DIE ANDERE SZENE
Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm
Die andere Szene
Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm
Herausgegeben von Stefanie Diekmann
Recherchen 91
© 2014 by Theater der Zeit
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Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Im Podewil | Klosterstraße 68 | 10179 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Nicole Gronemeyer
Coverbild: Filmstills aus „Damen und Herren ab 65“ von Lilo Mangelsdorff (D 2003)
Basis-Film Verleih Berlin 2002
Grafik: Bild1Druck, Berlin
Printed in Germany
ISBN 978-3-943881-82-0
Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm
Stefanie Diekmann
Die andere Szene – zur Einführung
INTERAKTION
Hans-Friedrich Bormann
Der sichtbare Dritte
Schiller – Kortner – Syberberg
Jörn Etzold
Die Passion Kinski
Peter Geyers Kinski: Jesus Christus Erlöser
Sandra Umathum
Laurent Chétouane & Fabian Hinrichs: Hamlet werden
Überlegungen zu Eva Könnemanns Die Tragöden aus der Stadt
Jens Roselt
Dramaturgie der Krise
Theaterproben im Dokumentarfilm am Beispiel von Gunther Merz’ Der Hexer in Niedernhall
PROZESSE
Annemarie Matzke
Was tut Klaus Wildenhahn beim Filmen von Pina Bausch und ihren Tänzern in Wuppertal?
Das Making Of als Ethnografie von Probenarbeit
Christina Thurner
„Wirklich eines meiner Lieblingsstücke“
Fokus auf Pina Bauschs Kontakthof mit Senioren und mit Teenagern
Sabeth Buchmann
Probe aufs Exempel
Über den Topos der Probe im künstlerischen Film
Bernhard J. Dotzler
Treatment der Diven
Über Werner Schroeters Abfallprodukte der Liebe
Ute Holl, Peter Ott
Körpertechniken, Protokolle, Rückkopplungen
Elemente einer Mediengeschichte der maîtres fous
SOZIALEXPERIMENT
Miriam Drewes
La moindre des choses
Filmische Berichte über ein Theater jenseits der Perfektion
Christof Decker
Die Freiheit der Musik
George Gershwins Oper Porgy and Bess im Tourneefilm Porgy & Me
Kerstin Schmidt
Ästhetik und Widerstand im politischen Theater
Judith Malina und das Living Theatre im Dokumentarfilm
Simon Rothöhler
Ihr seid Schauspieler?
Die Wende als revolutionäre Theaterprobe in Thomas Heises Material
SYSTEME
Anja Klöck
Das Andere der anderen Szene
Schauspielausbildung und westdeutsche Fernsehdokumentation im Spannungsfeld Ost-West
Matthias Warstat
An den Rändern des Theaters
Filmische Annäherungen an Inszenierungen von Christoph Schlingensief
Stefanie Diekmann
Der amerikanische Freund
Frederick Wiseman im Theater
IN MEMORIAM
Isa Wortelkamp
Craneway Event
Eine filmische Choreographie von Tacita Dean in memoriam Merce Cunningham
Autorinnen und Autoren
Abbildungsnachweis
Was immer die Filmemacher im Theater suchen: Es ist eine Suche, die mit einiger Beharrlichkeit betrieben wird. Für den Spielfilm gilt das ohnehin, spätestens seit 1909 (A Drunkard’s Reformation) oder 1916 (Das Gespenst im Opernhaus, Fleur de Paris) und dann quer durch die Epochen und Produktionszusammenhänge. Es wäre zu viel, wollte man behaupten, dass das Kino das Theater liebt (wenngleich es oft genug danach aussieht.) Aber man behauptet nicht zu viel, wenn man konstatiert, dass es vom Theater nicht loskommt, immer wieder ins Theater zurückkehrt, wenn auch sehr selten auf die Plätze, die für die Theaterzuschauer vorgesehen sind. Im Theater hält sich das Kino vorzugsweise im Bereich der Backstage oder im Umfeld der Probebühnen auf: dort, wohin der Blick aus dem Auditorium nicht reicht. Sein Ort ist das Off, die andere Szene, sein Sujet die Parallel-, Vor- und Nachgeschichten, die sich zu einer Produktion oder einer Aufführung erzählen lassen.
Wie an vielen Schauplätzen kommt der Dokumentarfilm auch im Theater verspätet an. Was nicht bedeutet, dass er nicht bereits zuvor verschiedene andere Beziehungen zum Theater unterhalten hat (im frühen wie im ganz aktuellen Dokumentarfilm etwa: das Reenactment). Wann und wo die allerersten filmischen Dokumentationen von Theaterarbeit entstehen, ist in diesem Band nicht untersucht worden. Sicher ist, dass sie erst seit den 1960ern häufiger gedreht werden, was auch damit zu tun hat, dass die Filmemacher im Theater einen Ort vorfinden, der nicht für ihre Zwecke eingerichtet ist, sondern für eine andere Inszenierungsarbeit, und dass sie meist nur unter der Bedingung zugelassen werden, diese Arbeit nicht zu stören. (Dass sie es dennoch tun, steht außer Frage; aber auch das Postulat, nicht zu stören, stellt gewisse Ansprüche an die technische Ausrüstung.)
Was sie dann im Theater vorfinden, ist dem Filmstudio oft nicht unähnlich. Der umbaute Raum, das gesetzte Licht, die markierten Handlungs- und Auftrittsorte; Dekor, Kostüme, Requisiten, ein On und ein Off, eingespielte Abläufe und Kompetenzen; die vertrauten Professionen von Regie, Schauspiel, Technik, aber zugleich ein anderer Gebrauch der Zeit und ein anderes Verhältnis zu den Momenten von Prozessualität und Repetition. „Wir kamen pünktlich und doch zu spät“, heißt es zu Beginn von Klaus Wildenhahns Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? (D 1981), und damit ist auch angedeutet, dass die Zeit des Films nicht die des Theaters ist. Etwas ist bereits vorbei, wenn die Kamera ins Spiel gebracht wird (werden kann), etwas hat stattgefunden oder schon angefangen. Theaterarbeit in den Blick nehmen heißt unter diesen Bedingungen: damit umgehen, dass demselben Blick etwas entgangen ist, und zwar von Anfang an.
Dabei scheinen die Zeichen ganz auf Beobachtung gestellt, genauer: auf die Möglichkeit von Beobachtung, gerade dort, wo Theaterarbeit in Form von Proben stattfindet. Lokal, temporal begrenzt, ist die Probe jene Einrichtung, die der Theaterarbeit Kontur gibt, sie auf einen Schauplatz, in einem Intervall fixiert, in dem sie sich erkunden und erfassen lässt. Allerdings dokumentieren die Filme, die über das Theater gedreht werden, zugleich, dass dieser Schauplatz durchlässig ist, nicht weniger als das Intervall, und dass die Grenzen der Theaterarbeit sogar dort diffus sind, wo ‚Theater‘ dem Dispositiv von Guckkastenbühne, Textinszenierung und Figurendarstellung noch weitgehend entspricht.
Was nicht mehr allzu häufig der Fall ist. Die Orte des Theaters haben sich vervielfältigt, seine Erscheinungsformen und die Konzepte von Auftritt und Schauspiel ohnehin, und was Theater ist (war), ist zu einer Sache der Aushandlung geworden. Die aktuelle Konjunktur von Dokumentationen über Theaterhäuser, -akteure, -kollektive, -proben und -produktionen könnte damit ein Stück weit erklärt sein (inklusive derjenigen Produktionen, die in Angriff genommen werden, „solange es noch ein Theater gibt“). Aber die gegenwärtigen Veränderungen des Theaters erklären nicht, was die Filmemacher dort eigentlich suchen, über die grundsätzliche Möglichkeit der Beobachtung hinaus. Irgendetwas findet der Film am, im Theater, auf der Probe und in ihrem Umfeld. Die Beiträge dieses Bandes versuchen zu beschreiben, was dieses Etwas ist, und sie handeln auch von der Frage, wie man sich dabei mit dem Theater einrichtet.
Wofür das Theater im Film immer gut ist (auch im Erzählkino), ist die Beobachtung von Interaktion. Und zwar Interaktion im Zustand der Verdichtung, räumlich, zeitlich, personell, reduziert auf drei und weniger Akteure an einem Ort, der manchmal so aussieht, als kennte er kein Außerhalb (vgl. Bormann, Umathum). Die beleuchtete Bühne in Syberbergs Fünfter Akt, Siebente Szene. Fritz Kortner probt „Kabale und Liebe“ ist in dieser Hinsicht exemplarisch: durch den Film in ein alttestamentarisches Szenario transformiert, wie aus dem Dunkel gehoben, Licht, Nacht, ein Paar, ein Sündenfall und ihnen gegenüber die Stimme aus dem Off, die über die Szene regiert.
Gesucht wird also die gesteigerte Intensität. Die größere Konzentration oder Anspannung (vgl. Bormann), die großen Gefühle, für die das Theater angeblich zuständig ist; und in der Ökonomie der Gefühle und Affekte auch der große Ausbruch, der einmal oder mehrfach stattfinden kann. Sehr häufig ereignet er sich mehrfach, denn das Theater ist auch eine Kunst der Repetition, nicht zuletzt dort, wo ein Ausbruch spontan erscheint und eine Eskalation nicht mehr zu kontrollieren (vgl. Roselt, Etzold). Dass die Intensität dabei wie exklusiv erfahren wird, i.e. entweder innerhalb der Probenarbeit, zu der nur eine sehr überschaubare Zahl von Akteuren überhaupt Zutritt erhält (vgl. Bormann, Umathum, Roselt), oder aus einer Nähe, die für die Zuschauer im Auditorium nicht vorgesehen ist (vgl. Etzold), stiftet einen Mehrwert gegenüber dem Theater. Das bessere Schauspiel wäre dann allemal im Film anzutreffen, und zwar genau dort, wo dieser den Blick auf die Arbeit des Theaters richtet.
Aus der Nähe, manchmal in Großaufnahme: der Affekt, die Aushandlungen, die Ausbrüche, und außerdem: die Prozesse der Übertragung von Affektbewegungen in Auftrittsgeschehen oder von Anweisungen in Abläufe. Wenn diese Übertragung nicht reibungslos läuft, hat das viel damit zu tun, dass die Rollen nicht immer klar konturiert sind, weder auf der Bühne noch abseits davon; entsprechend ist die Beobachtung von Theaterarbeit auch eine von Rollenkonzepten und Rollenkonflikten. Es gibt Fälle, in denen die Funktionen und Hierarchien stabil, die Positionen fest verteilt und die Umstände der Rollenarbeit nur desto unerbittlicher sind (vgl. Bormann). Es gibt andere, in denen eine Vorstellung über die Verteilung der Rollen besteht, aber nur auf Seiten der zentralen Akteure und nicht auf der des Publikums oder des Ensembles (vgl. Etzold, Roselt). Die Krisen sind dann programmiert, die Eskalation unter Umständen auch; und wenn die Ausbrüche ausbleiben, heißt das nicht unbedingt, dass man sich über die Rollenkonzeption oder das Bühnengeschehen einig geworden wäre. Theater von der Probe her zu erzählen, heißt auch, infrage zu stellen, was jede Aufführung behauptet: dass ein Prozess der Theaterarbeit zu einem glücklichen Abschluss kommen kann.
Was mit der filmischen Beobachtung von Theaterarbeit außerdem hergestellt wird, ist ein Bewusstsein von Prozesshaftigkeit, oder, grundsätzlicher: von Prozessualisierung als demjenigen Prinzip, das der Betrachtung der Inszenierung als Werk oder als Ereignis entgegengesetzt ist. (Die Aufzeichnungen, die von Sendern wie ZDF Kultur oder 3sat während der Festspiele in Bayreuth, Salzburg, während des Theatertreffens oder anderer Festivals gesendet werden, entsprechen eher der Prinzip der Behandlung von Theater als ‚Werk‘ und relativ stabiles Gebilde.)
In der Probe sucht die Dokumentation: den Ablauf, die Dynamik; ebenso: ein Schauspiel der Entstehung, Entwicklung, und weiter: einen Zustand der Fluidität, bevor die Auftritte und Abläufe fixiert werden. Indes ist Fluidität nicht nur ein Kennzeichen des Materials, aus dem sich vielleicht eine Inszenierung entwickelt, sondern auch Kennzeichen der Theaterarbeit selbst, deren Konturen diffus und deren Beziehung zu ihrem Außen durchaus nicht immer klar markiert ist. Was zur Arbeit am Theater gehört und was nicht, wo diese Arbeit ihre räumlichen und zeitlichen Grenzen findet, was dem Theater zuarbeitet, was ihm entzogen werden kann, was als das ‚Andere‘ von Theaterarbeit zu betrachten wäre etc., sind Fragen, zu denen die filmische Dokumentation von Probenprozessen unterschiedliche Positionen entwickelt (vgl. Matzke, Buchmann). In Zeiten der kreativen, performativen, exploitativen Arbeitskonzepte und der Forderung nach einem kreativen, wandelbaren, zu allen möglichen Identifikationsleistungen fähigen Arbeitssubjekt, kann die Theater- und Probenarbeit, deren Akteure zugleich ihr Material und ihr Produkt sind, in jedem Fall die Züge eines exemplarischen Szenarios annehmen (vgl. Buchmann, Thurner).
In den Zustand der Prozessualisierung versetzt, erscheint das Theater tendenziell unabschließbar: an seinen Rändern und in seinen Hervorbringungen (wo endet die Arbeit an einer Inszenierung, und woran wäre zu erkennen, dass sie beendet ist?), aber auch in seiner Zusammensetzung aus Szenen und Auftritten, die ihrerseits aus Gesten, Handlungen, Artikulationen, Phrasierungen bestehen, die in unbestimmter Folge einstudiert, geprobt, wieder geprobt, bis auf Widerruf zusammengesetzt und ein weiteres Mal zum Gegenstand einer Probe gemacht werden. Das, was sich auf der Bühne als geschlossener Auftritt oder als geschlossenes Ensemble präsentiert, wieder auseinanderzunehmen, kann zu einer Sache des Films werden, wenn die Bestandteile der ‚großen Szene‘ im Modus des Hin und Her, Vor und Zurück betrachtet werden, der die Probenarbeit kennzeichnet (vgl. Dotzler), oder wenn das, was eben noch als Ensemble auftrat, wieder in eine Anzahl von Einzelpersonen, Lernprozessen, Einstudierungen zerlegt wird (vgl. Thurner).
In den Filmen, die sich mit Theaterarbeit befassen, kennt die Prozessualisierung wenigstens zwei Grundmuster: die Progression und mit ihr das Work-in-Progress, das sich Schritt für Schritt in Richtung der Perfektion und der Präsentabilität entwickelt. (Die Publikumserfolge unter den Dokumentationen wie etwa Rhythm Is It! oder Tanzträume bevorzugen dieses Muster eindeutig.) Oder die Repetition, die sowohl die systematische als auch die ziellose Wiederholung beschreiben kann und gegen die Erzählung vom Work-in-Progress ein Geschehen behauptet, an dem nicht zuletzt die Momente der Unbestimmtheit, der Redundanz, der Verausgabung oder des surplus interessieren (Matzke, Dotzler).
Offene Situationen: Das Theater vermag sie herzustellen, aber es vermag sie ebenso zu finalisieren. (Dass dort, wo zuvor Probe war, auf einmal Aufführung sein soll, erscheint, je nach Standpunkt der Betrachter, als ein Wunder oder als ein Gewaltakt.) Das Theater ist jene politische Kunst, in der Rollen verteilt, Positionen zugewiesen, Aufteilungen zwischen Akteuren und Zuschauern vorgenommen und Handlungsräume markiert werden. Im Theater wird das Auftrittsbewusstsein geschult, aufseiten der Zuschauer wie aufseiten der Akteure; und in der Dokumentation eine Beziehung zwischen dem Theater und seinem Außen herzustellen, heißt auch, die Prozesse der Aufteilung und Auftrittsordnung andernorts in den Blick zu nehmen. Der politische Umbruch bietet sich dafür an, wenngleich die Auftrittsregime, die sich dabei als durchsetzungsfähig erweisen, mit einer offenen Situation bald nicht mehr viel zu tun haben (vgl. Rothöhler).
Wo die Aufteilungen vorgenommen, die Regime etabliert sind, wird die Aufführung zu jenem Schauspiel, an dem die Modellierung der Körper durch die Ordnungen, die inner- und außerhalb des Theaters wirken, studiert werden kann. Probenarbeit ist Körperarbeit, Körperarbeit eine Arbeit der Disziplinierung, Perfektionierung, Funktionalisierung, die gelingt oder auch nicht, der Übertragung, die nie ganz auf das Funktionale beschränkt ist. Im Auftritt, für die Kamera inszeniert oder von der Kamera beobachtet, kann es geschehen, dass die Einschreibungen wieder an die Oberfläche treten oder kommuniziert und an andere Körper abgegeben werden. Tendenziell sind dies die Momente, in denen das Theater, der Tanz dem filmischen Blick etwas unheimlich wird: in gewisser Nähe zur Dressur, aber auch zum Ritual, zur Magie, die den Prozessen der Übertragung anhaftet (vgl. Holl/Ott).
So wie das Theater andererseits mit Wohlwollen betrachtet werden kann, wenn das Schauspiel kommensurabel, die Situation nicht so sehr offen als vielmehr glücklich gestaltet erscheint. Theaterarbeit ist, oft genug, kollektive Arbeit, Betrachtung des Theaters somit Betrachtung von Kollektiven als Arbeits- und Lebensgemeinschaften (eins nicht ohne das andere; in der filmischen Theaterdokumentation existiert eine deutliche Präferenz für Kollektive, in denen sich Arbeit und Leben vermischen). Die Idee der besseren Gemeinschaft wird dabei stets gegenwärtig gehalten, teils explizit, in Diskursivierungen durch die Theatermacher (vgl. Schmidt), teils implizit, in Selbstauskünften und der Darstellung von Arbeitsformen oder -abläufen (vgl. Decker, Drewes). Ebenfalls gegenwärtig ist das Konzept einer exemplarischen Organisation von Kunst und Leben. Theater existiert in diesen Filmen vorrangig in der Kategorie des gemeinsamen Projekts (vgl. Schmidt, Drewes). Und wenn die soziale Utopie, die der Film im Theater und in seinen Kollektiven entdeckt, ihre beklemmenden Aspekte hat, so artikulieren sich diese nur verhalten (vgl. Decker) oder erschließen sich retrospektiv, aus der Perspektive der sekundären Betrachtung.
Oder das Theater wird ins Bild gesetzt, nicht um von einer ganz anderen (utopischen) Organisation des Zusammenlebens zu handeln, sondern von einer gegenwärtigen, die bereits existiert, in Abgrenzung zu anderen und in konkreten Hervorbringungen, zu denen auch das Theater gehört. In einer kompetitiven Perspektive, in der es darum geht, eine Organisation gegen eine andere, auch: ein System gegen ein anderes, zu profilieren, kann das Theater als jene Einrichtung figurieren, an der die Überlegenheit eines (politischen) Systems anschaulich wird (vgl. Klöck). Das bessere System wäre dann dasjenige, das die besseren Theater hat, und darüber hinaus: die besseren Methoden der Theaterarbeit und -ausbildung, aus der die besseren (freieren, selbständigeren) Subjekte hervorgehen; ein strikt repräsentationales Konzept, das Theater und seinen Akteuren die Rolle von Stellvertretern bezeichnet.
In den Fällen, in denen die Darstellung des Theaters weniger kompetitiv organisiert ist, kommt unter Umständen anderes in den Blick. Nicht die behauptete Superiorität eines Systems oder einer Organisation, sondern deren Spezifik: das, was sie in Gang hält, aber auch die Formen und Strukturen, in denen sie der Beobachtung zugänglich werden (vgl. Diekmann). Spezifische Akteure, Routinen, Kompetenzen, Abläufe, spezifische Aufteilungen und Grenzziehungen: Die Sichtschranken, die das Theater seinen externen Besuchern oder dem filmischen Blick entgegensetzt, sind Teil dieser Aufteilungen und damit auch ein Teil dessen, was ‚Theater‘ ausmacht. Dass es in eben diesen Grenzen und Beschränkungen intelligibel werden könnte (und nicht erst, dem theatralen Topos der Backstage entsprechend, in jenen Schauplätzen, die dem suchenden Blick zunächst unzugänglich bleiben), ist eine Perspektive, in der sich die Differenz zwischen On und Off ein Stück weit relativiert.
Was die Backstage zu versprechen scheint: den besseren Einblick, die größere Nähe, die geteilte Intensität, die unmittelbare Erfahrung etc., kann von den Filmen, die sich hinter die Kulissen oder an die Ränder der Bühne begeben, als ein verbindliches oder als ein leeres Versprechen behandelt werden (vgl. Warstat). Es gibt nicht wenige Theaterproduktionen, die zur Idee des konkurrierenden Schauplatzes, der abseits der Bühne oder der beleuchteten Szene verortet wird, ein sehr ironisches Verhältnis entwickelt haben. In Filmproduktionen ist dies deutlich seltener der Fall, selbst dort, wo sie auf ein Theater treffen, das sich selbst an die eigenen Ränder verlegt, um dort bestimmte Prinzipien theatraler Inszenierung aufrechtzuerhalten und die Idee des exklusiven Einblicks zur travestieren.
Dass in der Aufzeichnung etwas Verschwindendes erfasst wird (unvollständig, ausschnitthaft, aber eben doch: erfasst), ist ein Topos der Auseinandersetzungen mit dem Theater. Für die schriftliche Aufzeichnung gilt das ebenso wie für den Film, der von der Theaterarbeit festhält, was sich im Moment präsentiert, und nicht festhält, was im selben Moment andernorts zu sehen wäre, und in der Aufzeichnung bereits ein Verschwinden antizipiert, das dann früher oder später statthat (vgl. Warstat, Wortelkamp). Wenn sie überhaupt auf Dauer existieren, dann in filmischer Form: die Auftritte, Aufführungen, Produktionen des Theaters, aber auch die Akteure, die in Proben und Produktionen zu sehen sind, oder diejenigen, die an ihrer Entstehung beteiligt waren.
Filmarbeit ist Aufzeichnungsarbeit, darin auch memorial und tendenziell immer melancholisch, selbst wenn sie nicht darauf angelegt ist. Unbeschadet der Verkennungen, die in dem anhaltenden Faszinationsverhältnis von Theater und Film am Werk sind, verdankt das Theater seiner filmischen Beobachtung mithin eines zuverlässig: ein Nachleben, eine zweite Existenz; jene anderen Szenen, in denen es für die Betrachtung verfügbar gehalten wird.
Für dieses Buch habe ich vielfachen Dank auszusprechen. Dem Department Kunstwissenschaften der LMU München, dem Programm LMU-excellent und den Münchner Kammerspielen für die Förderung der Tagung „Die andere Szene – Theaterproben und Theaterarbeit im Dokumentarfilm“, die im Januar 2011 in München stattfand. Fabienne Liptay, Petra Löffler, Nathalie Weidenfeld und Wolfgang Horn für ihre Moderation und die klugen Kommentare. Den guten Geistern Julia Huber, Tatiana Kurancheva, Sabine Sophie Rösch, Fabian Rudner und Nikolaus Witty für die perfekte organisatorische und technische Betreuung. Den guten Geistern andernorts, Adele Dittrich Frydetzki und Franziska Weinmann, für ihre redaktionelle Mitarbeit. Eva Könnemann und Lilo Mangelsdorff für die Filme und Bilder, die sie zur Verfügung gestellt haben. Den Autorinnen und Autoren für ihre schönen Texte und ihre große Geduld. Nicole Gronemeyer und Paul Tischler vom Verlag Theater der Zeit für noch größere Geduld und für ihre Unterstützung. Und dem Verlag diaphanes für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck von Bernhard Dotzlers Text Treatment der Diven.
„Das Subjekt des theatralischen Kunstwerks“, schreibt Ivan Nagel in seinem Nachruf auf Fritz Kortner, „war für ihn der Regisseur allein“.1 Mit dieser Aussage ist ein Verständnis der Arbeit am Theater aufgerufen, das die Figur des Regisseurs als zentrale Entscheidungsinstanz versteht und die Idee eines gleichberechtigten kooperativen Miteinanders zwischen dem Regisseur, den Schauspielern, den Bühnen- und Kostümbildnern, den Musikern usw. verwirft – von der Rolle des dramatischen Texts und seines Autors ganz zu schweigen. Zudem wird Kortner damit von Nagel implizit in die Traditionslinie des sogenannten „Regietheaters“ gestellt, die von Max Reinhardt, der als (Neu-)Begründer dieses Konzepts im 20. Jahrhundert gilt und mit dem Kortner durch frühe und prägende Erfahrungen als Schauspieler verbunden ist, bis zu späteren Vertretern reicht, die bis in die Gegenwart den Diskurs des zeitgenössischen Theaters bestimmen.2
Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Frage, auf welche Weise sich der hier formulierte Absolutheitsanspruch eines Regisseurs innerhalb der Probenarbeit realisiert. Anzunehmen wäre, dass sich unter solchen Voraussetzungen sämtliche künstlerischen Entscheidungen potenziell auf die subjektiven Intentionen, Meinungen und Befindlichkeiten des Regisseurs zurückführen lassen, während der Dramentext allenfalls als Material vorkommt und die anderen Mitwirkenden nur ausführende Organe sind. Der Maßstab des Gelingens einer Inszenierung wäre dann, in welchem Ausmaß das fertige Kunstwerk dem Willen des Einzelnen entspricht. Dagegen könnte man ins Feld führen, dass eine solche Sichtweise nicht nur die Spezifik der Arbeit am Theater grundlegend verfehlt, sondern auch, dass damit Vorstellungen von Subjektivität im Allgemeinen und vom Künstler im Besonderen rehabilitiert würden, die in sämtlichen Bereichen künstlerischer Produktion spätestens mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts infrage gestellt worden sind. Insofern könnte, ausgehend von Nagels Formulierung, überlegt werden, ob Kortners Regiearbeit anachronistische Züge aufweist. Ebenso ließe sich die Formulierung jedoch auch als Anlass verstehen, die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem theatralischen Kunstwerk noch einmal zu stellen.
Verfolgt man die Zeugnisse von Kortners Regiearbeit in den Jahren nach seiner Rückkehr aus der Emigration, so stößt man immer wieder auf Schilderungen, die auf einen egozentrischen und cholerischen Charakter hindeuten, der seine idealtypischen Ansprüche um jeden Preis verwirklicht sehen möchte.3 Zusammenfassend schreibt Nagel:
Keine Premiere Kortners ist anders zustande gekommen als unter ‚Warnungen, Verzweiflungsgebärden‘. Er knetete bis zuletzt an jenem Gemisch von menschlichen Wundertaten, Anstrengungen und Versagen, das eine Theateraufführung ausmacht, als an seinem, des Regisseurs Material. Er wußte, daß es zu spät war, er kämpfte und marterte sich und setzte die anderen unter Martern.4
Bezeichnenderweise führt eine solche Arbeitsweise jedoch keineswegs zu einer generellen Ablehnung des Regisseurs und seiner Arbeitsweise; gerade bei Schauspielern scheint die Anerkennung von Kortners künstlerischer Unbedingtheit zu überwiegen, die auch vor seiner eigenen Person nicht haltgemacht hat. Noch einmal Nagel:
Er war in seiner Arbeit, wie die meisten guten Künstler, tief egozentrisch; und er war in seiner Arbeit, wie alle genialen Künstler, noch tiefer selbstkritisch. Diese Selbstkritik wirkte freilich nicht relativierend; daß sein Theater das einzig richtige war, hat er nie bezweifelt. Doch was sein Theater zu sein hatte, wie darin eine Situation sich darstellte, ein Monolog sich beleben, ein einziger Blick oder Ton sich akzentuieren ließ, darüber hat er während jeder monatelangen Probenzeit – unter der Geißel seines erbarmungslos kreativen Zweifels – schlimme schlaflose Nächte verbracht.5
In dieser Passage kündigt sich bereits an, dass zumindest im Falle Kortners die Frage nach der Alleinstellung des künstlerisches Subjekts zu differenzieren wäre: Zur Arbeit dieses Regisseurs gehört in der Darstellung durch Mitarbeiter und Zeitgenossen nicht nur die Durchsetzung einer künstlerischen Entscheidung gegen Unverständnis und Unvermögen, sondern auch die prozessuale Erarbeitung. Vom Ergebnis her sind diese beiden Aspekte nicht voneinander zu trennen, sehr wohl aber ihre beiden Schauplätze: Sie finden zum einen innerhalb der Proben als Auseinandersetzung mit dem Text, den Schauspielern und den anderen Mitarbeitern statt und zum anderen in einer intimen Selbstprüfung, die sich allein über biografische Zeugnisse erschließen lässt.
Mit dem Film Fünfter Akt, Siebente Szene. Fritz Kortner probt „Kabale und Liebe“ von Hans-Jürgen Syberberg6 liegt ein Zeugnis der Probenarbeit Kortners vor, das weitere Aufschlüsse über seine künstlerische Strategie zu geben vermag. Bevor dieser Film hinsichtlich seiner Bedeutung für das Verständnis von Kortners Probenarbeit befragt wird, soll mit einem Rekurs auf Max Reinhardt einem Aspekt nachgegangen werden, der nicht nur die eingangs angesprochene theaterhistorische Dimension erschließt, sondern auch zeigt, dass sich Kortner bewusst in diese Traditionslinie gestellt hat: Er beruft sich wiederholt auf seine Erfahrungen mit Reinhardts Arbeit und auf dessen Verständnis von der Aufgabe des Regisseurs, die für ihn sowohl ein arbeitspraktisches Vorbild als auch eine künstlerische Legitimation darstellten.
Die Bedeutung des österreichischen Regisseurs und Intendanten Max Reinhardt (1873–1943) für das Selbstverständnis Kortners hat dieser in seiner Autobiografie Aller Tage Abend (1959) betont:
Spätere Erfahrungen belehrten mich, daß der Große unter den Regisseuren – wie wenigen begegnete ich, der ich alle traf! –, daß dieser seltene, eigenmächtige Mann der Beauftragte seiner inneren Vorstellungen und ihr Zwangsvollstrecker war, keine anderen Gesetze als die ihren achtete, auch nicht die Gebote eines nahen Vorstellungstermins, bis die inneren Vorstellungen ganz nach außen durchgesetzt eine Vorstellung geworden waren, die nun beginnen konnte.7
Offenbar ist Reinhardts Selbstverständnis und Auftreten als Regisseur in Kortners Sicht ebenfalls von eben jenem Doppelcharakter geprägt, den ihm wiederum Nagel und viele andere attestierten: Höchste Ansprüche an die Zeit und Qualität der Probenarbeit werden nicht aus einer selbstbestimmten Position heraus erhoben, sondern auf der Grundlage einer vorgängigen, vom Subjekt eben nicht einholbaren und kontrollierbaren Verpflichtung. Der Regisseur gehorcht einem „Gesetz“, das über den Konventionen, Regelungen und Gesetzen des Theaterbetriebs steht. Die Umsetzung „innerer Vorstellungen“ in eine „Theater-Vorstellung“ gelingt nur dann, wenn der Regisseur und seine Mitarbeiter sich diesem „Gesetz“ und seinen Konsequenzen beugen. Eben dieses Abhängigkeitsverhältnis ist jedoch zugleich die Quelle der Souveränität des Regisseurs als Künstler. Anders gesagt: Erst das Moment der Unterwerfung, der Selbst-Entäußerung konstituiert hier das „Subjekt des theatralischen Kunstwerks“.
In unserem Zusammenhang ist ein Selbstzeugnis Reinhardts von Interesse, das es erlaubt, die angesprochene „Gesetzmäßigkeit“ und damit auch den Selbstbezug des Subjekts genauer zu beschreiben. Es handelt sich um den auf einem Gespräch mit Reinhardt basierenden Text mit dem Titel „Über das ideale Theater“8. Dort überrascht bereits die einleitende Bemerkung, dass Reinhardt den Regisseur „für eine provisorische oder besser vorübergehende Erscheinung in der Weiterentwicklung des Theaters“9 hält. Was gemeint ist, wird in der folgenden Passage deutlich:
Wenn der Regisseur heutzutage nötig ist, um die Kluft, die zwischen den Autoren und den Interpreten ihrer Werke gähnt, zu überbrücken, so ist das ganz einfach eine Folgeerscheinung der traurigen Tatsache, daß die Bühnenschriftsteller ihr Handwerk nicht mehr verstehen. Sie schreiben ihre Werke in der Einsamkeit ihrer Studierstuben und überlassen es dem Regisseur, ihre toten Stücke in die lebendige Sprache der Bühne zu übersetzen. Das geringste, was man von ihnen verlangen könnte, wäre, daß sie wenigstens selbst fähig sein müßten, den Schauspielern ihre Gedanken einzuflößen, wenn es schon überhaupt nötig ist, ein Bühnenstück zu übersetzen und lebendig machen zu müssen.10
Wieder wird die Auffassung deutlich, dass dem Regisseur keine eigenständige und souveräne Position zukommt bzw. sich seine Eigenständigkeit und Souveränität einer vorausgehenden Verpflichtung verdanken. Diese besteht darin, eine Beziehung zwischen dem dramatischen Text und der Performance der Schauspieler aufzubauen. Allerdings geht Reinhardt einen Schritt weiter als Kortner, indem er diese Verpflichtung als Ausdruck eines Mangels versteht, der oberflächlich mit der arbeitsteiligen Struktur des Theaterbetriebs zusammenhängt, welche die Tätigkeiten von Schauspielern, Regisseur und Dramatiker voneinander trennt. Wichtiger als die Frage der theatralen Praxis ist jedoch das implizit konturierte Ideal einer unmittelbaren Verbindung zwischen dem Sinn (des Dramas) und seiner Verlautbarung (auf der Bühne). Dabei geht es letztlich nicht allein darum, dass der Dramatiker zugleich Regisseur sein müsste, sondern um eine idealtypische Idee von Kommunikation: Der Mangel, den Reinhardt beklagt, ist Ausdruck des Zeichencharakters von Sprache schlechthin, und das heißt: der unhintergehbaren Notwendigkeit von Interpretation.
Denn solange der Dramatiker kein Regisseur und der Regisseur kein Dramatiker ist (bzw. solange solche Unterscheidungen nicht hinfällig werden), stellt sich das im Kern unlösbare Problem der Übersetzung: zwischen dem Dramatiker und dem Schauspieler, zwischen dem Sinn und der Verlautbarung, zwischen Meinen und Verstehen, zwischen Geschriebenem und Gesprochenem. Die Gesetze des Betriebs, die Unfähigkeit der Mitarbeiter oder die mangelnde Zeit sind also nicht der Grund für die Krise des Theaters, sondern selbst als ein Symptom zu betrachten, das auf ein tieferliegendes Problem verweist: den Umstand, dass keine Übersetzung das ursprünglich Gemeinte vollständig zu erfassen und zu transportieren vermag.
Diese Vollständigkeit wäre, so Reinhardt, nur dann gewährleistet, wenn der Text selbst erst in und mit der Probe entstünde, wenn die Arbeit mit den Schauspielern im engeren wie im übertragenen Sinn ein Schreib-Prozess sein könnte, in dem der dramatische Text und seine Verlautbarung in eins fallen: Die individuelle Performance des Schauspielers ginge dann im Drama auf, das Drama in der Performance.
Vor allem sollten sich die Bühnenautoren einmal von dem festeingewurzelten Vorurteil befreien, daß es unter ihrer Würde ist, für das spezifische Talent eines gewissen Schauspielers eine allein für ihn bestimmte Rolle zu schreiben. Das wäre ja gerade der ideale Zustand, und so müsste ein Bühnenschriftsteller immer arbeiten!11
Es ist bezeichnend, dass Reinhardt seine Idealvorstellung von der Theaterarbeit nicht in der Gegenwart vorfindet, sondern sie in die Vergangenheit (unter Berufung auf Shakespeare und Molière, und auch dies nur unter Vorbehalten12) bzw. in eine utopische Zukunft projiziert. Der Grund dafür dürfte weniger in der Mangelhaftigkeit des damaligen Theaters (also auch Reinhardts eigener Arbeit am Theater) zu suchen sein, sondern in der inneren Widersprüchlichkeit eines Projekts, das von der Möglichkeit einer unmittelbaren, durch keine Übersetzungsleistung vermittelten Kommunikation ausgeht.
Fünfter Akt, Siebente Szene zeigt Kortner bei der Arbeit mit Christiane Hörbiger (Luise) und Helmut Lohner (Ferdinand) an der titelgebenden Szene des Schillerschen Dramas während seiner Arbeit an der Inszenierung an den Münchner Kammerspielen im Jahr 1965.
Zu berücksichtigen sind bei der Kommentierung dieses Films – neben der Frage der medialen Transformation – das künstlerische Programm Syberbergs und die damit einhergehenden filmischen Inszenierungsstrategien. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass die filmischen Mittel, ebenso wie die medienbedingte zeitliche Verdichtung und Konzentration der zeitlichen Abläufe, einen Blick nicht nur hinter die Kulissen des Theaterbetriebs, sondern auch hinter die vermeintliche Selbstherrlichkeit des Regisseurs zu werfen ermöglichen und jene vorgängige Selbst-Verpflichtung sichtbar machen, von der einleitend mit Blick auf Reinhardt und Kortner die Rede war.
Fünfter Akt, Siebente Szene steht am Beginn von Syberbergs Œuvre – neben den frühen Filmaufnahmen, die er noch als Schüler im Jahre 1953 am Berliner Ensemble gemacht und später unter dem Titel Nach meinem letzten Umzug … montiert und veröffentlicht hat. Auch wenn der zeitliche Abstand zwischen den beiden Filmen offensichtlich und ihre Unterschiede sowohl auf produktionstechnischer als auch auf inhaltlicher Seite erheblich sind (hinsichtlich des Theaters als Gegenstand wäre vor allem darauf hinzuweisen, dass der Brecht-Film Ausschnitte von Inszenierungen zeigt, während der Kortner-Film eine Probenarbeit dokumentiert), lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, die Syberberg selbst immer wieder herausgestellt hat. In beiden Fällen handelt es sich um außergewöhnliche Dokumente, welche die Frage aufwerfen, zu welchem Anlass und auf welche Weise sie zustande gekommen sind: „Eigentlich“, heißt es dementsprechend bei Syberberg über Fünfter Akt, Siebente Szene, „ist dieser Film ganz unmöglich“13. Diese Unmöglichkeit betrifft – neben der damit ebenfalls angedeuteten ethischen Dimension, auf die ich später zurückkommen möchte – den dokumentierenden Zugang zur Inszenierungs- und Probenarbeit sowie die zur Verfügung stehenden Produktionsmittel:
Wie bei Brecht ging es um einen berühmten Theatermann. Kortner war der große alte Regisseur des deutschen Westens, spektakulär, gefürchtet und alttestamentarisch. Unbeschreiblich seine Position im Kulturbetrieb und sein Ruf als Schauspieler der zwanziger Jahre.
Und es ging wieder um Theaterproben zu einem deutschen Klassiker. Undenkbar schon, privat dabei sein zu dürfen, von Kamera und Ton, noch dazu auf ihn selbst gerichtet, ganz zu schweigen.
Auch dazu wieder war ich ohne technische und finanzielle Produktionsmittel, ein Privatmann zu der Zeit, der beim Fernsehen Lohnarbeit Tag für Tag zu machen hatte, auf Abruf, im Status des freien Mitarbeiters ohne Auftrag.14
Sowohl bei der Brecht- als auch bei der Kortner-Dokumentation sind die beschriebenen Hindernisse zugleich die Bedingung der Möglichkeit: Nicht weil mit dem produktionstechnischen Aufwand auch die Beeinflussung (und wenn man so will: die Verfälschung) des Gefilmten wahrscheinlicher würde, sondern vor allem, weil der Kampf gegen die Umstände und die Realisation des Unmöglichen die Filmprojekte selbst in eine Nähe zu den theatralen Unternehmungen rückt, mit denen sie sich befassen. Die folgende Bemerkung Syberbergs über den Kortner-Film verwischt die Grenzen zwischen Theater und Film auch auf syntaktischer Ebene:
Es ist vorher und nachher wohl so etwas als Zeugnis schauspielerischer Arbeit nicht mehr dokumentiert worden auf der Bühne, als Arbeitsgang bei der Entstehung von Kunst oder Kultur und Pathos. Und letzten Endes waren das Thema dieses Films dann doch die Mühen des Menschen bei der Herstellung von Kunst. Auch Schiller wurde an Kortner und in diesem Film gegenwärtig.15
Die Frage nach dem Subjekt des theatralischen Kunstwerks ist hier doppelt berührt: Zum einen wird es zum zentralen Gegenstand des filmischen Dokuments erklärt, zum anderen deutet sich an, dass dieses Subjekt als ein Schauplatz einer Überlagerung unterschiedlicher historischer Schichten und sozialer Verhältnisse zu denken ist, als eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit und als eine Öffnung (in) der Gegenwart. In einer Bemerkung mit Bezug auf Brecht benennt Syberberg diesen Vorgang bezeichnenderweise als umfassenden Schreib-Prozess:
Es war sein [Brechts, H.-F.B.] produktives Ich, das sich in der Realität der anderen Figuren und Texte zu Ende schrieb. Aus der heraus er selbst die Texte der anderen zum monologischen Kosmos immer neuer Varianten seines eigenen Universums durch andere Figuren im Raum entwickelte.16
In eben diesen Prozess ist auch der Filmemacher einbezogen, der kein neutraler Beobachter, sondern Teilnehmer einer solchen Entwicklung ist, wenn auch ohne dabei direkt als künstlerisches Subjekt in Erscheinung zu treten. Über sich selbst sagt Syberberg (wiederum mit einer bezeichnenden syntaktischen Unschärfe):
Und so denke ich mir, wußte Brecht intuitiv damals, daß dieser junge Mann mit seiner 8-mm-Kamera besonders geeignet war für den Dienst, den er brauchte. Nämlich das einfühlende Eingehen auf den anderen, ihn zur eigenen Höhe zu bringen im durchaus beiderseitigen Interesse, ohne Aneignung und Okkupation des Fremden mit dessen eigenen Handschrift, was in den Künsten, in denen mehrere Schichten zusammentreffen, wichtig ist, mehrere Menschen, Geschichten, Ebenen und verschiedene Künste, wie er sich gerade übte. Eine Kunst aber, die ohne die Genialität einer Autorenpersönlichkeit unerträglich wäre.17
Das hier skizzierte Selbstverständnis ist nicht an die Umstände des Brecht-Films oder an Brechts Person geknüpft, wie etwa in einem anderen, programmatischen Text Syberbergs deutlich wird:
Es entwickelt sich ein sensibles wechselseitiges Verhältnis zwischen den Partnern bei äußerster Distanz und Klarheit des Kopfes. […] Um das zu erhalten, was der Filmemacher will, bei gleichzeitiger Selbstformulierung des Menschen vor der Kamera, verhilft vielleicht der Film als Medium in des Wortes doppelter und alter Bedeutung zu einer Art erhöhter Existenz der Beteiligten bei völliger Nüchternheit und technisch ruhiger Arbeitsatmosphäre, wo Tricks oder Alkohol hinderlich wären.18
Die entscheidende Voraussetzung für diesen Prozess ist, so Syberberg an gleicher Stelle, die Errichtung eines „geschlossenen Systems“19, in dem sich auf beiden Ebenen – der des Dokumentierten und der des Dokumentierenden – eine Selbstbeschreibung vollzieht, die zugleich eben diese Unterscheidung kollabieren lässt.
Damit zeichnet sich auch ab, worin der Filmregisseur Syberberg seine Affinität zum Theater im Allgemeinen und zu Brecht und Kortner im Besonderen begründet sieht. Sein Ausgangspunkt ist die Idee von Kunst als Prozess der Selbstbeschreibung eines Subjekts. Voraussetzung für die Entfaltung dieses Prozesses ist zunächst der Ausschluss störender Einflüsse, was durch die Konventionen des Theaters durchaus gegeben zu sein scheint, etwa hinsichtlich seines Status als Institution, seiner architektonischen Voraussetzungen, der sozialen Restriktionen von Probe und Aufführung usw. Auch das Theater ist bzw. war ein geschlossenes System. Diese Geschlossenheit wiederum ist die Voraussetzung für einen Austauschprozess zwischen Personen und Zeiten, der sich auf der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Text und Verlautbarung, Schauspieler und Regisseur vollzieht. Die „Genialität einer Autorenpersönlichkeit“ zeigt sich in ihrer Fähigkeit, diese verschiedenen Schichten wahrzunehmen und zu transformieren. Diese Auffassung entspricht präzise dem Selbstverständnis Syberbergs als Filmemacher, der im Falle des Kortner-Films einem solchen Prozess für einen ausgezeichneten historischen Moment als dritte Instanz beiwohnt und ihn, das legen jedenfalls seine Selbstaussagen nahe, vollendet, indem er sich selbst in ihn einschreibt und dem Zuschauer zu lesen gibt.
Die schwierigen Entstehungsumstände von Fünfter Akt, Siebente Szene nehmen in Syberbergs Erzählungen über den Film, wie bereits angedeutet, den größten Raum ein, auch wenn die Abläufe und Details in seinen Schilderungen seltsam unklar bleiben. Die folgende Passage macht dagegen deutlich, dass es Syberberg (trotz oder wegen, trotz und wegen) der Umstände durchaus gelungen ist, sein künstlerisches Projekt zu verwirklichen:
Ich hatte mich von Anfang an in meiner Konzeption auf eine Szene, die Todesszene im 5. Akt, 7. Szene, durch Gift zwischen den Liebenden Ferdinand und Luise, beschränkt, und wollte alle Entwicklungsphasen aufnehmen, in Worten und Gesten. Kortner war für diese Arbeit berühmt und unser letzter expressionistischer Klassiker dieses Formats. Das gab es zu dokumentieren, streng und nichts anderes. Es kam gut heraus, wie Kortner sich selbst – nun alt – in den jungen Schauspielern, auch als Schauspieler, wieder zweigeteilt in zwei Figuren, noch einmal realisierte. Er spielte in zwei Figuren Schiller selbst und sich noch einmal als Regisseur. Er entkam uns nicht, in keiner Minute und Bewegung, so hatten wir unser Aufnahmesystem einzurichten, eine Kamera mußte immer bereit sein, das bedeutete pausenlosen Material- und Rollenwechsel, 80 Stück 120m-Rollen in drei Tagen, laut- und lichtlos, dicht hinter ihm, dazu eine Lampe, klein, unmerklich auf ihn, und eine Kamera versteckt von vorne schräg von der Bühne durch ein kleines Loch.20
Diese Passage vereint die Beschreibung von ästhetischen und produktionstechnischen Aspekten; vor allem aber macht sie deutlich, dass Syberbergs Interesse sich wesentlich auf die Realisation des Subjekts Kortner innerhalb des Probenprozesses (und innerhalb von dessen Aufzeichnung) richtete. Theaterhistorische Referenzen – zum einen zu Schiller, zum anderen zur expressionistischen Tradition21 – erscheinen ebenso wie die Arbeit mit Schauspielern Anlässe dieser Selbstverständigung zu sein. Zugleich jedoch sind sie deren Voraussetzung: Man könnte also mit gleichem Recht behaupten, dass Syberbergs Film uns zu Zeugen von Kortners Ent-Subjektivierung macht, indem er die historischen und prozesshaften Schichten offenlegt, die ein vermeintlich stabiles Subjekt und eben auch eine „geniale Autorenpersönlichkeit“ ausmachen.
Einige Aspekte dieses widersprüchlichen Prozesses sollen im Folgenden durch Anmerkungen zum Film und durch die Analyse einiger ausgewählter Momente verdeutlicht werden. Dabei ist zuallererst darauf zu verweisen, dass der Film Fünfter Akt, Siebente Szene auf jede rahmende oder kommentierende Dimension verzichtet: Dem Zuschauer wird weder Syberbergs Interesse am Thema noch der mögliche Anlass des Films erklärt noch werden die darin auftauchenden Personen oder das Sujet vorgestellt. Auch Schillers Drama wird nur über den (Unter-)Titel des Films aufgerufen, es gibt keine Einführung in die Handlung, keine Kennzeichnung der Protagonisten und auch keine Auskunft über die Bedeutung der geprobten Szene innerhalb des Dramas oder der Inszenierung. Der Eindruck des Unvermittelten wird durch die späte Einblendung der ersten Titeltafel bei 0:01:56 noch verstärkt: Der Film beginnt unvermittelt mit einer „Vorszene“22, die eine Arbeitssituation auf der Bühne wiedergibt, ohne dass eine Exposition den Status des Gezeigten verdeutlicht hätte.
Für den Zuschauer bedeutet dies zweierlei: Zum einen könnte er sich aufgefordert fühlen, die vermeintlichen Lücken durch eigenes Wissen (über Schillers Drama, die Theatergeschichte, Kortner usw.) zu füllen, zum anderen könnte er sich zur Konzentration auf den gezeigten Prozess gezwungen sehen, der eben durch keine Information erklärt wird, sondern – als ein genuin künstlerischer – nur der ästhetischen Erfahrung zugänglich ist. Wie in Syberbergs Beschreibung angedeutet, verbleibt der Film – mit einer Ausnahme, auf die unten noch genauer eingegangen werden soll – innerhalb des geschlossenen Systems Theater, dessen Geschlossenheit mit filmischen Mitteln in Fünfter Akt, Siebente Szene so radikalisiert wurde, dass es zumindest auf visueller Ebene als ein gänzlich ahistorischer und dekontextualisierter (Nicht-)Raum erscheint. Neben der fehlenden Kommentarebene wäre in diesem Zusammenhang die vollständige Dunkelheit des Zuschauerraums zu nennen, die alle Details verbirgt, welche zu einer genaueren Identifizierung der Personen oder der Arbeitsbedingungen beitragen könnten, und nur den Austauschprozess zwischen Kortner und der Bühne bzw. den Mitarbeitern sichtbar werden lässt. Zwar kann der Film selbst durchaus historisch eingeordnet werden, etwa indem man das Schwarz-Weiß-Material, den Stil der Titeltafeln usw. berücksichtigt. Eben damit aber verlässt man auch die Ebene der filmischen Inszenierung, die sich konsequent einer eindeutigen Zu- und Einordnung entzieht.
Im Verlauf des Films wird Kortners Arbeit an wenigen Dialogpassagen des Dramas gezeigt, die sämtlich von Momenten der Wiederholung bestimmt werden. Kortner gibt den Schauspielern detaillierte Anweisungen für die Artikulation des Texts und die Bewegungen auf der Bühne, indem er die jeweiligen Passagen – nicht selten bis hin zur Färbung des einzelnen Worts und der kleinsten Geste – vor-spricht (ggf. vor-spielt) und die Schauspieler bei fast jeder Ausführung erneut unterbricht, sie noch einmal ansetzen lässt usw. Außerdem werden ganze Handlungs- und Sinneinheiten der Szene wiederholt, in diesen Fällen allerdings mit weniger Unterbrechungen. Interessanterweise folgt der Film dabei durchaus – wenn auch unvollständig und für den unkundigen Zuschauer nicht im Detail nachvollziehbar – der inhaltlichen Entwicklung der geprobten Szene. Parallel dazu gewinnt der Zuschauer einen Eindruck von dem dramaturgischen Entwurf Kortners, der einen Bogen von der Betonung eines „gesellschaftlichen Tons“ zwischen den Liebenden am Beginn der Szene bis zur „Raserei“ Ferdinands an ihrem Ende schlägt.
zu sich selbst kommt