Kapitel 3

West Lafayette, August 2013

Ich verließ Mom und Dad nur ungern, wenn es in meiner Beziehung zu ihnen – genauer gesagt meiner Beziehung zu Dad– kriselte, aber seit Claudia und ich wieder in unser altes Apartment in West Lafayette gezogen waren, konnte ich freier atmen. Die Wohnung befand sich in einem malerischen roten Backsteingebäude mit weiß getünchten Balkonen. Der Blick ging ins Grüne, und zu der Wohnanlage gehörten ein Gemeinschaftspool sowie ein Fitnessraum. Das Apartment selbst war riesig und modern, und jede von uns hatte ein eigenes Schlafzimmer samt eigenem Bad. Die Miete kostete Claudias Eltern jeden Monat ein kleines Vermögen, aber sie konnten es sich leisten, und Claudia war es scheißegal, wenn sie die beiden ein bisschen molk, schließlich war Geld die einzige Währung, in der sie Claudia Zuneigung zukommen ließen.

»Ich bin endlich fertig mit Auspacken«, verkündete ich und ging in den offenen Wohnküchenbereich. Claudia spielte Songs von Carrie Underwood auf ihrem Laptop und … überrascht hielt ich inne. »Warum räumst du die Möbel um?«

Sie ließ das Sofa los, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ein neues Jahr hat angefangen, Zeit für Veränderungen.« Sie grinste, als sei das eine Antwort.

»Sei vorsichtig mit deinem Rücken«, sagte ich und betrachtete skeptisch das braune Ledersofa. »Du schiebst nicht gerade ein Hündchen auf Rollen durch die Gegend.«

»Ich bin ja schon fertig.« Sie spazierte in die Küche, holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank und warf mir eine zu. Während ich sie auffing, fragte Claudia: »Hast du dich bei deinen Eltern gemeldet?«

Sie wusste nur zu gut, dass ich es getan hatte. »Sie wollen dieses Wochenende nach Chicago. Das tut ihnen normalerweise gut. Ich wünschte nur, die Atmosphäre zwischen uns wäre nicht so angespannt. Irgendwie habe ich gehofft, dass sich wie durch ein Wunder alles normalisiert, bevor die Uni wieder losgeht.«

»Wenn du sie öfter mal nach Chicago begleiten würdest…«

»Lass es!«, blaffte ich sie an.

»Okay, ich bin ja schon ruhig.«

Ich drehte den Spieß um und fragte: »Apropos Eltern … hast du mit irgendeinem deiner Elternteile gesprochen?«

Claudia verzog das Gesicht. »Mit meiner Mom. Seit der Enthüllung in Bezug auf Barcelona ruft sie öfter an.«

Überrascht von dem Anflug elterlicher Fürsorge fragte ich: »Ist das gut?«

Meine Freundin zog unbeeindruckt die Brauen hoch. »Wird sich zeigen.«

»Vorsichtig wie immer. Clever.« Ich ließ den Blick durch das außergewöhnlich saubere und aufgeräumte Zimmer schweifen. Das würde nicht so bleiben, sobald die Vorlesungen wieder angefangen hatten. »Also, treffen wir uns heute Abend mit Alex und Sharon, oder werden die beiden auch ein Opfer deiner ›Veränderungen‹?«

Sie schnitt eine Grimasse wegen meines Sarkasmus. »Von mir aus lass alles beim Alten, dabei habe ich die Idee von dir. Du hast gesagt, dass du einen Neustart machen willst. Und du hast völlig recht. Wir sollten quasi bei null anfangen. Ich habe einen Plan– und du brauchst auch einen.«

»Und wie genau sieht dein Plan aus?«

»Das Leben ist zum Leben da, stimmt’s?« Claudia grinste, und ihre grünen Augen glitzerten. »Ich werde Will endlich fragen, ob er mit mir ausgeht.«

»Den heißen HiWi?« Will McPherson leitete das Seminar über Kriminologie im Grundstudium. Claudia hatte sich damals in ihn verknallt. »Meinst du, er ist noch an dem Lehrstuhl?«

Sie machte ein langes Gesicht. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«

Ich wandte mich ab, um mein Schmunzeln zu verbergen. »Er ist bestimmt noch da. Nur nicht die Hoffnung aufgeben. Du wirst es schon schaffen, dich davon abzulenken, dass du in Beck verliebt bist.«

»Stopp, oder ich spiele die Jake-Karte aus.«

Ich zuckte zusammen. »Na schön. Dein Plan: dich mit Will verabreden. Mein Plan: die Aufnahmeprüfung für die juristische Fakultät bestehen.«

»Einfallslos. Aber wenn es das ist, was du willst, werde ich dir beim Lernen helfen.«

»Das weiß ich zu schätzen. Und jetzt schieb deinen Hintern unter die Dusche. In einer Stunde sind wir mit Alex und Sharon im Brewhouse verabredet.«

»In einer Stunde?« Sie zupfte an einer Locke ihrer seidigen schwarzen Haare. »Ich brauche allein eine Stunde zum Haareföhnen.«

»Dann solltest du besser loslegen, Pocahontas.«

Das Brewhouse war eine Bar nahe dem Campus, in der die Ausweiskontrolle für Studenten lockerer gesehen wurde. Das war in einigen Bars auf dem Campus zwar auch der Fall, aber im Brewhouse spielten an den Wochenenden Bands. Claudia beschwerte sich ständig, dass dort nie Country-Sänger auftraten. Ich erinnerte sie daran, dass das übliche Publikum des Brewhouse nicht auf Country stand.

Wir betraten die Bar und entdeckten Alex und Sharon auf Anhieb. Alex und ich sahen uns an, und sofort überkam mich ein überwältigendes Gefühl von Heimat. Als ich einige Monate zuvor aus Schottland zurückgeeilt war, um bei meinen Eltern zu sein, war Alex für mich da gewesen. Er war von der Purdue nach Lanton zurückgekommen. Und nachdem das Schlimmste überstanden war, besuchte er mich weiterhin an den Wochenenden.

Diesen Sommer hatte er ein Urlaubssemester eingeschoben und war mit Sharon durch Europa gereist. Er hatte mir gefehlt. Ich vermisste seine Unterstützung und seine Unvoreingenommenheit.

Jetzt hätte ich mich am liebsten in seine Arme geworfen und ihn fest gedrückt. Aber Sharon war zwar nett, doch auch misstrauisch mir gegenüber– schließlich handelte es sich bei Alex um meinen Exfreund. Also hielt ich mich zurück, wenn sie dabei war.

Alex war in der Hinsicht hemmungslos. Er grinste mich an, stand auf und schritt quer durch die Bar auf mich zu. Im nächsten Moment zog er mich fest an sich.

Ich erwiderte die Umarmung, schloss die Augen und atmete den vertrauten Duft von Sandelholz und Moschus seines Rasierwassers ein.

»Schön, dich zu sehen, Charley«, sagte er leise.

»Geht mir auch so.«

»Und ich werde nicht umarmt?«

Alex ließ mich los und lächelte Claudia über meine Schulter hinweg zu. »Aber immer doch.«

Die beiden drückten sich, während Sharon zu uns kam. Sie war eine zierliche, 1,52 große zuckersüße Blondine, die über jeden etwas Positives sagen konnte. Quirlig und immer gut drauf– das genaue Gegenteil von mir. Sie nahm mich in den Arm. »Wie geht es dir?«, fragte sie und ließ mich wieder los.

»Mittelmäßig«, antwortete ich offen. »Und du? Wie war Europa?«

Ihre blauen Augen begannen zu strahlen. »Total super! Wir haben jede Menge Geschichten zu erzählen.«

Wir setzten uns mit unseren Drinks an einen Tisch. Mir fiel auf, dass die Bühne für einen Auftritt hergerichtet war. »Wer spielt denn heute?«, fragte ich.

Alex zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Weitaus spannender finde ich ein Gerücht, das mir zu Ohren gekommen ist. Angeblich willst du die Aufnahmeprüfung für die juristische Fakultät machen?«

Ich blickte zu Claudia, die betont unschuldig wegsah. Seufzend wandte ich mich wieder Alex zu. »Da hast du richtig gehört.«

»Freut mich.« Er schenkte mir ein jungenhaftes Grinsen.

»Das dachte ich mir schon.« Als wir zusammen waren, hatte Alex mich unablässig zum Jurastudium überreden wollen. Er fand die Vorstellung, dass ich Cop werden wollte, genauso entsetzlich wie meine Eltern.

»Test, Test…«

Unsere Aufmerksamkeit wandte sich Duke zu, einem Barkeeper in den Dreißigern, der schon seit Jahren im Brewhouse arbeitete. Keiner wusste wirklich viel über ihn, was er kultivierte, indem er sich gern als den »geheimnisvollen Barkeeper« bezeichnete. Duke stand auf der Bühne und tippte das Mikro an. Zufrieden zeigte er hinter sich. »Für alle, die es nicht wissen: Jeden Freitag- und Samstagabend gibt es im Brewhouse Live-Musik. Wenn ihr also nur in Ruhe einen Drink wollt, solltet ihr vielleicht besser die Straße runter ins Turtle gehen. Aber ich versichere euch, dass die Auswahl in der Jukebox genauso lahm ist wie die Bedienung.« Er grinste und wartete auf Lacher. Es kamen aber keine. »Jedenfalls begrüße ich heute Abend auf der Bühne ein paar Jungs aus der Gegend– genauer gesagt Nachbarn aus Chicago. Sie haben sich diesen Sommer bei ihrer Tour durch Bars im Mittelwesten einen Namen gemacht. Einen herzlichen Applaus für– The Stolen!«

Mir stockte der Atem, als Lowe, Beck, Matt und Denver die Bühne betraten.

Was zum…

Lowe hängte sich den Gitarrengurt über die Schulter und stellte sich ans Mikro. Er sah aus wie immer, randlose Brille, Lippenpiercing, Tattoos. Nur dass er noch attraktiver wirkte, nachdem ich ihn fünf Monate lang nicht gesehen hatte. Ich hatte ihn und die anderen Jungs sehr vermisst. Lowes Blick wanderte durch die Bar, und sobald er uns entdeckte, schienen sich seine Schultern zu entspannen.

Unsere Blicke trafen sich, und er lächelte. »Danke, dass wir heute im Brewhouse spielen dürfen. Es ist schön, hier zu sein. Im Publikum sitzen ein paar Freunde von uns, deshalb widmen wir ihnen diesen Abend. Charley, Claudia, The Stolen haben euch diesen Sommer vermisst.«

Becks Augen ruhten auf Claudia, und die Band begann zu spielen. Ich wollte Claud fragen, ob sie davon gewusst hatte. Aber dann sah ich, dass sie Beck total überrascht anstarrte. Okay, sie hatte also auch keinen Schimmer gehabt.

»Sind das die Leute, die ihr in Schottland kennengelernt habt?« In Alex’ Stimme schwang eine Mischung aus Neugier und Verwirrung mit.

Claudia riss ihren Blick von Beck los. »Ja. Ich habe Beck vor Monaten gesagt, dass sie unbedingt mal hier auftreten müssen. Anscheinend hat er es nicht vergessen.«

Sharon runzelte die Stirn. »Ich dachte, sie gehen auf die Northwestern?«

»Tun sie auch«, antwortete ich und versuchte meinen Herzschlag zu drosseln. Wenn The Stolen hier waren, dann…

»Ist eine ganz schöne Strecke, nur für einen Gig.«

»Äh …« Claudia krallte die Hand um meinen Arm und deutete mit dem Kopf in Richtung Bar.

Jetzt raste mein Herz so schnell, dass ich fürchtete, es würde jeden Moment die Brust durchstoßen.

Jake.

Als er durch die Menge auf unseren Tisch zukam, drückte ich mich fest an die Stuhllehne. Seine Augen ruhten auf mir, aber seine Miene war ausdruckslos.

Ich fühlte mich, als würde sich die Erde unter mir auftun.

Er blieb vor dem Tisch stehen, ragte vor mir auf. Wir waren zu nichts anderem fähig, als uns anzustarren. Ich sog jedes Detail von ihm auf. Seine Haare waren ein bisschen länger, wie früher als Teenager, und er brauchte eine Rasur. Seine Haut wirkte blasser als sonst, und er sah müde aus.

Ich wollte aufstehen, die Arme um ihn schlingen, ihn spüren und riechen. Jede Faser meines Körpers sehnte sich nach ihm, und ich wusste nicht, ob ich weinen, fluchen oder schreien sollte. Bis zu diesem Moment war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich ihn vermisste.

Er war ein Teil von mir.

»Hi, Jake.« Alex stand auf und streckte die Hand aus. »Verdammt lange her, Mann.«

Ohne eine Miene zu verziehen, schüttelte Jake Alex’ Hand. »Alex.«

»Äh …« Alex blickte auf Sharon hinunter. »Das ist meine Freundin Sharon. Sharon, das ist Jake.«

Freundlich lächelnd hielt sie ihm die Hand hin. »Nett, dich kennenzulernen.«

»Freut mich auch«, antwortete er leise.

»Jake!« Claudias Stuhl schrammte über den Boden, als sie ihn zurückschob. Sie ging um den Tisch herum und drückte Jake.

Als er sie in die Arme nahm, kniff er die Augen zu.

Ich blinzelte die Tränen weg.

Er war traurig.

Ich hatte ihn traurig gemacht.

Und ich hätte wissen müssen, dass ich nicht so leicht davonkommen würde.

»Können wir ein Stück gehen, Charley?«, fragte er laut über die Musik hinweg.

Als ich zu ihm hochsah, trat Claudia ein Stück von ihm zurück, damit wir ungestört sein konnten. Jakes Miene war jetzt wieder undurchdringlich.

Ich nickte und stand auf, folgte Jake aus der Bar, nachdem ich Alex und Claud mit einem Blick versichert hatte, dass alles in Ordnung war.

Wir spazierten hinaus in die warme Abendluft, und der Sound von The Stolen wurde hinter uns immer leiser. Ich blickte zurück zum Brewhouse. Ein Teil von mir verübelte es den Jungs, dass sie hier auftraten, und ein anderer liebte sie noch mehr, weil sie es für Jake taten.


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