Wilhelm Berndl

Sokrates

Europäer der ersten Stunde

Ein Lebensbild

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Wilhelm Berndl

SOKRATES

Europäer der ersten Stunde

Ein Lebensbild

Meiner Frau

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Vater des Abendlandes

Sokrates und Jesus von Nazareth in vergleichender Sicht

Quellensituation. Zeitlosigkeit des Sokratischen Philosophierens

1. Kapitel

Der frühe Sokrates

Geburtsort Athen: Zentrum griechischer Geistigkeit. Herkunft.

Charakter. Schulbildung. Neigung zur Philosophie

2. Kapitel

Der Andersartige

Jugend ohne Jugendlichkeit. Physiognomie

Alkibiades’ Sokratesbild.

Alkibiades - Enfant terrible. Sokratesschwärmerei. Sophistik.

Sokrates - das unbekannte Wesen

Mann des Geistes und der Selbstzucht.

3. Kapitel

Ohne Athen kein Sokrates?

Sokrates’ Geisteswelt. Anaxágoras’ neue Philosophie

Wirkung auf Sokrates. Anaxagoras - Philosoph der Philosophen

Périkles und Anaxagoras. Athen und Anaxagoras

4. Kapitel

Aspásia, femme fatale

Emanzipatorisches Durchsetzungsvermögen

Mittel- und Glanzpunkt der hauptstädtischen Hautevolee

Verunglimpfung durch die Komödie

Aspásia und Sokrates. Aspásia und Perikles

5. Kapitel

Athen und Sokrates

Der Bürger Sokrates. Athen, die Überdemokratie

Ambivalentes Demokratiebewusstsein

Perversion der demokratischen Idee. Beispiel: Komödie

Volksherrschaft - ein Auslaufmodell?

Loyale Staatsgesinnung. Athens Zukunft in der Sicht des Sokrates und Perikles

Sokrates’ Menschenbild.

Perikles’ politische und familiäre Probleme

6. Kapitel

Neuanfang der griechischen Philosophie

„Menschliche“ Philosophie

Der diesseitig-weltkluge Philosoph

Sokratische Mäeutik. Meister und „Jünger“

Unprätentiöses Auftreten. Sokrates - das Gewissen Athens

Aristóphanes’ Sokratesbild.

Rededuell: Bequemlichkeit und Genusssucht

gegen Weisheitsstreben und Enthaltsamkeit.

Kynismus

7. Kapitel

Ehemann, Erzieher, Ratgeber

Sokrates’ Ehe - ein Ehedrama?

Xanthippe und Sokrates - Opfer einer historischen

Desinformation?

Pädagogik à la Sokrates

Weltferner Spintisierer?

Der Aristophanische Erzsophist.

8. Kapitel

Philosophie in praktischer Bewährung

Belehrungsresistenz des Sohnes

Das Gute im Spannungsfeld zwischen Pädagogik

und Philosophie. Sokratische „Nützlichkeitsmoral“

Problematik des Tugendbegriffs

Aristóteles’ ethischer Positivismus

Sokrates idealistische Tugendlehre und Euripides’

Frauengestalten

Unverwüstlicher „Gutmensch“?

9. Kapitel

Abnormale Normalität

Gesellschaftlich-bürgerliche Existenz

Sexualität. Verehrer des Schönen

Lobpreis des philosophisch sublimierten Eros

Enthüllendes Zeugnis des Alkibiades

Trinkfestigkeit.

„Ratgeber“ des Liebesgewerbes

10. Kapitel

Der idealtypische Staatsbürger und Soldat

Leidensfähigkeit. Uneigennütziges Engagement.

Der Philosoph im Soldat.

Tapferkeit und Einsatzfreude in Extremsituationen

11. Kapitel

Diener der Weisheit

„Gottesdienst“: Belehrung der Menschen

Diskursiv-interrogative Wahrheitssuche

Das Wahrscheinliche als Zielvorgabe

Fragen ohne letzte Antworten

Verärgerung der Examinierten

Hebammenkunst (Mäeutik)

Definition nach Gattung und Art.

Platon und Sokrates in vergleichender Zusammenschau

12. Kapitel

Die Sizilische Expedition

Alkibiades - Exponent des athenischen Imperialismus

Oppositionelle Politik.

Sokrates’ Grundhaltung

Der Hermenfrevel. Folgen

Alkibiades - Sokrates: Vergleichende Charakterzeichnung

Alkibiades - Retter Athens

13. Kapitel

Einer gegen alle

Athens Masochismus

Krítias - Sokrates’ Schüler und Feind.

Verbale Auseinandersetzung

Sokrates’faktischer Widerstand.

Demokratischer Neuanfang Athens

14. Kapitel

Die neue Zeit

Restaurative Kräfte. „Rufer in der Wüste“

15. Kapitel

Der Prozess

Analytisch-Spekulatives. Eine Stadt in Existenznöten

Recht und Justiz - Handlanger geistiger Unreife und ideologischer Rückständigkeit

Beispiel: Ánytos. Bühnenlob

16. Kapitel

Die Anklage.

Der Ankläger Méletos

Schwerpunkt der Anklage

Gespräch über die Frömmigkeit.

17. Kapitel

Vernehmung

Angriff als Verteidigung

Der Jugendverderber und Atheist.

Überlegene Dialektik. Hass der Athener

Sokrates und die Richter

Platons und Lýsias’ Engagement für Sokrates

18. Kapitel

Das Urteil

Schuldspruch. Geldbuße statt Tod?

Sokrates’ Schlussplädoyer: Höchste Ehre statt höchster Strafe

Humorvolle Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Todes:

Totsein - was heißt das?

19. Kapitel

Im Gefängnis

Flucht - keine Alternative

Alltägliches im Nichtalltäglichen

Literarisch-schöpferischer Gewinn im Zeitvertreib

20. Kapitel

Die letzten Stunden

Xanthippes Anteilnahme

Heiter-geistvolle Unterhaltung

Tod und philosophisches Dasein

Sokratischer Humor

Horror vor Klage und Trauer

Trankopfer aus dem Schierlingsbecher?

Einnahme des Gifttrankes. Wirkung.

Nachwort

Pionier eines neujustierten Menschentums

Sokrates’ Bild in der Nachwelt.

Sokrates

BIBLIOGRAPHIE

I. Quellen

II. Literatur

Sokrates

Europäer der ersten Stunde

Ein Lebensbild

Einleitung

Vater des Abendlandes.

Sokrates und Jesus von Nazareth in vergleichender Sicht.

Quellensituation. Zeitlosigkeit des Sokratischen Philosophierens.

Sókrates, Athener, Begründer der attisch-griechischen Philosophie1 - wie wohl keiner darf er für sich in Anspruch nehmen, Symbolgestalt dessen zu sein, was Abendland heißt. Was wäre Europa, in seinen geistigen Dimensionen begriffen, was wäre unsere europäische Gedankenwelt ohne diesen Griechen des 5. Jh.s v. Chr., ohne seine Philosophie, seinen unbedingten Erkenntnisdrang? Europa minus Sokrates gleich null. Europäisch denken heißt, sokratisch denken: eine Charakteristik gewiss formelhaft zugespitzt, gewagt plakativ. Und doch mag man ungern darauf verzichten: Sie hebt den Mann in eine einsame, unvergleichliche Höhe, wie es seinem Verdienst und geistigen Rang entspricht.

Manche gehen sogar noch darüber hinaus und wollen in Sokrates’ Leben eine Parallele zu Auftreten und Wirken des Jesus von Nazareth sehen. Fragen wir unbefangen, was es mit dem Vergleich auf sich hat, wenn er denn mehr ist als Ausfluss einer fast religiösen Verehrung und Huldigung. Nehmen wir seine Lehre: Wir kennen sie nur indirekt, aus zweiter Hand, durch Äußerungen und Darstellungen seiner Schüler und Freunde, vor allem Platons und Xenophons. Von ihm selbst gibt es keine einzige Zeile, nichts schriftlich Fixiertes.

Ebenso gilt: Er ist zum großen Anreger geworden. Überkommenes und Gewohntes, Alltägliches und Selbstverständliches in Denken, Wollen und Handeln hat er radikal infrage gestellt. Dass ihm viele darin nicht folgen wollten und konnten, dass sie mit Feindseligkeit und Hass antworteten, wo sie aufgefordert waren, die eigene Position kritisch und vorurteilsfrei zu überdenken - auch dies ist konstitutiver Teil seiner Vita.

Nicht zuletzt ist er sich, seinem geistig-ethischen Ich stets treu geblieben, ob genehm oder nicht, bis zum Tod. Ja, bis zum Tod. Auch dies mag als Vergleichsmoment seinen guten Sinn haben. Der Tod, willkürlich verhängt und gewaltsam herbeigeführt und doch bewusst und aus freien Stücken angenommen, besiegelt ein Leben, das in seiner Kompromisslosigkeit zum großen Ärgernis geworden ist. Man darf wohl, ohne ungebührlich hoch zu greifen, ein Wort der Bibel zitieren: Die Bauleute haben den Eckstein verworfen.

Die vorliegende Studie hat sich vorgenommen, diesen Mann, schon immer Gegenstand großen Staunens und ungläubiger Bewunderung oder fundamentalen Widerspruchs und rigoroser Ablehnung, biographisch zu erfassen und im Nahbereich menschlicher Erfahrung zu sehen, was wirklich an ihm ist. Nichts schwieriger als dies. Vergleichbares existiert in der Antike nicht, wenn man nicht das Allerlei von Fakten und Aussprüchen, von Diógenes Laértios2 kunterbunt und oft kritiklos zusammengetragen, dafür nehmen will.

Biographisch Gesichertes lässt sich nur sehr sporadisch eruieren. Die vorhandenen zeitgenössischen Zeugnisse, nicht eben wenige, verwirren mehr, als dass sie klären. Sie sind in sich wenig vertrauenswürdig, zum Teil gegenteiliger Natur, zeugen vor allem von einer Rezeptionsgeschichte, die nicht uneinheitlicher sein könnte. Dass, davon abgesehen, die Legende vielfach das Feld behauptet, wie bei allem, wo der Mensch scheinbar Übermenschlichem, Rätselhaftem begegnet und damit klarzukommen versucht - fast schon erwartet und nur konsequent. Beklagenswert spärlich gesät die Stellen, wo nicht Lessings „garstiger Graben“ zwischen Glauben und Geschichte dräut.

Wenigstens eines mag erreicht werden. Die Grundlinien des Lebens und Denkens dieser Jahrhunderterscheinung sollen sich klar abzeichnen. Nicht verdrießen soll es dabei, wenn Historisches und Geschichtsfremdes immer wieder miteinander im Wettstreit liegen. Die Ranken des Legendenhaften, nicht Verifizierbaren, Mythischen können bisweilen den klaren Blick verstellen. Dem Stamm selbst vermögen sie, noch so üppig wuchernd, nichts anzuhaben. Vielmehr mag es angehen, in all dem, wo nicht der Weltgeist unmittelbar zu uns zu sprechen scheint, ein notwendiges Beiwerk zu sehen, ja, es als untrüglichen Fingerzeig zu nehmen für die historische Größe und Zeitlosigkeit des so Umrankten, Verdunkelten und Verklärten.

In ihrer zeitlosen Gegenwärtigkeit also mag sich, so die Intention der Arbeit, die Gestalt des Sokrates lebendig darstellen und zur bestmöglichen Wirkung gelangen. Das ist doch wohl auch die einzige Möglichkeit, seinem philosophischen Anliegen einigermaßen gerecht zu werden, bei aller Zeitgebundenheit des äußeren Werdegangs, des physischen und geselligen Lebens und Wirkens. Wer befürchtet, es sei die Idealisierung eines menschlich-irdischen Wesens unter Aufbietung hagiographischer Eitelkeiten beabsichtigt, also der Versuch, es auf die eine oder andere Art von seinen Unvollkommenheiten zu befreien, dem sei in Erinnerung gerufen, dass sich ein solches Verfahren bekanntlich dort von selbst erledigt, wo die in Rede stehende Person noch allen Zeiten als Mensch von einmaliger Idealität vor Augen stand und steht, nicht zuletzt als Musterbild bewährt ist, als „Inbegriff der Sehnsucht nach Vollkommenheit“3.

Nicht Sokrates also, dem Mann der Geschichte, der objektiven Wirklichkeit, wollen wir in erster Linie begegnen, sondern, mit Goethe zu reden, um „den inneren Menschen“ in seiner Unvergänglichkeit und Vorbildlichkeit, wenn es denn sein soll, seiner idealen Seinsweise, wollen wir uns bemühen, um uns von ihm ergreifen und vereinnahmen zu lassen. Ihm mögen zuvörderst unsere Aufmerksamkeit und unser hauptsächliches Interesse gehören. Das Gesagte vorausgesetzt, mag auch der durchgehende Gebrauch des Präsens als Darstellungsprinzip für Vergangenes durchaus sinnvoll und angemessen erscheinen.

1 Es ist üblich, alle griechischen Denker, die Sokrates vorausgehen, in ihrer Bedeutung eben durch das zeitliche Moment hinreichend definiert und eingestuft zu sehen. Man bezeichnet sie als Vorsokratiker.

2 Diogenes Laertios, griech. Schriftsteller, schrieb um 220 n. Chr. eine Art Geschichte der Philosophie in zehn Büchern. Sein Werk mit dem nicht authentischen Titel „Leben und Meinungen der bedeutenden Denker und Sammlung der Lehren der philosophischen Richtungen“ ist eine wichtige, allerdings oft unkritische Quelle für die Geschichte der alten Philosophie.

3 Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Georgi Schischkoff, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1982

1. Kapitel

Der frühe Sokrates

Geburtsort Athen: Zentrum griechischer Geistigkeit. Herkunft.

Charakter. Schulbildung. Neigung zur Philosophie.

Wir schreiben das Jahr 470 v. Chr. Athen, die Hauptstadt Áttikas4, erwacht. Mit Sparta, der militärisch besonders ambitionierten Hauptstadt der Peloponnés5, um die politische und militärische Vorherrschaft in Mittelgriechenland rivalisierend, ist die Stadt der Athener seit langem als geistig-kulturelle Metropole ganz Griechenlands weithin berühmt und anerkannt. Wer immer als Geistschaffender, als Schriftsteller, Künstler, Philosoph etwas werden oder gelten will, tut gut daran, hier, wo Geist und Kunstverstand eine ursprüngliche Heimstatt haben6, inmitten der Buntscheckigkeit des überschäumenden geistigen Lebens sich den letzten Schliff und womöglich die gebührende Anerkennung zu holen.

Es ist ein Tag wie jeder andere. Auf der Agorá, dem Marktplatz, ist nach der nächtlichen Ruhe das Leben zurückgekehrt, pulsierendes, vibrierendes Leben. Handel und Wandel sind in vollem Gang. Nicht ganz reibungslos. Athen hat sich entschlossen, seinen Kommunikations- und Handelsmittelpunkt vollständig umzukrempeln. Schon seit 507 macht sich rege Bautätigkeit breit. Wo bisher bauliche Ärmlichkeit und Unscheinbarkeit der Stadt wenig Ehre einbrachten, soll eine großzügige Ausgestaltung in dem äußeren Bild Athens neue Glanzpunkte setzen. Nichts städtebaulich Unrühmliches, Unansehnliches darf mehr dem Ruhm seiner intellektuellen Wortführerschaft entgegenstehen.

An so einem Tag des beginnenden Jahrzehnts ist es, dass Phainarete7, von Beruf Hebamme, einem Knaben das Leben und Athen einen neuen Bürger schenkt. Einer seiner größten sollte es werden. Sein Name: Sokrates. Er wird ihn auf seinem bürgerlichen Lebensgang begleiten, bald aber zum Inbegriff einer bestimmten Lebens- und Geisteshaltung werden, von einem Edelsinn und einer Erhabenheit, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hat.

Sein Vater, Mann der Phainarete in zweiter Ehe, ein gewisser Sophroniskos. Auch er bleibt, wie die Mutter, mehr oder minder Schattengestalt. Kaum dass die Überlieferung es für nötig findet, uns mit seinem Namen und Beruf bekannt zu machen. Steinmetz oder Bildhauer8 soll er gewesen sein.

Das einzige, was sich über seine Persönlichkeit und das Verhältnis des Sohnes zu seinem Vater sagen lässt, findet sich in Platons Dialog „Laches“. Beiden, Vater und Sohn, wird hohes Lob gezollt. Lysímachos, Dialogperson, spricht es aus. Sophroniskos ist ihm der „beste der Männer“9, also, wenn wir vom Superlativ absehen, für Römer wie Griechen gern Mittel der Personencharakterisierung: „ein edel denkender, vortrefflicher Mann“. Die edle Gesinnung scheint auch der Anteil zu sein, den der Vater zur inneren Formung des Sohnes beisteuert. „Du hältst den Vater in Ehren“, bescheinigt ihm Lysímachos.

Seine Knaben- und ersten Jugendjahre liegen vollständig im Dunkeln. Nichts ist darüber verlautet. Soll heißen: Der Bildungsgang hält sich im Herkömmlich-Allgemeinen, im Abseits der öffentlichen Wahrnehmung.

Morgen für Morgen wird sich also der kleine Sokrates auf den Weg in die Schule machen, begleitet von einem Sklaven, dem paidagogós10, bewehrt mit Wachstafel und Griffel. Unter Schule dürfen wir uns nichts Offizielles wie heute vorstellen. Es sind die privaten Räumlichkeiten des grammatistés11, des Elementar- oder Grundschullehrers, die ihn erwarten. Sie verheißen und verbürgen dem Kleinen12 Unterricht im Lesen und Schreiben. Der Rohrstock, zu allen Zeiten untrennbar mit dem Betriff Schule verbunden und ihren Schrecken repräsentierend, ist auch damals ständig drohend zugegen. Ja, in der damaligen Pädagogik - eine Pädagogik ohne körperliche Züchtigung war noch nicht angedacht und gefunden - ist er ein gern und fleißig gehandhabtes Utensil13. Sollen wir annehmen, dass auch der Schüler Sokrates dessen Bedeutung und Wirkung aus eigener Erfahrung kennt, oder kommen in seinem Fall Lernverhalten und Betragen auch ohne physisch schmerzhaftes Korrektiv aus? Keine Frage von Belang.

Keine schriftlichen Zeugnisse gibt es auch darüber, dass ihm ein vermögensabhängiges Privileg schulmäßig eine umfassende Bildung in Geometrie, Arithmetik, Musik, Literatur, Astronomie, Rhetorik und Philosophie gesichert hätte. Seine Eltern sind nicht ohne Vermögen. Ob es ausreicht, ihm den üblichen Weg in die höheren Geistessphären zu bahnen, oder ob er autodidaktisch das Nötige tut, um seinem Talent zu bieten, was es zur Vollreife braucht und begehrt - die Überlieferung hält sich auch hier bedeckt. Sein Wissensdurst jedenfalls scheint fast unstillbar. Neben der Arbeit in der Werkstatt des Vaters findet er noch, das wenigstens ist bekannt, Zeit und Gelegenheit, sich in die Lehren der alten Weisen zu versenken. Er tut es offenbar mit Genuss. Die empfänglichen Sinne des gefräßigen Lesers können nicht genug davon bekommen. Die körperlich-handwerkliche Arbeit ist anscheinend ja nicht das, was ihn innerlich zu packen und auszufüllen vermöchte.

Es ist verbürgt, Sokrates’ frühreifer Geist ist schon bald in der Welt der Philosophie zu Hause14. Wir wissen im Einzelnen nicht, welche Gedanken, welche Gefühle ihn bewegen, als er den verschiedenen Versuchen der Welterklärung begegnet, den leidenschaftlichen Bemühungen, die Vielgestaltigkeit des Seins auf das All-Eine, Ewige, Göttliche zurückzuführen, aus dem alles geworden scheint. Thales15, Anaximander16, Anaxímes17: drei Größen der so genannten Naturphilosophie seien hier namentlich genannt. Ihre je verschiedenen Gedanken, Auffassungen, Vorstellungen, Thesen und Theorien - mit gutem Grund dürfen wir annehmen, dass sie ihn ebenso verwirrt, ratlos und zweifelnd zurücklassen wie uns Heutige.

Fern sei es, geschichtsklitternd biographische Blößen zu kaschieren. Gleichwohl sollte es nach Sachlage nicht unangemessen sein zu unterstellen, Sokrates hat, so jung er ist, ansatzweise eine Vorstellung davon, dass das Suchen und Fragen nach den letzten Seinsgründen von Welt und Natur mehr ist, als es die zum Teil recht wunderlichen, kaum fassbaren Ergebnisse philosophischen Spekulierens besagen. Kündet doch alles, was in dieser Richtung unternommen wird, laut und vernehmlich davon, dass der Mensch dabei ist, aus Dunkel und Unmündigkeit des Mythos auszubrechen und in der Freiheit und Helligkeit des Logos, der Vernunft, des geistigen Daseins, seinem Leben in ungeahnten Dimensionen neuen Sinn und neue Würde zu geben. Jedenfalls scheint ihn alle Problematik, alle begrifflich-intellektuelle Anstößigkeit und Unbeholfenheit dessen, was philosophisches Forschen als Lösung kosmogonischer Problemstellungen anbietet, nicht grundsätzlich dagegen einzunehmen, nicht daran zu hindern, voll Ehrfurcht und Bewunderung zu den Männern aufzublicken, die in dieser Weise um Wahrheit und Weisheit ringen.

Mit Werk und Lehre Heraklits18, des neben Thales und Demokrít19 wohl bedeutendsten und bis in die heutige Zeit wirkmächtigsten der Naturphilosophen, hat er sich offenbar besonders auseinandergesetzt. Von Eurípides20 wird er um seine Meinung zu Heraklits Philosophie befragt. Seine Antwort: „Was ich verstanden habe, ist großartig, und ich glaube auch das, was ich nicht verstanden habe; denn ein delischer Taucher ist nötig, um auf den Grund zu kommen.“ Ein echt Sokratisches Wort voll Witz und Hintersinn: Man beachte die feinsinnige Ironie mit dem leichten Anflug von kritischabfälliger Reserviertheit bei dem Verweis auf den „delischen Taucher“. Doch mit dieser Stellungnahme befinden wir uns bereits in einer Zeit, als Sokrates willens ist, in philosophischen Dingen eigene, ganz neue Wege zu gehen, sich von allem Tradierten zu verabschieden, es bedenkenlos über Bord zu werfen.

4 Attika, zentrale Landschaft Griechenlands

5 Peloponnés, Südhalbinsel Griechenlands, jetzt Morea

6 Vgl. die griechisch-lateinische Redensart „Eulen nach Athen tragen“. In einer Komödie des Aristóphanes wird gefragt: „Wer hat die Eule nach Athen getragen?“ Danach nimmt die stolze Redensart sprachlich, insbesondere geistig Überflüssiges, was sich von selbst versteht, aufs Korn, um den, der in dieser Weise etwas verlautbart, als vergleichsweise zurückgeblieben, nicht auf der Höhe der Zeit und der Wissenschaft stehend abzutun. Die Eule war Sinnbild der Weisheit und konkret Attribut der ernsten jungfräulichen Stadtgöttin Athene (lat. Minerva). Tochter und Lieblingskind des Zeus, nach späterer Sage aus dessen Haupte entsprossen, war sie die Personifikation der menschlichen Intelligenz. Sie wurde als Göttin der Weisheit, als Schützerin der Künste und Wissenschaften, aber auch als Kriegsgöttin verehrt.

7 Die Griechen begnügten sich jeweils mit einem Namen. Verdeutlichend konnte der Name des Vaters (im Genitiv, also Sokrátes Sophronískou, zu erg. „Sohn des“, vgl. ahd. Hadubrant Hiltibrantes) oder die lokale Herkunft hinzutreten. Beliebt waren Namenskomposita mit einem positiv besetzten Appellativum, also Wunschnamen, z. B. Phainarete = die, die Tüchtigkeit (areté Tugend, Tüchtigkeit) zeigt (phaínein erscheinen lassen, verkünden).

8 Manche machen ihn zu einem Bildhauer, obwohl die griechische Berufsbezeichnung lithourgós zunächst nur den „Steinhauer“ meint.

9 Griech. áriston andrón (Plat., Lach. 181 a)

10 Wörtl. der Knabenführer

11 Von grámmata die Buchstaben, dann umfassend für Elementarkenntnisse, Schreiben und Lesen, das Abc, im weiteren Sinn auch für Schriften, Literatur, Wissenschaften, vergleichbar lat. litterae.

12 Der Elementarunterricht war in der Regel privat organisiert.

13 Für Platon „ist ein nicht geschundener Mensch nicht erzogen“.

14 Vgl. Platon, Phaidon 96 a-c

15 Thales von Milet, erster griech. Philosoph und Mathematiker, um 600 v. Chr.; nach Aristoteles „Ahnherr der Philosophie“, halb sagenhaft (einer der Sieben Weisen); lehrt, dass das Wasser der Urstoff ist, aus dem sich alle Materie zusammensetzt. Gerühmt werden von den Alten seine Kenntnisse in Geometrie, Astronomie und Naturwissenschaft. Für den 28. Mai 585 hat er eine Sonnenfinsternis richtig vorausgesagt, vielleicht auf der Grundlage ägyptischer Aufzeichnungen und babylonischer Berechnungen.

16 Ápeiron, Kernbegriff der Weltentstehungslehre des Anaximander, zu übersetzen mit „Grenzenloses, Unendliches, Unbestimmtes“. Anaximander (gr. Anaximandros), 610-547 v. Chr., hatte ebenso wie Thales einen Namen als Mathematiker, Astronom und auch als Geograph. Ihm verdanken sich die erste Erdkarte und der erste Himmelsglobus. Vor allem ist er der erste, der als Denker den Schritt vom sinnlich Anschaulichen, Begreifbaren zum metaphysisch Unanschaulichen tut. Das ápeiron ist ihm das allein Ungewordene, Unvergängliche, Göttliche. Seine Schrift Perì phýseos „Über die Natur“ - er war der erste Grieche, der Prosa schrieb - war die erste philosophische griechische Schrift überhaupt. Nach ihm wurde allen Schriften der ersten Naturphilosophen dieser Titel beigelegt.

17 Auch er, zw. 585 und 525 v. Chr., zählt wie Thales und Anaximander zu den sog. Naturphilosophen. Alle drei sind sie aus der ältesten, mächtigsten und reichsten Handelsstadt im ionischen Kleinasien, Milet, hervorgegangen. Anaxímenes bezeichnet als den Urstoff die Luft, aus der durch Verdünnung Feuer, durch Verdichtung Wind, Wolken, Wasser, Erde und Steine entstehen. „Wie unsere Seele [gr. psyché, nicht = Inbegriff aller menschlichen Geistes- und Gefühlskräfte, sondern verstanden in der Grundbedeutung = Hauch, Atem = Lebensodem, Lebenskraft als Prinzip des physischen Lebens oder der animalischen Existenz, überhaupt = Leben, insofern es durch das Vorhandensein der Seele im Körper bedingt ist] Luft ist und uns dadurch zusammenhält, so umfasst auch den ganzen Kosmos wehender Hauch und Luft.“

18 Heraklít von Ephesus (urspr. karische Siedlung an der westkleinasiatischen Küste, dann von Griechen aus Athen besiedelt), griechischer Naturphilosoph, um 544-483 v. Chr., wegen seines tragischen Ernstes auch der „weinende Philosoph“ genannt. Sein Buch über die Natur, von ihm im Tempel der Artemis deponiert und dieser geweiht, ist als Ganzes nicht erhalten. Die Lehre ist nicht in einem systematischen Gedankenbau niedergelegt, sondern besteht aus einzelnen Sprüchen (Gnomen) von hoher Prägnanz und streng formaler Konzeption. Die außergewöhnliche Konzentration und Vieldeutigkeit der Gedanken brachten es mit sich, dass ihm bald der Beiname „der Dunkle“ anhaftete. Die gesammelten 130 Fragmente (ungefähr die Hälfte des Werkes dürfte so auf uns gekommen sein) zeigen einen umfassenden, vielseitig interessierten Geist. Kosmologie, Politik, Ethik und Theologie - das sind die thematischen Blöcke, denen sich die Fragmente zuordnen lassen. Was ihn als Philosoph besonders auszeichnet, ist seine Logoslehre: Nach seiner Anschauung formt sich aus dem Weltfeuer (Urgrund aller Materie) und dem in ihm wirkenden Weltgeist (Logos) die vielfältige und spannungs- und gegensatzgeladene Welt der Erscheinungen (Kosmos) und sinkt nach dem ewigen Gesetz von Entstehen und Vergehen dahin zurück zu neuem Werden. Seine Lehre hat eine vielfache Renaissance erfahren: Die Stoa hat sie ebenso aufgenommen wie die christliche und die ganze abendländische Philosophie. Auch in der Neuzeit hat sie die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hegel, Schleiermacher, Lassalle und Nietzsche sind ihr besonders zugetan. Die Theoretiker des Bolschewismus, so auch Lenin, haben Heraklit für sich vereinnahmt.

19 Leukípp, gr. Leukippos, geb. zwischen 480 und 470 v. Chr. vermutlich in Milét, gest. in Abdera (blühende Handelsstadt an der Küste Thrakiens, stand im Ruf der griechischen Schildbürgerstadt [vgl. Wielands „Abderiten“], nach Aristoteles Begründer der Atomtheorie (Atomistik). Was er lehrte und schrieb, darunter eine Schrift über die „Große Weltordnung“ und ein Buch „Vom Geist“, scheint schon früh im Corpus der sechzig Schriften seines Schülers Demokrít aus Abdera aufgegangen zu sein. Demokrit war wohl der größere, umfassendere Geist. Über Mathematik, Naturwissenschaft, Ethik, Ästethetik, Grammatik, Technik, Politik, und Kriegskunst scheint er sich gleichermaßen kundig geäußert zu haben. Er war jedoch eindeutig naturwissenschaftlich orientiert. Bezeichnend sein Wort, er wolle lieber einen einzigen Naturvorgang erklären als Perserkönig (Symbolgestalt für das dem Menschen erreichbare Höchstmaß an Macht, Reichtum und irdischem Glück) werden. Mit seinem Namen verbindet sich heute in erster Linie die Atomlehre. Offenbar hat er sie von Leukipp übernommen, modifiziert und voll ausgebildet.

20 Eurípides, der dritte der großen Tragödiendichter Athens, 480-406 v. Chr. Schüler der Sophisten, grüblerisch und skeptisch, ist ihm die Frömmigkeit des ´Äschylos und das Vertrauen des Sóphokles in die göttliche Allmacht, Weisheit und Güte fremd. Das seelisch-geistige Profil seiner Bühnenfiguren hat, psychologisch scharf umrissen, etwas Existentialistisches, ist Spiegelbild einer wildbewegten Zeit mit all ihren erregenden Fragestellungen in Politik, Religion, Gesellschaft. Themen wie Wesen der Gottheit, die beste Staatsform, Sklaverei, Armut und Reichtum, Adel und Bürgertum, Nationalität und Kosmopolitismus, Frauenbildung, Jugenderziehung gehören zu ihrem Gedankenkosmos. Charakteristisch auch ihr Seelenbild: In sich zerrissen, klagen sie gern und rechten mit dem blindwaltenden Schicksal (vgl. Ibsen).