einem Balle wurden Königreiche vergrößert oder zerstückelt, auf einem Diner eine Schadloshaltung bewilligt, eine Verfassung auf der Jagd entworfen [...] das Vergnügen allein riss alles mit sich fort.

Dennoch wurden trotz all der ungehemmten Vergnügungssucht Weltkarten neu gezeichnet, die Neutralität der Schweiz garantiert, die Freiheit der Meere und internationalen Flüsse proklamiert, diplomatische Abläufe festgeschrieben, wertvolle Kunstwerke restauriert und viele weitere Fortschritte erreicht. Und am Ende dieser historisch einmaligen Versammlung kamen die Delegierten auch ans Ziel: Am 9. Juni 1815 wurde die Kongressakte mit der Friedensregelung unterzeichnet.

Wien 1814 spielt in Ballsälen, Schlafzimmern und Palästen. Es erzählt die Geschichte, wie diese ungewöhnliche Festgesellschaft zustande brachte, was Henry Kissinger einmal als die längste je gekannte Friedensperiode in Europa bezeichnet hat.

Kapitel 1

Brot und Spiele

Es ist ein königliches Gewühl. Von allen Seiten schreit man Friede, Gerechtigkeit, Gleichgewicht, Entschädigung, Legitimität [...]. Was mich anbetrifft, der ich bloß wohlwollender Zuschauer bin, so werde ich nichts als einen Hut reklamieren, da ich den meinigen bloß damit ruiniere, die Souveräne zu grüßen, denen man an jeder Straßenecke begegnet.

Fürst de Ligne

Prächtig verzierte Rokokokutschen rumpelten durch die von zwei Jahrzehnten Revolution und Krieg verwüstete Landschaft. Überall auf den schlechten, unbeleuchteten Straßen lauerten Gefahren: Mordgierige Banditen hielten sich an einsamen Reisenden schadlos, und selbst Gasthäuser waren nicht immer ein sicherer Hafen, sondern oft die reinsten »Räuberhöhlen«. Das Reisen in der finsteren Nachkriegswelt war etwas für »Furchtlose, Narren und Selbstmörder«. Im Herbst 1814 war es auch etwas für Traumtänzer und Müßiggänger. Vergnügungshungrige strömten scharenweise zu einem beispiellosen Spektakel nach Wien.

Anlass war der Wiener Kongress, die lang erwartete Friedenskonferenz, die über die Zukunft Europas entscheiden sollte. Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, Herzöge und Herzoginnen, viele Diplomaten und etwa 100000 weitere Besucher reisten in die mitteleuropäische Stadt, deren Bevölkerung sich in dieser Zeit um ein Drittel vergrößerte. Keiner von ihnen wusste, was ihn erwartete. Zu dem Kongress war durch eine Zeitungsannonce eingeladen worden.

Die Revolutionskriege und die napoleonischen Kriege hatten Europa auseinandergerissen. Zum ersten Mal in der Geschichte waren riesige per Wehrpflicht ausgehobene Armeen durch den Kontinent marschiert und hatten einen »totalen Krieg« geführt. Frankreich hatte mit dem berühmten Dekret vom August 1793 den Standard für die umfassende Mobilisierung gesetzt:

Die jungen Männer werden in den Kampf ziehen, verheiratete Männer werden Waffen schmieden und Vorräte transportieren; Frauen werden Zelte und Kleidung nähen und in den Hospitälern dienen; Kinder werden alte Wäsche auftrennen; alte Männer werden an öffentliche Plätze verbracht, um den Mut der Krieger zu erwecken.

Am Ende des Krieges im Frühjahr 1814 war das Leiden ungeheuer gewesen: ein schreckliches Martyrium, in dem Staaten verwüstet, Volkswirtschaften ruiniert und Familien dezimiert worden waren. Fünf Millionen Menschen waren tot, Unzählige verletzt oder für den Rest ihres Lebens verstümmelt. Ganze Dörfer waren von der Landkarte verschwunden. In entsetzlichem Ausmaß waren Landstriche verwüstet, Gesetze mit Füßen getreten und Gräueltaten begangen worden.

Die vielen Probleme, die die Katastrophe verursacht hatte, waren natürlich kompliziert, heikel und heftig umstritten. Die gegen Frankreich verbündeten Koalitionsmächte hatten verständlicherweise viele schwierige Entscheidungen auf die Zeit nach dem Krieg verschoben. Deshalb war nach der Niederlage Napoleons nur das Schicksal Frankreichs offiziell geklärt worden: Im Mai 1814 hatte man nach nur zwei Monaten durch den Vertrag von Paris das französische Territorium in den Grenzen vom Januar 1792 wiederhergestellt. Dies bedeutete, dass Frankreich zwar den größten Teil seiner Eroberungen zurückgeben musste, aber alle Gebiete behalten durfte, die es bis zum vereinbarten Stichtag erobert hatte, darunter Gemeinden im Nordosten, Chambéry in Savoyen, die frühere päpstliche Enklave Avignon und sogar einige Kolonien in der Neuen Welt. Dank des Vertrags sollte der französische Staat ein größeres Territorium und eine größere Bevölkerung haben als unter den Königen Ludwig XIV., XV. und XVI.

Die Koalitionsmächte hatten gehofft, dass es dem neuen König Ludwig XVIII. unter diesen günstigen Bedingungen leichter gelingen würde, seinen Thron zu sichern und sein Land friedlich in die internationale Gemeinschaft zu integrieren. Deshalb ersparten sie Frankreich auch andere Strafen, die üblicherweise über eine besiegte Macht verhängt wurden. Es musste keine Reparationen zahlen, die Größe seiner Streitkräfte wurde nicht begrenzt. Das war ein äußerst moderater Friedensvertrag.

Alles andere jedoch war ungeklärt geblieben. Der Wiener Kongress würde zahleiche schwierige Entscheidungen über das frühere Reich Napoleons und seine vielen Satellitenkönigreiche treffen müssen. Letztlich ging es um ganz Westeuropa, um riesige Gebiete östlich des Rheins und um einige umkämpfte Inseln von der Karibik bis zum Indischen Ozean.

Das schwierigste Problem war zunächst das Schicksal Polens. Napoleon hatte das Land als den »Schlüssel zur Schatzkammer« bezeichnet, und die sogenannten »aufgeklärten Herrscher« (»despotes éclairés«) des 18. Jahrhunderts hatten versucht, sich so viel wie möglich von diesem strategisch wichtigen Territorium unter den Nagel zu reißen. Sie hatten es nicht weniger als dreimal geteilt, bis es 1795 völlig von der Landkarte verschwunden war – einverleibt »wie eine Artischocke, Blatt für Blatt«, um eine Formulierung Friedrichs des Großen zu gebrauchen.

Russland hatte sich den Löwenanteil des polnischen Territoriums einschließlich Litauens, der Ukraine, Weißrusslands und Ostpolens gesichert, Österreich die alte Hauptstadt Krakau zusammen mit der reichen Agrarregion Ostgalizien und den Salzminen von Tarnopol. Und Preußen hatte Warschau und Danzig annektiert sowie einen Landstreifen, der sich nach Norden bis zur Nordsee erstreckte und später als der »Polnische Korridor« bekannt wurde. Eine derart zynische und skrupellose Machtpolitik war für viele Zeitgenossen untragbar.

Im Krieg hatte sich Napoleon diese Empörung zunutze gemacht und die polnischen Teilungen als »unverzeihlich, unmoralisch und politisch unhaltbar« angeprangert. Er versprach den Polen, ihnen ihr Land zurückzugeben, wenn sie ihm beweisen könnten, dass sie »es wert seien, eine Nation zu sein«. Aber trotz der zahlreichen polnischen Opfer tat er nicht mehr für sie, als das kleine Herzogtum Warschau zu schaffen, das er dann seinerseits rücksichtslos ausbeutete. Der Wiener Kongress schien eine gute Gelegenheit zur Wiederherstellung Polens zu bieten, auch wenn es nicht leicht sein würde, eine Lösung zu finden.

Napoleon hatte als produktiver Königsmacher überall in Europa (von Italien und Spanien bis Holland) Freunde und Verwandte auf die verfügbaren Throne gesetzt. Und in Deutschland hatte er die neuen Königreiche Bayern, Württemberg und Sachsen geschaffen. Was sollten die Sieger nun mit all diesen gerade erst eingesetzten Monarchen anfangen, die sich verzweifelt an ihre Kronen klammerten? Und was sollte mit den älteren Herrscherhäusern geschehen, die der napoleonische Wirbelsturm hinweggefegt hatte und die sich jetzt um eine Rückkehr in ihre Königreiche bemühten? Der Wiener Kongress rüstete sich für eine ungewöhnliche Schlacht um die Throne Europas.

Außerdem schwelte eine heftige Kontroverse über gestohlene Kunstwerke. In nur wenigen Jahren hatten sich Napoleon und seine Grande Armée einen Ruf als Kunsträuber von historisch beispielloser Dreistigkeit erworben. Napoleons Leute hatten zahllose Meisterwerke von Michelangelo, Raffael, Tizian oder Rembrandt verschleppt. Der Kaiser verfolgte ein einfaches Ziel: Paris sollte »die schönste Stadt sein, die es je geben konnte«. Dominique-Vivant Denon, der für die Beschlagnahmung der Kunstwerke verantwortliche Franzose, handelte mit gnadenloser Effizienz und verwandelte sein Museum, den Louvre, in ein künstlerisches »Weltwunder«.

Nun standen all die Skulpturen, Gemälde, Juwelen, Wandbehänge und anderen gestohlenen Schätze erneut zur Disposition. Die Franzosen wollten ihre Trophäen natürlich unbedingt behalten, und die Koalition hatte sich schon widerstrebend damit einverstanden erklärt, indem sie eine Klausel in den Pariser Vertrag einfügte, die es Frankreich erlaubte, seine Beute zu behalten. Im Herbst 1814 wurde erneut die Forderung laut, die Raubkunst an ihre früheren Besitzer zurückzugeben, und sie war in den besonders schlimm betroffenen Ländern wie Italien oder den Niederlanden sehr populär.

Außer den offiziellen Delegationen hielten sich auch informelle und inoffizielle Repräsentanten in Wien auf – viele Selbsternannte wollten ihre eigenen Hoffnungen und Projekte durchsetzen. Da die Struktur des Kongresses unklar war, glaubten viele, sie hätten das Recht, am Entscheidungsprozess teilzunehmen, und waren mit dieser Erwartung gekommen. Die privaten Repräsentanten verkauften alles Mögliche, von der Verfassung bis zum Lied. Der amerikanische Unternehmer Dr. Justus Bollmann hatte eine ganze Angebotspalette nach Wien mitgebracht; unter anderem wollte er die erste Dampfschifffahrtsgesellschaft auf der Donau aufbauen.

Delegationen aus Frankfurt, Lübeck und Prag waren gekommen, um die Rechte der jüdischen Minderheiten zu verteidigen, die eben erst von Napoleon gewährt worden waren und deren Wiederaufhebung nun drohte. Eine andere Gruppe wollte, dass der Kongress einen weltweiten Kreuzzug gegen die Piraterie startete, von den Korsaren des Mittelmeers bis zu den Bukaniern in der Karibik. Verlagsvertreter kämpften in Wien gegen eine ganz andere Art von Piraterie, nämlich gegen »die Räuberbande, die man als literarische Piraten bezeichnet« und die skrupellos und »straflos Autoren und Verleger« beraubte. Sie hofften, dass ein internationales Urheberrecht zum Schutz geistigen Eigentums geschaffen würde.

Offenbar hatten alle eine Vorstellung davon, wie die Nachkriegswelt idealerweise wiederaufgebaut werden sollte. Das Problem war nur, dass sich die Friedensstifter viel uneiniger waren, als sie geglaubt hatten. Und all die Meinungsverschiedenheiten, die im Überlebenskampf gegen Napoleon so erfolgreich unterdrückt worden waren, traten nun in Wien mit Macht wieder zutage.

Die Hauptstadt des Habsburgerreichs war für ein globales Treffen eine gute Wahl. Geografisch und kulturell war die Stadt das Herz Europas. Noch bis August 1806 war sie das Zentrum des Heiligen Römischen Reichs gewesen, des gigantischen maroden Staatsgebildes, das von Napoleon zerschlagen worden war. Nachdem es fast 1000 Jahre existiert und manchmal drohend und manchmal wankend seine Schatten über Mitteleuropa geworfen hatte, gehörte es nun der Vergangenheit an. Seine imperiale Würde und Größe jedoch waren noch lange nicht verblasst.

»Die Stadt«, schrieb ein Reisender nach seiner Ankunft in Wien, »wirkt selbst wie ein Königspalast«. Die engen Gassen, die sich durch das mittelalterliche Stadtzentrum schlängelten, waren von großen barocken Adelspalais gesäumt. Mit den vielen Türmchen und Kuppeln und hellen, weißen klassizistischen Steinsäulen wirkte eines üppiger und kunstvoller verziert als das andere. Ganze Reihen großer Erkerfenster blickten auf eine der grünsten Hauptstädte Europas, eine Tatsache, die wenigstens zum Teil der Umsicht Kaiser Josephs II. zu verdanken war: Er hatte im 18. Jahrhundert angeordnet, dass für jeden gefällten Baum ein neuer gepflanzt werden musste.

Wien hatte tatsächlich ein aristokratisches Flair, das Städten wie zum Beispiel London fehlte oder das andere wie Paris seit der Revolution verloren hatten. Österreichische, ungarische und böhmische Aristokraten lebten dort oftmals in Häusern, die über eigene Ballsäle und Reitschulen oder manchmal sogar über ein privates Opernhaus verfügten. Viele französische Emigranten, die vor der Revolution geflohen waren, hatten sich in der Stadt niedergelassen. Sie waren freilich oft beträchtlich ärmer als vor der Revolution und lebten in den billigeren Wohnungen in den oberen Stockwerken.

Die relativ kleine Gruppe der Kaufleute trat in Wien nicht in Erscheinung, und die Handwerker produzierten überwiegend Sättel, Harnische, Kutschen, Uhren, Musikinstrumente und andere Luxusgüter für den Hof und die gehobene Gesellschaft. Das ertragreichste Produkt war der Wein. Er fand reißenden Absatz, denn in Wien »frühstückten die Menschen bis zum Diner und dinierten bis zum Souper«, wie ein Historiker es formulierte.

Die große Mehrheit der Veranstaltungen auf dem Friedenskongress fand im Stadtzentrum statt. Es war damals noch von einer Stadtmauer umschlossen, die etwa dort verlief, wo heute die Hauptverkehrsader der Ringstraße pulsiert. Der Legende zufolge war die dicke Mauer mit dem Lösegeld für den englischen König Richard I. »Löwenherz« finanziert worden, der 1193 auf dem Weg zum Zweiten Kreuzzug in Gefangenschaft geriet. Tatsächlich war sie im Lauf der Jahrhunderte immer wieder neu errichtet und umgebaut worden und hatte mehreren Belagerungen standgehalten, darunter zwei besonders schrecklichen durch die Türken. Nach dem letzten Angriff der Franzosen im Jahr 1809 war die Mauer nicht mehr instand gesetzt worden, und die verbliebenen Basteien dienten auf dem Kongress vor allem als beliebter Spazierweg mit hervorragendem Blick auf die Stadt.

Wien wurde in einer großen Ebene erbaut, auf der sich die Donau teilt und mühelos an Furten durchquert werden konnte, wie die Römer entdeckten, die dort im 1. Jahrhundert ein Lager errichteten. Im Mittelalter war Wien eine kleine Stadt nahe der verwundbaren Ostgrenze des Karolingischen Reichs, eine Lage, die sich in dem Namen Österreich niedergeschlagen hat. Historisch diente es schon lange als Knotenpunkt zwischen Ost und West. Kreuzfahrer, Kaufleute, Mönche und viele andere kamen durch die Stadt, wenn sie nach Osten reisten, entlang der mächtigen, schlammigen Donau, die sich über 2800 Kilometer weit vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer erstreckt.

Mit einer Bevölkerung von etwa einer Viertelmillion war Wien die drittgrößte Stadt nach London und Paris und hatte den Ruf, lebensfroh und sinnlich, aber auch »grantig« und leicht reizbar zu sein. »Wien ist die Weltstadt, in der man die ungewöhnlichsten Ausbrüche erleben kann«, formulierte es die französische Emigrantin Baronne du Montet. Ein anderer Bewunderer der Stadt, Comte Auguste de La Garde-Chambonas, der auf der Suche nach Abenteuern weit gereist war, schwärmte von Wien als der Heimat des Glücks. In jenem Herbst sollten die Besucher der Friedenskonferenz selbst erleben, was er damit meinte.

Offizieller Gastgeber des Kongresses war Franz I. Kaiser von Österreich – der Letzte, der je zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt wurde. Der im italienischen Florenz geborene Monarch war das Familienoberhaupt der Habsburger, des ältesten und vielleicht glanzvollsten europäischen Herrscherhauses, das in praktisch ungebrochener Nachfolge seit dem 13. Jahrhundert auf dem Thron saß. Die einzige Unterbrechung seiner fast 600-jährigen Herrschaft war der Wittelsbacher Karl VII. gewesen, der in den frühen 1740er-Jahren kurz Kaiser des Heiligen Römischen Reichs war, bevor die Krone wieder an die Habsburger fiel (oder genauer gesagt an das Haus Habsburg-Lothringen, wie es von da an genannt wurde).

Kaiser Franz I. war ein mittelgroßer Mann mit hohen, scharf geschnittenen Wangenknochen und schneeweißem Haar und mit dem berüchtigten markanten Habsburger Kinn. Er war erst 46, sah aber wesentlich älter aus. Es hatte damals schon 22 stürmische Jahre auf dem Thron hinter sich und sowohl die Französische Revolution als auch Napoleon gut überstanden. Tatsächlich wirkte er so müde und ausgelaugt, dass er laut einem Zeitgenossen »umfallen würde, wenn man ihn einmal hart anbliese«.

Informierte Beobachter wussten, dass Franz beim Volk und bei Hofe beliebt war. Er wurde als »Vater Franz« und als »Landesvater« bezeichnet und auch musikalisch gefeiert, so von Joseph Haydn mit der Hymne »Gott erhalte Franz den Kaiser«, der Melodie der heutigen deutschen Nationalhymne. Einige Mitglieder seiner Familie bezeichneten den weißhaarigen Kaiser sogar als »Venus« – Göttin der Liebe. Dies war zugegeben eine Habsburgerexzentrizität, wenngleich der Kaiser ein großer Liebhaber von Statuen, Siegeln und Antiquitäten war und manchmal selbst den verträumten und abwesenden Blick einer antiken Statue hatte.

Wenn der Kaiser nicht versuchte, im kontrollierten Chaos der österreichischen Verwaltung – den Mühlen der Bürokratie – wieder ein bisschen Ordnung zu schaffen, genoss er die Musik seiner großartigen Musikstadt. Er selbst spielte im Streichquartett der Familie die Violine und wurde manchmal auch von seinem Außenminister Metternich auf dem Cello begleitet. Außerdem stellte er gern Süßigkeiten her, versorgte mit Leidenschaft die Blumen in den Gewächshäusern der Hofburg oder studierte die große Landkartensammlung in seiner Bibliothek. Seine Kenntnisse über die Geografie Europas waren so groß, dass ihm keiner der anderen Herrscher, die zum Wiener Kongress kamen, das Wasser reichen konnte. Seine Büchersammlung, die bei seinem Tod aus 40000 Bänden bestand, sollte später den Kern der Österreichischen Nationalbibliothek bilden.

Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Mahlstroms des Wiener Kongresses stand die Residenz des Kaisers, die Hofburg oder, wie sie im Volksmund hieß, die Burg. Ursprünglich im 13. Jahrhundert als funktionaler Teil der alten Stadtbefestigung mit vier Wehrtürmen erbaut, hatte sie sich zu einem ausgedehnten Palast entwickelt und erstreckte sich im Stadtzentrum über mehrere Häuserblöcke, da die Habsburger sie kontinuierlich um neue Flügel und Höfe erweitert hatten.

Der Kaiser hatte die Hofburg für die anderen Monarchen geöffnet. Nach reiflicher Überlegung, um ja keinen der königlichen Gäste zu brüskieren, hatte er dem russischen Zaren die exquisit weiß und golden getäfelten Rokokosuiten in der Beletage der Amalienburg angeboten. Der im späten 16. Jahrhundert entstandene und nach der Frau Kaiser Josephs I. benannte Teil der Hofburg war erst kurz zuvor renoviert worden. Er beherbergte prächtige Räume mit extravagant vergoldeten Spiegeln, Kristalllüstern und damastbezogenen Stühlen auf glänzendem Parkett.

Der König von Preußen wurde in einer Suite im zweiten Stock des Schweizertrakts untergebracht, dem alten mittelalterlichen Zentrum der Hofburg, in dessen Innenhof ursprünglich Turniere hatten stattfinden sollen. Zugang gewährt das »Schweizertor« aus dem 16. Jahrhundert mit einem gekrönten Habsburgeradler, das von zwei großen ruhenden Löwen flankiert ist. Der Trakt beherbergte die Lieblingsgemächer von Kaiserin Maria Ludovika, die in einen anderen Teil der Hofburg zog, um für den königlichen Gast Platz zu machen.

Drei weitere Könige, zwei Kaiserinnen, eine Königin und viele Fürsten wurden in der Hofburg untergebracht. Der König von Dänemark, der lange, dünne, redselige Friedrich VI., logierte ebenfalls im Schweizerhof, der große, ernste, melancholische König von Württemberg im ersten Stock der Amalienburg. Und am Ende des Monats bezog der bayerische König Maximilian I. Joseph, der populäre »gute König Max«, Gründer des Oktoberfests, mehrere Suiten im sogenannten Reichskanzleitrakt, einem Flügel aus dem frühen 18. Jahrhundert.

Jeden Abend wurden in der Hofburg 40 bis 50 Tische beladen – für Bankette, die exorbitante Summen verschlangen, wie man munkelte. Die Bankette waren jedenfalls äußerst raffiniert und hatten bis zu acht Gänge. Der erste bestand in der Regel aus einer Suppe und Vorspeisen. Diener mit Perücke und Livree brachten sie in großen Terrinen und auf Serviertellern an die Tische. Diese waren mit schwerem Tafelsilber und Kristallgläsern gedeckt und hatten oft einen gewaltigen bronzenen Tafelaufsatz mit einer Fülle von Blumen und Kerzen.

Danach folgte eine Vielzahl weiterer Gerichte, meist mit Rind, Schinken, Wild, Fasan, Rebhuhn oder einem anderen Fleisch. Einige Jahre später sollten die Kombinationen von Wein und Speise viel stärker standardisiert werden: Austern wurden nun mit Chablis gereicht, gekochtes Rind mit Rheinwein und gebratenes Fleisch mit Bordeaux oder vielleicht auch mit Tokajer, dem delikaten Dessertwein von den kaiserlichen Weinbergen in Ungarn. Früchte, Süßigkeiten, Kuchen und eine Vielzahl von Pasteten, Käsesorten oder Flammeris schlossen die Hauptmahlzeit ab. Eis dagegen wurde nur in Anwesenheit des Kaisers serviert. Außerdem standen den unter Schlafmangel leidenden Gästen täglich etwa 600 Portionen Kaffee zur Verfügung, die in riesigen Kesseln gebrüht wurden.

Die Küchen, wo all diese Festmähler für den Kongress zubereitet wurden, waren ebenfalls spektakulär. In der Hauptküche, die über eine Treppe unter der Hofkapelle zugänglich war, befand sich ein riesiger Spieß, an dem man einen ganzen Ochsen braten konnte, dazu mehrere kleinere Spieße für Gänse, Enten, Hasen oder Fasanen. Eine Fülle von Kupferkesseln und Kochtöpfen stand bereit, und die glühend heiße Luft in der Küche war vom Rauch der Holzkohle geschwängert. Das Feuer unter dem größten Spieß war so groß, dass es in den Augen manches Betrachters wie eine Vision der Hölle wirkte. In weiteren kleineren Räumen war ein Heer von Chefköchen, stellvertretenden Chefköchen, Köchen und anderem Küchenpersonal dabei, zu schneiden und hacken, zu klopfen und zu reiben – und die »armen Tiere« zu traktieren, »grad wie’s der Teiffel mit’d Seelen der Verdammten macht«.

Damit die vornehmen Gäste des Kaisers stilgerecht unterhalten wurden, hatte dieser ein Festkomitee ernannt, das für Planung, Bekanntmachung und Durchführung des gesamten offiziellen Unterhaltungsprogramms zuständig war. Es verantwortete den gut gefüllten Veranstaltungskalender der Gesellschaft, der auf Anordnung des Kaisers lebendig und frisch sein sollte. Das Festkomitee war mit der ständigen Herausforderung konfrontiert, neue, noch interessantere Mittel und Wege für die »Jagd nach Vergnügen« zu finden und sicherzustellen, dass die Atmosphäre »allgemeiner Freude« erhalten blieb – all das für ein ausgesprochen elitäres Publikum, das nur das Beste gewohnt war und extrem kritisch reagierte, wenn seine hohen Standards nicht erfüllt wurden.

Die Mitglieder des Festkomitees mussten extrem hart arbeiten – so wird übereinstimmend berichtet. Sie organisierten einen opulenten Ball nach dem anderen, Bankette, Maskeraden, Jagden, und sorgten für jene Extravaganz und »sinnlose Verschwendung«, die spätere, nüchternere Generationen mit dem Wiener Kongress verbinden sollten.

Die Hausgäste auf unbestimmte Zeit bei Laune zu halten war bisweilen eine große Strapaze für die Gastgeber. Wiener Witzbolde machten sich darüber schon bald lustig und nahmen auch die gefeierten Gäste aufs Korn, die die Gastfreundschaft des Kaisers so gerne in Anspruch nahmen:

Der russische Zar vögelt für alle.

Der König von Preußen denkt für alle.

Der König von Dänemark spricht für alle.

Der König von Bayern trinkt für alle.

Der König von Württemberg isst für alle.

Der Kaiser von Österreich zahlt für alle.

Kurze Zeit sollte Wien die Hauptstadt Europas sein, Schauplatz einer gewaltigen Siegesfeier und des glanzvollsten Gipfeltreffens seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs. Paläste und Parks, Opernhäuser und Ballsäle: die ganze Stadt verwandelte sich in einen schillernden barocken Tummelplatz. Es hatte schon andere große Friedenskonferenzen gegeben, aber noch nie etwas Vergleichbares. Der Wiener Kongress war die spektakulärste Friedenskonferenz aller Zeiten. Und wegen seiner Extravaganz und Dekadenz auch eine der umstrittensten.

Kapitel 2

Zwei Fürsten

Gütiger Himmel, Madame. Wer könnte einem Mann mit so vielen Lastern widerstehen?

Comte François-Casimir Mouret de Montrond zu seiner Geliebten über seinen Freund Talleyrand

Tafelsilber wurde poliert, weiße Tischtücher gebügelt und Servietten gestärkt und gefaltet. Die Weinkeller wurden mit den besten Tropfen der Region aufgestockt – darunter auch mehrere 100-jährige Flaschen Tokajer, deren Wert dem Jahresgehalt eines Dozenten an der Universität Wien entsprach. Viele hohe Gäste sollten bald »wie Bauern auf einen Markt« in die Stadt strömen, wie es ein Beobachter ausdrückte.

Die kaiserlichen Kutschen wurden frisch gestrichen: dunkelgrün, mit einem gelben Wappen auf der Tür, die Kutscher in die passende gelbe Livree eingekleidet. Alle 300 Kutschen, die den Gästen des Kaisers zur Verfügung stehen würden, sollten das gleiche Erscheinungsbild haben, damit unerfreuliche Auseinandersetzungen über die Rangfolge der Fahrzeuge möglichst unterblieben. Eine weise Entscheidung, denn mindestens einer der vornehmen Gäste hätte etwas mehr Glamour erwartet: Signor Castelli von der neapolitanischen Delegation verglich seine Kutsche mit einer »gemächlich dahinrollenden Kemenate«.

Im Zentrum des Geschehens stand der österreichische Außenminister Klemens Fürst von Metternich. Der 44-jährige blond gelockte Mann mit den blassblauen Augen und der schlanken, durchtrainierten Gestalt eines Fechters war gut mittelgroß, hatte feine Gesichtszüge, ein Talent für geistreiche Konversation und galt als der »Adonis der Salons«.

Es war kaum zu glauben, dass dieser elegante, kultivierte Mann, der für das österreichische Außenministerium ein gewaltiges Netz von Intrigen gesponnen hatte, gar nicht in dem Land geboren war, dessen Politik er nun bestimmte. Vor seinem 21. Geburtstag war er nicht ein einziges Mal in Wien gewesen. Er war ein Rheinländer und in Koblenz geboren, einer Stadt am Rhein und in einer Region, die für ihre großen Kathedralen und terrassierten Weinberge bekannt ist. Sie ist von einer kreativen französisch-deutschen Mischkultur geprägt, die sich durch einen unbeschwerten Lebensstil auszeichnet.

Metternichs voller Name lautete: Klemens Wenzel Nepomuk Lothar von Metternich-Winneburg-Beilstein, wobei die einzelnen Bestandteile jeweils auf einen herausragenden Vorfahren oder ein großes Gut der Familie irgendwo in Mitteleuropa verwiesen. Metternichs Vater Franz Georg Karl war als Reichsgraf des Heiligen Römischen Reiches Inhaber eines Titels, den nur 400 Familien besaßen. Seine Mutter Maria Beatrix von Kagenegg hatte Kaiserin Maria Theresia als Kammerfrau gedient. Dennoch gehörten die Metternichs nach den Maßstäben ihrer Zeit nicht unbedingt zur Elite. In der ausgeprägten Hackordnung stand eine erkleckliche Anzahl Prinzen, Kurfürsten, Markgrafen, Herzöge und Fürsten hoch über dem Grafen. Und die Wiener Crème de la Crème sollte viele Jahre lang dafür sorgen, dass Metternich seinen niederen Status nicht vergaß.

Er verbesserte seine Position jedoch erheblich, als er in eine der vornehmsten Familien Wiens einheiratete. Seine Frau Eleonore Gräfin von Kaunitz-Rietberg, die er Lorel nannte, war eine Enkelin des Fürsten Wenzel von Kaunitz, jenes berühmten österreichischen Politikers, der im 18. Jahrhundert als Staatskanzler etwa 40 Jahre lang die Außenpolitik des Reiches geprägt hatte. Eleonore war hingerissen von Metternichs Charme: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm irgendeine Frau widerstehen kann.« Die beiden mussten sich allerdings gegen den beträchtlichen Widerstand ihrer Familie durchsetzen, bevor sie im September 1795 heirateten. Doch die Ehe war alles andere als glücklich.

Der Schürzenjäger Metternich hatte im Lauf der Jahre zahlreiche Liebesaffären, darunter eine mit Napoleons jüngster Schwester Caroline und eine weitere mit der Frau des französischen Marschalls Jean-Andoche Junot. Er hat seine Schwäche für außereheliche Affären nie überwunden – »heimliche Stelldicheins in gemieteten Kutschen, Rendezvous in gespenstischen Grotten und waghalsige nächtliche Klettertouren zu Fenstern in oberen Stockwerken«. Bei alledem machte Lorel wohl oder übel gute Miene zum bösen Spiel.

Ein solches Arrangement kam in aristokratischen Familien bestimmt nicht selten vor; doch mit den gemeinsamen Kindern ging Metternich sehr liebevoll um. Das älteste, seine zur Zeit des Wiener Kongresses 17-jährige Lieblingstochter Maria, erinnerte mit ihrem Witz, Charme und guten Aussehen damals schon viele an den Vater. Der 14-jährige Viktor war der einzige überlebende Sohn der Familie (zwei Brüder waren im Säuglingsalter gestorben), ein sehr begabter Student und damals schon für eine Karriere als österreichischer Staatsbeamter vorgesehen. Die beiden Jüngsten waren die zehnjährige Clementine und die dreijährige Leontine. »Mein eigentlicher Beruf war der, Kinderfrau zu sein«, soll der Fürst einmal gesagt haben.

Der Grund, warum es Metternich im November 1794 das erste Mal nach Wien verschlug, waren die Wirren der Französischen Revolution. Fanatische Revolutionsarmeen waren im Rheinland ausgeschwärmt und hatten bei der Jagd auf die elegante, dekadente Aristokratie eine Spur der Zerstörung durch das Land gezogen. Die Metternichs entsprachen genau ihrem Beuteschema und mussten fliehen, um ihr Leben zu retten. Ihr Familienbesitz am Rhein wurde zerstört und geplündert.

Kein Wunder, dass Metternich eine nachhaltige Abscheu gegen Kriege entwickelte; sie seien »eine recht hässliche Erfindung«, weckten die niedrigsten Instinkte der Menschen und endeten fast immer mit allen möglichen barbarischen Verbrechen. Spätere Erlebnisse bestätigten seine frühen Erfahrungen. Im Jahr 1809 hatte Österreich eine scheinbar günstige Gelegenheit für den Angriff auf Napoleon wahrgenommen, war aber schnell geschlagen und als politische Macht fast völlig ausgeschaltet worden. Eine weitere Niederlage, das war Metternich bewusst, würde es vielleicht nicht überleben.

Just in diesem Jahr der Niederlage bekam Metternich die Chance, die österreichische Außenpolitik zu leiten. Nachdem er sich als österreichischer Gesandter in Dresden und Berlin und schließlich auch als Botschafter in Paris bewährt hatte, wurde er zum österreichischen Außenminister ernannt. Seine Politik in den darauffolgenden fünf Jahren bis zum Wiener Kongress war ausgesprochen umstritten.

Er hatte die Ehe von Erzherzogin Marie-Louise, der ältesten Tochter des Kaisers, mit Napoleon arrangiert. Dieser Schachzug war extrem unpopulär in vielen Wiener Kreisen, wo man Napoleon immer noch für den Antichrist hielt und die Ehe als schwere Demütigung empfand. Metternich dagegen hielt sie für ein notwendiges Übel, weil sie Österreich stützte, indem sie es mit der stärksten europäischen Macht verband, und weil ihm das mehr Zeit für die Heilung seiner Wunden verschaffte. Ähnlich umstritten war die Tatsache, dass Metternich das Bündnis mit Napoleon, das seiner Ansicht nach Österreich am Leben erhalten hatte, noch weiter fortsetzte, als die Auflösung des französischen Imperiums schon längst begonnen hatte.

Seine Kritiker wiesen auf zahlreiche persönliche Schwächen hin. Er erschien ihnen als oberflächlicher und leichtfertiger Mensch. Was in seinem Außenministerium ein Jahr lang höchste Priorität gehabt hatte, konnte von ihm mit erstaunlicher Gleichgültigkeit plötzlich als »vorsintflutlich« abgetan werden, wenn er das Anliegen für überholt hielt. Die Politik des Fürsten hatte eine Tendenz, zu fluktuieren und zu irritieren, wenn er wie ein »ministre papillon« (Schmetterlingsminister) zwischen seinen Kollegen hin und her flatterte.

Metternichs Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wirkte absolut unerschütterlich. Es war von einer schockierenden und schwer zu ertragenden Arroganz, die laut seinem Biografen Alan Palmer auf der Verwechslung von »Überheblichkeit und Würde« beruhte. Kritik ließ er an sich abprallen, und er wirkte erstaunlich unbeeindruckt vom Ausmaß der Probleme, mit denen er oft konfrontiert war. Für viele Kritiker war er deshalb ein durchtriebener, oberflächlicher, selbstverliebter Dandy und Hochstapler.

Metternichs Bewunderer ließen sich von dieser Kritik aber nicht beeindrucken. Natürlich steckte in jedem Vorwurf ein Körnchen Wahrheit. Metternich konnte tatsächlich faul, eitel und respektlos wirken, doch zugleich pflegte er das Image der noblen Nonchalance ganz bewusst. Er gab sich gern als ein zu Scherzen aufgelegter Müßiggänger und Dilettant, ging aber in Wirklichkeit die Diplomatie wie ein Schachspiel an und setzte alles daran, zu gewinnen. Gegner, die seine Fähigkeiten beharrlich unterschätzten, wurden von ihm matt gesetzt.

In seinen fünf Jahren als Außenminister hatte Metternich die österreichische Diplomatie vorsichtig und geschickt durch ein Labyrinth von Problemen geführt. Er hatte Österreich nach der vernichtenden Niederlage und der Unterwerfung unter Napoleon im Jahr 1809 Schritt für Schritt zu einem wichtigen Verbündeten Frankreichs gemacht und war dann im richtigen Moment, im August 1813, zur Koalition übergelaufen, die Napoleon schließlich besiegen sollte. Eine Historikerin hat dieses Meisterstück als eine der bemerkenswertesten Leistungen in der Geschichte der Diplomatie bezeichnet.

Auf jeden Fall war es gefährlich, diesen charmanten Außenminister zu unterschätzen, der sich durchaus skrupelloser Mittel bediente und selbst einmal seine Taktik mit den Worten »Lavieren, Ausweichen, Schmeicheln« charakterisierte. Bis zum Wiener Kongress hatte Österreich von seiner Diplomatie enorm profitiert, und nun hatte es ganz den Anschein, als würde es dabei bleiben.

Der Gedanke, in Wien eine Friedenskonferenz abzuhalten, war ein Jahr zuvor erstmals aufgekommen, als die Koalition Mitte Oktober 1813 in der großen Entscheidungsschlacht der napoleonischen Kriege bei Leipzig einen monumentalen Sieg über Napoleon errungen hatte. Historiker nennen das dreitägige Gemetzel die »Völkerschlacht«; Metternich bezeichnete sie einmal als »Schlacht der Welt« (»bataille du monde«). In Leipzig schlug der russische Zar Alexander erstmals Wien als Standort der Friedenskonferenz vor, und der österreichische Kaiser erklärte sich sofort einverstanden, bevor der wankelmütige Zar seine Meinung wieder ändern konnte.

Ursprünglich war geplant, nur die Herrscher der Siegermächte nach Wien einzuladen. Aber im Frühjahr 1814 drängte der britische Außenminister Lord Castlereagh darauf, die Konferenz zu erweitern und die Vertreter aller am Krieg beteiligten Länder mit einzuschließen. In Artikel XXXII des Pariser Friedensvertrags war diese Version ausdrücklich enthalten. Man hatte vereinbart, bis spätestens 15. Juli in Wien einen »allgemeinen Congreß« mit allen »von einer und der andern Seite in dem gegenwärtigen Kriege begriffene[n] Mächte[n]« abzuhalten. Der Termin wurde jedoch in den Herbst verschoben, weil der Zar nach langer Abwesenheit zuerst in seine Hauptstadt Sankt Petersburg zurückkehren wollte. Als neuer Eröffnungstermin wurde der 1. Oktober festgesetzt.

In Österreich war man sich natürlich bewusst, dass es teuer werden würde, für eine Friedenskonferenz und eine Siegesfeier, die der Größe des Anlasses entsprach, als Gastgeberland zu fungieren, und man war sich auch darüber im Klaren, dass es die ohnehin schwierige Finanzlage des Reiches verschärfen würde. Österreich hatte erst drei Jahre zuvor den Staatsbankrott erklärt. Seine 1811 neu ausgegebenen Banknoten hatten bereits vier Fünftel an Wert verloren, und es war schwer verschuldet. Das Land hatte seit 1792 länger gegen Frankreich gekämpft als irgendeine andere Macht mit Ausnahme Großbritanniens, und seine Staatseinnahmen waren während des Krieges stark zurückgegangen.

Wien war zweimal von Napoleon erobert und besetzt worden; zweimal hatten die Aristokraten und der Hof ihr Hab und Gut zusammenpacken und aus der Hauptstadt fliehen müssen. Von Ulm bis Wagram waren die Ebenen Mitteleuropas förmlich übersät mit Dörfern, deren Namen an irgendeine österreichische Niederlage erinnerten. Wiener Witzbolde hatten den Spruch: »Veni, vidi, vici« (»Ich kam, ich sah, ich siegte«), den Julius Cäsar auf einem Triumphzug vor sich hertragen ließ, für ihren Kaiser Franz umgeschrieben: »Venit, videt, perdit« (»Er kommt, er sieht, er verliert«).